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Können Freunde ein Paar werden? Der gefühlvolle Liebesroman »Der Patchwork-Club – Sommertage in St. Elwine« von Britta Orlowski als eBook bei dotbooks. Ein Neuanfang in St. Elwine ... Von ihrem Exmann im Stich gelassen, zog Floriane, genannt Flo, mit ihrem Sohn Kevin in das beschauliche St. Elwine. Einige Jahre später ist sie gut vernetzt mit den Frauen im örtlichen Patchworktreff und ihr bester Freund Marc steht ihr immer mit Rat und Tat zur Seite. Doch das Geld ist jeden Monat knapp und noch immer bringt sie es nicht übers Herz, ihrer Familie im fernen Havelland zu sagen, dass sie ganz auf sich allein gestellt ist ... Da passiert ein Unglück, das einen noch viel größeren Schatten wirft: Marc wird bei einem Unfall schwer verletzt, gerade als sein Vater aus dem Gefängnis zurückkehrt, um Unfrieden zu stiften! Kann Flo ihm helfen, diese schwere Zeit durchzustehen – ohne den Kopf zu verlieren und sich in ihren besten Freund zu verlieben? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der rührende Kleinstadtroman »Der Patchwork-Club – Sommertage in St. Elwine« von Britta Orlowski ist der dritte Band ihrer Patchwork-Club-Reihe, der Fans von Susan Elizabeth Phillips und Nora Roberts begeistern wird. Der Roman ist bereits unter dem Titel »Zitronentagetes« erschienen. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 627
Über dieses Buch:
Ein Neuanfang in St. Elwine ... Von ihrem Exmann im Stich gelassen, zog Floriane, genannt Flo, mit ihrem Sohn Kevin in das beschauliche St. Elwine. Einige Jahre später ist sie gut vernetzt mit den Frauen im örtlichen Patchworktreff und ihr bester Freund Marc steht ihr immer mit Rat und Tat zur Seite. Doch das Geld ist jeden Monat knapp und noch immer bringt sie es nicht übers Herz, ihrer Familie im fernen Havelland zu sagen, dass sie ganz auf sich allein gestellt ist ... Da passiert ein Unglück, das einen noch viel größeren Schatten wirft: Marc wird bei einem Unfall schwer verletzt, gerade als sein Vater aus dem Gefängnis zurückkehrt, um Unfrieden zu stiften! Kann Flo ihm helfen, diese schwere Zeit durchzustehen – ohne den Kopf zu verlieren und sich in ihren besten Freund zu verlieben?
Über die Autorin:
Britta Orlowski, Jahrgang 1966, wohnt im Havelland und ist Mutter zweier Söhne. Sie arbeitete 20 Jahre als zahnmedizinische Fachangestellte. Aber da sie in einer Zahnarztpraxis leider keine Geschichten erfinden durfte, widmete sie sich schließlich ihrem Traumjob, wurde Buchautorin und jobbte nebenbei in Buchhandlungen. Im Jahr 2008 erschien ihr Debütroman. Inzwischen arbeitet sie in einer Arztpraxis und lebt ihre Liebe zu Büchern trotzdem aus. Ihr Lebensmotto: Tu, was du liebst. Wenn sie nicht gerade Quilts näht, tummelt sie sich in ihrem geliebten Garten und/oder schreibt am nächsten Buch. Sie ist Mitglied im Schriftstellerverband des Landes Brandenburg, sowie bei DELIA und Organisatorin der DELIA Liebesromantage 2011 in Rathenow.
Britta Orlowski veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre Patchwork-Club-Reihe mit den Einzelbänden »Rückkehr nach St. Elwine«, »Eine Liebe in St. Elwine«, »Sommertage in St. Elwine«, »Der Himmel über St. Elwine«, »Ein Kuss in St. Elwine« und »Herzklopfen in St. Elwine«.
Die Website der Autorin: britta-orlowski.de
Die Autorin bei Facebook: facebook.com/Britta-Orlowski
Die Autorin auf Instagram: instagram.com/brittaorlowski/
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Überarbeitete eBook-Neuausgabe Oktober 2024
Dieses Buch erschien bereits 2012 unter dem Titel »Zitronentagetes« bei Aaronis Collection Aspach.
Copyright © der Originalausgabe 2012 Aaronis Collection Aspach und Britta Orlowski
Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
Vignette: © Freepik.com/macrovector
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-98952-315-9
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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!
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Britta Orlowski
Der Patchworkclub – Sommertage in St. Elwine
Roman
dotbooks.
Für alle Suchenden
Weil man ihn nicht suchen kann,
sondern finden muss
seinen Ort.
Sigrid Damm
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Liebe ist nicht gleichbedeutend mit Glück.
Antje Babendererde in LIBELLENSOMMER
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Rosa Hortensie
Wer nahm das Rosa an? Wer wusste auch,
dass es sich sammelte in diesen Dolden?
Wie Dinge unter Gold, die sich entgolden,
entröten sie sich sanft, wie im Gebrauch.
Dass sie für solches Rosa nichts verlangen.
Bleibt es für sie und lächelt aus der Luft?
Sind Engel da, es zärtlich zu empfangen,
wenn es vergeht, großmütig wie ein Duft?
Oder vielleicht auch geben sie es preis,
damit es nie erführe vom Verblühn.
Doch unter diesem Rosa hat ein Grün
gehorcht, das jetzt verwelkt und alles weiß.
Rainer Maria Rilke
Familie Tanner:
Peter Tanner
Olivia Tanner geb. Conroy – Peters Ehefrau
deren Kinder:
Angelina Rickman geb. Tanner
Victoria de Bourrillon geb. Tanner
Joshua Tanner
Alexander Rickman – Angelinas Ehemann
deren Kind:
Leah Rickman
Jaques de Bourrillon – Victorias Ehemann
Elizabeth Tanner geb. Crane – Joshuas zweite Ehefrau
deren Kind:
Lucas Tanner
Familie Cumberland:
George Cumberland
Megan Cumberland – Georges Exfrau
deren Kind:
Marc Cumberland
Jennifer Cumberland geb. Brighton – Georges zweite Ehefrau
deren Kind:
Rose Cumberland
Amy – Marcs Freundin
Familie Svenson:
Johann Svenson
Emma Svenson – Johanns Ehefrau – verstorben
deren Kind:
Nathan Svenson
Celina Sinclair geb. Conroy – Nathans Exfrau – verstorben
deren Kind:
Charlotte Svenson
Tyler O'Brian (Künstlername) geb. Carmichael – Charlottes Freund
deren Adoptivkinder:
Ryan Svenson
Teresa Svenson
Maxwell Sinclair – Charlottes Stiefvater – verstorben
Annie Svenson – Nathans zweite Ehefrau
deren Kinder:
Thery Svenson
Emma Svenson
Familie Carmichael:
Chadwick Carmichael
Maureen Carmichael – Chadwicks Frau – verstorben
deren Kind:
Tyler O’Brian (Künstlername) Carmichael
Rodney Myers geb. Walsh – Tylers Halbbruder
Edward Walsh – Maureens zweiter Mann – verstorben
Ruth Carmichael – Chadwicks zweite Ehefrau
deren Kind:
Matthew Carmichael
Nora: Besitzerin Patchworkladen
Doris Ross: frühere Haushälterin bei Frederick und Elizabeth Crane
Cybill Barlow: Angestellte bei einer Versicherung
Allison Webber: arbeitet im Autohaus
Kate: Haushälterin der Ganderton
Rachel Ganderton: Besitzerin der Boutique Schatztruhe
Dr. Elizabeth Crane-Tanner: Chirurgin – Oberärztin im St. Elwine Hospital
Irene Reinhold: Kosmetikerin – Schwester des Sheriffs
Leslie Burg: Krankenschwester in der Notaufnahme
Dr. Charlotte Svenson: Zahnärztin
Floriane Usher: alleinerziehende Mutter – stammt aus der DDR
Bonny Sue Parker: Besitzerin des Schönheitssalons
Tanner & Cumberland Construction: Joshua Tanner, Marc Cumberland, Carry, Jenny
Schönheitssalon: Bonny Sue Parker, Irene Reinhold, Floriane Usher
Rickman Immobilien: Angelina Tanner-Rickman, Alexander Rickman
Zahnarztpraxis Svenson: Dr. Charlotte Svenson, Janet Carter, Anna Foley, (früher auch Bertha Chappell)
St. Elwine Hospital: Dr. Theodor Jefferson, Dr. Elizabeth, Dr. Curtis Zimmerman, Schw. Leslie Burg
Show Business. Tyler O'Brian, Anna Foley, Orlando Moss, Norman Mc Kee
»Wann sind wir denn endlich da, Mutti?«
Floriane lächelte, während ihr Sohn Kevin gelangweilt aus dem Fenster blickte. Sie liebte es, wenn er das deutsche Wort Mutti gebrauchte. Jedes Mal, wenn ihr Sohn es mit seinem amerikanischen Akzent aussprach, wurde ihr warm ums Herz. Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte sie sich in die Vergangenheit zurückversetzt, in ein Land, das es nicht mehr gab und in das sie nicht zurückkehren konnte.
Vor allem war sie damals im Zorn gegangen und hatte ihre Familie verletzt. Doch es war zu spät, zu bereuen.
Floriane seufzte und hoffte, dass sie bald einen Ort erreichten.
Plötzlich huschte eine Katze über die Straße. Floriane riss das Lenkrad herum, der Wagen geriet ins Schlingern und knallte mit dem rechten Vorderrad gegen einen Meilenstein.
