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Kriminalhauptkommissar Jakob Franck ist seit zwei Monaten im Ruhestand und glaubt nun, ein Leben jenseits der Toten beginnen zu können. Vor zwanzig Jahren hatte er sieben Stunden, ohne ein Wort zu sagen, der Mutter einer toten Siebzehnjährigen beigestanden. Jetzt wird der Kommissar von dieser Konstellation eingeholt: Ludwig Winther tritt mit ihm in Kontakt; er ist der Vater des jungen Mädchens, das sich umgebracht haben soll, und Ehemann jener Frau, der Franck so viel Aufmerksamkeit widmete.
Zwanzig Jahre sind vergangen, und Ludwig Winther glaubt noch immer nicht an den Selbstmord seiner Tochter. Er ist überzeugt, dass sie ermordet wurde. Ex-Kommissar Jakob Franck macht sich also daran, die näheren Umstände ihres Todes aufzuklären, »einen toten Fall zum Leben zu erwecken «. Jakob Franck folgt dabei seiner ureigenen Methode, der »Gedankenfühligkeit «: Diese ist unnachahmlich und unübertroffen bei der Lösung der kompliziertesten und überraschendsten Fälle.
Friedrich Ani und seine Kunst der Konstruktion gewöhnlich-außergewöhnlicher Kriminalistikrätsel; Friedrich Ani und seine Sprache, die vom Tod auf das Leben melancholisch gelöste Perspektiven wirft – Friedrich Ani und seine Kunst erreichen in seinem neuen Roman unvorhersehbare Dimensionen.
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Kriminalhauptkommissar Jakob Franck ist seit zwei Monaten im Ruhestand und glaubt nun, ein Leben jenseits der Toten beginnen zu können. Vor zwanzig Jahren hatte er als Überbringer einer unvorstellbaren Nachricht der Mutter einer toten Siebzehnjährigen beigestanden.
Jetzt wird der Kommissar von dieser Konstellation eingeholt: Ludwig Winther tritt mit ihm in Kontakt; er ist der Vater des jungen Mädchens und Ehemann jener Frau, der Franck so viel Aufmerksamkeit widmete.
Zwanzig Jahre sind vergangen, und der Vater zieht immer noch den – laut polizeilichem Untersuchungsergebnis eindeutig feststehenden – Selbstmord der Tochter durch Erhängen in Zweifel: Seiner Meinung nach kann es sich nur um Mord handeln.
Ex-Kommissar Jakob Franck macht sich also daran, die näheren Umstände ihres Todes aufzuklären, »einen toten Fall zum Leben zu erwecken«. Jakob Franck folgt dabei seiner ureigenen Methode, der »Gedankenfühligkeit«.
Mit diesem Roman startet Friedrich Ani eine neue Serie um Ex-Kommissar Jakob Franck. In ihm erreichen seine Kunst der Konstruktion gewöhnlich-außergewöhnlicher Kriminalistikrätsel einen neuen Höhepunkt; Friedrich Anis Sprache, die vom Tod auf das Leben melancholisch gelöste Perspektiven wirft, erreicht in seinem neuen Roman unvorhersehbare Dimensionen.
Friedrich Ani, geb. 1959, lebt in München. Er schreibt Romane, Gedichte, Jugendbücher, Hörspiele und Drehbücher. Sein Werk wurde mehrfach übersetzt und vielfach prämiert, u.a. mit dem Deutschen Krimipreis, dem Adolf-Grimme-Preis und dem Bayerischen Fernsehpreis. Seine Romane um den Vermisstenfahnder Tabor Süden machten ihn zu einem der bekanntesten deutschsprachigen Kriminalschriftsteller. Friedrich Ani ist Mitglied des Internationalen PEN-Clubs.
FRIEDRICH ANI
DER NAMENLOSE TAG
Ein Fall für Jakob Franck
Roman
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2015
© Suhrkamp Verlag Berlin 2015
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Umschlagfoto: Eric Reichbaum / Getty Images
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
eISBN 978-3-518-74176-4
www.suhrkamp.de
Dem Glauben nah, der
Erde fern, im Leben
immerdar ein dunkler Stern
Das Winken hinter der Mauer
1
Andauernd rief eine Frau meinen Namen, aber ich war nicht gemeint.
So gemein.
Ich hab sie nicht mal gesehen, zu viele Leute überall; alle schrien durcheinander, mir wurde schon ganz schwindlig. Wegschauen konnt ich nicht; jedes Mal, wenn ich den Kopf drehte, lag da meine Mutter; alles war still.
Sogar der Willy hat keinen Ton von sich gegeben; der hockte auf seinem Käfig, aufgeplustert und starr wie ausgestopft.
Wo bist du?, rief die Frau; ich presste die Lippen aufeinander aus lauter Furcht. Ein Wort, und ich wär verraten gewesen und tot. Also blieb ich hinterm Sofa; der Fernseher lief, die Menschen da waren alle lustig und lebendig; bloß meine Mutter nicht und die Welt um sie rum.
Das sagte eine Stimme in meinem Kopf, ich schwör’s Ihnen, die sagte: deine Mama kommt nimmer zruck.
Obwohl sie doch da lag, fast nah; hätt hinkriechen können und sie berühren. Die Stimme sagte: Das darfst net; ich duckte mich und hörte wieder, wie die andere Frau meinen Namen rief. Und ohne es zu wollen, hob ich ein Stück die Hand und winkte.
Ich winkte das Sofa an; wie lächerlich bin ich gewesen?
Dass ich ein Kind war, ist keine Entschuldigung, aufstehen hätt ich müssen, mich zeigen und was tun.
Warum hab ich nichts getan?
Das war die Stimme in meinem Kopf, die mich das fragte, immerzu: Warum hast du nix tan und bist bloß dumm und feig. Ich wollt antworten, dass das nicht stimmt; mein Mund war zu; tief in mir war mir klar: die Stimme hat recht.
Als Kind, das weiß ich bis heut, hab ich mehr mit mir selber gesprochen als mit irgendeinem anderen Menschen. Wahrscheinlich hab ich sogar mehr mit dem Willy gesprochen als mit meinem Vater. Und mein Vater hat bestimmt mehr mit seinen Kunden gesprochen als mit mir und meiner Mutter. So war das bei uns.
Außer an dem Tag, als ich hinter dem Sofa kniete und mein Vater nicht mehr aufhörte zu sprechen.
Er sprach ja nicht; er schrie; meine Mutter schrie zurück, so laut, wie ich sie noch nie hatte schreien hören. Bis zu diesem Abend wusste ich nicht, dass sie überhaupt eine solche Stimme hatte. Sie war nämlich die Leiseliese. Jeder nannte sie so, die Nachbarn, die Verkäufer in den Geschäften; mein Vater sagte Liese zu ihr, wie sein Bruder und alle, die uns kannten. Wenn niemand zuhörte, hieß meine Mutter bei den allen die Leiseliese. Weil sie gern flüsterte und am liebsten wenig redete bis gar nichts. Für mich war das schön, solang ich mich erinnern konnte.
