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So, wie große Ideen oft mehr herzugeben vermögen, als ihnen von nur einem Kopf literarisch abverlangt werden kann, so sind es manchmal schlichte Gedanken zu einem Umstand oder einer Geschichte, die zu einer umso tiefgründigeren Suche nach den kleinen Wahrheiten führen - einer Suche auf den Spuren mehr von Empfindungen als von Kalkülen. In diesem Sammelband tummelt sich des Autors gedankliche Welt in Prosastückchen, Abstraktionen und Kurzgeschichten rund um seltene Ansichten und kleine Protagonisten. Dieser Band vereint die Prosa-Einzelausgaben 'Herzblühen', 'Zeitgerafft', 'Geisterbilder des Gemüts' und 'Nebelbankideen'.
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Seitenzahl: 298
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… Wenn sich das Verfassen von Texten aus umfänglichen Ideen mit der Zeit zum Schreiben aus der Hüfte einer schlanken Inspiration entwickelt, fragt sich mancher Autor, welcher Geist ihn in die scheinbare Enge seiner beiläufigen Einfälle reitet. Liegt es an einer sich allmählich einschleichenden Einfalt der Gedanken, welche zu mehr nicht genügt? Das mag vorkommen, jedoch verrät sich eine dahin gehende Ausdauer als ernst zu nehmende Versuchung - zumindest beim Schreiber selbst - wenn sie nicht in intellektuell versandender Verbohrtheit einer kurzlebigen Neulust verödet. Es passt vielleicht nicht viel Geschichte in eine derartig eng gefasste auktoriale Kanalisierung zwischen gedanklichen Nischen angesichts der weiten literarischen Ströme darüber hinweg. Letztere verstehen es zumeist, mittels ausschweifender Spannungsbögen alle Banalität mit sich zu reißen und mächtige Mäander an Eindrücken zu hinterlassen. Und das ist gut so, für das Große wie das Kleine. Sie sind sich nicht im Weg, die Ansprüche daraus; sie folgen alle je auf ihre eigene Weise nur der Schwerkraft geistigen Verlangens in die Sehnsucht aller Kunst: Dem Leben Phantasien für die Zukunft zu entlocken. So, wie große Ideen nicht selten weitaus mehr herzugeben vermögen, als ihnen nur von einem Kopf literarisch abverlangt werden kann, so sind es oft schlichte Gedanken zu einem Umstand oder einer Geschichte, die zu einer umso tiefgründigeren Suche des Autors nach den kleinen Wahrheiten führen – einer Suche auf den Spuren mehr von Empfindungen als von Kalkülen. Und je geringer die Protagonisten, je banaler die Ansichten erscheinen, umso freier bleibt der Geist um Schicksale und Umstände herum - sie sein zulassen, nicht zu formen, sondern ihnen lediglich ein Recht auf vielfältige Eindrücke einzuräumen …
Die Chance der Verbundenheit der Unschuld mit der Fehlbarkeit entzieht der Wunde jeden Schmerz und legt sich als ein Pfand aufs Herz.
Herzblühen
Geschichten
Woche für Woche
Julias Auftritt
Bonbons
Versagen
Verschmäht
Freds Ausflug
Zuhause
Eingeschlossen
Rebeccas Geheimnis
Victoria
Ihr erster Flug
Feline am Strand
Das Licht der Welt
Eine kleine Wahrheit
Reflexionen
Zerfließen
Kraft des kleinen Glücks
Siegel des Schicksals
Mit der Schönheit leben und nicht von ihr
Gewissensbisse eines Schreibers
Dezemberabend auf Lidingö
Protagonistinnen
Auf den ersten Blick
Lebenspositionen
Letzte Innigkeit
Divergenz
Es bleibt spannend
Vergebung
Feierwerk statt Feuerwerk
Eifelbann
Der letzte Abend
Zeitgerafft
Akteure
Mattscheiben
Nahtod
Sommertage
Zahnkrater
Spiegelbilder
Wurmloch aus der Virtualität
Philosophische Gratwanderung
Kassenlamento
Frieden mit der Endlichkeit
Befehle
Adipöses Glück
Beleidigt
Kind im Autor
Demenz
Du nennst mich Freund
Abgerechnet
Zu früh
Relativität
267 Tage
Assel
Freidenker
Feriengeborgenheit
Wer zählt?