Sie fuhr sich durch das Haar. Der Schreck saß ihr in den Gliedern. »Bist du okay, Schatz?«
Kevin war bereits nach draußen gesprungen und pfiff durch die Zähne. »O Mann, der Reifen ist hin, Mutti. Kein Problem, wir versuchen einfach, das Rad zu wechseln.«
Ihr schoss ein Gedanke durch den Kopf. Hatte nicht ihr Exmann vor einem guten Jahr ein Rad gewechselt und dann vergessen … Mit einem Satz war Floriane aus dem Kombi geklettert und öffnete die Kofferraumklappe.
Mist!
»Na schön, wir werden einfach warten. Irgendwann wird sicher jemand vorbeikommen und uns helfen.« Sie bekam Bauchschmerzen. »Wir schnappen unsere Rucksäcke, verschließen den Wagen und machen uns auf den Weg in den nächsten Ort.«
Kevin musterte sie skeptisch.
Sie hatten sich verirrt, und das nicht nur ein bisschen. Flo seufzte.
Ihr schlechtes Gewissen meldete sich. Sie hatte dem Jungen eine Abenteuerreise versprochen.
»Daddy und du, ihr lasst euch scheiden, stimmt’s?« Seine Worte jagten ihr einen Schauder über den Rücken.
Sie hätte ihm erklären müssen, dass Val und sie bereits seit Monaten geschieden waren, doch sie brachte es nicht über sich.
»Ich will nicht mehr weiterreisen. Ich dachte, Daddy holt uns zurück. Aber er wird nicht kommen, oder?«
»Nein, er wird nicht kommen.«
»Es ist meinetwegen. Er hat oft gesagt, dass ich eine Nervensäge bin. Auch wegen der scheiß Schule.«
Floriane schnitten seine Worte ins Herz. Sie konnte ihm unmöglich sagen, dass er recht hatte, dass sein Daddy der Belastung nicht mehr gewachsen war. Kevin war hyperaktiv. Die Ärzte nannten das ADHS – Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung.
Es war ihr Kind. Sie konnte gar nicht anders, als darauf stolz zu sein.
Endlich hatte sich ihr Herzschlag so weit beruhigt, dass sie ihm eine Antwort geben konnte. »Nein, das stimmt nicht. Daddy und ich, wir hatten Probleme miteinander.«
»Ich will trotzdem nicht mehr weiter. Suchen wir uns in dem nächsten Ort eine Wohnung?«
»Wenn es dort eine Schule gibt, bin ich einverstanden.«
Warum auch nicht? Wenn schon ihr ganzes Leben so vermurkst war, könnten sie auch gut und gern dieses Risiko eingehen.
Kevin nahm ihre Hand und gemeinsam gingen sie ihrer neuen Heimat entgegen.
»Mir ist, als hätte ich mein gesamtes Leben nur an dich gedacht.«
Flos Herz schlug Purzelbäume. »Du hattest doch Julia.«
Nach ihrem Einwand sah er sie merkwürdig verzagt an. »Wir haben zusammengearbeitet und der Film wurde zum Kassenschlager – das ist alles.« Richard Geres Blick ruhte noch immer auf ihr. Sacht senkte er seine Lippen und traf ihren Mund. Sein Kuss ließ sie alles ringsum vergessen. Flo sank gegen ihn, überließ ihm die Führung, spürte seine Wärme, seine Stärke, seine Männlichkeit. Als er irgendwann den Kuss beendete, überfiel sie ein beinahe überwältigendes Verlustgefühl. Sofort schlang sie ihre Arme um seinen Hals.
»Ich bin ja da, Flo. Ich werde immer für dich da sein.«
Sie wollte ihm gern glauben, aber sie war ein gebranntes Kind.
Seine tiefe, eindringliche Stimme berührte sie fast noch mehr als seine Worte es taten. »Du machst dir immer zu viele Gedanken.«
Woher wusste dieser Mann das nur? Alle anderen Menschen ließen sich leicht von ihrer witzigen, fidelen Fassade täuschen. Er nicht.
Mit den Händen öffnete er geschickt die Knöpfe ihrer Bluse. Schon berührte er ihre Brüste. Die zärtliche Leidenschaft, die sich in seinen Augen widerspiegelte, entfachte ein Feuer in ihr. »Es ist nur …«, stammelte sie. »Hollywood.«
»Vergiss Hollywood. Es ist lediglich ein Job. Mein wahres Leben findet hier statt, mit dir.«
Seine Worte streichelten ihre Seele, ihr Herz. Er brauchte nichts mehr zu sagen, und das tat er auch nicht. Die Bluse fiel zu Boden, kurz darauf der BH, den er ihr auf dem Rodeo Drive in Los Angeles gekauft hatte.
Richard Gere hielt sie an sich gepresst, als wäre sie die begehrenswerteste Frau auf der Welt und nicht etwa Floriane Usher aus dem Havelland in Deutschland. Sie schob ihre Finger unter sein Seidenhemd, seine Haut darunter fühlte sich wunderbar an. Sie roch teures Rasierwasser, und ihre Gedanken lösten sich auf wie Frühnebel an einem Sommertag. Noch nie war sie so geküsst worden, und sie genoss alles, was er mit ihr tat. Mutig griff sie nach seiner Gürtelschnalle und zerrte daran. Unter dem Reißverschluss spürte sie seine Erregung. Augenblicklich begann es in ihrem Bauch zu flattern. Er hob sie hoch, sie schlang die Beine um seine Hüften. Richard drang in sie ein und stöhnend kam sie zum Höhepunkt.
»Tag, Mrs. Usher.«
Flo fuhr zusammen. »Hallo, Mr. Hobbs.«
Der Mann schnappte sich eine der Einkaufstüten und hielt ihr die Tür auf.
»Danke.«
»Spätschicht heute?«, fragte er.
»Ja, richtig.« Sie kramte in ihrer großen Umhängetasche nach dem Schlüssel. »Stellen Sie einfach alles hier ab, den Rest schaffe ich schon. Vielen Dank und schönen Gruß an Ihre Frau.«
Er winkte ihr zu und verschwand um die Ecke.
Flo betrat die Küche und stellte ihre Einkaufstüten auf dem Tisch ab. Den Kassenbon legte sie sorgfältig in ihr Haushaltsbuch zu den anderen. Morgen würde sie die gesammelten Belege vom August addieren, doch sie sah kaum noch einen Sinn in dieser Gewohnheit. Schließlich wusste sie längst, dass sie Monat für Monat gerade so über die Runden kam. Das war nicht ihre Schuld, soviel hatte die Führung eines Haushaltsbuches sie immerhin gelehrt. Im Grunde genommen brachte sie diese Erkenntnis aber auch nicht weiter.
Flo versuchte, die Traurigkeit, die sie schon seit dem frühen Morgen empfand, abzuschütteln. Es gelang ihr nicht. Im Gegenteil, sie begriff, dass der heutige Tag nur die Spitze eines Eisberges war, der seit geraumer Zeit ihr bescheidenes Leben sabotierte. Zunächst war da das Gespräch mit Martha gewesen, die ihr berichtete, dass sie am Ende des Sommers den Pub schließen und verkaufen würde. Somit war klar, dass Flos Nebenjob sich erledigte. Möglicherweise könnte sie bei dem Nachfolger arbeiten, machte Martha ihr ein wenig Hoffnung. Flo gab sich keinen Illusionen hin. Bis der renovierte, ein Konzept erstellte und eröffnete, vergingen bestimmt zwei, drei Monate, in denen es keine zusätzlichen Dollars für sie und Kevin geben würde. Bitter, umso mehr, weil Anfang dieses Jahres der alte Doc Svenson gestorben war. Sie hatte ihm oft Gesellschaft geleistet und seinen Geschichten über Pflanzen gelauscht, die sich fest in einem verborgenen Winkel seines Gehirns eingenistet hatten. Zum Schluss nahm die Demenz eine erschreckende Form an. Niemand wusste wohl so viel über Blumen, Ziersträucher und Rasenpflege wie Johann Svenson. Jedenfalls niemand, den Flo kannte. Seine Enkelin Charlotte hatte ihr für die Geduld, die sie im Umgang mit dem alten Mann aufgebracht hatte, auch immer wieder etwas zugesteckt. Flo erinnerte sich noch genau an das schlechte Gewissen, das sie anfangs befiel. Sie bekam Geld für etwas, dass sie aus reiner Gefälligkeit tat. Die Gespräche mit dem alten Zahnarzt, dessen große Leidenschaft sein Garten war, machten ihr Spaß.
Seit zwei Monaten blieb die Unterhaltszahlung von Val aus. Zunächst waren die Überweisungen nur unpünktlich erfolgt, dann unregelmäßig und seit sechs Wochen saß sie auf dem Trockenen. Warum, zum Teufel, rief ihr Exmann deswegen nicht an? Sie wollte nicht wieder den ersten Schritt tun. Bis zum Ende der Woche würde sie warten, aber dann war Schluss mit lustig. Immerhin ging es hier nicht allein um sie, sondern vor allem um Kevin.
Als hätten all diese Tatsachen nicht genügt, zog sie gerade einen Briefumschlag aus dem Briefkasten. Sie starrte auf den Absender und überlegte. Warum schrieb ihr der Vermieter? Na gut, sie war ein wenig überfällig mit der Miete, aber bisher hatte er es auch toleriert. Dass sie oft knapp bei Kasse war, wusste er. Mit zitternden Händen riss sie das Kuvert auf und überflog die Zeilen. Sie musste sie zweimal lesen, um die Bedeutung zu begreifen. Bis Ende des Jahres musste sie raus aus der Wohnung. Der Vermieter hatte die Immobilie verkauft und der neue Besitzer wollte das Haus abreißen lassen und das Grundstück anderweitig nutzen.