An jenem Tag hörte meine Erinnerung auf; ich wünschte so sehr, sie würde was sagen, von mir aus schreien, wie zuvor, laut und giftig, und mit den Armen fuchteln, als winkte sie dem lieben Gott.
Sie lag nur da; ich kauerte hinter dem Sofa; nichts stimmte mehr; die Frau im Fernsehen rief meinen Namen, ich hasste sie dafür. Sie war die Falsche, die ihn rief, und sie meinte nicht mal mich, bloß irgendwen, den ich genau sowenig sehen konnte wie sie.
Das war der Tag, an dem in Ostberlin die Menschen durch die Mauer kamen und ich hinter einer Mauer verschwand, weil ich mich nicht getraut hatte, zu ihr zu laufen, als sie meinen Namen rief.
Ich war nur zwei Meter von ihr weg, hielt mir die Arme über den Kopf und kauerte, dürr und klein wie ich war, zwischen dem Sofa und der Wand, weil ich endlich meinen Porsche Carrera 6 wiederfinden wollte und sonst nichts.
Und sonst nichts.
Woher hätt ich wissen sollen, wie das klingt, wenn jemand stirbt?
Besuch der Toten
1
Die Toten hielten sich nicht an den Tag der Toten; sie kamen, wann immer es ihnen passte, und sie blieben über Nacht, manchmal zu zweit − meist einer allein −, als hätten sie verabredet, einander weder Raum noch Zeit zu stehlen, oder aus Respekt vor der Würde des anderen.
Über solche Fragen dachte Jakob Franck seit Jahren nach, und er erwartete keine Antwort. Die Anwesenheit der Toten war für ihn Erklärung genug. Seine Überlegungen sollten ihn nur von sich selbst ablenken; das klappte auch ab und zu. Er saß dann am gedeckten Wohnzimmertisch und führte − lautlos, mit wandernden Händen −, eine Unterhaltung über die Motive und Absichten seiner Gäste, nahm zwischendurch einen Butterkeks vom Teller in der Mitte des Tisches, wiegte den Kopf, setzte die Lesebrille auf und wieder ab; schließlich lehnte er sich zurück und nickte bedächtig, als stimme er nach eingehender Prüfung aller Argumente seiner Meinung zu.
Ihm war bewusst, wie abseitig er sich verhielt; doch in all den Jahren hatte er noch keine andere Methode gefunden, wie er den Gespenstern seiner Vergangenheit begegnen sollte, ohne sich lächerlich zu machen, indem er seinen Schrecken mit Kopfspielchen verhätschelte wie ein Kind im dunklen Kohlenkeller.
Ein wenig hatte er gehofft, er bliebe nach seiner Pensionierung von seinen Besuchern verschont.
Heute jedoch, zwei Monate später, schüttelte er über diese Erwartung den Kopf, so abstrus erschien sie ihm im Nachhinein.
Die Toten waren das Personal seiner Gegenwart gewesen; es spielte keine Rolle, ob er im Dezernat 11 in einem Team als Mordermittler arbeitete oder neuerdings als geschiedener und beziehungsloser Hausmann das Ausmaß seiner Selbstgespräche halbwegs im Griff behielt. Den Toten war sein Status egal. Er hatte sich damals, beim Eintritt in den Gehobenen Dienst, für ihre Welt entschieden, und aus dieser Welt kehrt niemand unversehrt und traumlos zurück. Das hatte Jakob Franck schon vorher gewusst –oder wenigstens geahnt –, und er bereute seine Entscheidung bis zum heutigen Tag nicht.
Er wäre nur gern nicht jedes Mal zu Tode erschrocken.
Die zweiunddreißigjährige Frau hatte sich vor den Fernzug nach Budapest geworfen; der Leichenfundort war vierzig Meter lang; ihre linke Hand lag auf der anderen Seite der Gleise; dort entdeckte sie ein Mitarbeiter der Spurensicherung, und er winkte den Hauptkommissar herbei.
Dieses Winken brachte Jakob Franck wochenlang nicht aus dem Kopf.
Immer wenn er den Kollegen im Schutzanzug mit dem erhobenen Arm vor sich sah, marterte ihn die Frage, ob auch die junge Frau den Arm gehoben hatte − Sekunden bevor die Lok sie erfasste und ihre Hand in ein groteskes, schwereloses Winken verwandelte, fernab der übrigen Körperteile. Ihr Gesicht existierte nicht mehr.
Einen Tag und eine Nacht lang blieb die Frau namenlos, dann meldete ihre Mutter sie als vermisst und übergab der Polizei ein Foto. Eine abwesende Person, dachte Franck und schämte sich dafür. Was die Ermittler erfuhren, reichte für eine Rekonstruktion der Biografie nicht aus; das Gespräch mit der Mutter verlief stockend, zwischendurch hatte Franck das Bedürfnis, die Stimme zu erheben und laut zu werden, um die zweiundfünfzigjährige Frau aus ihrer Lethargie zu reißen oder zumindest ihr inneres Fluchtgebaren für ein paar Minuten zu erschüttern. Seiner Einschätzung nach wollte Lore Balan vom Unglück ihrer Tochter einfach nichts wissen; sie verachtete deren Selbsttötung und nistete sich in der Vorstellung ein, sie würde von nun an ein Kainsmal tragen, dem Gespött der Leute bis an ihr Lebensende ausgeliefert.
Stimmt doch!, sagte sie und wiederholte die Formulierung, wann immer sie in Francks Nähe einkehrte wie ein hereingebetener Gast. Der Polizist widersprach heftig − auch heute, an diesem letzten Tag im Oktober. Er redete ins Leere, wie damals.
Paulus Landwehr war auch da. Er blutete nicht; er blutete nie; er kam in seiner immer gleichen grauweißen, von Farbflecken übersäten Latzhose und dem grünen, nicht weniger ramponierten Sweatshirt und verlangte Schnaps, am besten Kirsch. Elf ungeöffnete und neunzehn leere Kirschwasserflaschen hatten die Ermittler in der Wohnung des Ehepaars Landwehr entdeckt; im Flur und in der Küche stapelten sich Bierkästen; unter dem blutgetränkten und von roten Federn bedeckten Bett im Schlafzimmer kullerten drei halbvolle Eierlikörflaschen. Paulus Landwehr hatte seiner Frau den Schädel gespalten und sich anschließend mit neun Messerstichen selbst getötet. Die Blutspur führte von der Küche durch den Flur ins Wohnzimmer, wo er zusammengebrochen war. Nachbarn hatten Schreie gehört und die Polizei alarmiert. Als Franck am Tatort eintraf, lebte der Malermeister noch, und als hätte er den Ermittler erkannt, griff er nach dessen Hand und flüsterte: Die Frau hat völlig recht g’habt. Landwehr starb auf dem Weg ins Krankenhaus.
Die Frau hat völlig recht, sagte er zu Lore Balan; Franck öffnete die Balkontür in seinem Zimmer und atmete die kühle, feuchte Luft ein, in der Hoffnung, er wäre gereinigt, wenn er sich umdrehte.
