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Tomáš Halík blickt auf die Herausforderungen der Gegenwart – seien es Missbrauchsskandale und Kirchenaustritte, Klimawandel und Kriege oder der Umgang mit künstlicher Intelligenz. Wie können wir Menschen all das bewältigen? Was kann das Christentum dazu beitragen? Um diese Frage zu beantworten, stell sich Halík das Ideal eines Papstes aller Suchenden vor: Raphael – das »Heilmittel Gottes«. Mit ihm tauscht er Gedanken, Hoffnungen und Ängste, Anregungen und Fragen zur gegenwärtigen Lage des Glaubens aus. Dabei entfaltet Halík gewissermaßen prophetisch seine Vision einer allumfassenden, wahrhaft ökumenischen Kirche der Menschlichkeit, die zugleich mutig und verantwortungsvoll die Zeichen der Zeit zu lesen weiß. Halík schafft mit diesem Buch ein Bekenntnis der Hoffnung.
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Seitenzahl: 226
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Tomáš Halík
Traum vom neuen Morgen
Briefe an Brückenbauer
Aus dem Tschechischen von Petr Gallus
Titel der Originalausgabe: Dopisy papeži. Povzbuzení na nové cesty,
Praha 2024
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Die Bibeltexte sind entnommen aus:
Die Bibel. Die Heilige Schrift
des Alten und Neuen Bundes.
Vollständige deutsche Ausgabe
© Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2005
Umschlaggestaltung: geviert.com
Umschlagmotiv: © Martin Staněk
E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau
ISBN Print 978-3-451-39903-9
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83393-9
Passt euch nicht dieser Welt an, sondern gestaltet euch um, indem ihr euer Denken erneuert
(Röm 12,2)
Früher hatte ich Träume von der Kirche.
Von einer Kirche, die ihren Weg in Armut und Demut geht,
von einer Kirche, die nicht von den Mächten dieser Welt abhängt.
Von einer Kirche, die den Leuten, die weiter denken, Raum gibt.
Von einer Kirche, die Mut macht,
besonders denen, die sich klein oder sündig fühlen.
Kardinal Carlo Maria Martini
(Jerusalemer Nachtgespräche1)
1 Kardinal Carlo M. Martini/Georg Sporschill, Jerusalemer Nachtgespräche. Über das Risiko des Glaubens, Freiburg 2008, S. 72.
Einleitung: Der Papst meiner Träume
Erster Brief: Träume als Sprache der Wünsche Gottes
Zweiter Brief: Identitätssuche
Dritter Brief: Die Sendung der Propheten
Vierter Brief: Gott als Zukunft
Fünfter Brief: Die vergessene innere Kraft der Religion
Sechster Brief: Katholizität als universale Verantwortung
Siebter Brief: Mutter Kirche, komm aus dir heraus
Achter Brief: Liebe und glaube frei
Neunter Brief: Das Aleph auf der Stirn des Golems
Zehnter Brief: Ein Weihnachtsbrief
Elfter Brief: Die Hölle leeren
Zwölfter Brief: Den Himmel füllen
Verzeichnis der biblischen Abkürzungen
Über den Autor
Ich hatte einen Traum. Auf dem Balkon der Petrus-Basilika in Rom stand der gerade gewählte Papst. Er erklärte den versammelten Scharen den Namen, den er sich ausgewählt hatte. Raphael heißt »Heilmittel Gottes« oder »Gott heilt«; in der Bibel ist er bekannt und in der Tradition geehrt als ein treuer Wegbegleiter.
Im Laufe meines Lebens saßen bisher sieben Päpste auf dem römischen Stuhl. Die Person des Papstes (und auch der Päpstin) tauchte in meinen Träumen verhältnismäßig oft auf; doch der Traum, dem dieses Buch seine Entstehung verdankt, war außergewöhnlich eindringlich. Papst Raphael trat nämlich aus meinem Traum heraus und wurde zu einem Bestandteil meines Lebens.
Carl Gustav Jung gebrauchte die Methode der »aktiven Imagination« – auf eine kreative Weise kommunizierte er mit Personen aus seinen Träumen und aus seiner Fantasie, als ob sie lebendige Menschen wären. So begann ich ebenfalls, mit dem Papst aus meinem Traum zu kommunizieren. Er wurde für mich zu so jemandem, wie ihn Jung etwa in seinem geheimnisvollen alten Philemon fand, der ihm die Schätze in der Tiefe des Unbewussten eröffnete und ihn auf dem Weg des geistigen Reifens und der Integration begleitete.
