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Schon bevor die Polarlys den in frostigen Nebel getauchten Hamburger Hafen Richtung Norwegen verlässt, beschleicht Kapitän Petersen ein ungutes Gefühl. Er spürt etwas, was die Seemänner den »bösen Blick« nennen, und ahnt, dass diese Fahrt keine gewöhnliche wird. Auch der inkompetente, ihm von seinem Arbeitgeber als Dritter Offizier zugeteilte junge Niederländer gefällt ihm nicht. Noch weniger der gerade aus dem Gefängnis entlassene Rumtreiber, den der Maschinist als Ersatz für den erkrankten Heizer an Bord genommen hat. Tatsächlich lässt das Unheil nicht lange auf sich warten, denn schon einen Tag nach Lichten des Ankers wird an Bord einer der fünf Passagiere, der Polizeirat Sternberg, ermordet aufgefunden – und an Verdächtigen mangelt es nicht ...
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Seitenzahl: 204
Georges Simenon
Der Passagier der Polarlys
Die großen Romane – Band 2
Aus dem Französischen von Stefanie Weiss
Mit einem Nachwort von Hansjörg Schertenleib
Hoffmann und Campe
Er ist eine Krankheit, von der Schiffe in sämtlichen Weltmeeren befallen werden, und die Ursachen liegen im weiten Feld des sogenannten Zufalls.
Bisweilen sind die ersten Symptome gutartig, sodass sie der Aufmerksamkeit des Seemanns entgehen. Da zerspringt zum Beispiel grundlos ein Halteseil wie eine Violinsaite und reißt einen Ausguckträger ab. Oder der Schiffsjunge schneidet sich beim Kartoffelschälen in den Daumen, und am nächsten Tag hat er Nagelumlauf und schreit vor Schmerzen.
Es kann auch mit einem missglückten Manöver losgehen, oder ein unachtsames Boot läuft auf den Vorsteven auf.
Aber das ist noch nicht der Böse Blick. Der setzt eine Serie voraus, die selten ausbleibt. Die nächste Nacht oder der nächste Tag bringt fast immer einen neuen Schaden.
Von da an kommt eines zum anderen, und die Männer können sich nur noch ducken, die Zähne zusammenbeißen und die Schläge zählen. Natürlich wird sich die Maschine gerade jetzt verabschieden wie eine alte Kaffeemühle, nachdem sie dreißig Jahre lang ohne Panne gelaufen ist.
Trotz aller Erfahrungswerte, genauester Aufzeichnungen und Wetterkarten halten sich die Winde unter Umständen drei Wochen lang in einem Gebiet, in dem sich um diese Jahreszeit eigentlich kein Lüftchen regen dürfte.
Und dann … Der erste Brecher wird einen Mann über Bord spülen, und die Mannschaft bekommt Ruhr, wenn nicht gar die Pest.
Dabei kann man noch von Glück sagen, wenn man nicht auf eine Sandbank aufläuft, die vorher hundert Mal glücklich umschifft wurde, oder wenn man bei der Einfahrt in den Hafen nicht die Mole rammt.
Die Polarlys hatte am Kai 17 festgemacht, in einem der abgelegensten und schmutzigsten Hamburger Hafenbecken. Sie sollte um drei Uhr nachmittags auslaufen, wie auf der Anzeigentafel am Briefkasten der Gangway vermerkt war.
Es war noch vor zwei, als Kapitän Petersen das undeutliche Gefühl hatte, der Böse Blick gehe um.
Dabei stand Petersen mit beiden Beinen auf der Erde – ein kleiner, energischer und robuster Mann. Seit neun Uhr morgens ging er auf Deck auf und ab und überwachte das Stauen der Ladung.
Über dem Hafen lag ein eigentümlich gelblich grauer und schmieriger Nebel, der eisige Feuchtigkeit ausspie, und durch die Schwaden konnte man nur selten einen Blick auf die Lichter der Straßenbahnen und die erleuchteten Fenster erhaschen.
Es war Ende Februar. Wegen der Kälte hinterließen die Nebelschwaden, in denen die Männer hantierten, eine Art eisigen Film auf Gesicht und Händen.