Sie schlug die Hände vor das Gesicht. Was denn noch? Hatte sie nicht genug Schwierigkeiten? Ein seltener Anflug von Selbstmitleid tobte in ihr. Flo wünschte verzweifelt, die Zeit zurückdrehen zu können – bis zu einem bestimmten Punkt. Leider war ihr nicht klar, bis zu welchem. Der Druck in ihrer Brust verstärkte sich. In den vergangenen Wochen waren die Hiobsbotschaften tröpfchenweise in ihr Gehirn gesickert – jetzt schwappte eine Welle der Resignation gnadenlos über sie hinweg. Und brachte Mutlosigkeit, Angst und unsägliche Traurigkeit mit.
Immer öfter überfiel Flo eine Sehnsucht. Egal, wohin sie ging, egal, welche Richtung sie einschlug – die Sehnsucht war schon vor ihr dort. Sehnsucht – wonach? Nach der glücklichen Kindheit in einem kleinen Dorf an der Havel, nach Good old Germany? Nach der Sicherheit einer Ehe mit Val Usher? Nach einem Ort, der ihr Zuhause sein konnte? Nach der Familie, die sie leichtsinnigerweise zurückgelassen hatte und die sie nun schon seit über zehn Jahren nicht mehr in die Arme schließen konnte und vermisste? Der Kloß in ihrem Hals wuchs an. Flo glaubte beinahe, an dem Schluchzen in ihrer Brust ersticken zu müssen. Doch Tränen waren auch jetzt unangebracht. Sie würden ihr nicht weiterhelfen, sie gab ihnen nicht nach.
Flo blinzelte auf die Uhr. In einer Stunde musste sie im Schönheitssalon sein. Eigentlich mochte sie nachmittags nicht arbeiten gehen, aber der Job im Salon bei Bonny Sue war nun einmal ihr einziger zurzeit, irgendwelche Extrawünsche konnte sie klemmen. Wenn sie sich nur besser auf Kevin verlassen könnte. Mit seinen elf Jahren kam er langsam in die Pubertät. Erledigte er heute seine Hausaufgaben gewissenhaft? Seufzend verstaute sie ihre Einkäufe in dem kleinen Vorratsregal und faltete die Tüten zusammen. Sie stellte eine Pfanne auf den Herd, ließ etwas Fett aus und schnitt die übrig gebliebenen Kartoffeln vom Vortag klein. Danach säbelte sie Wurstreste in Würfel, ebenso eine Zwiebel und gab alles in das heiße Fett. Flo würzte mit Salz, Pfeffer, Kümmel und Majoran, schlug noch ein Ei darüber und ließ alles unter einem Deckel stocken. Beim Abschneiden frischer Kräuter aus dem Beet hinter dem Haus überkam sie erneut Traurigkeit. Hastig wischte sie eine verstohlene Träne von ihrer Wange. Die Bewegung schreckte einen Vogel auf. Im selben Augenblick landete ein dicker dunkelblau schimmernder Käfer neben ihren Füßen. Hatte der Vogel vor Schreck sein Opfer fallen lassen? »Hallo Kumpel.« Flo schnupperte an der Petersilie. »Scheint so, als hätte ich dir soeben das Leben gerettet.« Na ja, wenigstens für einen von uns ist dieser Tag nicht verkackt.
Als es an der Tür läutete, wusste Jenny sofort, dass es Amy war und öffnete.
»Komm rein!« Sie begrüßte ihre Freundin und ging voraus in die Küche. »Ich habe bereits Kaffee aufgesetzt. Am besten, wir setzen uns in den Garten. Wer weiß, wie lange das Wetter noch so schön ist.« Als zweite und sehr viel jüngere Ehefrau ihres Mannes George hatte sie einen denkbar schlechten Stand bei Marc, Georges Sohn aus erster Ehe und war froh, dessen Verlobte zur Verbündeten zu haben.
Amy lachte, als sie Jennys dreijährige Tochter von der Terrasse aus in ihrem Buddelkasten entdeckte, wie sie feine Konditoreien aus Sand kreierte.
Sofort lief sie nach draußen. »Hallo Rosie.« Amy streckte eine Hand aus. Ihre Tochter berührte sie flüchtig und grinste.
Als Jenny ihr mit dem Tablett folgte, zuckte Amy kurz zusammen. »Sie hat Marcs Augen«, flüsterte sie.
Genaugenommen besaß Marc die Augen seines Vaters. So ähnlich wie ihre Rosie könnte auch ein Kind von Marc und Amy aussehen. Jenny war sich nicht sicher, ob Amy noch davon ausging, dass Marc sie jemals heiratete, oder ob ihre Freundin das noch wollte. Allerdings taten sich beide schwer, konsequente Entscheidungen zu treffen.
»Miss Rosie hat keine Zeit für belanglose Konversation«, sagte Amy lachend, um vom Thema abzulenken. »Und was gibt es bei dir Neues?«
»Ich habe heute einen Brief von George bekommen«, berichtete Jenny und stellte das Tablett auf den Tisch.
Amy warf ihr einen raschen Blick zu. »Hartnäckig ist dein Mann ja, das muss man ihm lassen. Hat er das tatsächlich jeden Monat durchgezogen?«
Jenny nickte. »Aber dieses Mal schreibt er, dass die Staatsanwaltschaft seinen Antrag auf frühzeitige Haftentlassung prüfen wird. Wenn alles gut geht, und George scheint offenbar davon überzeugt, könnte er Weihnachten bereits zu Hause sein.« Sie setzten sich.
»Hat er nicht begriffen, dass ihr euch getrennt habt?«
Jenny reichte Amy die Tasse. »Doch, schon. In jedem seiner Briefe bittet er mich um Verzeihung.«
Amy stieß ein Schnauben aus.
»So einfach ist das alles nicht.« Jenny nahm ihre Tasse.
»Was zum Geier soll das heißen?«
»Das Haus gehört immer noch ihm. All seine Sachen sind hier. Wo soll er sonst hin? Er hat niemanden mehr.« Jenny pustete, weil der Kaffee noch zu heiß war.
Amy verdrehte die Augen. »Wie melodramatisch. Was ist mit Marc?«
»Ernsthaft? Vater und Sohn Cumberland befinden sich seit Jahren im Kriegszustand, falls du es vergessen hast. Daran wird eine vorzeitige Entlassung aus dem Gefängnis aufgrund guter Führung auch nichts ändern. George könnte noch so viel Reue zeigen, Marc ist stur wie ein Maulesel. Du kennst ihn gut genug.«
»Was ist ein Maulesel, Mommy?«
Oje, sie mussten besser auf ihre Worte achten. »Ein hübscher Esel, mein Schatz«, rief Jenny ihrer Tochter zu.
Amy lachte. »Stimmt genau. Marc wird nie nachgeben, geschweige denn einen Strich unter die Vergangenheit ziehen und seinem Vater die Hand reichen. Aber hübsch ist er.« Sie nahm einen Schluck. »Und ich bin auf seinen Gesichtsausdruck gespannt, wenn er von der Neuigkeit erfährt.«
Flo hatte es nicht mehr weit. Sie beobachtete eine Frau, die mit ihrer kleinen Tochter auf dem Bordstein Fangen spielte. Die Mutter war noch ausgelassener als das Kind. Es machte Spaß, den beiden zuzuschauen. Wann hatte sie sich das letzte Mal so unbefangen bewegt? Flo schloss die Tür hinter sich und schlüpfte aus ihren Schuhen. Aus Kevins Zimmer drangen lautstark Bässe und irgendein Affengejaule. Halt Stopp, jetzt reagierte sie schon wie ein Spießer. Genau das hatte sie nie sein wollen.
Die Küche sah ordentlich aus, also hatte Kevin bei seinem Freund Ryan gegessen. Sie war dankbar, dass ihr Sohn von Ryans Pflegeeltern Tyler und Charlotte oder deren Nachbarn, den Tanners, nach dem Spielen oder dem Training nach Hause gebracht wurde. Flo öffnete den Kühlschrank. Obwohl sie keinen Hunger verspürte, befahl sie sich, wenigstens etwas zu essen. All ihre finanziellen Sorgen schlugen ihr zu oft auf den Magen. Manchmal bekam sie sogar Durchfall, was sie noch grässlicher fand. Immerhin: Je weniger sie aß, desto mehr war für Kevin übrig. Ihre dunklen Gedanken drohten, sie in einen gefährlichen Strudel hinabzuziehen. Sie musste unbedingt damit aufhören. Die Frage war lediglich: Wie?
Flo fand noch zwei Mini-Bratwürste und erhitzte Öl in einer Pfanne. Sie schnappte sich die Flasche Ketchup und einen Apfel und stellte alles auf den Küchentisch.
Nachdem sie gegessen und Kevin ins Bett geschickt hatte, hockte sie sich vor den kleinen alten Schrank, in dem sie ihre Patchworkstoffe aufbewahrte. Sie zog die Schachtel mit den Fat Quartern hervor und strich liebevoll darüber. Danach nahm sie einen der Flanelle zur Hand. Mittlerweile hatte sie es auf sieben verschiedene gebracht. Es würde noch eine Weile dauern, bis sie die Stoffe für einen Raggedy-Knuddel-Quilt, zusammen hatte. Nein. Stopp – nicht schon wieder negative Energie verstreuen. Sie blickte zu den karierten Kostbarkeiten, die sie besonders liebte. Was ließe sich daraus zaubern? Konnte man einen Quilt ausschließlich mit karierten Stoffen entwerfen? Wahrscheinlich schon, wenn der Kontrast der Farben deutlich zur Geltung kam. Vielleicht mit Bow-Tie und Evening Star Blöcken. Wie wäre es, jede Reihe mit anderen Blöcken zu gestalten? Sie erhob sich aus der Hocke und streckte sich auf dem Sofa aus.