Die beiden Gestalten saßen immer noch da, in ein Gespräch vertieft, das Franck nicht hören konnte; in seinem Kopf hallten nur die Echos der Sätze wider. Also beugte er sich über den Tisch, nahm einen Butterkeks, kaute so laut, wie seine Zähne es erlaubten, schmatzte beim Schlucken, griff nach einem zweiten Keks und wiederholte die Prozedur sechs Mal.
Danach fiel er in den Stuhl und schloss die Augen, ließ die Gedanken durch den menschenleeren Stadtpark wandern; der Kies knirschte unter den Schuhen; mit Ästen und Blättern übte der Wind eine Melodie ein. Eine große Geborgenheit, die er zu genießen versuchte, umgab den ehemaligen Ermittler; vielleicht wäre er dazu in der Lage gewesen, wenn sein Telefon nicht geklingelt hätte und er, mit einem berufsbedingten Reflex, nicht aufgesprungen und in den Flur geeilt wäre.
Auf dem Weg dorthin brauchte er sich nicht einmal umzudrehen, um festzustellen, ob seine beiden Gäste noch am Tisch saßen. Lore Balan − geschieden, Küchenhilfe im Ibis-Hotel, Mutter einer unter Schwermut leidenden Tochter, die in ihrem Abschiedsbrief für ihre Tat und ihr ganzes Leben um Vergebung bat. Paulus Landwehr− seit neunundzwanzig Jahren verheiratet mit Pia Landwehr, früher ein gefragter Handwerker, Alkoholiker wie seine Frau, die er, wie Nachbarn und Verwandte aussagten, ununterbrochen anpumpte, bis sie sich weigerte, ihm noch einen Cent zu geben.
Im Flur hörte Franck ihn sagen: Sie ham völlig recht, Ihre Dochda hätt das nicht machen dürfen.
Mit einem schnellen Griff packte Franck den Hörer und hielt ihn ans Ohr.
»Franck.«
»Winther.«
Ein Schweigen folgte; dann legte der Anrufer auf. Minutenlang stand Franck mit dem Hörer in der Hand in seiner Diele, mit Blick zur Wohnungstür, als erwartete er ein Klingeln und dürfte einem Besucher die Tür öffnen, dessen Ankunft nicht wie ein Meteor in seiner Gegenwart einschlagen würde.
»Verzeihen Sie wegen gestern«, sagte der Mann an der Tür, noch bevor er zum dritten Mal seinen Namen nannte.
»Das macht nichts.« Franck streckte die Hand aus; die beiden Männer sahen sich eine Weile wortlos an, die Augen spiegelten eine gewisse Unbeholfenheit.
Nach einer Stunde hatte das Telefon gestern noch einmal geklingelt; Franck spielte mit dem Gedanken, den Anrufbeantworter anspringen zu lassen, was jedoch nicht seiner Gewohnheit entsprach. Wenn er zu Hause war, nahm er ein Gespräch auch entgegen − eine Angewohnheit, die ebenso seiner polizeibedingten Akkuratesse geschuldet war wie seine bis aufs letzte Komma lesbare Schreibschrift oder das Wort Schreibschrift selbst, im Gegensatz zur Druckschrift, Durchschrift oder Abschrift.
Am anderen Ende war ein Mann, dessen Stimme er sofort wiedererkannte, obwohl dieser vorher nur ein einziges Wort gesagt und Franck mit ihm vor etwa zwanzig Jahren zum letzten Mal gesprochen hatte.
Auch den Namen hatte er schließlich zuordnen können, nachdem er – den Hörer in der rechten Hand und den Blick zur Tür gerichtet – sich nicht von der Stelle bewegt hatte; im Rücken die Geister seiner Vergangenheit; in der Luft der langgezogene Ton des Telefons, der in ein Tuten überging, das in dem Moment in Stille mündete, als dem Exkommissar die Welt hinter dem Namen Winther bewusst wurde und er damit rechnete, bei seiner Rückkehr ins Wohnzimmer noch einen dritten Gast beherbergen zu müssen.
Er legte dann auf und wandte sich kurz darauf verwundert um, weil das Telefon nicht noch einmal klingelte, erst nach einer Stunde.
Da saß er in der Küche, trank ein Glas Bier, blätterte in der Zeitung, ohne sich konzentrieren zu können, und dachte an die Begegnung mit der Frau an jenem Abend vor zwanzig Jahren, in der lodernden Finsternis eines bescheidenen Hauses im Ostteil der Stadt.
Winther, dachte er, Winther.
Ihm fiel der Vorname der Frau nicht mehr ein; das ärgerte ihn derart, dass er überlegte, die Kartons mit den alten Akten zu durchwühlen. Und weil er immer zorniger wurde und sich in eine Spirale aus anschwellender Selbstanklage und fanatischem Grübeln hineinsteigerte, sprang er auf, hastete in den Flur und wäre − wie in einer Panikattacke− im Nebenzimmer gestürzt, hätte nicht das Telefon geklingelt und ihn schlagartig innehalten lassen.
Außer Atem hob er den Hörer ab, und der Mann am anderen Ende hätte vor Schreck beinah wieder aufgelegt.
»Hier entlang«, sagte Franck. Er führte den gebückt gehenden Gast ins Wohnzimmer und ließ ihn, Blick zum Fenster, Rücken zum Durchgang, an der Schmalseite des Tisches Platz nehmen − dort, wo die Geister aus einem nur ihnen selbst bekannten Grund sich niemals hinsetzten; er schenkte dem Besucher eine Tasse Kaffee ein, hielt ihm den Teller mit Gebäck hin. Ludwig Winther nahm sich einen Keks und lehnte ihn mit unmerklich zitternder Hand an den Unterteller der Tasse. Zucker und Milch mochte er nicht − im Gegensatz zu Franck, der, nachdem er sich gesetzt hatte, mit beidem nicht sparte.
Franck saß an der Längsseite, gegenüber dem Gemälde mit dem Waldmotiv, das seine Frau ihm nach der Trennung, wie sie sagte, »mit Kusshand« überlassen hatte; sie fand das Bild schon immer »grenzwertig«. Franck hatte das Ölgemälde auf einem Flohmarkt gekauft, es erschien ihm »wie das Tor zu einer besseren Stunde«, eine Erklärung, die Marion weder verstand noch verstehen wollte− so dass das Bild bis zu ihrem Auszug in Francks Arbeitszimmer hing, neben dem Schrank mit den Kopien jener Akten, die auf sie eine ähnlich abschreckende Wirkung ausübten wie das in trüben Farben gemalte und von beklemmenden Schatten durchzogene Kunstwerk. Wie jemand bei dessen Anblick in einen »besseren« Zustand verfallen könne, blieb ihr ein Rätsel; sie redeten nie wieder darüber.