Die Sirenen heulten alle gleichzeitig, und ihr hässliches heiseres Tuten übertönte das Quietschen der Kräne.
Das Deck der Polarlys war fast ausgestorben: Da waren nur vier Mann oberhalb des vorderen Laderaums, die damit beschäftigt waren, die Flaschenzüge zu bedienen und Kisten und Fässer zum Aushaken nach unten zu dirigieren.
Hatte Petersen bei der Ankunft von Vriens, so gegen zehn, eine Vorahnung des Bösen Blicks bekommen?
Das Schiff machte nicht viel her. Es war ein Dampfschiff von etwa tausend Tonnen, das nach Kabeljau stank, und auf Deck stand ständig Frachtgut herum. Es verkehrte regelmäßig zwischen Hamburg und Kirkenes, immer der norwegischen Küste entlang, wobei es auch die unbedeutendsten Häfen anlief.
Die Polarlys war ein kombiniertes Fracht- und Passagierschiff. Sie bot Platz für mindestens fünfzig Personen in der ersten Klasse und noch einmal so viele im Zwischendeck. Sie beförderte Maschinen, Obst und Pökelfleisch nach Norwegen und kehrte mit Tonnen über Tonnen von Kabeljau zurück, sowie Bärenfellen und Robbentran aus dem hohen Norden.
Bis zu den Lofoten waren mehr oder weniger normale Wetterverhältnisse zu erwarten. Danach jedoch war man plötzlich im Bereich des Eises, und es stand eine fast dreimonatige Nacht bevor.
Die Offiziere waren Norweger. Tüchtige Jungs, die von vornherein wussten, wie viel Fässer bei Olsen und Cie. in Tromsø an Bord kamen und für wen die in Hamburg geladenen Werkzeugmaschinen bestimmt waren.
Noch am selben Morgen hatte Petersen den letzten Armeistreifen, der nur noch an einem Faden hing, von seiner Uniform abgerissen.
Und da schickte ihm die Reederei, mit ellenlangen Empfehlungen versehen, einen neunzehnjährigen Holländer! Ein schmales und mageres Bürschchen, das wie sechzehn wirkte.
Er hatte diese Woche erst die Marineschule in Delfzijl beendet. Gestern Abend hatte er sich vorgestellt – blass, aufgekratzt, in einer grauenvoll korrekten Uniform, und hatte vor Petersen strammgestanden: »Zu Diensten, Herr Kapitän!«
»Im Augenblick«, hatte Petersen gesagt, »brauche ich Ihre Dienste nicht, Herr Vriens. Sie haben bis morgen frei. Als Dritter Offizier werden Sie sich um das Einschiffen der Passagiere kümmern.«
Vriens war fortgegangen und die ganze Nacht weggeblieben. Um zehn Uhr morgens sah ihn der Kapitän schwankend einem Taxi entsteigen mit einem Gesicht wie Braunbier und Spucke, verquollenen Lidern und ängstlichem Blick. Als er das Deck überquerte, konnte er gerade noch ein Taumeln vermeiden.
Petersen wandte sich ab; er hörte, wie Vriens hinter ihn trat, grüßend die Hacken zusammenschlug und sich dann zu seiner Kabine wandte.
»Dem ist hundeelend«, hatte der Steward ihm später berichtet. »Einen Kaffee hat er verlangt, aber einen ganz starken … Er liegt stocksteif auf seinem Bett und bringt kaum einen ordentlichen Satz zusammen. Wenn man dem ein Streichholz vor den Mund hält, fängt sein Atem Feuer!«
Natürlich, eine Katastrophe war das nicht … Aber wenn man es nun mal gewohnt ist, mit seinen Offizieren vertrauten Umgang zu pflegen, ist man nicht begeistert, einen solchen Burschen auftauchen zu sehen – noch dazu, wenn einem von der Reederei schriftlich nahegelegt wurde, ihm den Anfang leicht zu machen.
Mit neunzehn hatte er, Petersen, zwar keine Ausbildung auf der Marineschule beendet, war dafür aber schon dreimal um die Welt gefahren!