Manchmal passiert es mir, dass ich mit einer Frage aufwache, die wie eine Fortsetzung eines Traumes erscheint, den ich nicht mehr zurückzurufen vermag.
Manchmal bringe ich mich dazu, dass ich aufstehe und anfange, eine Antwort in Form eines Briefes zu schreiben – eines Briefes an den Papst aus meinem Traum. Papst Raphael wurde für mich nicht nur zu jemandem, der mir Fragen stellt, sondern vor allem zu einem geduldig zuhörenden, inspirierenden und ermutigenden Begleiter, der an meinen Zeiten des Nachdenkens und Träumens, des Gebets und der Meditation teilnimmt. In meinen Briefen lege ich ihm meine Gedanken, Hoffnungen und Ängste, Anregungen und Fragen nur vor; ich teile mit ihm Gedanken aus meinen Vorträgen, Artikeln und Büchern. Ich befinde mich dabei in der Position seines Schüler. Er lehrt mich – sowohl durch seine Fragen, die er mir in den wertvollen Momenten an der Schwelle von Träumen und Wachen schickt, als auch dadurch, dass ich beim Schreiben sein aufmerksames Zuhören wahrnehme. In unserem imaginären Dialog reifen meine Gedanken. Die vatikanische Post muss ich damit nicht belasten.
***
Wem ich ins Traumland schreibe, weiß ich. Es ist der Papst, die höchste Lehrautorität in der katholischen Kirche. Es ist kein Inquisitor, der nach den Irrtümern in meinen Aussagen späht. Es ist der geistige Vater, der weise Lehrer, der sich bemüht, mich zuerst gut zu verstehen, und wenn er in meinen Darstellungen einige Begrenzungen, Mängel und Irrtümer sieht, will er mir mit freundlicher Geduld helfen, meine Perspektive zu erweitern. Der Papst aus meinem Traum ist ein Papst mit einer besonderen Sendung: Er ist nicht nur der Kopf der katholischen Kirche, sondern geistiger Begleiter, Mystagoge, Hirte und Diener aller geistig offenen, durstigen und suchenden Menschen – sei es innerhalb der religiösen Gemeinschaften oder jenseits ihrer sichtbaren Grenzen. Um seine Sendung zu erfüllen, hört er den unterschiedlichsten Menschen aufmerksam zu, die ihm ihre Erfahrungen und Anregungen mitteilen; auch deshalb wagte ich, einer von vielen zu sein, die sich an ihn wenden.
Laut dem bestehenden Kirchenrecht ist der Papst Bischof von Rom; vor allem ist er aber das Oberhaupt aller katholischen Gläubigen auf der ganzen Welt. Für die Verwaltung der römischen Diözese ernennt er seinen Generalvikar. Der Papst aus meinem Traum hat wohl seinen Vikar für die katholische Kirche, aber sein Dienst und seine Verantwortung sind breiter; sie reichen weit über die Grenzen der römisch-katholischen Ideenwelt hinaus. Er ist Diener einer viel breiteren Gemeinschaft als nur derjenigen, welche die bisherigen römischen Bischöfe repräsentierten. Ich sehe ihn als den »Diener der Diener Gottes« – und zwar wirklich aller Menschen, auch derjenigen, die nicht zu den Mitgliedern der katholischen Kirche gehören. Ich verstehe ihn als den Begleiter und Bruder auch derjenigen, für die Gott anonym und verborgen bleibt und die ihm dadurch dienen, dass sie die Wahrheit suchen und nach ihrem Gewissen Gutes tun.
Diejenigen, die den Untergang der Religion in der euroatlantischen Zivilisation vorhersagten, sowie diejenigen, die im Gegenteil ihre triumphale Rückkehr ansagten, sind überrascht: Die Religion geht nicht unter, aber zugleich kehren ihre früheren Formen auch nicht zurück. Sie ist ständig hier, aber sie ändert sich ständig. Ihr gesellschaftlicher und kultureller Kontext ändert sich – und mit ihm auch die Ausgestaltungen und gesellschaftlichen Rollen der Religion. Zugleich wird das, was überdauert, im neuen Kontext neu verstanden und interpretiert. Dieselben Worte bekommen eine andere Bedeutung, dieselben Geschichten werden unterschiedlich gelesen und verstanden.