»Dieses Bild«, sagte Ludwig Winther nach einem Schweigen, das er hauptsächlich mit der Betrachtung seines schwarzen Kaffees verbracht hatte, »das spricht mich an.«
Obwohl Franck den Eindruck hatte, der Mann würde sich dem Bild erst jetzt intensiver zuwenden, hörte er geduldig zu. »Gleich beim Reinkommen hab ich gedacht, das Bild passt zu Ihnen; es entspricht Ihnen, wenn ich das sagen darf. Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen. Danke.«
Franck saß da, die Hände im Schoß gefaltet, wachsam, als führe er wider Willen eine Vernehmung im Dezernat durch; sogar den unlinierten Block und den Kugelschreiber hatte er neben seinem Teller bereitgelegt. Er kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich auf die Hände des Mannes im schwarzen Anzug. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, den Worten ebenso zu misstrauen wie den Gesten, dem Schweigen sowieso, und auf ein betont freundliches Auftreten gab er nichts. Fünf von zehn Menschen, denen er als Kommissar gegenübergesessen hatte, versuchten, ihn mit unbeholfen gestrickten Lügen zu erwärmen; zwei tischten ihm ihre Lügen als nackte Tatsachen auf; einer redete von Haus aus wirres Zeug; einer war der Täter und zur Unwahrheit vorübergehend berechtigt; und nur einer von zehn erzählte, was er wusste und was mit der Wirklichkeit übereinstimmte. Seine persönliche Statistik hatte Franck noch nie enttäuscht, kein Fall hatte sie je widerlegt.
Innerhalb von Sekunden hatte er sich, ohne es zu bemerken, in einen diensthabenden Sachbearbeiter zurückverwandelt.
Auch während der folgenden Stunde blieb seine Haltung unverändert; ihm fiel nicht einmal auf, dass er gelegentlich ein Wort, einen Satz auf seinen Block kritzelte − wie nebenbei oder aus Versehen − und dabei nickte und den Blick nicht abwandte und so sein Gegenüber zu weiteren Aussagen ermutigte.
Tatsächlich fühlte sich Winther ermuntert; er genoss die aufnahmebereite Nähe seines Gastgebers auf eine Weise, die er nicht für möglich gehalten hätte. Vor der Haustür hatte er vor Unsicherheit und Beklemmung noch nach Luft gerungen und mehrere Minuten benötigt, bis er es endlich schaffte, auf die Klingel zu drücken; und als er ein Knacken in der Sprechanlage hörte und der Summer ertönte, brachte er seinen Namen nicht heraus.
Mittlerweile schien er − ähnlich wie Franck − ein anderer zu sein, womöglich ein »Besserer« als am Morgen dieses Tages, des Tags der Toten.
»Wär ich doch da gewesen und in der Näh’, so wie jetzt bei Ihnen. Dass man die Hand ausstrecken kann und jemand festhalten. Die Esther. Hat kein Mensch festgehalten, das kleine Mädchen. Klein ist auch falsch, sie war schon siebzehn; ich geh manchmal in meiner Wohnung rum und krieg die Zahl siebzehn nicht aus dem Schädel; siebzehn, siebzehn, dröhnt’s da oben, und ich stell mich ans Fenster und hoffe, dass im Garten was passiert, damit mein Kopf Ruhe gibt.
Da passiert nie was; da wär die Polizei arbeitslos, wenn sie auf den Ellinger Weg angewiesen wär. Siebzehn, siebzehn. Ich trink dann Bier, aber höchstens zwei Flaschen; ich mag Bier eigentlich nicht; weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal betrunken war. Damals halt, in der dunklen Zeit, war ich jeden Tag betrunken, das ist klar; lang her, kommt mir ewig vor. Das war was anderes, mein Leben war kaputt, und wenn das Leben kaputt ist, geht man selber auch kaputt, das ist ein Naturgesetz. Wenn man Glück hat, und das Leben erholt sich wieder und nimmt einen wieder auf, dann braucht man keine Flaschen mehr vor sich selber zu verstecken, ist das nicht so? Sie wissen Bescheid als Polizist, Sie kennen die Menschen, Sie werfen einen Blick auf uns und: ausgeliefert. Das dauernde Weglaufen macht uns krank und böse.
Das Bild ist wirklich gut, das Sie da hängen haben, kommt mir vertraut vor. Nicht, weil ich so oft im Wald wär; was soll ich im Wald; ich verlauf mich bloß; ich verlauf mich überhaupt viel.
Dauernd renn ich wohin, wo ich nicht sein will. Bei Ihnen bin ich jetzt aber schon bewusst, und dass Sie mich empfangen, ist eine Ehr’, ich weiß doch, dass Sie anderes zu tun haben, als sich alte Geschichten anzuhören.
Ich wär gestorben, wenn Sie mich abgewiesen hätten. Bitte, wegen gestern, das muss ich noch mal sagen, das bedauer ich sehr. Dass ich aufgelegt hab einfach so. Das macht man nicht, und ich hab so was auch noch nie gemacht, das versicher ich Ihnen aufrichtig.
Als Sie sagten: Franck!, da hab ich mich erschrocken und mir ist der Hörer aus der Hand gefallen, das müssen Sie mir glauben, bitte. Wer glaubt das schon? Einem erwachsenen Mann fällt der Hörer aus der Hand! Danach hab ich mich so unglaublich geärgert, dass ich mit der Faust gegen die Wand geschlagen hab, stellt sich einer so was vor! Mit der Faust. Sehen Sie die Abschürfungen an den Knöcheln hier, alles noch frisch und peinlich. Früher hätt ich den lieben Gott beschimpft oder Jesus.
Danke für die Erlaubnis, hier sein zu dürfen.
Ich hör auch gleich auf zu reden. Das kommt nicht so oft vor, dass einer dasitzt und so zuhört wie Sie; die meisten Leute tun nur so, als wären sie interessiert, im Grunde ist niemand interessiert, ich auch nicht. Wo war ich, als ich da sein hätt müssen? In Salzburg. Salzburg, wo ist das? Im Niemandsland. Ich weiß noch, wie ich am Bahnhof ausgestiegen bin, da wehte ein eisiger Wind, und ich dacht noch, bald wird’s schneien, vielleicht noch heut Nacht. Wissen Sie, wann das war? Am vierzehnten Februar.
Den vierzehnten Februar hab ich nicht mehr im Kalender stehen; ich reiß ihn raus am Anfang vom Jahr, und nicht nur bei meinem Abreißkalender, auch in meinem Büchlein, das ich mir kauf, obwohl ich keine Termine hab. Früher schon hab ich mir kleine, gebundene Kalender gekauft, mit Landkarten von Europa hinten drin und Tabellen mit Entfernungen. Damit man weiß, wie lang man unterwegs ist, wenn man in eine bestimmte Stadt möcht, nach Amsterdam oder Madrid oder Budapest. Schön zu lesen ist das und anzuschauen, die farbigen Karten mit der winzigen Schrift und dem blauen Meer um die Länder rum. Stunden hab ich so verbracht, wie ein Kind; aber als Kind weiß man nicht, was ein Land bedeutet und wie weit es weg ist von daheim und die Zusammenhänge alle; man schaut das an und denkt: Das ist weite Welt. Ist aber nur bedrucktes Papier. Nein, so kindisch bin ich nicht mehr; ich reiß nur die eine Seite raus, anders kann ich nicht überleben. Die muss weg, die Seite, dann wird das Büchlein leichter; ist das nicht so?