Er hätte es schon vorher sagen können. Die Serie begann. Während er, die Hände in den Taschen, die Pfeife im Mundwinkel, einen Rundgang über das Schiff machte, fiel sein Blick auf einen rothaarigen Menschen, der an der Reling lehnte und sich eine Zigarette drehte. Der Mann grüßte ihn knapp mit einem unbestimmten Kopfnicken, während er in den Taschen nach Streichhölzern kramte.
Einer von diesen Typen, wie sie überall in den Häfen herumlungern, ganz klar. Offenbar ein Tramper aus nördlicheren Breiten, irgendwie schon von weitem zu erkennen. Noch keine vierzig, der Mann – groß, kräftig und von gesundem Aussehen trotz der etwas eingefallenen Wangen und des acht Tage alten Barts.
Er fühlte sich schon ganz zu Hause … Er rauchte in kurzen Zügen, und seine Brust hob und senkte sich unter dem alten Uniformhemd, an das er andere Knöpfe angenäht hatte.
»Was machst du hier?«
Der Mann wies mit dem Kinn auf den Leitenden Ingenieur, der gerade das Deck überquerte.
»Hans hat vorhin seinen Malariaanfall bekommen«, erklärte er dem Kapitän. »Ich muss ihn an Land zurücklassen. Und als der Mann da am Kai stand, habe ich ihn als Kohlentrimmer angeheuert. Er ist robust und …«
»Hat er Papiere?«
»Seine Papiere sind in Ordnung. Er ist grade aus dem Kölner Gefängnis entlassen …« Und er entfernte sich lachend.
»Von mir aus«, brummte Petersen vor sich hin. Es war ihm völlig egal, ob er einen Kohlentrimmer hatte, der gerade aus dem Knast kam. Kohlentrimmer muss man nehmen, wie sie kommen … Aber dieser Mensch war ihm von Kopf bis Fuß unsympathisch. Während Petersen weiter auf und ab ging, beobachtete er den anderen verstohlen.
Die meisten deutschen Tramper haben dieses selbstbewusste Auftreten; Bescheidenheit oder gar Scham sucht man bei ihnen vergeblich. Und der hier hatte obendrein noch etwas Ironisches im Blick.
Er merkte, dass Petersen ihn beobachtete. Er rauchte weiter, ab und zu klebte er mit Spucke das aufgeweichte Papier seiner Zigarette fest und betrachtete den Rauch, der sich im Nebel verlor.
»Wie heißt du?«
»Peter Krull …«
»Und was hast du gemacht, dass du gesessen hast?«
»Das letzte Mal gar nichts! Das war ein Justizirrtum.« Er sprach gelassen, mit etwas schleppender Stimme, und der Kapitän beließ es dabei.
Im Übrigen riss im gleichen Augenblick ein Seil, und ein in einer riesigen Kiste steckender Traktor fiel aus sechs Metern Höhe in den Laderaum hinunter.
Der erste Passagier tauchte auf, aber Petersen sah von ihm nur einen grauen Mantel und einen grünen Koffer.
»Wo ist Vriens?«, fragte er den Steward. »Ich hoffe, ich muss mich nicht auch noch um das Einschiffen kümmern!«
»Er sitzt vor seinen Listen im Salon.«
Es stimmte, Vriens hatte sicherlich einen Brummschädel und einen verdorbenen Magen, aber er war auf seinem Posten. Er empfing den Passagier, notierte die Angaben in seinem Pass und wies ihm eine Kabine zu.
In den beiden letzten Stunden vor dem Auslaufen ging es wie immer drunter und drüber. Die Laster mit der Fracht trafen zu spät ein; die Kräne schafften es nicht schneller.
»Dann eben nicht! Was nicht rechtzeitig geladen ist, bleibt zurück!« Die übliche Drohung, die auf niemand mehr Eindruck machte.
Ein weiblicher Passagier, gefolgt von einem Träger, kam an Bord. Die Polizei diskutierte mit Vriens, der bei den Formularen eine Spalte auszufüllen vergessen hatte.