Es lief eine der Fernsehserien, die endlos oft wiederholt wurden. Diese Folge hatte sie jedoch noch nicht gesehen. Die Heldin sprang gerade aus ihrem Viehtransporter und lief nach hinten. Eines der Schafe hatte sich ein Bein gebrochen, unter den Tieren machte sich Panik breit. Jetzt blieb nur noch eines zu tun: das verletzte Schaf zu erschießen. Der Fahrer des Trucks bot an, die Aufgabe zu übernehmen, doch sie wollte es selbst erledigen und kämpfte mit angelegtem Gewehr darum, ihren Entschluss umzusetzen. Sie brachte es nicht fertig. Der Mann kam ihr wortlos zu Hilfe – ein sauberer Schuss und das Tier war erlöst.
Floriane spürte, wie etwas Warmes über ihre Wangen tröpfelte, das sich zu einem kleinen Rinnsal steigerte. Aufschluchzend schnappte sie sich eines der Sofakissen und presste es gegen den Bauch. O Gott, sie heulte um ein totes Schaf in einer mittelmäßigen Fernsehserie. Die würgende Traurigkeit war wieder da, und mit ihr der wahre Grund für ihre Tränen.
Amy räumte die Küche auf. Sie hatte vom Chinesen Essen mitgebracht. »Dein Vater wird womöglich vorzeitig entlassen.«
Marc verschluckte sich fast an seinem Bier. Er warf ihr einen raschen Blick zu.
Bildete er sich das nur ein oder klang in ihrer Stimme eine Spur Schadenfreude mit? Amy warf die Reste in den Müllschlucker und räumte das Besteck in den Geschirrspüler. Sie benutzte nie das mitgegebene Plastikbesteck und was das Essen anging, war sie anspruchsvoll. In Anbetracht der Tatsache, dass sie nicht kochen konnte, fand Marc das drollig.
»Was soll das heißen?« Er ließ sie keinen Moment aus den Augen.
»Genau das, was ich gesagt habe.« Sie redete wie eine nachsichtige Mutter zu ihrem nörgelnden Kind.
»Woher weißt du das?«
»Was spielt denn das für eine Rolle?« Jetzt klang sie genervt.
»Hast du wieder die engelsgleiche Jenny besucht?« Die Frau seines Vaters.
»Spar dir den Sarkasmus. Ich habe es satt, immer die gleiche Diskussion zu führen. Entweder du akzeptierst endlich die Tatsache oder …«
»Oder was?«
»Oder du lässt es bleiben.« Sie warf den Küchenlappen in die Spüle.
»Genau.« Er konnte nicht begreifen, dass Amy und Jenny Freundinnen geworden waren.
Am nächsten Morgen drückte Marc den Wecker aus, noch bevor er klingelte. Seit zwei Stunden lag er wach. Seine Gedanken kreisten um die Bemerkung, die Amy wie nebenbei fallen gelassen hatte.
Er stand auf und ging vorsichtig aus dem Schlafzimmer. Leise, wie er es jeden Morgen tat, um Amy nicht aufzuwecken. Er fragte sich, ob es ihm heute nicht eher darum ging, nicht mit ihr reden zu müssen.
Bevor er zur Arbeit fuhr, lief er seine übliche Runde zum alten Hafen hinunter. Als er sich auf einen ausgewogenen Laufrhythmus und seine Atmung konzentrierte, legte sich seine Anspannung. Der Wind spielte mit seinem Haar. Anschließend duschte er und fuhr in die Firma.
Im Büro von Tanner & Cumberland Construction herrschte die übliche Hektik. Die Telefone läuteten ununterbrochen. Seine Sekretärin gab ihm entsprechende Handzeichen, für welchen Anrufer er lieber nicht zu sprechen sein sollte. Die Frau war einfach eine Perle und kannte ihn viel zu gut.
Er bearbeitete am PC die Baupläne für ein Hotel in New York. Man brachte ihm eine Nachricht: »Mr. Tanner möchte, dass Sie die Rohrdimensionen für das Bürogebäude in Baltimore nochmals prüfen. Es gab vor Gericht offenbar einen Vergleich und …«
»Schon gut, ich mach’s. Es wird aber noch etwas warten müssen.«
Wieder läutete das Telefon, er nahm ab.
»Marc, guten Morgen, mein Lieber.«
Seine Mutter hatte ihm gerade noch gefehlt.
»Ich bin mir nicht sicher, wann hast du gesagt, wolltest du vorbeikommen? Ich habe ein paar kleine Reparaturen am Haus. Nichts Wichtiges, aber du kennst mich ja. Ich möchte gern, dass es erledigt ist. Wenn du keine Zeit hast, kannst du es mir ruhig sagen.«
Marc sah sie vor sich, wie sie sich nervös eine Strähne ihres aschblonden Haares hinter das Ohr strich. Er wusste genau, dass er keinen Termin mit ihr vereinbart hatte. Das tat er nie. »Ist dir Samstagvormittag recht?« Er fügte sich in das Unvermeidliche.
»Das passt mir ausgezeichnet.« Ihrer Stimme war ein Lächeln anzuhören.
Nun, wenn sie sich so sehr darüber freute, hatte es auch was Schönes, dachte er schuldbewusst.
»Du hast sicher viel zu tun. Ich will dich nicht länger von der Arbeit abhalten.«
»Ja, stimmt.«
»Bis dann, mein Junge.«
»Ja, bis Samstag.«
»Samstag – da wollen wir doch ins Konzert. Schon vergessen?« Sein ältester Freund und Geschäftspartner Joshua Tanner stand im Türrahmen und beobachtete ihn.
»Bis zum Abend bin ich fertig. Es war Mom.«
»Verstehe.« Josh hob die Brauen. Die Sekretärin rief nach ihm. Er wandte sich halb um. »Lassen Sie sich die Nummer geben, ich rufe zurück.«
Marc arbeitete weiter.
»Die Rohrdimensionen von …«, begann Josh.
»Ich weiß Bescheid. Sobald ich Zeit habe, werde ich diesen Mist zum vierten Mal prüfen.«
Josh hob die Hände. »Tut mir leid, ich stehe genauso unter Druck. Bis elf Uhr erwarten die Auftraggeber eine Antwort.«
»Verflucht.« Marc schlug beinah die Kaffeetasse um. »Ich kümmere mich.«
Josh bedeutete ihm, dass er ihn nicht weiter bedrängen würde und ging wieder in sein eigenes Büro.
Am besten nahm sich Marc sofort die Rohrdimensionen vor. Zähneknirschend öffnete er die entsprechende Datei und nahm noch einen letzten Schluck Kaffee.
Was war nur los in seinem Leben? Er hatte ein problematisches Verhältnis zu seiner Mutter, mit Amy war er offenbar in eine Sackgasse geraten und darüber, wie er zu seinem Vater stand, mochte er erst gar nicht nachdenken. Wenigstens lenkte ihn sein Job ab.
Beim Mittagessen in Julies Diner trafen Josh und er auf Angelina. Joshs Schwester führte zusammen mit ihrem Mann eine erfolgreiche Immobilienfirma. Tanner & Cumberland Construction und Rickman Immobilien arbeiteten eng zusammen.
»Hallo, ihr beiden. Der Fisch ist heute ausgezeichnet«, begrüßte Angelina sie fröhlich.
Josh küsste ihre Wange. »Danke für die Empfehlung.«
Marc lächelte flüchtig.
»Hast du schlechte Laune?«, fragte sie ihn.
»Warum?«
»Ich kenne dich, schon vergessen? Was immer es ist, es wird sich bald wieder einrenken. Übrigens erhielt ich gestern einen netten Brief von meiner ehemaligen Mitschülerin Carolyne«, wandte sie sich an Josh. Wir planen ein Klassentreffen und weil ich vor Ort wohne, bin ich im Orga-Team.«
»Carolyne?«, fragte Josh.
»Tu nicht so, als wüsstest du nicht genau, von wem ich spreche. Sie ist die Frau, die dir deine Jungfräulichkeit raubte.«
Josh stöhnte.
Immerhin musste Marc grinsen. »Wann soll das Klassentreffen stattfinden?«
»Erst im Frühling. Wir brauchen für die Vorbereitung eine Weile. Allein alle Adressen herauszufinden …«
»Gut. Nenn mir rechtzeitig den Termin. Ich werde nicht in der Stadt sein«, unterbrach Josh sie.
Angie lachte auf. »Was genau befürchtest du?«
Er blieb ihr eine Antwort schuldig.
»Übrigens, Vicky kommt am Sonntag nach Hause.«
Victoria, Joshs mittlere Schwester, für die Marc früher eine Schwäche hatte, lebte mit ihrer Familie abwechselnd ein paar Monate in St. Elwine und auf ihrem Weingut in Frankreich.
Angie blinzelte auf ihre Uhr. »Ich muss leider los.«
Als sie gegangen war, berichtete Marc endlich von seinem Vater.
Josh versuchte, ihn zu beruhigen, verwies darauf, dass solche Angelegenheiten gründlich geprüft würden und es sicher noch dauerte. Aber es half nicht besonders.
Flo hatte den ersten Schock überwunden und fühlte sich wieder etwas besser. So schnell würde sie nicht aufgeben. Das wäre gelacht. Als Erstes kaufte sie sich eine Zeitung und ging die Wohnungsinserate durch. Eine vielversprechende Anzeige markierte sie mit dem Rotstift. Ihr Exmann hatte den Unterhalt doch noch überwiesen. Zwar nicht die vereinbarte Summe, aber immerhin. Sicher war er nur in einen vorübergehenden Engpass geraten. Wer verstand das besser als sie?