Die traditionellen religiösen Ausdrucksmittel – Worte, Rituale, Institutionen – werden für die Dynamik des geistigen Lebens unserer Zeit zu eng. Das überaus stereotype, wenig verständliche und nicht genug überzeugende Angebot der religiösen Institutionen geht an den realen spirituellen Bestrebungen, Sehnsüchten und tatsächlichen Fragen und Bedürfnissen der Menschen unserer Zeit vorbei. In unserem Teil der Welt wächst deshalb die Anzahl der »nones« – derjenigen, die auf die Frage nach ihrer religiösen Zugehörigkeit »keine« antworten. Es wäre zu vereinfachend, alle diejenigen, die sich zu keiner »organisierten« Religion bekennen, durchweg für dogmatische Atheisten oder »Apatheisten«, für geistig Gleichgültige oder »religiös Unmusikalische« zu halten. Viele von ihnen sind Menschen, die eine Beziehung zum »Transzendentalen« des Lebens aufrichtig suchen, die jedoch in dem Angebot der religiösen Formen, denen sie begegneten, keinen gangbaren Weg zu ihr finden. Die Anzahl derjenigen, die sich für »spirituell, aber nicht religiös« bezeichnen, nimmt zu.
Die Anzahl derer, die sich mit den religiösen Institutionen und ihrer Lehre und Praxis voll identifizieren, und auch die Anzahl der dogmatischen Atheisten nimmt in unserer westlichen Kultur ab. Dagegen wächst die Anzahl der »Suchenden« – und zwar sowohl zwischen den beiden sich ausgrenzenden Lagern, die immer kleiner werden, als auch innerhalb von ihnen. Viele, die sich für Atheisten erklären, grenzen sich eher gegen einen »Theismus« ab, also gegen eine bestimmte Interpretation des Glaubens, als gegen den Glauben als solchen. Mehr als gegen Gott grenzen sie sich gegen sein irdisches Personal ab. Und oft grenzen sie sich vor allem gegen ihre eigenen Vorstellungen von Gott und Religion ab. Zugleich wächst auch unter den aktiven Kirchenmitgliedern die Anzahl derer, für die der Glaube eher einen Weg darstellt, mehr ein Weg in die Tiefe als »ein feste Burg«. Diese fundamentalen Veränderungen der heutigen spirituellen Szene werden bei der Erforschung von Religiosität oft kaum erfasst, weil diese mit Kategorien arbeitet, die es nicht erlauben, die Veränderungsdynamik entsprechend zu beschreiben. Die Antwort auf die Frage, wer »gläubig« und wer »nicht gläubig« sei, ist viel komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheinen dürfte. Das Verhältnis zwischen expliziter Religiosität (religiöser Überzeugung, die sich in Worten, Ritualen und Zugehörigkeit zu religiösen Institutionen ausdrückt) und implizitem, existenziellem, oft unbewusstem Glauben oder Nicht-Glauben (dem, was für den konkreten Menschen die Rolle Gottes spielt und welche Gottesbilder tief in seinem Unbewussten liegen und sein Handeln beeinflussen) ist ein immer noch wenig erforschter Bereich. Wir begegnen in der heutigen spirituellen Szene immer häufiger auch einem »Glauben der Nichtgläubigen« sowie einem »Nichtglauben der Gläubigen«.
***
Braucht aber diese bunte Menge der Suchenden ihren Papst? Brauchen diese Menschen Kirche, Christentum und Religion?
Ich kann ziemlich genau die Gestalt von kirchlicher Autorität, Kirche, Christentum und Religion beschreiben, die diese Rolle nicht erfüllen kann, von der die Menschen aufgeschlossenen Geistes verständlicherweise und mit Recht abgeschreckt sind. Einigen pathologischen und destruktiven Gestalten der Religion begegne ich in der heutigen Welt sowie in meiner katholischen Kirche ziemlich oft. Manchmal bin ich in Versuchung zu meinen, dass es sogar mehr von diesen Gestalten gibt als von denjenigen, in denen ich mit Freude die heilende und befreiende Macht des Evangeliums erfahren kann. Das Negative ist nämlich lauter und sichtbarer; es liegt an der Oberfläche und ist deshalb einem oberflächlichen Blick derer zugänglicher, die sich nur schnell eine Meinung bilden.
»Die Suchenden« suchen und brauchen keinen Hierarchen, keine patriarchale Autorität des alten Stils und auch keinen amtlichen Vertreter, Manager, Kontrolleur oder Ideologen, wie wir sie aus der säkularen Gesellschaft kennen. »Der Papst aller Suchenden«, dem ich in meinem Traum begegnete, ist ein Vater, wie schon der Titel Papst (papa) anzeigt, ein geistiger Vater, doch zugleich ein Vater von erwachsen gewordenen Kindern, der ihre Mündigkeit, Autonomie und Freiheit respektiert. Er ist nicht überflüssig; er kann mit dem Reichtum seiner Erfahrungen, mit seinem Überblick und mit seiner freundlichen Weisheit helfen.