Beim ersten Glockenschlag war der Weg vor der Polarlys frei. Als sie fünf Minuten später aber die Leinen losmachten, war es einem großen englischen Tanker eingefallen, sich quer zu legen, und sie konnten nur mit einigen komplizierten Manövern auslaufen.
Ein motorisierter Elbkahn mit einem einzigen Mann an Deck, der pfeiferauchend am Ruder lehnte, fuhr tief unten ungerührt seines Weges.
Die Polarlys streifte ihn. Der Kahn tauchte mit der Hälfte des Decks ins Wasser ein, und es grenzte an ein Wunder, dass er inmitten der schwarzen Schiffsrümpfe der Frachter, die sich ringsumher wie Wände auftürmten, seine Fahrt fortsetzen konnte.
Auf der Elbe die reinste Prozession. Drei Reihen von Schiffen, die jeweils eine Schlange bildeten. Und das bei einem Nebel, bei dem man noch nicht einmal den Flaggenstock des Vordermanns erkennen konnte. Dazu all die Sirenen, die untereinander wütende Gefechte ausfochten: Schnellere Schiffe wollten die anderen überholen. Dazwischen Segelschiffe, die bei dem Wetter keine Fahrt machen konnten. Ihre fahle Fock tauchte unvermittelt vor dem Vordersteven auf, und man musste ausweichen.
Halbe Kraft voraus …! Maschine stopp …! Zurück … Maschine stopp …! Halbe Kraft voraus …
Der Maschinentelegraf klingelte, und sie arbeiteten sich ruckweise in der eisigen Milchsuppe voran.
Um sieben Uhr waren sie immer noch auf dem Fluss, und das Leuchtfeuer von Cuxhaven, das endlich das offene Meer ankündigte, war noch nicht in Sicht.
Petersen kam von der Kommandobrücke herunter, wo noch der Zweite Offizier und der Lotse ihren Dienst versahen. Dem Kapitän dagegen stand eine andere Fron bevor: Der Vorsitz beim Dinner der Passagiere.
Der Steward ging von einem Gang zum anderen und betätigte nachhaltig seinen Gong; er wusste aus Erfahrung, dass es die Passagiere am ersten Tag nie eilig haben.
»Fünf Gedecke?«, fragte Petersen.
»Ja. Eine Dame und drei Herren. Ach, da ist ja die Dame …«
Sie bewegte sich gewandt auf ihn zu, eine Zigarettenspitze aus Jade zwischen den Lippen. Sie hatte sich wie für ein Dinner an Bord eines großen Luxusliners zurechtgemacht und sah aus, als sei sie unter ihrem schwarzen Seidenkleid nackt.
Sie war ein merkwürdiges kleines Persönchen – schmal, nervös, mit aufreizenden Bewegungen, und sie gab dank verschiedenster kosmetisch-modischer Tricks eine besonders auffallende Erscheinung ab.
Ihr Haar war blond und fein wie bei einem Baby. Es war durch einen Mittelscheitel geteilt und fiel in einer einzigen Welle auf die Wangen herunter, wodurch das längliche Oval des Gesichts noch unterstrichen wurde. Die Augen waren dunkel. Und um den Kontrast noch stärker hervorzuheben, hatte sie die Wimpern schwarz getuscht. Der Mund war schmal, und sie hatte sehr hoch angesetzte, sehr kleine Brüste.
»Herr Kapitän?«, wandte sie sich leise und mit fragendem Unterton an Petersen.
»Ja. Kapitän Petersen.« Er hatte nur eine Katzenwäsche gemacht, und das dichte Haar hätte einen Kamm vertragen. »Wenn Sie Platz nehmen wollen …«
Sie kam der Aufforderung nach und wählte ungezwungen den Platz, der ihr zustand: zur Rechten des Kapitäns.
Ein weiterer Passagier trat ein und drückte Petersen die Hand. »Dreckswetter!«, sagte er automatisch.
Es war Bell Evjen, der Bergwerksdirektor von Kirkenes, der jedes Jahr einmal nach London und nach Berlin fuhr und vor einem Monat mit der Polarlys gekommen war. Er betrachtete die junge Frau interessiert.