Geschwüre in Beton
Umsturz
Schwermetall und Rose
Entzweiung
Sonntagsaltruisten
Kaufrausch
Entlassen in Erleichterung
Nur ein Gast
Haus an den Klippen
Barrieren
Aus dem Tal
Der rote Faden
Partymuffel
Organ(isiertes) Spenden
Pleitegeier
Es wird sich fügen
Zweckentfremdet
Oberflächen
Ruhe finden
Wiederkehr hernach
Geisterbilder des Gemüts
Abstraktionen
Maskenbildner
Genie
Am Bahnsteig
Simple Handlungen
Abgewogen
Noch so viel Zeit
Offene Unendlichkeit
Metamorphose
Moderner Hampelmann
Wahrhaft
Unumkämpftes Licht
Wucht der Reife Pracht
Versickerte Gespräche
Fadenscheinig
Sehnsuchtsklumpen
Vergängliche Kunst
Verinnerlichter Überlauf
Stalking
Aus-gewandert
Allergie des Glücks
Schattendasein
Zwang
Knospen ohne Herz
Großes kleines Nichts
Charakterfleisch
Gefühlsabszess
Wo sind sie hin
Summenspiele
Wortlos
Geschichtchen
Rund und stachelig
Omaphobie
Ihr Lächeln
Verlässlichkeit der Einsamkeit
Arme Stulpensocke
Weltuntergang
Zeitkrieg
Das Zipfelmützenwettermännlein
Nebelbankideen und Geschichten
Kopfgeburten
Die reine Haut der Wirklichkeit
Wege
Zeitreisen
Nicht sterben können
Sinn des Lebens
Unvergängliche Genugtuung
Freie Philosophie vs. (Natur)Wissenschaft
Reduziert aufs Letzte
Vom Innersten zum Äußersten
Durst
Zentnerschwer
Alles ist Natur
Unbegründbarkeit des Seins
Der erste letzte Punkte
Theorien
Jubelblasen
Gärten der Verdrossenheit
Zu müde, um zu sterben
Der Groschen fällt
Kollektivmelancholie
Überwindung
Zu miserabel
Divergierter Fortlauf
Was aus Romantik wird
Frequenzen
Vor die Hunde
Von jetzt auf gleich
Glücksdiktat
Alltagswahnsinn
Ein Teenager, der liest
Panische Schritte
Etwas Normales
Konversion
Ausgelatscht
Der kleine Gott
Akademisch feist
Gott hat zu
Internetverwirklichung
Wo geht es hin?
Familiengesicht
Auf die Plätze, fertig, los
Auf lange Sicht zu kurz
Fenster an der Wand
Aus Kindertagen
Sinnesirrenhaus
Zeitstolpern
Metatalk
Bilder vergangener Jahre
Hinterhofsehnsucht
Die letzte Welle
Lorenz Filius
Kleine Prosastückchen
© Lorenz Filius 2011
3. erweiterte Ausgabe
Impressum
Filius, Lorenz: Herzblühen
© Lorenz Filius, Erstveröffentlichung 2010
bei Books on Demand GmbH, Norderstedt
GESCHICHTEN
Woche für Woche
Julias Auftritt
Bonbons
Versagen
Verschmäht
Freds Ausflug
Zuhause
Eingeschlossen
Rebeccas Geheimnis
Victoria
Ihr erster Flug
Feline am Strand
Das Licht der Welt
Eine kleine Wahrheit
REFLEXIONEN
Zerfließen
Kraft des kleinen Glücks
Siegel des Schicksals
Mit der Schönheit leben und nicht von ihr
Gewissensbisse eines Schreibers
Dezemberabend auf Lidingö
Protagonistinnen
Auf den ersten Blick
Lebenspositionen
Letzte Innigkeit
Divergenz
Es bleibt spannend
Vergebung
Feierwerk statt Feuerwerk
Eifelbann
Der letzte Abend
Es ist Sonntag. Albert blinzelt unter der Bettdecke hervor und muss kurz überlegen, welcher Tag wirklich ist. Das passiert ihm in letzter Zeit öfter, seitdem er nun auch samstags arbeitet. Dann weiß er sonntags immer nie, ob schon Montag ist oder doch vielleicht erst Samstag. Aber den Sonntag nimmt ihm keiner. Wer auch? Albert richtet sich langsam in seinem Bett auf und spürt seinen Rücken. Ja, es muss in der Tat Sonntag sein, denkt er, denn die Kreuzschmerzen hat er unter der Woche nie. Geht ja auch gar nicht. Wer früh raus muss, hat eher die Stechuhr im Nacken als ein Stechen im Rücken.