»Auch sollt ihr niemand unter euch auf der Erde Vater nennen; denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel«,1 brachte Jesus seinen Jüngern bei. Papst Raphael ist nicht »auf der Erde«, aber er ist auch nicht der Vater im Himmel – dieser Vater (papa) ist Papst im Reich der Träume, das Himmel und Erde, Fantasie und Wirklichkeit, Sehnsucht und Erfahrung verbindet. Er war und ist für mich in keiner Weise eine Konkurrenz oder Schwächung meines Verhältnisses von Ehrfurcht und Loyalität zu dem gerade amtierenden römischen Bischof. Noch vor Kurzem hatte die Kirche nach langen Jahrhunderten zwei Päpste, einen amtierenden, den anderen im Ruhestand. Warum sollte nicht auch ich zwei Päpste haben können, den einen in Rom, den anderen in meiner Fantasie? Sie beide haben in meinem Leben klar definierte und sich nirgendwo überschneidende Kompetenzen – und Papst Raphael hat aus verständlichen Gründen mehr Zeit für Gespräche mit mir …
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Das Verständnis des Papsttums sowie seine konkrete Gestalt haben in ihrer Geschichte viele Veränderungen durchlaufen, vielleicht sogar mehr Veränderungen als jede andere jahrhundertelang bestehende Institution. Man muss nicht bis zu den Päpsten der Katakombenzeit, zu der Zeit der alten Konzile oder zu den Päpsten im Mittelalter, in der Renaissance oder in der Barockzeit zurückgehen. Noch während meiner Lebenszeit wurden drei Päpste feierlich auf einer Sänfte getragen, begleitet von der Schweizer Garde, ich sah es noch mit eigenen Augen im Sommer 1969.2 Ich erlebte aber auch einen Papst, der einer muslimischen Gefangenen in der römischen Strafanstalt für Minderjährige ihre Füße wusch und küsste und den Juden, die den Holokaust überlebten, ihre Hände küsste.
Die Katholiken des 19. Jahrhunderts, durch die Aufklärung und ihre politischen Folgen äußerst beunruhigt, träumten von einem autoritativen Papst als einem unwandelbaren, festen Punkt inmitten von stürmischen Wellen der Revolutionen und der Modernisierungsveränderungen. Dieser romantische Traum beeinflusste die reale Gestalt des Papsttums und des Autoritätsverständnisses in der Kirche, vor allem in der Zeit um das Erste Vatikanische Konzil. In den 1960er Jahren gewann das Papsttum das freundliche Gesicht von Johannes XXIII. und einen Frühlingsduft der Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils. Am Ende desselben Jahrhunderts, als die weltliche Macht der Päpste nur noch zu einer matten Erinnerung an eine längst vergangene Welt wurde, beteiligte sich der Papst aus Polen an den globalen politischen Veränderungen der spätmodernen Welt. Johannes Paul II. wurde zum Medienstar ersten Ranges und zu der markantesten Person seiner Zeit. Kein Mensch in der Geschichte wurde von so vielen Menschen in so vielen Ländern der Welt aus der Nähe und mit eigenen Augen gesehen. Mit dem Schwinden der politischen Macht der Päpste wuchs ihr moralischer – und infolgedessen auch ihr politischer – Einfluss. Auch die mediale Kritik an der päpstlichen Lehre bestätigte, dass die säkulare Welt gar nicht für gleichgültig hält, was der Papst sagt.
Im 21. Jahrhundert, in der Zeit eines radikalen Verfalls der moralischen Autorität der Kirche infolge der Aufdeckung einer vorher ungeahnten Menge von tragischen Fällen des spirituellen, sexuellen und psychologischen Missbrauchs wehrloser Menschen durch Kleriker und infolge von Austritten, in einer Zeit, in der viele Menschen die Kirche verlassen, entstanden zugleich viele populäre Filme, die von der Rolle des Papstes fasziniert sind. Die Serien The Young Pope(2016) und The New Pope(2020) und Filme wie Habemus Papam(2011) oder Die zweiPäpste (2019), die den Papst als eine sympathisch nonkonforme Figur schildern, gewannen viele Zuschauer auch unter denen, die weder zu den Lesern der päpstlichen Enzykliken noch zu den Zuhörern des Vatikanradios gehören. Selbst bei den Menschen, die der Kirche gleichgültig oder kritisch gegenüberstehen, hat das Papsttum nichts von seiner Faszination und Anziehungskraft verloren.