Im nächsten Moment verneigte sich ein weiterer Passagier wortlos vor jedem der anderen Reisenden; ein hochgewachsener junger Mann mit kahlrasiertem Schädel, ohne Brauen und Wimpern, der eine Brille mit so starken Gläsern trug, dass seine Augen unverhältnismäßig vergrößert erschienen.
»Tragen Sie auf, Steward! Und klopfen Sie dann an der Tür unseres fünften Passagiers …«
Ein Platz war nämlich noch unbesetzt. Die Mahlzeit wurde auf skandinavisch serviert: Suppe, warmes Entree, danach eine Unmenge kalter Platten; Wurst, Pökelfleisch, Dosenfisch und schließlich Kompott und Käse.
»Die 18 antwortet nicht.«
»Sagen Sie dem Dritten Offizier, er soll sich um die Sache kümmern.«
Zweimal ging Petersen an Deck, weil ein plötzliches Abstoppen der Maschine ihn beunruhigte. Immer das Gleiche: Nebel, ein Frachtdampfer hinter dem anderen, Sirenengeheul, Tuten und Pfeifen.
Die Mahlzeit wurde schweigend eingenommen. Zwischen zwei Gängen steckte sich die junge Frau eine Zigarette an, und sie benutzte ein Feuerzeug, das ein Meisterwerk der Goldschmiedekunst war. Nach Ansicht von Petersen war sie, wie auch der Passagier mit dem glattrasierten Schädel, deutscher Nationalität.
»Der Kaffee wird Ihnen im Rauchsalon serviert!«, sagte er schließlich und erhob sich mit dieser Redewendung, die er seit nunmehr zwölf Jahren bei jeder Reise wiederholte.
Er stand draußen im Gang vor seiner Kajüte und stopfte sich seine Pfeife, als die Blonde an ihm vorüberkam und den Aufgang zum Rauchsalon hochstieg. Die ganze Zeit über starrte er auf ihre Beine, die unter der schwarzen Seide sehr aufreizend wirkten, und über den schmalen Knien blitzte sogar ein Stückchen nacktes Bein auf.
»Nun, Herr Vriens?«
Der junge Mann nahm automatisch Haltung an. Seine Lippen zuckten. Er machte sich stocksteif, als ob ihm plötzlich etwas Schreckliches zugestoßen sei. »Der Passagier ist nicht aufzufinden«, meldete er. »Und doch ist das Gepäck in seiner Kabine …«
»Wie heißt er?«
»Ernst Ericksen. Kommt aus Kopenhagen … Ich habe ihn noch weniger als eine Stunde vor Abfahrt gesehen!«
»Ein Mann in grauem Mantel, mit grünem Koffer?«
»Ja, genau! Ich habe ihn überall gesucht.«
»Er wird noch mal an Land gegangen sein, Zeitungen zu kaufen oder so, und hat die Abfahrt verpasst.«
Evjen und der junge Mann mit der Brille waren in ihre Kabinen zurückgegangen. Die blonde Dame war allein im Rauchsalon, und da hörte Petersen, wie sie einen kleinen hohen Schrei ausstieß. Eine Tür wurde zugeschlagen. Die Gestalt im schwarzen Seidenkleid erschien auf dem oberen Treppenabsatz.
»Kapitän …« Sie wirkte erregt, versuchte jedoch, sich ein Lächeln abzuringen, und hielt beide Hände an die Brust gepresst, wie um ihr Herzklopfen zu beschwichtigen.
»Was ist los?«
»Ich weiß nicht … Wahrscheinlich dumm von mir, so zu erschrecken … Ich war gerade in den Rauchsalon gekommen. Der Kaffee und die Tassen standen auf dem Tisch, und da habe ich mir schon mal eingegossen. Im selben Augenblick kommt es mir so vor, als höre ich ein Geräusch hinter mir … Ich drehe mich um und sehe einen Mann, der mir bisher noch nicht begegnet war. Er hat selbst einen Schreck bekommen, ganz bestimmt, denn er ist aufgestanden und davongelaufen …«
»Wohin, in welche Richtung?«
»Hier, durch diese Tür … Sie führt zum Promenadendeck, nicht wahr?«
»Hat er einen grauen Mantel getragen?«
»Grau, ja … Dann hab ich geschrien. Was soll das bedeuten, warum ist er weggelaufen?«
Petersen hatte das Gefühl, dass sie sich mehr an Vriens als an ihn selbst wandte, während sie sprach. »Sehen Sie mal nach!«, befahl er ihm.