Heute kann Albert es eher geruhsam angehen, weil das Leben doch so schön ist und zusätzlich auch die Sonne scheint. Das tat sie an den vergangenen Sonntagen eher nicht. Albert stutzt: Wann hat sie überhaupt richtig geschienen in den letzten Wochen? Er kann sich nicht erinnern, denn das Neonlicht der Werkshalle, in welcher er seinen Stapler fährt, macht ihm einen Strich durch sein Erinnerungsvermögen. Na ja, denkt Albert, ist jedenfalls ein gutes Zeichen für den Tag. Er schaut zur Uhr. Erst 9 Uhr und viel Zeit fürs Frühstück. Los muss Albert an diesem Tag auch, aber erst gegen Nachmittag.
Er steht auf und beginnt seine Morgentoilette - wie jeden Morgen natürlich, nur gemächlicher und dafür gründlicher. Muss ja auch. Denn heute ist kein gewöhnlicher Sonntag. Albert schaut in den Spiegel und mustert sich inklusive seiner Pölsterchen und Fältchen, um sie noch akzeptabel zu finden. Lediglich die langsam lichter werdende Stelle auf dem Kopf macht ihm etwas Sorgen, und mit einem Kamm versucht er, die umliegenden Haare gleichmäßig darüber zu verteilen. Na, geht doch für einen Fünfziger. Daran soll es nicht liegen, und außerdem soll Kahlköpfigkeit ja ein Zeichen für Männlichkeit sein. Albert ist ein ganzer Mann.
Sorgfältig bereitet er ein ausgiebiges Frühstück vor, er zelebriert es sozusagen - mit gedecktem Tisch, schönem Porzellan und ausschließlich Markenlebensmitteln. Alles vom Feinsten und reichlich. Geldprobleme hat er nämlich keine, jedenfalls nicht, solange er Doppelschichten macht und samstags arbeitet. Er hat ja Zeit genug dafür. Wie sagt sich Albert immer: Kein gesichertes Auskommen, aber es ist da. Der Kaffee duftet, die Brötchen sind frisch, und die kleine Kerze, die er sich regelmäßig auf dem Tisch entzündet, ist jedes Mal neu und rot. Rot wie die Liebe, denkt Albert und gerät in verlegenes Schwärmen.
Bis zum frühen Nachmittag ist es noch etwas Zeit, die genutzt werden muss, denn wenn Albert am Abend zurückkehrt, möchte er in ein ordentliches Heim kommen und sich nicht blamieren müssen. „Das kann man ja niemandem anbieten“, murmelt er vor sich hin, als er diverse kleinere Unordnungen behebt. Schnell noch saugen und durchlüften, dann gibt es keinen Grund zur Beschwerde, denkt er sich. Zum Schluss deckt er noch den Tisch für das Abendessen. Mit Tischdecke natürlich. Die vom Vormittag hat sogar das Frühstück fleckenlos überstanden und muss nicht ausgetauscht werden. Prima. Noch das zweite Gedeck darauf, und fertig.