Papst Franziskus wurde wohl in der ganzen Geschichte des Papsttums zum beliebtesten Papst jenseits der Kirchengrenzen und zugleich zum am meisten attackierten Papst seitens bestimmter katholischer Kreise. Quer durch die Konfessionen projiziert man in die Figur des Papstes eigene Ideale oder »Feindbilder«. Unabhängig von den historischen Veränderungen des Papsttums und von dem Wechsel der Personen auf dem Stuhl Petri bleibt der Papst seit Jahrhunderten ein im kollektiven Unterbewusstsein unserer Kultur gegenwärtiger Archetyp.
Es ist also nichts Exotisches und Unverständliches, dass dieser Archetyp des Papstes mit einem neuen Namen und mit einer neuen Form des päpstlichen Dienstes aus meinem Unbewussten durch einen Traum auftauchte und in meinen Vorstellungen sein eigenes Leben begann.
***
Im Sommer und Herbst 2023 entschied ich mich, meinen Briefen die Form eines Buches zu geben und meine Kommunikation mit dem imaginären Papst einem breiten Leserkreis in verschiedenen Ländern zugänglich zu machen. Dies geschah zu einer Zeit, als in der katholischen Kirche die Vorbereitungen auf die erste von zwei weltweiten Synoden in Rom ihren Höhepunkt erreichten, einer Zeit großer Erwartungen von Veränderungen.
In einem meiner letzten Bücher habe ich diese Zeit als Schwelle zum »Nachmittag des Christentums«3 bezeichnet, einer Reifezeit, als möglichen Anfang einer neuen Phase nicht nur in der Geschichte der katholischen Kirche, sondern in der Geschichte überhaupt. Ich bin davon überzeugt, dass Papst Franziskus mit seinem Aufruf zur synodalen Erneuerung das Christentum an die Schwelle einer neuen Phase seiner Geschichte, an die Schwelle eines neuen, breiteren und bisher unbekannten geistigen Raumes gebracht hat. Die Kirche, ermutigt durch den Dienst einer Reihe von Franziskus’ Nachfolgern, steht hier vor der Aufgabe, diese Landschaft zu erforschen und in ihr heimisch zu werden. Papst Franziskus lehnte es ab, auf die Frage zu antworten, was das konkrete Endziel der synodalen Erneuerung sein soll. Er verglich sie mit dem Weg, zu dem Abraham, der Vater des Glaubens, vom Herrn aufgerufen wurde – Abraham nahm den Aufruf Gottes an und »er zog weg, ohne zu wissen, wohin es ging«.4
Für jede Kirchenreform ist es wichtig, die Worte des Apostels Paulus zu verstehen und zu erfüllen: »Passt euch nicht dieser Welt an, sondern gestaltet euch um, indem ihr euer Denken erneuert […].«5
Dieses Buch ist die Frucht meiner tiefen Überzeugung, dass die Grundvoraussetzung für Authentizität und Fruchtbarkeit einer Reform die Erneuerung mittels der Verwandlung des Denkens ist, mittels einer Vertiefung der Gesinnung des Empfindens, der Spiritualität und Theologie, also mittels der Vertiefung der Grunddimension des Glaubens. Nur aus einer solchen Verwandlung kann eine Erneuerung der äußeren Gestalt der Kirche und ihrer institutionellen Strukturen hervorgehen. Nur aus dieser Tiefe kann dann die Kraft entstehen, die anstelle passiver, unkritischer Konformität mit der »Welt« (der heutigen Gesellschaft und Kultur) oder anstelle zuvor verlorener »Kulturkriege« gegen sie dazu beitragen kann, »diese Welt« auch zu gestalten und zu kultivieren. Bei jeder Reform ist es nötig zu fragen, was ihre theologischen und spirituellen Quellen sind und ob es Menschen gibt, die imstande sind, sie zu verstehen, anzunehmen und im Leben umzusetzen.
Eins der Schlüsselthemen meiner Gespräche mit Papst Raphael ist die Frage, wie von einer Reformation im Sinne einer nur äußerlichen Veränderung der Formen zu einer Transformation, zu einer inneren Verwandlung des »Herzens der Sache« übergegangen werden kann. Wie kann das, was die Identität des Christentums bildet, was es zum »Salz der Erde« und zum Sauerteig für frisches Brot für den morgigen Tag macht, in dem Reformprozess nicht verloren gehen, sondern neu entdeckt und belebt werden?