Vriens kam der Aufforderung betont langsam nach, vor allem auf Höhe der blonden Dame, die er im Vorübergehen unweigerlich streifen musste.
»Beruhigen Sie sich, Madam … Das wird sich bestimmt aufklären.«
Ihr Gesicht hellte sich bereits wieder auf. »Muss ich etwa allein bleiben im Rauchsalon?«, meinte sie mit einem koketten Lächeln.
»Ihre Mitreisenden werden sicher gleich nachkommen …«
»Und Sie, Kapitän? Trinken Sie keinen Kaffee?«
Er roch ihr schweres Parfüm, und er hätte schwören können, dass er die von ihrem Körper ausgehende Wärme spürte. Während sie kurz darauf den Kaffee einschenkte, besah er sich ihre Figur, und als sie sich zu ihm umdrehte, rückte er sich gerade mit gerötetem Gesicht die Krawatte zurecht.
Darauf betrat Evjen den Salon.
Der Rauchsalon war für etwa fünfzig Personen gedacht; er war bequem, wirkte aber etwas kalt wegen der sehr hellen Eichentäfelung. Als Petersen aufstand, saß Evjen in der einen Ecke, hatte Handelsdokumente aus seiner Aktentasche gezogen und machte sich Notizen. In der gegenüberliegenden Ecke saß der junge Mann mit Brille und las das ›Berliner Tageblatt‹.
Die Blonde saß von beiden gleich weit entfernt. Sie hatte winzige Patience-Karten auf dem Tisch ausgelegt und fing mit einem Spiel an. »Könnten Sie mir Feuer geben, Kapitän?«
Petersen musste umkehren. Sie streckte ihm ihre lange Zigarettenspitze entgegen, wobei sie sich so vornüberneigte, dass Petersens Blick in ihren Ausschnitt fiel und über den Brustansatz wanderte.
»Danke … Kommen wir jetzt ins offene Meer?«
»Wir sind kurz vor Cuxhaven, ja! Und ich muss auf die Brücke zurück …«
Aus der Nähe hatte sie unübersehbar schlaffe Gesichtszüge und verquollene Augen wie jemand, der eine oder mehrere Nächte nicht geschlafen hat. Genau wie Vriens. Und da war, ebenfalls wie bei Vriens, immer wieder ein unerwartetes Zucken um ihre Lippen …
Auf der Brücke wurde Petersen bereits vom Dritten Offizier gesucht. Vriens wirkte so aufgelöst, dass sein Gesicht wie verweint aussah.
»Haben Sie ihn gefunden?«
»Nein. Er hält sich versteckt, so viel ist sicher … Obwohl, ich hatte noch drei Mann mitgenommen … Aber darum geht es eigentlich nicht …«
Petersen sah ihn wenig aufmunternd an. »Nun? Worum dann?«
»Ich wollte Ihnen sagen, Kapitän, dass … dass es mir unendlich leid tut, was …« Die Stimme versagte ihm; Tränen stiegen ihm in die Augen. »Nur ein dummer Zufall, ich schwör’s Ihnen. Ich habe bisher nie getrunken. Und heute Nacht … Ich kann’s Ihnen nicht erklären, aber … Mir ist der Gedanke unerträglich, dass Sie glauben …«
»Ist das alles?«
Der andere wurde so weiß, dass Petersen einen Anflug von Mitleid hatte. »Gehen Sie und legen Sie sich hin! Morgen sieht alles anders aus.«
»Glauben Sie etwa, ich bin noch betrunken? Ich gebe Ihnen mein Wort, dass …«
»Gehen Sie!«
Petersen zog seine Ziegenfelljacke über und ging zu dem Lotsen hinüber, während wenige Meter entfernt das grüne Steuerbordlicht eines Frachters vorüberglitt, der in entgegengesetzter Richtung fuhr. »Sind wir noch nicht da?«
Der Mann hob die linke Hand und wies in die Nacht hinaus. »Cuxhaven«, brummte er. Er war Elbe-Lotse und musste im Leuchtfeuer von Cuxhaven in ein kleines Motorboot umsteigen, das hier auf ihn wartete.