Der Sitz im Bus ist schön weich, fast so wie der auf dem Stapler, was ja gar nicht so gut sein soll, wie der Arzt einmal sagte. Aber irgendwie fährt ja das Glück heute mit, und alleine der Gedanke an das, was kommt, lässt den Schmerz im Rücken weit in den Hintergrund treten. Und dann dieser klare, sonnenreiche Himmel … das kann ja nur gut gehen. Albert spürt während der Fahrt zum Flughafen eine wohlige, kurze Herzenswärme und würde am liebsten die ganze Welt umarmen. Ein kleines Glück eben.
Am Terminal angekommen, spaziert er direkt in den kleinen Blumenladen in der Nähe der Ankunftshalle für Passagiere. Die ältere Dame hinter der Kasse tritt ihm freundlich lächelnd entgegen, als ob er ein ganz besonderer Gast sei.
„Eine Rose soll es sein, der Herr? … Eine rote sicherlich.“
Ohne seine Antwort abzuwarten, zupft die Frau ein besonders schönes Röschen aus dem Strauss auf dem Tresen und überreicht sie ihm.
„Ja natürlich, eine rote, vielen Dank“, lächelt Albert der zuvorkommenden Verkäuferin zu und bezahlt seine Blume.
Er nimmt auf einer Bank hinter den anderen stehenden Menschen vor der Schiebetür des Passagierausganges Platz. Er mag keine Aufläufe dieser Art und sich erst recht nicht dazwischen mengen. Dort, wo er sitzt, wird er zwar nicht sofort bemerkt, aber dann ist die Überraschung größer, denkt Albert und begutachtet seine Rose, an welcher er immer mal wieder verliebt schnuppert. Er wartet.
Es passiert etwas. Die große Schiebetür öffnet sich, und zwischen den Beinen der anderen hindurch erkennt Albert die ersten Passagiere der eben gelandeten Flieger. Begrüßungen, Umarmungen, ja sogar ein paar Tränen kann er in der Menge ausmachen, die mit jedem herauskommenden Ankömmling lichter zu werden scheint. Albert schaut hinter ihnen her, wie sie scheinbar doch alle mehr oder weniger glücklich das Flughafengebäude verlassen. Er blickt wieder nach vorne. Nur noch vereinzelt entlässt die Schiebetür jetzt letzte versprengte Nachzügler. Fast alle Wartenden aufgebraucht, denkt er; die da jetzt noch stehen, sind schon für die nächsten Flüge da.
Albert nimmt einen tiefen Atemzug aus der Blüte seiner Rose und zieht seufzend seine Augenbrauen hoch. Sein erwartungsvoller Gleichmut weicht einem eher ernüchterten Gesichtsausdruck. Der 50-jährige erhebt sich langsam und schlendert zum Informationsschalter. Die junge Stewardess dahinter schaut ihn genau so freundlich an wie die Dame im Blumengeschäft, jedoch mit einem Hauch Mitleid im Blick.
„Für Sie … mal wieder“, meint Albert mit einem weiteren Seufzer und reicht ihr die Rose. „Na ja, … am Sonnenschein hat es jedenfalls dieses Mal nicht gelegen. Einen schönen Feierabend Ihnen noch.“
Draußen wartet der Bus, der die Reisenden zurück in die Stadt bringen soll. Es ist diesig geworden, und die Sonne hält sich hinter den Schleiern eher bedeckt. Albert spürt ein leichtes Stechen im Rücken, als er die Ankunftshalle verlässt und in den Himmel schaut. „Also doch die Sonne“, sagt er leise vor sich hin und steigt ein.