Als Nächstes verschloss sie alle Sorgen in einer Gedankenschublade und zog sich für das Konzert um. Ihre Freundin Charlotte aus der Quiltgruppe hatte ihr vor ein paar Tagen eine Freikarte für ein Rockkonzert zugesteckt. Selbstredend, dass es sich bei dem Rocksänger um Tyler O’Brian, Charlottes Mann, handelte. Zunächst hatte Flo dankend ablehnen wollen. Das Mitleid anderer ertrug sie nicht, und außerdem besaß sie Stolz. Was sie sich nicht leisten konnte, das ging eben nicht. Anderen Menschen erging es nicht besser. Dann aber erklärte Charly: »Ich will, dass wir alle dabei sind, um ihm den Rücken zu stärken.«
Als Flo sie ein wenig verständnislos anblinzelte, fügte sie hinzu: »Ihn plagen Selbstzweifel.«
»Du meinst die Talkshow und all die Gerüchte vom letzten Jahr, als herausgekommen war, dass er im Gefängnis gesessen hatte?«
»Genau. Er hat seitdem kein einziges Konzert gegeben und sich aufs Komponieren konzentriert. Aber ich weiß, dass er das Singen und den Kontakt zu seinen Fans braucht.«
»Nun, dann bin ich natürlich dabei, wo ich seit Jahren ein Fan von ihm bin. Sogar viel länger als du.«
»Was du nicht sagst.« Charlotte Svenson lächelte.
Zusammen mit einem kleinen Fanclub aus St. Elwine bestieg Flo den gemieteten Bus und fuhr nach Baltimore. Natürlich ließ sich auch ihre Chefin aus dem Schönheitssalon nicht nehmen, dabei zu sein. Charlotte hingegen hatte ihren Mann begleiten wollen, und war schon vor Ort. Die Frage um eine Aufsicht für Kevin hatte sich rasch erledigt. Joshs Mutter organisierte für ihre Enkeltöchter und deren Freundinnen ein Prinzessinnenfest. Da sie dringend Hilfe von zwei kräftigen Jungen brauchte, hatte sie Kevin und seinen Kumpel engagiert, nicht ohne ihnen einen Lohn in Aussicht zu stellen. Daraufhin hatten sich die Burschen nicht lange bitten lassen.
Plötzlich kam Floriane ein Gedanke. Charly bezweckte mit dem Ticket vielleicht nicht ausschließlich, Tyler den Rücken zu stärken. Bei ihr wusste sie nie so genau, woran sie war. Na, wenn schon, heute war ein viel zu glücklicher Tag, um alle Eventualitäten abzuwägen. Nimm an, was das Leben dir bietet. Wer wusste schon, was als Nächstes passierte. Als sie aufsah, bemerkte sie, dass Elizabeth, Joshs Frau, sie beobachtete. Alles okay?, fragte sie stumm. Flo hob den Daumen.
Marc steuerte den Bus und unterhielt sich mit Joshs Schwager. Angelina zog offenbar ihren Bruder auf, denn Josh schüttelte immer wieder den Kopf, woraufhin seine Schwester in Gelächter ausbrach. Flo atmete ein und schloss die Augen.
Schon von Weitem hörte sie die Musik und folgte dem jungen Burschen, der sich hier ohne jeden Zweifel auskannte. Als er die Tür öffnete, brauchte sie einen Moment, um sich an das diffuse Licht zu gewöhnen. Hitze, Zigarettenqualm, Schweiß und billiger Parfümgeruch schlugen ihr entgegen. Die Musik jedoch faszinierte sie, und so trat sie neugierig näher. Männer und Frauen – nicht wesentlich älter als sie, tanzten auf eine beinahe schockierende Art und Weise. Eine Mischung aus Hingabe, Leidenschaft und Erotik. Niemals zuvor hatte Flo so etwas gesehen. Zwar kam sie sich wie ein Voyeur vor, konnte jedoch nicht aufhören, zu starren. Sie bemerkte den Mann erst, als er vor ihr stand. Er trug ein weißes Hemd und eine enge, schwarze Hose, die seine Figur äußerst vorteilhaft zur Geltung brachte. Der Mann wandte sich an ihren Begleiter: »Wer ist sie?«
»Oh, ich habe eine Wassermelone getragen«, antwortete Flo ungefragt.
Der Fremde, dessen Hüften sich immer noch im Rhythmus der Musik bewegten, lächelte sie an. »Diesen Satz verwenden sie alle, Baby. Du bist also die Neue hier. Ich bin übrigens …«
»Ich weiß, wer Sie sind. Immerhin habe ich Dirty Dancing beinahe hundert Mal gesehen. Freut mich, Sie kennenzulernen, Patrick Swayze.« Flo streckte ihm eine Hand entgegen.
Statt sie nach dem kurzen Händedruck wieder loszulassen, zog er sie hinter sich her auf die Tanzfläche und schon ging’s los. Sie konnte nicht besonders gut tanzen, daher wollte sie protestieren. Ihre Sorge war unbegründet – ihr Becken und schließlich auch ihre Füße wussten genau, wie es ging. Und es machte solchen Spaß. Beim besten Willen konnte sie Patricks Worte nicht verstehen. Daher lächelte sie ihn an. »Was?« In dem Moment brach die Musik ab.
»Du bist wunderschön, Baby. Ich habe noch nie eine Frau, wie dich kennengelernt.« Als sich seine Lippen auf ihre senkten, johlten die anderen Tänzer.
»Hast du den Film wirklich so oft gesehen?«, wollte er erstaunt wissen.
»Na gut, vielleicht nicht hundert Mal, aber immerhin«, bestätigte sie ein wenig schuldbewusst.
Daraufhin schenkte ihr der Filmstar sein schönstes Lächeln.
»Was träumst du Schönes? Muss ein toller Typ sein.«
Flo fühlte sich ertappt und blinzelte Liz irritiert an. »Patrick Swayze wollte mich in den erstbesten Bungalow zerren. Du kennst das ja. Die Leute vom Film denken, sie haben bei jeder ein leichtes Spiel. Doch so einfach bin ich nicht rumzukriegen.«
Wie so oft sorgte sie mit ihren lustigen Sprüchen für allgemeine Erheiterung. Josh zwinkerte ihr zu, woraufhin sie frech ausrief: »Du bist auch so einer.«
Angie prustete. Flo befürchtete indes, ein wenig zu weit gegangen zu sein, doch Joshua Tanner lächelte nur. Auch Liz interpretierte nichts in den kleinen Scherz hinein. Erleichtert atmete Flo aus. Schließlich musste niemand wissen, dass sie tatsächlich eine Schwäche für den großen, schwarzhaarigen Mann mit den dunklen Augen und dem bronzenen Teint hatte. Genau genommen war er fast zu schön für diese Welt. Aber mit einer ihrer besten Freundinnen verheiratet.
»Hier finde ich es viel besser als im VIP-Bereich«, sagte Flo zu Elizabeth, als sie ihren optimalen Stehplatz gefunden hatten. »Nicht, dass ich wirklich weiß, wie es dort ist, aber ich könnte mir vorstellen, dass da nicht so eine tolle Stimmung aufkommt. Die VIP’s sehen ein wenig steif aus, findest du nicht?«
»Ganz meine Meinung und Charlotte passt da richtig rein«, meinte Liz frech.
»Nicht stänkern, Mädels.« Josh drehte sich zu ihnen.
»Eigentlich müsstest du auch bei den VIPs herumlungern, Tanner«, zog Liz ihren Mann auf.
»Ich versohl dir gleich den Hintern, Doc«, drohte er spielerisch.
»Das würde ich an deiner Stelle schön bleiben lassen. Du willst uns doch keinen Schaden zufügen, oder?«
Flo beobachtete, wie Josh sekundenlang seine Frau anstarrte. Niemand sonst schien auf Liz’ Worte geachtet zu haben, doch in ihm lösten sie etwas aus. Kurzerhand zog er Liz an sich und küsste voller Zärtlichkeit. Erst, als Angie ihn in die Seite knuffte, ließ er von seiner Frau ab. Als Elizabeth etwas sagen wollte, legte er ihr einen Finger auf den Mund. »Lass es mich noch ein bisschen auskosten, dass nur wir beide davon wissen. Die anderen erfahren es früh genug.«
»Einverstanden.« Glücklich strahlte sie ihn an.
»Ich liebe dich, Doc. Das habe ich schon immer getan.«
»Ich weiß.«
Beide sahen Flo an. Sie hielt ihnen die Handflächen entgegen. »Ich schweige wie ein Grab.«
»Ausgerechnet du.« Josh lachte.
Die Jungs, die als Vorband für Tyler die Stimmung angeheizt hatten, verließen die Bühne. Sie wirkten zufrieden, überlegte Flo. Zu Recht, sie hatten sich redlich Mühe gegeben. Doch jetzt wollten die Fans O’Brian und seine Band. Die Techniker rannten eilig hin und her. Flo wünschte, sie hätte daran gedacht, sich ein Brot zu schmieren und mitzunehmen. Zum Mittag hatte nur eine Suppe gehabt und war hungrig. Von den Fressbuden wehte ein verführerischer Duft herüber. Sie tastete nach dem Kleingeld in ihrer Jeans. Ausgerechnet jetzt quälte sie eine Appetitwelle. Die Münzen in ihrer Hand lockten. Unschlüssig zog sie das Geld hervor. Es würde gerade mal für zwei Happen von einem Burger reichen. Ob sich jemand bereit erklärte und sie abbeißen ließ? Absurd. Sie sich plötzlich beobachtet und schloss rasch die Finger um die Pennys.
»Stimmt was nicht?«, fragte Marc.
»Alles bestens.« Flo bedachte ihn mit einem schiefen Lächeln und schielte gleichzeitig sehnsüchtig zum Pommes Stand.
»Appetit auf Fritten?«, hakte Marc nach.