Kapitän Petersen goss ihm im Kartenhaus den traditionellen Schnaps ein, während sie ein paar belanglose Worte wechselten. Und als die Motoren langsamer wurden und bald darauf gänzlich stillstanden, kippten sie ein zweites Glas.
Bald darauf wurde in dem Nebel über der Wasseroberfläche ein Glühwürmchen sichtbar. Es sah weit entfernt aus und hatte sich doch in der nächsten Sekunde in eine in allen Einzelheiten erkennbare Acetylenlampe verwandelt. Und gleich danach vernahm man unterhalb der Jakobsleiter einen Stoß gegen den Schiffsrumpf.
»Gute Nacht!« Ein Händedruck.
Der Steward war dabei, den Speisesaal aufzuräumen. Die drei im Rauchsalon saßen jeweils über acht Meter voneinander entfernt und nahmen weiterhin nicht groß Notiz voneinander, obwohl Evjen der jungen Frau öfters einen Blick zuwarf.
»Hallo, Käpt’n!«, kam es von unten, wo der Lotse gerade das Schiff betreten hatte. »Für Sie!«
Petersen hatte sich über die Reling gebeugt und nahm in dem Boot unten eine fremde Gestalt wahr: Einen Mann im Ulster, der einen großen Koffer in der Hand hielt.
»Was wollen Sie?«
»Erkläre ich Ihnen gleich …«
Sie mussten dem Mann die Leiter hinaufhelfen. Als er dann auf Deck stand, blickte er voller Unruhe um sich. »Polizeirat von Sternberg«, stellte er sich vor. »Ich habe das Schiff in Hamburg nicht mehr bekommen und bin im Wagen bis hierher gefahren …«
Er war ein Mann von etwa fünfzig mit Spitzbart und buschigen Augenbrauen, was zusammen mit dem farblich undefinierbaren und die Gestalt verhüllenden Ulster ein ganz merkwürdiges Bild abgab.
»Ich esse in meiner Kabine«, fuhr er fort, als die Polarlys die Fahrt wieder aufnahm. »Wenn sich die Passagiere bei Ihnen erkundigen …«
»Ich habe insgesamt drei!«
»Wenn die Passagiere sich deswegen bei Ihnen erkundigen, dann sagen Sie, dass ich krank und im Bett bin … Geben Sie ihnen einen anderen Namen an … Wolf, zum Beispiel, Herbert Wolf, Pelzhändler … Ich bezahle Ihnen die Fahrt.«
»Sind Sie mit irgendwelchen Ermittlungen beauftragt?«, fragte Petersen, dessen schlechte Laune noch zugenommen hatte. »Ist hier jemand an Bord, der …«
»Polizeirat habe ich gesagt. Nicht Inspektor.«
»Trotzdem …« Kapitän Petersen war nicht ganz unbekannt, dass Polizeirat in Deutschland ein einflussreiches Amt bei der Schutzpolizei ist und folglich auch nichts mit Kriminalfällen zu tun hat.
Trotzdem – allein die Tatsache, dass die Polizei eingeschaltet war, stimmte ihn grimmig. Er war der Kapitän, und er wollte Herr an Bord seines Schiffes bleiben. »Na bitte, tun Sie, was Sie für richtig halten«, brummelte er. »Übrigens, wenn es sich um einen gewissen Ernst Ericksen handelt, der Ihnen Kopfschmerzen macht, dann will ich Ihnen lieber gleich sagen, dass er nicht aufzufinden ist … Einfach verschwunden! Er hält sich Gott weiß wo versteckt, obwohl er seine Fahrt bezahlt hat und das Gepäck in seiner Kabine steht … Steward!«, rief er nach hinten. »Sie führen den Herrn in eine freie Kabine und servieren ihm … Sie servieren Herrn Wolf dort sein Essen.« Er wandte sich an den Mann im Ulster: »So war’s doch gedacht, nicht wahr?«
Petersen war für sechs Uhr als Wache eingeteilt und hätte schon längst schlafen sollen. Er ging in seine Kajüte und legte sich ins Bett, lauschte im Unterbewusstsein aber auf das Kommen und Gehen im Gang.