Da war ich also am vierzehnten Februar in Salzburg, weil das Unternehmen uns einen Fortbildungskurs spendiert hat. Verkaufsstrategien, psychologischer Umgang mit Kunden, argumentatives Beraten bei unterschiedlichen Kleidungsstücken. Wir waren zu elft; ich saß in dem Tagungsraum im Hotel und hab gefroren wie ein Schneider; dabei war der Raum geheizt, alle zogen ihre Sakkos aus, und die Frauen machten an ihren Blusen die oberen Knöpfe auf, und alle Männer schauten hin, ich aber nicht. Hab geschlottert, innerlich, und ich dachte, ich werd krank und brauch Tabletten.
Zeichen Gottes. So hab ich das damals gedacht. Nach meiner Rückkehr in das verlassene Zimmer von meinem Mädchen.
Das war nicht mehr da; das Mädchen lag in der Gerichtsmedizin zur genauen Untersuchung. Dort hab ich sie besucht, an der Hand meiner Frau. Hallo, Esther, hab ich zu ihr gesagt; so dumm und peinlich bin ich gewesen an dem Tag und an den Tagen danach und immerzu. Lieber Gott, hab ich gesagt, erhör mich doch ein einziges Mal und mach, dass sie wieder atmet. Da muss doch noch Atem übrig sein im Himmel, hab ich laut gesagt, im Zimmer von unserer Tochter; solche Sachen hat mein Kopf gedacht, und ich hab sie ausgesprochen. Doris, meine Frau, hat in der Küche geweint, am Tisch, ich hab nicht geweint. Viel später erst, aber das spielt keine Rolle.
Wir haben doch von nichts gewusst. Die Sandra war die Erste, die uns ins Gesicht gesagt hat, unsere Esther wollt sich was antun. Lüge! Herrgott. Da steht die bei uns im Wohnzimmer und redet so was. Ein paar Stunden nachdem wir aus der Gerichtsmedizin zurückgekommen waren. Ich hab das gleich nicht geglaubt, meine Frau schon. Stellen Sie sich das vor, Herr Kommissar, die Doris hat die Sandra ernst genommen, das hab ich ihr nie verziehen, damals nicht und später nicht. Angeblich hätt unsere Tochter eine Schwermut in sich gehabt und sich deshalb aufgehängt. Das Gespräch hab ich beendet und bin ins Zimmer zurück und hab den lieben Gott wieder gebeten, er mög Atem machen und ihn Esther schenken.
Ich gesteh Ihnen das, weil Sie mir zuhören und mir glauben, das seh ich Ihnen an. Außer Ihnen hab ich das noch nie einem Menschen gebeichtet.
Ich bin jetzt vierundsechzig und damals war ich vierundvierzig, also ein gestandener Mann, Angestellter in einem namhaften Bekleidungsgeschäft und Besitzer eines kleinen Hauses in Ramersdorf mit einem schönen Garten. So einer kniet nicht im Zimmer und sagt: Lieber Gott, mach Atem für mein Kind. Da lachen die Wände; ich ließ mich nicht abbringen von meinem kindischen Rumtun. Ich wusst hundertprozentig, dass unsere Tochter nicht den Suizid begangen hat.
Dann kam der Polizist zu uns, der Kollege von Ihnen, und sagte, der Gerichtsmediziner hält Fremdeinwirkung nicht für ganz ausgeschlossen; nicht für ganz.
Dass so ein Wort existiert, war mir neu, aber ich hab es sofort geglaubt und verstanden. Fremdeinwirkung. Also schrie ich meine Frau an, in der Gegenwart des gut gekleideten Kommissars, dunkle Krawatte, dunkles Jackett, ruhiges Auftreten, das alles konnt mich nicht abhalten, meine Frau anzuschreien, weil sie es verdient hatte. Weil sie der Sandra jedes Wort geglaubt hat; weil nicht sie mich angerufen hat in Salzburg, die Polizei war’s, im Hotel. Die andern in der Gruppe hatten alle schon ein Handy, ich noch nicht; das ist doch kein Argument; meine Frau hätt mich erreichen können. Wollt sie nicht; sie konnt nicht, behauptete sie später; ich glaubte ihr kein Wort.
Fremdeinwirkung heißt, jemand war da und hat das Seil gehabt. Und hat das Seil um den Hals unserer Tochter gebunden. Und hat sie an den Baum im Park an der Bad Dürkheimer Straße gehängt. Die Kriminalpolizei hielt das für ausgeschlossen, trotz der Meinung des Gerichtsmediziners.
Sie haben alle Schüler befragt und alle Spuren untersucht, und sie haben geschworen, alles versucht zu haben. War’s nicht so? Keine Zeugen, kein Beweis.
Meine Tochter hatte keine Schwermut im Herzen, sie war das Opfer eines Mörders. Und den Mörder müssen Sie endlich finden, Herr Franck, darum bitt ich Sie auf Knien.«
Besuch der Toten
2
Sein Blick kehrte aus dem schmalen, stillen, glatt rasierten Gesicht des Gastgebers zu seinen bleichen, behaarten Händen zurück, die er, aus welchen Gründen auch immer, auf den Tisch gelegt hatte; den Anblick fand er ebenso beklemmend wie das Schweigen, für das er sich schuldig fühlte.
»Ich mein’ damit …«, begann er, hielt inne, nahm mit einer ruppigen Bewegung die Hände vom Tisch und steckte sie in die Taschen seiner Anzugjacke. Dies erschien ihm jedoch als Ausdruck größtmöglicher Unhöflichkeit, und er nahm die Hände wieder heraus und ließ, gedemütigt von Verlegenheit, die Arme baumeln. Als er den Kopf hob, war Francks Lächeln schon vorbei.
Einfach bloß dazusitzen, schaffte Ludwig Winther nicht. Er nippte am kalt gewordenen Kaffee und achtete beim Hinstellen der Tasse darauf, dass der an den Teller gelehnte Keks nicht verrutschte.
»Ich bringe Ihnen eine neue Tasse mit heißem Kaffee«, sagte Franck.
»Der schmeckt gut, keine Umstände, bitte.«
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte Franck.
Diese Bemerkung verwirrte den ehemaligen Verkäufer völlig. Überhaupt hatten ihn all die Dinge, die er ausgesprochen hatte, nicht etwa erleichtert, sondern in eine Art Schockzustand versetzt, der ihn überforderte, wie die Geduld des Kommissars.