Die Entscheidung, dieses Buch zu schreiben, traf ich am Gedenktag des Apostels Thomas, des Patrons aller Zweifelnden und Suchenden. Ich begann, es im Sommer 2023 in der Bergkapelle der Erlebach Hütte im Riesengebirge zu schreiben, in einem gläsernen Raum voll von Licht, mit Ausblick in alle Richtungen, in die Wolken sowie auf die Berggipfel.
1 Mt 23,9.
2 Gerechtigkeitshalber muss ich hinzufügen, dass derselbe Papst Paul VI. – zur Empörung seiner Umgebung – dem orthodoxen Patriarchen Athenagoras die Füße küsste, um so symbolisch die Arroganz seines einstigen Vorgängers wiedergutzumachen. Dieser zwang den Botschafter des Patriarchen von Konstantinopel, seine Füße zu küssen, was zum Schisma zwischen dem westlichen und östlichen Christentum beitrug.
3 Vgl. Tomáš Halík, Der Nachmittag des Christentums. Eine Zeitansage, Freiburg 2022.
4 Hebr 11,8.
5 Röm 12,2.
Lieber Papst Raphael,
Ihr Bruder Papst Franziskus ermutigt uns zum Träumen. Er inspiriert uns mit seinem prophetischen Traum von der Kirche als einem gemeinsamen Weg, von der synodalen Erneuerung der katholischen Kirche. In derselben Zeit traten auch Sie aus dem Reich der Träume in mein Leben hinein und leiten mich seither zu noch weiteren Horizonten und zu noch weiter entfernten Zielen.
In der archaischen Zeit unterschied man angeblich »kleine Träume«, die nur den Träumenden betrafen, von den »großen Träumen«, die eine Bedeutung für den ganzen Stamm hatten.1 Ich befasse mich seit Jahren mit den großen, in der prophetischen Literatur aufbewahrten Träumen und Mythen, die unseren ganzen Stamm inspirieren. Dazu gehört Nietzsches Traum von einer heimlichen Ermordung Gottes und ihren Folgen sowie die warnenden Traumvisionen einer unmenschlichen Gesellschaft in den Romanen von Franz Kafka und George Orwell. Es lässt sich vermuten, dass die Inspirationsquelle vieler Werke der Literatur, des Films, der bildenden Kunst und vielleicht auch der Musik beunruhigende, vieldeutige und oft »böse Träume« waren.
Direkt an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, das den Sieg des Lichtes der Vernunft über die Nachtwelt hätte vollenden sollen, und noch bevor diese aufgeklärte Welt in die Finsternis der Weltkriege sank, begab sich einer der scharfsinnigsten Söhne der Aufklärung in die Welt der Träume, um ihre Sprache zu entschlüsseln und ihren geheimen Sinn – und zugleich auch um die Quelle der überraschenderweise immer noch überlebenden Macht der Religion zu entdecken. Freuds hermeneutischer Schlüssel zur Interpretation von Träumen und zur Aufdeckung der Quelle der Religion besteht in seiner Lehre von der Macht des Unbewussten, von der Fantasie, welche die unterdrückten Wünsche erfüllt.
Auch in der Bibel begegnen wir vielen Träumen. Die Geschichten des Alten und Neuen Testaments sind von Träumen durchwoben, durch die der Herr sein Volk warnte und ermutigte. Die Hermeneutik der Propheten, die die Bedeutung der großen Träume auslegten, verläuft entgegengesetzt zu Freud. Der Sinn der prophetischen Träume in der Bibel liegt nicht in den menschlichen, sondern in den göttlichen Wünschen. Es ist Gott selbst, der in die Tiefen unseres Unbewussten hereintritt und von hier aus uns seine Botschaften in der vieldeutigen Traumsprache schickt. Der Prophet enthüllt in den Träumen, in seinen eigenen Träumen sowie in den Träumen der anderen, die unerfüllten Wünsche Gottes – er übermittelt die Aufrufe Gottes, damit Menschen diese Wünsche aufgreifen und Gottes Willen erfüllen.