„Los, raus jetzt“, flüsterte die Bühnenkoordinatorin Julia zu, die mit roten, lampenfiebrigen Wangen am Garderobenausgang zur Bühne verharrte, um auf ihr Zeichen zu warten. Es war Premiere. Julia hatte ihre erste kleine Rolle ergattert, einen fünfminütigen Epilog vor großem Publikum, und sie wollte sich auf keinen Fall eine Blöße geben. Eben noch sämtliche Textpassagen im Kopf, fühlte sie mit dem ersten Schritt auf die Bretter, die die Welt bedeuten, dass alles mit einem Mal in Vergessenheit geraten zu sein schien. Fort; der ganze Text war wie aus dem Gedächtnis radiert, bis auf die Rudimente des ersten Satzes. In diesem Moment war Julia zu aufgeregt, um sich darüber zu erschrecken. Aber je mehr sie sich der Bühnenposition näherte, wo sie ihren Monolog halten sollte, wurde ihr Kopf heißer und das Entsetzen über ihren unerwarteten Blackout bewusster. Sie wünschte sich, dass sich die Galgenfrist, die noch etwa zehn Schritte andauern würde, durch irgendeinen natürlichen Umstand verlängere.
Es war gespenstisch still im Theater. Jedes Auftreten ihres Fußballens auf den knarrenden Holzdielen hämmerte in Julias Ohren wie ein Donnerhall und durchfuhr ihren ganzen Körper. ‚Nicht so steif, gib dich lockerer’, blitzte es zwischen dem verzweifelten Suchen nach dem Text und dem Sturm der Versagensangst in ihrem Gehirn auf. Nur noch wenige Meter waren es bis zu jener Stelle, die das Scheinwerferlicht markierte, drohend, als ob es sagen wollte: „Hier her! Genau hier her! Lege deine Rechenschaft ab.“
Dann war Julia auf ihrer Position. Sie schaute geradeaus. ‚Letzte Hoffnung: Der Vorhang klemmt’, schoss es ihr noch einmal durch den Kopf; immer noch mit dem ersten Satz des Monologs versuchend, die restlichen aus ihrem gedanklichen Versteck zu locken. Es wurde schwarz vor Julias Augen, denn der rote, schwere Vorhang tat ihr den Gefallen nicht, zu streiken. Er öffnete sich mit einem tiefgründigen Rauschen, und das Dunkel dahinter schlug der jungen Schauspielerin fordernd entgegen wie nie zuvor.
Der erste Satz, dem die anderen immer noch nicht folgen wollten, war zugleich die letzte Grenze zur Peinlichkeit im Rampenlicht. Aber Julia sprach ihn würdig, in Erwartung allen Unheils, das sich anschließend über sie ergießen könnte. Doch als gesagt war, was sie wusste, blieb es aus, das Stocken, die unheimliche Stille, die sie so gefürchtet hatte. Was dann geschah, entzog sich gänzlich ihrem sprachlichen Bewusstsein. So empfand sie das jedenfalls, als sie nicht mehr aufhören wollte oder konnte, zu reden. Julia spürte nicht einmal die Worte in ihrem Mund, geschweige denn, dass sie verstand, was dort scheinbar fließend, ohne Unterbrechung ihren Stimmbändern entfuhr. Sie glaubte, weder steuern, noch anhalten zu können, was sie in den folgenden Minuten von sich gab. Wie eine kleine Ewigkeit kam ihr dieses vor, und als ihr Redefluss plötzlich, augenscheinlich ohne es zu wollen, versiegte, fühlte sie, dass es so sein musste. Jedoch erinnern konnte sie sich an kein einziges Wort. Angespannt und entlastet zugleich starrte Julia ins Angesicht der immer noch vor ihr liegenden Schwärze. ‚Überstanden, zumindest überstanden’, so ihr erster klarer Gedanke nach dem kurzen Auftritt. Stille. Keine Reaktion.
‚Was habe ich bloß erzählt?’ Die sich ziemlich einsam fühlende Akteurin versuchte krampfhaft, ihre letzten Äußerungen wieder zu finden. Noch immer Stille.