Er hörte zum Beispiel, wie Evjen und der Passagier mit dem kahlgeschorenen Schädel sich in ihre Kabinen zurückzogen. Es war nach Mitternacht, und er hatte die Tür der jungen Frau immer noch nicht gehen hören. Er läutete nach dem Steward.
»Sind alle Passagiere in ihren Kabinen?«
»Nicht alle … Da ist noch die Dame …«
»Legt sie immer noch Patiencen?«
»… ’zeihung! Sie geht auf Deck spazieren, und zwar mit …«
»Mit wem?«
»Mit Herrn Vriens!«
»Hat er die Frechheit besessen, ihr im Rauchsalon nachzusteigen?«
»Nein! Er war in seiner Kabine. Sie hat mich gebeten, ihn zu ihr zu schicken …«
Kapitän Petersen drehte sich schwerfällig in seiner Koje um und knurrte dem Steward noch etwas Unverständliches zu. Der wartete noch einen Moment und zog sich dann zurück.
Petersen hatte schon seit längerem seinen Wachdienst versehen, als am nächsten Morgen gegen neun der erste Passagier auftauchte.
Es war Sonntag. Im Prinzip verlief das Leben an Bord der Polarlys so wie an anderen Tagen auch. Und doch lag irgendetwas Undefinierbares in der Luft, durch das sich dieser Tag von anderen Tagen unterschied.
Das Thermometer war in den frühen Morgenstunden auf Null oder sogar etwas darunter gefallen. Als Petersen, unrasiert und ungewaschen, in seiner Ziegenfelljacke die Wache angetreten hatte, war noch eine Art Regenstaub in der Luft, der sich bei Tagesanbruch in einem Film weißer Kristalle auf Deck niedergeschlagen hatte. In der Sonne waren die winzigen Körner dann aber rasch verschwunden.
Eigenartige Sonne … Unmöglich, hineinzuschauen. Und trotzdem wärmte sie nicht, stimmte noch nicht einmal fröhlich. Der Wind war frisch, und das Glitzern auf dem Wasser stach in die Augen wie gleißendes Weißblech.
Sie fuhren parallel zur nördlichen dänischen Küste, allerdings so weit draußen, dass kein Land in Sicht war.
Der junge Mann mit der Brille war der erste Passagier, der aufgestanden war. Er trug Golfhosen, einen Pullover und hatte seine Jacke unter den Arm geklemmt.
Arnold Schuttringer, Ingenieur, wohnhaft in Mannheim, las Petersen, der die Passagierliste bei sich hatte.
Schuttringer sah sich erst etwas um und entschied sich dann für das Vordeck. Er legte seine Jacke auf das Spill und begann mit einer Reihe aufeinander abgestimmter gymnastischer Übungen, methodisch, unverdrossen, mit hartnäckigem Gesichtsausdruck. Er hatte seine Brille abgesetzt, und seine Augen waren jetzt normal groß. Demnach wurden sie nur durch die konvex geschliffenen Gläser so vergrößert.
Der Kapitän war allein auf der Brücke. Weiter hinten stand der Steuermann unbeweglich in seiner Glaskabine, beide Hände am Messingrad und den Blick starr auf den Kompass gerichtet.
Ein Küchenjunge in weißer Kochmütze kam über das Deck, um Abfall ins Meer zu werfen. Er erblickte den jungen Deutschen und brauchte eine Weile, sich von seiner Verblüffung zu erholen, da der Passagier jetzt flach auf dem Rücken lag, sich im Takt und wie ein Automat ausstreckte und wieder aufrichtete, und dabei immer wieder ein befriedigtes ›Ha!‹ ausstieß.
Es gab übrigens noch jemand, der diese Turnübungen beobachtete, und Petersen verzog verärgert das Gesicht, als er den Mann sah: Peter Krull, der Kohlentrimmer.