»Nicht direkt«, flunkerte sie.
Er musterte sie. »Komm, bevor es losgeht. Ich lade dich ein.«
Sie waren seit einigen Jahren Freunde, aber sie wollte diese Freundschaft nicht ausnutzen.
»Unsinn – lass mal.« Flo sah betont interessiert zur Bühne.
»Jetzt zier dich nicht wie die Zicke am Strick. Das sieht doch ein Blinder, dass du Hunger hast.«
»Es riecht nur so gut, deshalb«, sagte sie kleinlaut. Sie war tatsächlich am Verhungern.
Marc nahm sie an die Hand und zog sie hinter sich her. Es war nicht leicht, sich einen Weg durch die Menschenmassen zu bahnen, bis sie endlich vor der Imbisstheke standen.
»Also, was möchtest du? Burger, Pommes, Würstchen?«, fragte Marc.
Alles! »Ähm.« Unentschlossen linste sie auf die Preisschilder. Er verstellte ihr den Blick. Ob zufällig oder absichtlich wusste sie nicht. »Eine Bratwurst.«
»Gute Entscheidung – mit Ketchup nehme ich an.«
Rasch nickte sie und er gab die Bestellung auf. »Danke. Marc?« Sein Blick streifte sie, als er nach einer Serviette griff. »Ich gebe dir das Geld auf alle Fälle zurück.«
Er seufzte theatralisch. »Wenn dich das glücklich macht, Schätzchen.«
»Ich glaube, das würde es.«
»Warum betrachtest du es nicht einfach als nette Geste? Das wäre nicht so anstrengend für dich.« Er nahm die Bestellung entgegen.
»Es ist ganz und gar nicht anstrengend für mich. Du borgst mir was und ich gebe es dir später wieder. Das ist so üblich bei den meisten Menschen. Vor allem, wenn sie befreundet sind. Niemand denkt sich was dabei«, erklärte sie ihm.
»Fein.« Er sah sie an, als warte er auf weitere Kommentare, streckte ihr dann jedoch die Pappschale entgegen. »Wie wäre es jetzt mit der Bratwurst?«
Ob er ihr auf nette Art den Mund stopfen wollte?
»Klar, danke.« Sie griff nach der Wurst und ließ sie beinahe fallen. »Hoppla, da verbrennt man sich ja die Finger.«
»Warte!« Marc nahm die fadenscheinige Pappe zurück, balancierte die Wurst geschickt mit der Scheibe Brot so, dass sie ein Stück weit hinausragte, und hielt sie ihr vor den Mund. »Beiß ab!«
Kichernd kam sie seiner Aufforderung nach.
»Ich glaube, es geht los.« Flo sah sich kauend um. »Wir müssen uns beeilen. Hoffentlich kommen wir auch wieder an unseren Platz.«
»Keine Sorge.«
Als sie loslaufen wollte, hielt Marc sie zurück. »Warte, du hast dich mit dem Ketchup beschmiert.«
Auch das noch. Hastig wischte sie sich mit der Serviette über den Mund. »Alles weg?«
Er tupfte mit dem Daumen kurz ihre Wange. »Jetzt schon.«
Während sie ein leises »Danke« murmelte, zog er sie bereits hinter sich her.
Als Tyler die Bühne betrat, gesellte sich Charlotte zu ihnen. »Bei euch ist es schöner«, murmelte sie und klang ein wenig verloren.
Die Bühne war bereits in diffuses Licht getaucht, blauer Nebel breitete sich langsam aus. Eine Mundharmonika erklang und der Scheinwerfer richtete sich auf Tyler. Sie sahen zu ihm auf. Aus den Augenwinkeln beobachtete Flo, wie Josh seine Cousine Charlotte fürsorglich vor sich schob, damit sie besser sehen konnte. Charlotte stand jetzt direkt neben Flo, als Tyler zu singen begann. »Liebe hätte sie vielleicht retten können …«
»In New York vor über zwei Jahren habe ich den Song zum ersten Mal gehört«, sagte Charlotte zu Flo. »Heute weiß ich, dass er Maureen, seiner Mutter, gewidmet ist, die er mit noch nicht mal siebzehn Jahren verlor. Tyler singt ihn immer zu Beginn seiner Konzerte.«
Danach wurde es rockig mit Desire.
»Yeah«, hauchte Tyler ins Mikrofon und schon tobten die Massen ringsum. »With or without you«, folgte, danach »Bad«. »I am not afraid to die, but I am afraid to life«, sang Tyler. »Ich habe keine Angst, zu sterben, aber ich habe Angst, zu leben.« Mit diesem Lied hatte er versucht, seine furchtbare Jugend und die Zeit im Gefängnis zu verarbeiten.
Flo kroch ein Schauder über den Rücken. Der Song war von seiner neuen CD. Ebenso wie »Where« – »Wohin gehst du, wenn du einsam bist? Lass mich dir folgen!« Das Lied, das er für Don Ingram geschrieben hatte – »Goodbye and thank you so much« -, ließ Charlotte Tränen in die Augen treten.
Elizabeth nahm ihre Hand und Joshua legte seine Arme um beide. Don war erschossen worden, als er sich der Kugel in den Weg gestellt hatte, die für Tyler bestimmt gewesen war. Don, der Charlotte geliebt hatte, dachte Flo ebenso ergriffen, wie ihre Freunde.
»Ich freue mich, Ihnen nun eine großartige Sängerin vorstellen zu können«, sagte Tyler auf der Bühne. »Mrs. Anna Moss.« Schon lief die Sängerin über die Bühne und präsentierte ihre wundervolle Version von »Ruby Tuesday«. Ihr Duett mit Tyler »So I am sorry – I was wrong«, war eine rockige Liebesgeschichte über das Verzeihen. Ihre rauchigen, geheimnisvollen Stimmen passten perfekt zueinander.
Floriane klatschte und jubelte laut. Leider konnte sie nicht sonderlich gut auf die Bühne sehen. »Das Konzert ist so cool – aber was machen die da vorn?«, rief sie Marc, der hinter ihr stand, zu. Statt zu antworten, legte er beide Hände auf ihre Hüften, stemmte sie hoch und bugsierte sie auf seine Schultern.
»Was soll das?«, fragte sie kichernd.
Er legte den Kopf in den Nacken und schielte zu ihr hoch. »Kannst du jetzt besser sehen?«
»Super. Wie lange hältst du das aus?«, erkundigte sie sich sicherheitshalber.
»Noch ein Weilchen.«
»Großartig. Sag Bescheid, bevor du zusammenbrichst.«
Es war bereits Dienstag und noch immer hallte das großartige Konzert in Flo nach. Summend machte sie sich im Schönheitssalon ans Werk. Wie dankbar sie Charlotte war. Immerhin hätte sie sich dieses Ticket niemals leisten können. Wieder dachte sie an das Lied, das O’Brian für seine Mutter komponiert hatte, und polierte dabei die Mischbatterien der Frisiertische. Der Song hatte leise, eindringlich begonnen und war dann in einem Protestschrei explodiert, nur um im Anschluss daran wieder abzuebben. Beinahe fegte er wie ein Sturm über das Publikum hinweg. Livekonzerte waren einfach etwas ganz Besonderes. Eine solche Atmosphäre ließ sich beim besten Willen nicht konservieren.
Der Gospelchor im Hintergrund war eine großartige Idee. Tyler war eben doch ein echter Südstaatler. Er konnte die Musik, mit der er aufgewachsen war, nicht verleugnen. Auch Anna hatte ihren Auftritt hervorragend gemeistert, ebenso wie jedes einzelne Bandmitglied. Orlando Moss kitzelte aus seiner Gitarre das Beste heraus. Manchmal klangen die Töne beinahe bettelnd oder flehend; ein anderes Mal anklagend und fordernd.
Flo wienerte mit ihrem Lappen die Shampoo-Spender.
Als es richtig rockig geworden war, hatte sie sich nicht mehr halten können. »I need your love«, hatte Tyler geröhrt, während der Drummer gekonnt ein eindringliches Stakkato hinlegte. Sie würde noch ihren Enkeln davon erzählen. Ob Tyler im Bett wohl auch zu Charlotte sang: I need your love? Sie schnalzte mit der Zunge.
»Guten Morgen.« Victoria Tanner de Bourillon betrat den Salon. Flo erinnerte sich an die erste Begegnung mit Joshs Schwester – azurblaues Haar – Bürstenschnitt. Das war mittlerweile drei Jahre her. So lange lebte Flo schon in St. Elwine, kaum zu glauben. Jetzt war Vickys Haar wieder genauso schwarz wie das ihrer Geschwister und es fiel in weichen Wellen auf ihre Schultern. Sally Mancuso, eine der Friseusen, wies ihr einen Platz zu. Sie wickelte sich eine Strähne von Vickys seidigem Haar um den Finger. »Was soll’s denn heute sein?«
Vicky erklärte, dass sie alles durchgestuft haben wolle – mit knallroten Strähnen. »Na dann, auf geht’s. Sie sorgen hier immer für Abwechslung, Mrs. de Bourillon.«
Vicky lachte. »Kann ich mir lebhaft vorstellen.«
»Guten Morgen, alle zusammen.« Bonny Sue erschien auf der Bildfläche und begann, wie jeden Tag, ihren üblichen Rundgang. Mit Adleraugen nahm sie alles unter die Lupe. Da sich ihr Gesicht nach der Prüfung der fünf Frisierplätze entspannte, atmete Floriane auf.
Der Klingelton eines Mobiltelefons ertönte. »Das ist meins«, erklärte Vicky.
»Möchten Sie rangehen?«, wollte Sally wissen.