„Danke, wunderbar!“, erschallte es plötzlich aus einem Lautsprecher. Die Bühne hellte sich auf. Gleichzeitig erstrahlte die Deckenbeleuchtung des Zuschauerraumes und gab den Blick auf die leere Bestuhlung frei. „Einwandfrei!“, ertönte es noch einmal, „dann treffen wir uns morgen zur Uraufführung in alter Frische.“
Larissa streunte zwischen den bunten Regalen der Süßwarenabteilung umher, während ihre Mutter in einem Parallelgang die wöchentlichen Sonderangebote aus dem Discounterprospekt nach Schnäppchen durchforstete.
„Rissa?“, vernahm das Kind in sporadischen Abständen die Stimme seiner Mutter.
„Jahaa, ich bin hier!“, antwortete die Kleine jedes Mal automatisch und hörte förmlich die geistige Abwesenheit derer, die sie rief. ‚Das dauert heute aber wieder lange’, überlegte das Mädchen, während es immer wieder einmal hier einen Doppelpack Lutschstangen, dort ein Tütchen Karamellbonbons in den kleinen Händen umherdrehte und daran roch. „Hmmm“, summte Larissa leise vor sich hin, „das sind die, die Carola immer mit in die Schule bringt.“
Das schmächtige Kind begutachtete den wohl duftenden Schatz von allen Seiten. Plötzlich hellte sich sein Blick mit freudiger Überraschung auf: ‚Ui, sogar mit gelbem Preis.’ Die gelben Preisschilder kannte die Achtjährige nur zu gut. Fast alles, was in Mamas Einkaufswagen landete, war mit ihnen beklebt - fast. Die kleinen Sticker waren ein Garant dafür, dass Larissas Mutter die Ware zumindest kritisch unter die Lupe nehmen würde. Das Mädchen schaute weiter in dem Regal umher, wo es soeben seinen scheinbaren Glücksgriff getätigt hatte, die vorübergehende Errungenschaft fest in der Faust haltend. Nur noch eine weitere Tüte mit dem gelben Aufkleber war dort vorhanden, aber diese war aufgerissen und der Inhalt zwischen den anderen Süßigkeiten verteilt. Und so gewann das, was Larissa mit ihren Fingern umklammerte, zusätzlich an Wert.
„Rissa!“, erklang es wieder aus dem Nachbargang.
„Ja-haa“, kam die Antwort diesmal ein wenig zögerlich zurück, was Larissas Mutter sofort zu bemerken schien, denn sie schob schnell hinterher:
„Lass bitte alles liegen.“
„Ja“, erwiderte Larissa leise vor sich hin. Enttäuscht und doch mit Hoffnung im Blick zauderte sie, die Tüte mit den lustigen Disneyaufdrucken wieder in das Regal zu legen. ‚Ob ich vielleicht doch …?’, fragte sich das Mädchen in Gedanken, … ‚es hat doch einen gelben Preis.’ Entschlossen und mit Eifer in den Wangen lief sie durch den langen Gang und prallte an dessen Ende fast in den Einkaufswagen ihrer Mutter, die gerade um die Ecke bog.
„So, ich habe alles. Lass uns zur Kasse gehen.“
„Em … Mama … darf ich?“ Larissa hielt die Tüte mit den Bonbons hoch, so dass das gelbe Preisschild ihrer Mutter direkt in die Augen springen musste.
„Ach Rissa, Kind, das geht heute nicht. Und außerdem hattest du letzte Woche schon Bonbons. Hast du die schon alle auf?“
Larissa nickte mit fragendem Augenaufschlag.
„Aber es ist ein Sonderangebot; schau hier.“ Sie zeigte auf das Preisschild, hoffte aber nicht mehr wirklich auf einen Sinneswandel ihrer Mama. Der Blick, den diese ihrer Tochter zuwarf, war ein eindeutiges Zeichen, dass das Mädchen schon verloren hatte. Ihre Mutter schenkte offensichtlich dem Objekt, welches ihr vor die Nase gehalten wurde, genauso wenig Beachtung wie dem Argument des Kindes, welches langsam den Arm mit der Tüte wieder sinken ließ. Verschämt sah die Kleine in den Einkaufswagen. Lauter gelbe Preisschilder prangten ihr von dort entgegen, auf immer den gleichen Produkten - Woche für Woche. ‚Warum dieses hier denn nicht?’, dachte Larissa.