Winther trieb die Frage um, was er sich eigentlich von seinem Besuch erwartet hatte und warum in aller Herrgottsnamen er nicht behutsamer vorgegangen war und stattdessen seinen Kummer wie einen Kessel Schmutzwäsche einem fremden Menschen vor die Füße kippte; noch dazu in dessen Zuhause; an einem Feiertag; gerade mal zwei Monate nach dem Abschied des Kommissars von sämtlichen beruflichen Verpflichtungen? Der Mann war nicht mehr zuständig für das Leid anderer, und erst recht nicht für ein Verbrechen, das zwanzig Jahre zurücklag.
Aber ein Verbrechen war’s doch, dachte Winther.
Umständlich fingerte er ein blaues Stofftaschentuch aus der Hosentasche, tupfte sich die Mundwinkel ab und behielt es in der Hand, bis er bemerkte, dass der Kommissar ihn anschaute. Dann steckte er das Knäuel in die Jackentasche und wollte wieder zur Tasse greifen; seine Hand zitterte zu stark.
»Ich erinnere mich gut.« Nach wie vor konzentriert aufs Zuhören und Beobachten, Daumen und Zeigefinger schreibbereit am Kugelschreiber neben dem Block, scheinbar unbeeindruckt dasitzend, zwang Franck sein Gegenüber zu vollständiger Anwesenheit.
»Ja, ja, ja.« Winther wäre am liebsten aufgestanden und aus der Wohnung geflohen. Er meinte, er habe gestottert, gestammelt und Dinge erzählt, die falsch und eitel waren und niemanden etwas angingen. Furcht breitete sich in ihm aus; der Blick des Kommissars schüchterte ihn ein; seine Handflächen wurden feucht; er wollte um Verzeihung bitten und wusste nicht, wofür.
»Wollen wir einen Schnaps trinken?«, sagte Franck.
»O ja!« Die drei Buchstaben sprangen aus seinem Mund; bevor er merkte, dass er vergessen hatte, bitte zu sagen, war Franck schon aufgestanden und zum Schrank gegangen; aus einer breiten, geschwungenen Flasche goss er Obstler in zwei Gläser, setzte sich wieder und hielt ein Glas seinem Gast hin.
»Zum Wohl, Herr Winther.«
Der Verkäufer brachte kein Wort heraus. Seit zwei oder drei Jahren hatte er keinen Schnaps mehr getrunken, ihm fehlte die Gelegenheit dazu; zu Hause hatte er immer ein paar Flaschen Bier vorrätig, und an den Wochenenden genehmigte er sich oft das eine oder andere Glas. Wenn er eine leichte Trunkenheit verspürte, hörte er auf zu trinken. Anfangs war er stolz auf seine Disziplin gewesen, inzwischen fand er sie übertrieben und kindisch.
Er war kein Alkoholiker, nicht einmal ein Trinker; er hatte die Dunkelheit durchquert und sein zwanghaftes Saufen überwunden; er war clean, dachte er, wer hätte was davon, wenn er betrunken auf seiner Couch läge oder durch die Straßen von Berg am Laim irrte?
Der Schnaps schmeckte samtig; Winther leckte sich die Lippen bis in die Mundwinkel; die Wärme des Alkohols elektrisierte und besänftigte ihn gleichzeitig. Erleichtert stieß er einen Seufzer aus, und der Blick des Kommissars schüchterte ihn nicht länger ein.
»Edler Tropfen«, sagte er. »Das war eine schöne Idee. Jetzt muss ich Ihnen noch etwas sagen, Sie dürfen mir nicht bös sein, bitte. Ich wusst Ihren Namen nicht mehr. Hab mir das Hirn zermartert und alle Unterlagen durchgeblättert; ich hab so viele Seiten, Hunderte, über die Ereignisse, Fotos, Artikel, ein Tagebuch von meiner Frau. Aber Ihr Name stand nirgendwo.«
Nach einem schnellen Blick auf seinen Notizblock wandte Franck sich wieder seinem Gast zu, über dessen Gesicht ein rötlicher Schimmer zog und dessen Hand nicht mehr zitterte.
»Und dann kam ein Film im Fernsehen.« Winthers Stimme klang beinahe munter. »Da ging’s um Anne Frank in Amsterdam, und da hat was geklickt in meinem Kopf; mir fiel auch gleich ein, dass man Sie mit ck schreibt, also hab ich die Auskunft angerufen, das ging ganz schnell. Warum Ihr Name nirgends stand, kann ich Ihnen nicht erklären.«
»Jetzt sind Sie hier, und wir trinken gemeinsam Schnaps.«
»Ja, das tun wir.«
»Seit dem Tod Ihrer Tochter sind einundzwanzig Jahre vergangen«, sagte Franck. »Und Ihre Frau Doris …«
»Woher wissen Sie das so genau?«
»Bitte?«
»Die Jahreszahl so exakt.«
»Sie haben sie erwähnt.«
»Ach ja. Entschuldigen Sie.«
»Und Ihre Frau Doris starb im Jahr darauf.«
»Sie starb nicht, sie hat sich umgebracht. Aufgehängt, wie unsere Tochter aufgehängt worden ist. Von einem Mörder.«
»Haben Sie neue Anhaltspunkte für ein Verbrechen, Herr Winther?«
»Ich halt mich daran fest. Punkt.«
»Woran halten Sie sich fest?«
»An meiner Überzeugung.«
»Wer hat Ihre Tochter getötet? Wen haben Sie in Verdacht?«
»Kein Verdacht, nur Überzeugung hab ich. Ob Sie mir noch einen Schnaps einschenken mögen? Nur, wenn Sie auch noch einen trinken.«
»Selbstverständlich.« Franck füllte die Gläser, steckte den Korken in die Flasche, hob sein Glas und hielt inne. Verblüfft betrachtete er den unlinierten Block mit den hingekritzelten Wörtern und konnte sich einen Moment lang nicht erinnern, wann er sie aufgeschrieben hatte. Er trank seinen Obstler und beobachtete den Witwer, wie dieser sich erneut die Lippen leckte und das Glas behutsam oder unbeholfen auf die Tischdecke stellte, akkurat in die Mitte vor sich.
Franck wartete, bis Winther sich zurück in seinen Blick traute. »Welches Motiv könnte jemand gehabt haben, Ihre Tochter zu töten?«
»Weiß kein Motiv. Dummheit?«
»Die Kollegen damals fanden kein Motiv, allerdings Hinweise auf Selbsttötungsabsichten Ihrer Tochter.«
»Steht alles in meinen Unterlagen, ist trotzdem nicht wahr.« Eine Zeitlang ertrug Ludwig Winther das Schweigen; offensichtlich weigerte sich der Kommissar, ihm zuzustimmen; dann nahm er sein Taschentuch, tupfte sich den Mund ab, steckte es wieder ein. »Wieso, Herr Kommissar? Wissen Sie, wie alt die Esther gewesen ist? Wissen Sie das?«
»Sie war siebzehn.«
»Das ist wahr, sie war siebzehn, und sie hatte ein heiteres Gemüt und ein glückliches Zuhause und gute Noten in der Schule. So ein junger Mensch verlässt nicht sein Elternhaus und erhängt sich im Park. Das ist eine Absurdität; die Kommissare haben uns allein gelassen in der Verzweiflung, und mit der Wahrheit auch.« Winther beugte den Kopf, krümmte den Rücken, schien von einer inneren Schwerkraft nach unten gezogen zu werden. Die Arme baumelten an ihm herab, sein Atem ging schwer.