Wir lesen in der Schrift, dass der Herr dem Propheten seine Ohren öffnet, damit er versteht und hört.2 Er lobt den jungen König Salomo, dass er sich nach dem Nötigsten, nach der Gabe eines hörenden Herzens sehnt.3 Das Herz ist in der Bibel der Ort des Verstehens dessen, was die Vernunft nicht verstehen kann, einschließlich der Sprache der Träume. Im Traum wird Josef vom Herrn ermutigt, sich nicht zu fürchten, seine Frau Maria mit dem Kind unter ihrem Herzen zu sich zu nehmen; dann warnt ihn der Herr vor Herodes’ Verfolgung und später ermutigt er ihn wiederum, nach Hause zurückzukehren.
Viele Träume brauchen eine Deutung, eine Interpretation von Motiven und Symbolen, die in dem Traum oft in einer unklaren und vieldeutigen Gestalt auftauchen. Neben dem analytischen Zugang eines Psychotherapeuten gibt es durch die Geschichte hindurch auch einen kontemplativen Zugang, der die Möglichkeit öffnet, die Traumimpulse, ihren tieferen Sinn und ihre breiteren Zusammenhänge zu verstehen.
Die biblischen Propheten waren vor allem Interpreten der Worte und Wünsche Gottes – der Mitteilungen Gottes in den Geschichtsereignissen und in den Träumen, die manchmal diese Ereignisse ankündigten. Ich glaube, dass Gott auch in unserer Zeit den Mut in der Kirche erweckt, danach zu fragen, von welcher Gestalt des Christentums für unsere Zeit er träumt. Auch die Antwort von Papst Franziskus zur synodalen Erneuerung der Kirche halte ich für eine Antwort auf einen der großen Träume Gottes – der ermutigenden prophetischen Träume von der Kirche und von der Zukunftswelt. Im Pontifikat dieses Papstes verband sich auf eine merkwürdige Weise die hierarchische Hirten- und Lehrautorität mit der prophetischen Sendung.
Viele Impulse und Intuitionen von Franziskus müssen jedoch weitergedacht werden. Ich bin überzeugt, dass dies auch von dem Aufruf zur Synodalität gilt: Nicht nur die katholische Kirche soll zu einem »gemeinsamen Weg« (syn hodos) werden. Nicht nur die Kirche, sondern die ganze Menschenfamilie muss sich auf einen gemeinsamen Weg begeben – und die Christen sollten nicht diejenigen sein, die sich auf diesem Weg verspäten und zurückbleiben, sondern sie sollten diejenigen sein, die diesen Weg vorbereiten und öffnen.
Das Prinzip der Synodalität, des gegenseitigen Zuhörens, der Kompatibilität in der Verschiedenheit und des gemeinsamen Entscheidens muss auch in die Beziehungen zwischen den Nationen, Kulturen und Religionen eingebracht werden. Zuhören und Respekt sollten zum Bestandteil auch der Beziehung der Menschen zu dem von ihnen bewohnten Planeten werden. Es geht nicht nur darum, die heutige katholische Kirche aus einer bürokratischen, von Skandalen umgetriebenen Institution zu einem flexiblen Netz der gegenseitigen Mitarbeit zu verwandeln. Die christliche Gemeinschaft sollte zum Brennpunkt des Mutes werden, alle Grenzen niederzureißen – genauso wie es Jesus von Nazareth und Paulus von Tarsus lehrten. Beide waren sich des Revolutionspotenzials ihrer Lehre sehr bewusst, sie kamen, »Feuer auf die Erde zu werfen«4 und alle bisherigen religiösen, kulturellen, sozialen und geschlechterspezifischen Grenzen zu überwinden: Es kommt nicht mehr darauf an, ob man Jude oder Heide, frei oder Sklave, Mann oder Frau ist. In Christus sind sich alle gleich, sie haben eine neue Identität, sie sind eine neue Schöpfung.5 Diese neue Gemeinschaft nimmt die verheißene Verwandlung von allem – den neuen Himmel und die neue Erde – voraus.6
Die synodale Erneuerung setzt die Transformation, die Selbstüberschreitung der bisherigen Gestalt des Christentums, voraus und bezieht sie ein. Bei dieser Transformation darf jedoch das Christentum seine Identität nicht auflösen lassen und zu einem allumgreifenden Humanismus oder zu einem religiösen Esperanto (das in der Regel in eine Sekte mündet) werden, sondern es muss seine Identität immer neu entdecken. Weil der Grund der christlichen Identität Christus und seine Ostergeschichte ist, bedeutet dies, Christus und das Geheimnis der österlichen Verwandlung von Tod in neues Leben neu zu entdecken.