»Auf keinen Fall, nicht jetzt. Ihre Kopfmassage ist einfach himmlisch. Nirgendwo sonst werde ich so ausgezeichnet bedient, Schätzchen. Glauben Sie mir.«
Bonny Sue registrierte diesen Kommentar mit größter Befriedigung. Schließlich war sie es, die ihren Angestellten immer wieder predigte, wie gut solche Extras bei den Kunden ankamen.
Nach und nach füllte sich der Salon. Flo kannte ihre Aufgaben und holte frische Handtücher aus dem Wäschetrockner. Sie legte sie zu ordentlichen Stapeln zusammen und trug den Korb in den Frisiersalon. Danach verteilte sie sie auf die Arbeitsplätze.
Bonny Sue tippte ihr auf die Schulter. Mit einem übertriebenen Kopfnicken wies sie auf das Radio. Flo hatte vergessen, es einzuschalten. Wahrscheinlich, weil sie immer noch Tyler im Ohr hatte. Sofort drückte sie auf den Knopf. Bonnys bevorzugter Sender brachte einen netten Oldie von den Supremes. Beschwingt tänzelte Flo zurück zu ihren Handtüchern.
Plötzlich ertönte die Stimme des Moderators. »Aus aktuellem Anlass unterbrechen wir die Sendung für eine wichtige Nachricht. Soeben hat CNN gemeldet, dass eine Boeing 767 in den nördlichen Turm des World Trade Centers gestürzt ist. Die Maschine mit der Flugnummer 11 der American Airlines raste um 8:15 Uhr in den Tower.«
Erschrocken sahen sich alle an und hielten sekundenlang inne. »Wie kann so etwas passieren? Ich meine, mitten in Manhattan?« Sally schüttelte den Kopf, kämmte Vickys Haar durch und griff nach der Schere.
Flo hatte alle Handtücher an den Frisiertischen einsortiert. Jetzt musste sie die Bestände im Wellness-Bereich aufstocken. Sie schnappte sich gerade den Wäschekorb, als der Moderator wieder das Wort ergriff. »Um 9:05 Uhr flog erneut ein Flugzeug in das World Trade Center, dieses Mal in den südlichen Turm. Flug Nummer 175 der United Airlines war unterwegs von Boston nach Los Angeles. Niemand kann zum jetzigen Zeitpunkt etwas über die genauen Hintergründe der Katastrophe sagen. Fest steht nur eines: Dies ist ein gezielter Angriff.«
»Mein Gott.« Flo glitt der Korb aus den Fingern, er schlug dumpf auf dem Boden auf.
Vickys Mobiltelefon klingelte erneut.
Vicky nahm das Gespräch an. »Hallo, mein Schatz …«
»Vicky.« Jaques Stimme, vertraut und doch so fremd. »Ich kann nicht lange reden, hier ist die Hölle los.«
»Wolltest du nicht nach San Francisco?« Sie blickte in ihr Spiegelbild.
»Ich musste den Flug verschieben, mir kam ein Termin mit meinem Börsenmakler dazwischen. Wir trafen uns im Restaurant des World Trade Centers.«
»Sag, dass das nicht wahr ist!« Sie umklammerte ihr Handy fester.
»Ich weiß nicht genau, was hier passiert ist.« Jaques redete zu schnell. »Stell den Fernseher an. Falls ich dich noch einmal erreiche, muss ich wissen, wo das Feuer ist. Manche sagen, wir sollen hoch aufs Dach, andere wollen auf Anweisungen der Feuerwehr oder der Sicherheitsleute warten. Ich bin mir nicht sicher, was das Richtige ist. Die Fahrstühle funktionieren nicht mehr.«
»Wo genau bist du?« Vicky beugte sich vor, um keines seiner Worte zu verpassen.
»Im Südturm, ich glaube, im zweiundachtzigsten Stock …« Die Verbindung brach zusammen.
»Jaques, Jaques«, flüsterte Victoria.
Alle starrten sie entsetzt an.
»Das glaube ich nicht. Es kann, es darf nicht wahr sein«, flüsterte sie.
Bonny Sue reagierte als Erste und zog Vicky hinter sich her zur Treppe. Widerstandslos ließ sie sich führen.
Gemeinsam betraten sie Bonny Sues Wohnung. Sie wurde in weiche Polster gedrückt. Im Fernseher flackerten die Unheil verkündenden Bilder des Infernos, das über Manhattan tobte.
Jaques verspürte plötzlich panische Angst, sein ungeborenes Kind niemals in den Armen zu halten. Vicky war sicher, dass sie wieder schwanger war. Er dachte kurz an seinen dreijährigen Sohn, an sein Weingut in Frankreich und sein Zuhause in St. Elwine. Würde er seine Liebsten niemals wiedersehen? Er schluckte und kniff die Augen zusammen.
Denk nach, befahl er sich.
Es war außerordentlich wichtig, nicht die Nerven zu verlieren. Ganz ruhig! Was war als Nächstes zu tun? Such nach dem Offensichtlichen. Gehe rational vor: Vermeide Unnötiges und teil deine Kraft ein.
Ein Hustenreiz unterbrach seine Gedanken. Leichter Rauch, vermischt mit einem feinen Puder, waberte durch das Treppenhaus. Seine Augen brannten. Noch immer unschlüssig folgte er den vielen Menschen und gelangte ein Stockwerk tiefer. Er wunderte sich, dass alle so diszipliniert und besonnen reagierten. Die meisten hielten sich Tücher oder Kleidungsstücke vor den Mund. Instinktiv fing er eine Frau auf, die auf dem von der Beregnungsanlage nassen Boden ausgeglitten war. Flüchtig lächelnd bedankte sie sich und strich ihren Rock glatt. In Anbetracht der Lage eine völlig unangebrachte Regung.
Er ließ sein Sakko zu Boden fallen, bis es sich voll Wasser saugte, und zog es wieder über.
»Hier könnt ihr auf keinen Fall weiter«, rief jemand. »Ein, zwei Stockwerke tiefer ist alles voller Rauch und Flammen. Geht nach oben – vom Dach aus können euch die Rettungshubschrauber gut erreichen.«
Einige liefen weiter, andere hoben wie auf ein Kommando hin den Kopf und starrten nach oben.
»Ich glaube, der Mann hat recht«, sagte die Frau, die er aufgefangen hatte. »Als damals der Bombenanschlag war, wurde es genauso gemacht. Ich arbeite schon ein paar Jahre im Gebäude.«
Der Staub brannte unbarmherzig in seinen Augen und hatte sich bereits auf die Köpfe der Menschen gelegt. Ihre Haare waren grau.
Ohne weiter nachzudenken, schloss er sich der Gruppe an, die kehrtmachte, um nach oben zu gelangen. Das Atmen fiel schwerer, er hetzte von Stufe zu Stufe.
Unerträgliche Hitze machte sich breit. Als er flüchtig eine der Stahltüren berührte, verbrannte er sich die Finger. Vielleicht war es doch falsch, nach oben gelangen zu wollen. Noch einmal zerrte er sein Handy hervor. Vicky nahm sofort ab.
»Wo bist du jetzt?«, rief sie.
»Ich weiß es nicht genau.«
»Du darfst …« Ihre Worte drangen nur abgehackt zu ihm durch. »…nicht nach oben, Jaques. Oben brennt es, ein Flugzeug ist in beide Tower gestürzt. Verstehst du, was das heißt? Versuche in die Lobby zu gelangen! Unten sind Hilfskräfte.«
Jaques fluchte. Wie viel Zeit hatte er wohl vergeudet, weil er der Frau geglaubt hatte? »Sitzt du vorm Fernseher?«
»Ja. Bitte, ich flehe dich an, geh runter!«
Sofort machte er kehrt und hastete mehrere Stufen auf einmal nehmend ins nächsttiefere Stockwerk.
»Bist du noch dran?«
Er presste das Telefon noch fester an sein Ohr. »Ja, ich höre dich.«
»Tust du, was ich gesagt habe?«, fragte sie voller Angst.
»Ich laufe bereits nach unten.«
»Das ist gut. Sei vorsichtig!«
»Vicky …«
»Ja?«
»Ich möchte nur noch nach Hause. Zu dir und dem Kleinen.« Er sah sie vor sich, wie sie ein Schluchzen unterdrückte und eine Hand auf ihren noch flachen Bauch legte.
»Das wirst du auch, Jaques. Ich verspreche es dir. Wir holen dich wieder heim, glaub mir.«
»Ja …« Die Verbindung brach ab.
Jaques lief weiter abwärts und wünschte sich, dass Vicky recht behielt.
Plötzlich hatte er das Gefühl, dass der Boden unter seinen Füßen bebte. Die Menschen ringsum fingen an zu schreien. Betonplatten lösten sich und begruben drei Männer unter sich. Jaques drückte sich in eine Ecke, um sich vor weiteren Steinbrocken zu schützen. Das Stahlgerüst des Gebäudes gab ächzende Geräusche von sich, als wollte sich der Tower mit Macht zur Wehr setzen.
In Sekundenschnelle sah Jaques sein Leben wie in einem Film vor seinem geistigen Auge ablaufen. Es war surreal, als hätte er sich aus seinem Körper gelöst und würde als Beobachter über diesem Horrorszenario stehen. Er sah sich in Frankreich, in der Schule, in den geliebten Weinbergen, im Gespräch mit seinen Eltern. Vickys Lachen klang in seinen Ohren, er spürte den Kuss bei seiner Hochzeit und das Gewicht seines Sohnes, den ihm jemand in den Arm legte. »Ich liebe euch«, formte er mit den Lippen, doch sein Mund blieb stumm.
Wie gebannt starrte Flo auf den Fernsehapparat. Als Vickys Verbindung abbrach, begann sie hemmungslos zu weinen.