»Möchten Sie ein Glas Wasser?«, fragte Franck.
Winther schüttelte müde den Kopf.
Franck überlegte, ob er eine Pause machen, die Balkontür öffnen, frischen Kaffee kochen und mit seinem Gast zur Abwechslung über ein anderes Thema sprechen sollte. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, den angespannten, aufgewühlten Zustand eines Zeugen zu nutzen, diesen gerade nicht zur Ruhe kommen zu lassen, sondern zu einer unumkehrbaren Aussage zu zwingen, auch auf die Gefahr hin, dass der Zeuge sein Geständnis später widerrief.
Schon wieder ertappte Franck sich dabei, wie ein Vernehmungsbeamter zu denken und nur den gerichtsverwertbaren Abschluss einer Ermittlung im Sinn zu haben. Doch der Mann, der vor ihm saß, gekrümmt von der bleiernen Leere seines Lebens, war kein Zeuge, er war ein Angehöriger, ein Hinterbliebener, Vater einer Tochter, Gatte einer Frau, die sich beide erhängt und einen Mann zurückgelassen hatten, der seither durch das Gehege seiner Fragen irrte.
In den Augen dieses Mannes, dachte Franck, nistete der schwarze Vogel Einsamkeit, den er aufgrund so unendlich vieler Begegnungen mit vom Schicksal seelisch verunstalteten Menschen kannte.
Er sagte: »Erzählen Sie mir von Ihrer Tochter Esther.«
»Hab ich doch.« Verwirrt hob Winther den Kopf. »Hab ich doch versucht. Hübsch war sie, dunkle lange Haare, und anschmiegsam; in ihrer Näh’ war jeder gern. Ich weiß, dass das, was in den Akten steht, falsch ist; sie ist nicht freiwillig aus dem Leben geschieden, niemals für alle Zeit.«
»Nach all den Jahren«, sagte Franck und sprach langsam, eindringlich und mit einem Unterton, der keinen Widerspruch duldete, »machen Sie sich die Mühe und finden meinen schon vergessenen Namen heraus; Sie rufen mich an, obwohl Sie kaum den Mut dazu haben; Sie bitten um ein Gespräch; Sie überwinden Ihre Scheu und kommen zu mir in die Wohnung; Sie fordern mich auf, nach dem Mörder Ihrer Tochter zu suchen, obwohl Esthers Tod als Selbsttötung bewertet wurde, die entsprechenden Beweise liegen vor.
Unterbrechen Sie mich bitte nicht, Herr Winther. Sie behaupten, Sie hätten niemanden in Verdacht und dass Ihre Tochter ein glückliches Kind gewesen sei, frei von Schwermut, heiter und fern aller dunklen Gedanken. Ich glaube Ihnen nicht.
Ich war damals keiner der ermittelnden Beamten, das wissen Sie, aber ich war bei Ihrer Frau, als Sie in Salzburg an dem Fortbildungskurs teilnahmen, ich bin mit den Vorfällen vertraut. Ob es beim Tod Ihrer Tochter eine Fremdeinwirkung gab, wissen wir nicht, Sie auch nicht, Herr Winther; die Vermutung des Arztes basierte, wenn ich mich richtig erinnere, auf Spuren am Seil und darauf, dass vorübergehend Zweifel an der Art und Weise bestanden, wie Ihre Tochter auf den Baum geklettert war und sich dann erhängt hat. Soweit ich weiß, wurden diese Zweifel ausgeräumt; wie Sie selbst gesagt haben, fanden die Ermittler keine konkreten Spuren oder Hinweise auf einen Täter.
Andererseits haben einige Schüler ausgesagt, Esther habe schon eine gewisse Zeit vor dem Todesfall ein anderes Verhalten gezeigt, sich zurückgezogen, bedrückt gewirkt, die Einzelheiten weiß ich nicht mehr. Jedenfalls ist sie plötzlich kein unbeschwerter Teenager mehr gewesen, sondern verschlossen und schweigsam.
Und es soll auch Konflikte in Ihrer Familie gegeben haben, die die Kollegen nicht verifizieren konnten, weil weder Sie noch Ihre Frau zu den Vorwürfen Stellung nehmen wollten. Sagen Sie mir, wenn ich mich irre. Sagen Sie mir, wenn Sie anderer Meinung sind.
Und sagen Sie mir vor allem, wen Sie in Verdacht haben, Ihre Tochter ermordet zu haben und die Tat wie eine Selbsttötung aussehen zu lassen. Wer könnte das gewesen sein?«
»Der Jordan war’s, wer sonst«, rief Winther mit bebender Stimme.
Die beiden Männer standen auf dem Balkon und rauchten. Weder Jakob Franck, der ehemalige Kommissar, noch Ludwig Winther, der ehemalige Verkäufer, empfanden dabei einen besonderen Genuss; doch als der Gastgeber seinen Gast gefragt hatte, ob er zur Entspannung eine Zigarette wolle, erwiderte dieser ohne Umschweife: »Ja bitte.«
Franck holte das Päckchen aus der Schublade, wo er es aufbewahrte, um sich selbst auszutricksen; nach einigen, wenn auch letztlich harmlosen Problemen mit den Bronchien und seinem Magen hatte er vor fünfzehn Jahren das Rauchen aufgegeben, was ihn vom ersten Tag an mehr stresste als jeder Arztbesuch; er kaufte sich Laufschuhe zum regelmäßigen Joggen; er benutzte die Treppe statt den Aufzug; er versuchte sich an Salatvariationen und sonstiger, allgemein belobigter Ernährung; er stieg von süßem Kaffee auf ungezuckerten Tee um, goss literweise Mineralwasser in sich hinein und nahm sechs Kilo ab, worin er – im Gegensatz zu seinem Hausarzt – nicht den geringsten Sinn erkannte. Kein Jahr später kehrte er, durchaus maßvoll und nicht vollkommen feurig, zu Kaffee und Zigaretten zurück, lief weiter entspannt durch die Gegend, beschränkte seine Vitaminzufuhr auf Bananen und rührte nie wieder ein Salatblatt an. Seither fühlte er sich besser als je, vor allem, weil er kaum noch Alkohol trank und seine Zigaretten oft tagelang vergaß.