***
In dem ersten unserer imaginären Gespräche stellten Sie, Papst Raphael, mir die Frage, worin ich heute die prophetische Rolle der Kirche sehe, wie sie praktisch zu erfüllen wäre und wie dies mit der Verwandlung des heutigen Christentums inmitten der radikalen Veränderungen unserer Welt zusammenhängt. Ich habe Ihnen gerade meine Antwort angedeutet.
Es gilt, der Botschaft der Träume zuerst aufmerksam zuzuhören. Papst Franziskus bezeichnete gerade das Zuhören als den ersten Schritt auf dem Weg der synodalen Erneuerung. In allen Phasen des synodalen Prozesses bildet die stille Kontemplation einen integralen Bestandteil der Arbeitssitzungen. Es sind Momente des Hörens auf den Geist, der zu jedem der Teilnehmer sowohl in seinen Gedanken und im Heiligtum seines Herzens und Gewissens als auch durch die Worte der anderen spricht.
Der Papst hat zwei gesamtkirchliche Synoden zusammengerufen. Diese zwei wichtigen Treffen mögen wohl nicht jene Reformen der institutionellen Strukturen erbringen, die viele erwarten – die einen mit ungeduldiger Hoffnung, die anderen mit Angst. Diese Teilreformen sind wichtig, aber ich versuche, mich nicht nur auf sie zu fixieren, sondern ein noch wesentlicheres Ziel immer vor Augen zu haben. Für das Hauptziel der Synodalreform halte ich die Veränderung des Kirchenverständnisses und der Wirkung der Kirche in der Welt, die Veränderung der Kommunikation in der Kirche sowie der Kommunikation der Kirche mit der Welt. Es geht um die Veränderung des Stils und der Methode, um eine neue Weise, Kirche zu sein. Es ist eine Aufgabe für die ganze folgende Geschichte des Christentums.
Ich erwarte auch einige notwendige Änderungen der institutionellen Kirchenstrukturen. Diese können sich jedoch nur als ein Nebenprodukt des Neuen ereignen, das die Kirche schon während der Vorbereitung der gesamtkirchlichen Synode in Rom zu lernen begann. Es ist eben die Kultur des Zuhörens: des den anderen Zuhörens und des damit verbundenen Hörens auf den Geist Gottes. Es war wirklich wichtig, dass nach den einzelnen Synodalsitzungen eine Zeit zur Kontemplation, Stille, folgte, in der in den Teilnehmern das ausklingen konnte, was die anderen sagten, und in der sie selbst sich dem Wehen des Geistes innerlich öffnen konnten.
Von meinen evangelischen Freunden höre ich oft den Einwand, dass die Synodalreform vor allem ein Problem der katholischen Kirche darstellt, weil sie mit ihrem Nachdruck auf das hierarchische Prinzip das Synodalprinzip überschatte. Das Synodalprinzip sei schon Bestandteil der frühchristlichen Praxis gewesen, blieb in den östlichen christlichen Kirchen weitgehend erhalten und war von Anfang an für die Reformationskirchen bezeichnend. Das ist in einem bestimmten Maße wahr, vor allem hinsichtlich der Kirchenstruktur und der Entscheidungsprozesse.
Aber die Erfahrung der Verbindung von Meditation mit dem Prozess einer gemeinsamen Suche und Entscheidung ist meiner Meinung nach etwas, das auch in den nicht katholischen Kirchen für die Vertiefung der Synodalität inspirierend sein kann. Ich bin darüber hinaus zutiefst davon überzeugt, dass diese Praxis des Stillwerdens und Zuhörens gute Früchte auch in den Verhandlungen und Entscheidungen vieler säkularen Institutionen bringen könnte.
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Will ich zuhören und verstehen, dann muss ich zuerst Orte suchen, wo ich Gottes Stimme hören kann – in meinem Inneren, in der Kirche und auch in den Ereignissen in der Welt um uns herum. Einen solchen Ort aufzusuchen, ist auf dem Weg des Glaubens ein unvermeidbarer Schritt. Viele von denen, die behaupten, Gott sei ihnen gegenüber stumm, sind nie aus dem Lärm herausgetreten, in dem seine Stimme nicht gehört werden kann.
Die Bibel lehrt, dass sich Gott vor allem in seinem Wort offenbart. Er spricht zu uns und erwartet von uns die Hörbereitschaft, die Kunst des Stillwerdens und Zuhörens und die Sehnsucht nach Verstehen. Eine der großen Versuchungen auf dem Weg des Glaubens ist die Reduktion des Wortes Gottes nur auf das geschriebene Wort