Floriane nahm sie fest in die Arme und wiegte sie hin und her. Worte fand sie nicht.
Es war 10:05 Uhr, als der Südturm des World Trade Centers kollabierte. Erst, als um 10.28 Uhr auch der Nordturm in sich zusammenbrach, lösten sich Vicky, Bonny Sue und Flo aus ihrer Erstarrung.
Kein Schluchzen, kein Weinen schüttelte mehr Vickys Körper, sie war mucksmäuschenstill. Eine nahezu unheimliche Ruhe ging von ihr aus.
Flo wandte sich zu Bonny Sue um. Diese drückte ihr ihre Autoschlüssel in die Hand. »Bring sie nach Hause«, flüsterte sie ihr zu.
Zaghaft nahm sie Victorias Arm und zog sie hinter sich her. Auf dem Weg nach Tanner House sprachen sie nicht. Was sollte Flo auch sagen? Vielleicht hatte Vicky gerade ihren Mann verloren, vielleicht aber auch nicht. Gab es nicht immer zumindest einen kleinen Hoffnungsschimmer? Oder war es falsch, hier noch auf ein Wunder zu warten?
Flo lenkte den Wagen, als hätte sie nichts anderes im Leben getan. Dabei verabscheute sie es normalerweise, mit fremden Autos zu fahren. Rasch warf sie einen Seitenblick auf ihre Beifahrerin. Vickys Gesicht glich einer Maske von Ausdruckslosigkeit.
Flo begann plötzlich zu zittern, ihre Finger umklammerten das Lenkrad noch fester. Unbeirrt fuhr sie weiter. Als sie die Einfahrt erreichten, öffnete sich wie von Geisterhand das große, schmiedeeiserne Tor mit dem Familienwappen der Tanners. Der alte Doc Svenson hatte den wunderschönen Garten angelegt, doch heute hatte sie keinen Blick dafür übrig.
Sie parkte den Wagen und begleitete Victoria zum Haus. Die Tür ging bereits auf und Olivia Tanner streckte die Arme nach ihrer Tochter aus. Flo hielt es für das Beste, sofort wieder zu fahren und die Privatsphäre der Tanners nicht zu stören.
Marc betrat das Apartment und registrierte, dass Amy nicht da war. Fast im gleichen Augenblick entdeckte er den Zettel auf dem Küchentisch.
Hallo Marc, warte heute Abend nicht auf mich. Amy.
Er erschrak, weil er erleichtert war, statt sie zu vermissen. Wohin führte das?
Im Kühlschrank fand er Tomaten und Mozzarella. Er nahm sich zwei Scheiben Brot, strich Salatcreme darauf und belegte sie mit den Tomaten und dem Käse. Dazu trank er Mineralwasser mit Zitronengeschmack. Er war nicht besonders hungrig und aß mit wenig Appetit.
Es war ein schöner Abend, zu schade, um ihn zu Hause zu verbringen. Kurz entschlossen schlüpfte er in bequeme Freizeitkleidung und lief zum Strand.
Wie immer fiel es ihm beim Laufen leichter, seine Gedanken zu ordnen. Im Büro herrschte seit Tagen eine Art Ausnahmezustand. Josh hatte alle Hände voll zu tun, seine liegen gebliebene Arbeit aufzuholen. Marc half, so gut es ging. Jeder funktionierte momentan nur noch. Man nahm sich zusammen, schwieg vor sich hin, um nur ja kein falsches Wort zu sagen. Viele Familien waren von den Terroranschlägen des elften Septembers betroffen. Die Tochter einer Cousine seiner Mutter hatte ihren Mann in dem Inferno verloren. Er war Feuerwehrmann gewesen.
Inzwischen standen die Fakten fest. Es war 8:45 Uhr, als die Boeing 766, Flug Nummer 11 der American Airlines, in den nördlichen Turm des World Trade Centers raste. Zwischen 8:10 Uhr und 9:30 Uhr hatten Attentäter insgesamt vier Passagierjets auf Inlandflügen entführt. Um 9:05 Uhr krachte Flug Nummer 175 der United Airlines in den südlichen Turm des World Trade Centers. Die Maschine kam von Boston und sollte nach Los Angeles fliegen. An Bord befanden sich fünfzig Passagiere und neun Crewmitglieder. Als die Erkenntnis eines gezielten Angriffs aufkam, wurden sämtliche Zivilflüge eingestellt. Man hatte sogar Abfangjäger gestartet, um New York zu schützen. Die Maschine der American Airlines mit der Flugnummer 77 vom Washingtoner Dulles Airport, mit dem eigentlichen Ziel San Francisco, stürzte um 9:39 Uhr in das Pentagon in Arlington bei Washington. Einhundertfünfundzwanzig Menschen im Gebäude, neunundfünfzig Passagiere und Besatzungsmitglieder sowie fünf Terroristen fanden den Tod. Als Reaktion auf diesen weiteren Angriff wurden gegen 9:45 Uhr unter Androhung eines Abschusses alle Flugzeuge aufgefordert, den nächstmöglichen Airport anzusteuern.
Jaques hatte der Katastrophe wohl nicht entgehen können, denn die vierte Maschine, die in die Terroranschläge verwickelt war, und mit der er ursprünglich fliegen wollte, war der Flug Nummer 93 der United Airlines. Eine Boeing 757 mit vierundvierzig Menschen an Bord. Sie startete in Newark bei New York mit Kurs auf San Francisco und stürzte um 10:10 Uhr südöstlich von Pittsburgh im Bundesstaat Pennsylvania ab. Es wurde vermutet, dass das Flugzeug Camp David, den Urlaubssitz des Präsidenten, oder vielleicht das Weiße Haus treffen sollte. Wahrscheinlich hatten die Passagiere an Bord durch ihr Eingreifen eine noch schrecklichere Tragödie verhindert.
Josh war einen Tag nach dem Inferno mit seinem Vater und Vicky nach New York gefahren, um nach Spuren von Jaques zu suchen. Rauch und Staub waren verweht, die Zwillingstürme des Handelszentrums, fünf Nebengebäude sowie das Hotel Marriott zerstört.
Marc erinnerte sich daran, wie er hin und wieder im Restaurant Windows on the World im Nordturm mit Geschäftsleuten gegessen, mit Blick auf die Freiheitsstatue. Nun gab es den Giganten, dieses vierhundertelf Meter hohe Gebäude, nicht mehr.
Josh hatte ihm von einem Gespräch mit einem der Firefighter berichtet. Demnach hatte die Boeing 767, mit einer Spannweite von knapp fünfzig Metern, 38.000 Litern Treibstoff und einer Geschwindigkeit von 760 km/h, eine Schneise der Verwüstung durch die Etagen vierundneunzig bis achtundneunzig des Nordturms gerissen.
Vicky und die Familie taten Marc unendlich leid, doch ebenso fühlte er eine übermächtige Erleichterung, dass niemand, den er liebte, betroffen war. Auch wenn sich zwischen diese Erleichterung Scham mischte, gerade weil er so empfand. Er konnte nichts dagegen tun.
»Hallo.« Marc kannte die Stimme, die ihn ansprach, und sah auf.
»Hi Flo. Auch ein bisschen die Beine vertreten?« Er hatte nicht auf seine Umgebung geachtet.
»Gewissermaßen.«
Schweigend sah er sie an.
»Kevin hat sich nicht an unsere Absprache gehalten und ist losgezogen, ohne seine Hausaufgaben zu machen. Ich brauchte unbedingt einen kühlen Kopf. Wie geht es Josh? Gibt es schon was Neues?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie geben sich große Mühe, du weißt schon.«
»Es ist nicht leicht, unter so schrecklichen Umständen die Haltung zu bewahren.« Flo wischte sich über die Augen. Hoffentlich begann sie nicht zu weinen.
»Ja.«
»Glaubst du, dass Jaques … ich meine …«, fragte sie leise.
»Schwer zu sagen. So viele Leichen sind noch nicht identifiziert und viele sind bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.« Als sie zusammenzuckte, hielt er inne. »Entschuldige. Ich weiß nicht …«
»Schon gut. Vielleicht darf man das nicht laut aussprechen, aber ich bin heilfroh, dass ich nicht persönlich betroffen bin. Kannst du das verstehen?«
Als er nickte, wirkte sie erleichtert. Trotzdem musterte sie ihn. »Mir fällt niemand sonst ein, mit dem ich darüber sprechen kann.«
»Abgesehen davon, alles okay?«, erkundigte er sich und beobachtete eine Möwe.
»Das Übliche. Kevin hat Startschwierigkeiten mit dem neuen Schuljahr. Zu allem Überfluss hat er einen neuen – ich zitiere – Scheißlehrer in Mathe und ist fest überzeugt, dass er ohne Schule besser dran wäre.«
»Ganz schön viel Verantwortung für einen allein, hm?« Er lächelte.
»Äh, ja. Manchmal habe ich die Nase gestrichen voll. Das kannst du mir glauben.«
Sie schlenderten gemeinsam weiter und drehten eine kleine Runde durch den Ort, bis sie vor dem Apartmenthaus standen.
»Willst du noch mit raufkommen? Auf ein Glas Wein vielleicht?«, fragte er, um nicht unhöflich zu sein.
Flo zuckte unschlüssig mit den Schultern, folgte ihm dann aber, als er ihr die Tür aufhielt.
»Wow, schick«, entfuhr es ihr, als sie sein Apartment betraten. Sie drehte sich einmal ringsum und musterte die Inneneinrichtung. »Weiß, edel, teuer. Amy ist wohl nicht da?«
Er hob die Augenbrauen. »Nein. Hast du damit etwa ein Problem?«
»Warum sollte ich?« Sie lächelte ihn an.
»Eben.«
»Männer wie du sind harmlos.«