Als junger Mann hatte Winther seine Zigaretten selber gedreht und niemals ein Feuerzeug benutzt, immer nur Streichhölzer, meist die kurzen Plastikstummel, mit denen er sich anfangs die Finger verbrannte, was das Ritual in seinen Augen erst perfekt machte. Obwohl seine Frau ihn während der Schwangerschaft um Rücksichtnahme bat, rauchte er heimlich weiter, auch nach Esthers Geburt, allerdings nicht in ihrer Gegenwart. Nach Esthers Tod hörte er eine Weile damit auf, bis der Tod seiner Frau ihm jegliche Disziplin raubte. Trinken und rauchen wurden eins; Selbstekel und Kneipengestank gehörten wie ein Umhang zu ihm; das allmähliche Verschwinden seiner Freunde bemerkte er lange nicht. Ausgerechnet der Wirt seiner Stammkneipe machte ihn in einer Nacht, in der die Finsternis draußen gegen das schwarze Nichts in seinem Kopf fast wie eine Lichtung wirkte, auf eine Anzeige aufmerksam, mit der ein Getränkemarkt einen Fahrer suchte. Bis heute hatte Winther nicht herausgefunden, wieso Micha, der Wirt, ihm und nicht jemand anderem den Tipp gegeben hatte.
Im Stüberl war Winther nicht der Einzige gewesen, der seinen Job verloren hatte und für den die Außenwelt bloß noch als Hassobjekt existierte. Innerhalb weniger Wochen gehörte er zum festen Stamm der Mitarbeiter im Getränkemarkt Giebl an der Schwanseestraße; fast ein Jahr lang trank er keinen Alkohol mehr; und eine Zigarette gönnte er sich nur noch an den Wochenenden. Daran hatte sich auch nach den vielen Jahren kaum etwas geändert.
Vom Schnaps und von der frischen Luft war ihm auf dem Balkon etwas schwindlig, aber er sog das Nikotin so tief wie möglich in die Lunge.
»Geht’s Ihnen gut?«, fragte Franck.
»Sehr gut. Schön hier. Hab erst gedacht, die Industriestraße wär laut und weiter draußen, dabei ist sie mitten im Ort. Ich war noch nie in Aubing.«
»Das war unsere erste gemeinsame Wohnung, von meiner Frau und mir.«
»Was ist mit Ihrer Frau passiert?«
»Wir haben uns scheiden lassen.«
Ein paar Sekunden lang gehörte Winther nicht zur Gegenwart. Die kühle Luft und der beißende Rauch der Zigarette verscheuchten seinen Gedankenschwarm; er drückte die Kippe im Aschenbecher aus, den Franck in einen leeren Blumenkasten gestellt hatte. »Sie haben nicht wieder geheiratet?«
»Nein. Wie Sie.«
»Da haben Sie recht. Darf ich Ihnen was gestehen? Mir ist jahrelang nicht eingefallen, dass ich wieder heiraten könnt. Als hätt ich’s vergessen, die Möglichkeit. Haben Sie eine neue Partnerin?«
»Nein.«
»Ich auch nicht. Hatten Sie eine in den letzten Jahren?«
»Nein.«
»Ich auch nicht. Eigenartig ist das schon, wir kennen uns gar nicht und haben so wichtige Dinge gemeinsam.«
»Vielleicht waren sie für uns nicht so wichtig, die Dinge.«
»Weiß ich nicht, Herr … Franck. Entschuldigen Sie … Ich weiß ja, wie Sie heißen, ich bin nur grad durcheinander; wegen allem; und dass Sie hier leben in der großen Wohnung, allein, wie ich in meiner Bude am Ellinger Weg. Vom Alleinsein kann man abhängig werden, das hab ich begriffen; zuerst brauchen Sie es zum Überleben und Freiwerden von allem Vergangenen; Sie freuen sich jeden Morgen darüber, dass es Sie noch gibt. Oder stimmt das nicht? Was meinen Sie, Herr Franck?«
»Ob ich mich freue, dass es mich noch gibt?«
»Ja, das kann doch eine Erkenntnis sein, Sie überwinden die Trauer und nehmen das Leben als etwas Freundliches an, das ist doch möglich und auch zu schaffen. Oder versündigt man sich am Schicksal, wenn man so denkt? Meine Frau ist gestorben, meine Tochter wurd ermordet, und eines Morgens wach ich auf und begreif: ich leb und hab noch Leben übrig. Darf man das, so denken?«
»Anders gehen Sie zugrunde.« Franck fröstelte und fragte sich, ob der Grund nur die zunehmende Kälte war.
»Sollt man denn nicht zugrunde gehen? Wieso bin ich noch da und die Liebsten nicht mehr? Wieso musst meine Tochter sterben, und meine Frau folgt ihr nach? Wer bestimmt so was? Oder … oder …«
»Wollen wir wieder reingehen?«
»Gleich, ja.« Unter seinem Anzug trug Winther einen Rollkragenpullover; er nahm den eisigen Wind nicht wahr, empfand ihn wie einen unerwarteten Atem, den er für seine einbalsamierten Worte gut brauchen konnte. »Aber das war’s nicht, was ich sagen wollt. Das Alleinsein ist wie Alkohol, tut gut, wir können nicht genug davon kriegen; wir besaufen uns die ganze Zeit und halten, was wir machen, für normal. Oder haben Sie Ihr Alleinsein nicht für normal gehalten.«
»Doch.«
»Doch. Sie sagen das auch. Das ist eine Erfahrung, und wir erfreuen uns an ihr; wir glauben, das wär das Leben, doch es ist nur der Keller vom Leben. Weil wir ganz unten sind und niemand in der Näh’. Ist’s nicht so? So ist’s, ich seh’s Ihnen an, und ich kam nicht mehr raus. Aus dem Keller, aus dem Alkohol, aus dem Alleinsein dann. Sie leben hier am Stadtrand oder schon außerhalb; ich leb fast am Stadtrand; egal, ob wir ein Zimmer haben oder drei oder vier, wir hausen im Alleinsein, und das kann nicht gut sein. Macht uns alt und mürrisch; jeden Tag fragen wir uns, wieso wir noch da sind, die anderen aber nicht mehr. Jeden Tag im Jahr. Sie etwa nicht?«
»Nein.«
»Dann belügen Sie sich. Entschuldigen Sie, das ist mir so rausgerutscht; ich wollt Sie auf keinen Fall beleidigen, ich weiß gar nicht, warum ich so viel red, das mach ich nie sonst, niemals.«
»Reden Sie, deswegen sind Sie doch gekommen«, sagte Franck.
Während er sich mit dem blauen Taschentuch die Mundwinkel abtupfte, nickte Winther und schien, wie vorher in der Wohnung, für Augenblicke von seiner Last befreit. »Sie hören mir immer noch zu, und ich stehl Ihnen immer noch mehr Zeit. Ich musst aber kommen, das müssen Sie mir glauben.«
Franck ertrug den Anblick der Gänsehaut auf seinen Armen nicht länger – er hatte die Ärmel seines Hemdes nach dem zweiten Glas Schnaps hochgekrempelt – und ging an Winther vorbei zur Balkontür. »Das weiß ich, und jetzt möchte ich ins Warme zurück.«
»Würd es Sie stören, wenn ich hier steh und Sie drinnen?«
Die Frage hatte Winther mit so ernster und entschlossener Miene gestellt, dass Franck sich im Zimmer umdrehte und ihn ansah. »Drei Minuten«, sagte er. Dann verschränkte er die Hände auf dem Rücken; die Ärmel herunterzukrempeln, hätte er für eitel gehalten.