„Komm, Süße, leg es zurück, ja? Du weißt, ich mag solche Diskussionen nicht. Es ist alles genau berechnet, was ich einkaufe. Akzeptier das bitte endlich.“
„Aber …“, setzte Larissa noch einmal an.
„Rissa … Aus!“, wurde ihre Mutter nun bestimmter und bekam diese Züge um den Mund, die das Kind nur allzu gut kannte und die die Grenze zum Nichtübertretbaren deutlich markierten.
Schmollend wanderte Larissa mit ihrer Niederlage in der Hand zurück und legte die Tüte, ohne sie noch einmal zu betrachten, ins Regal. Auf dem Rückweg zur Kasse kreuzte sie den Weg ihrer Mutter, die gerade aus einem Seitengang trat.
„Ah, da bist du ja. Nun zieh nicht so ein Gesicht. Komm, beeil dich; Kasse 1 hat im Moment keine Schlange.“
Larissa half ihrer Mutter artig, den übersichtlichen Inhalt des Einkaufswagens auf dem Laufband der Kassiererin zu verteilen. Mehl, Nudeln, Reis, Erbsendosen, halbfette Milch im Tetrapack und Margarine - alles ein und dieselbe weiß-blaue Marke.
„Und das noch …“ Larissa legte die fünf- Kilogramm Packung Hundeleckerli Deluxe, ohne die übliche gelbe Auspreisung, zum Schluss auf das Band, während ihre Mutter mit konzentriertem und doch unruhigem Blick das Display der Kasse fixierte.
Die Kassiererin schaute dem Mädchen aufmunternd ins Gesicht, als sie Ware für Ware in ihre Kasse einbongte: „Na, Kleine, geht’s dir heute nicht so gut?“ Dann wandte sie sich ihrer Mutter zu: „Das macht dann 25,95 Euro bitte.“
Fritz war vertieft in sein Schulbuch so wie der Garten in dieses kalte Herbstwetter vor dem Fenster. Der Junge traute sich nicht mehr, hervorzuschauen, nachdem ihm sein Vater die Leviten gelesen hatte - wieder einmal lesen musste. ‚Jeden Nachmittag der gleiche Kampf’, dachte Robert, ‚was soll nur aus dem Jungen werden; schon im dritten Schuljahr und noch dermaßen lernrenitent.’ Die Sorge hinter Roberts Stirn ritt auf einem eher aggressiven Blick in Richtung seines Sohnes. Dessen immer seltener werdendes Aufschauen über den Buchrand hinweg versuchte verzweifelt, den heranrollenden optischen Salven des Vaters auszuweichen.
„Schau ins Buch und nicht zu mir!“, schmetterte Robert noch einmal hinterher.
Der blonde Schopf zuckte zusammen und verschwand für Sekunden gänzlich hinter dem aufgeschlagenen Buch, dass es fast den Anschein hatte, als würde es seinen Inhalt vor einem leeren Stuhl ausbreiten. Alleine die kleinen, verkrampften Finger, die feucht am Buchdeckelrand klammerten, verrieten die starre Not vor den Seiten.
„Ich warte immer noch!“, erschallte es ungeduldig aus Roberts Richtung. „Es kann doch nicht so schwer sein, diesen einfachen Text vorzulesen, meine Güte! Diese zehn Zeilen wirst du doch wohl in deinem Spatzenhirn hinbekommen. Ich kann sie ja allmählich schon auswendig, so oft, wie ich sie dir vorgekaut habe. Also los jetzt: Der Herbst hat …!“
„Der .. Herbst .. hat …“, ließ Fritz vorsichtig wie ein verhaltenes Echo verlauten, um diesem ein weiteres Schweigen folgen zu lassen.
„… die Bäumeeeee …“, versuchte Robert erneut den Lesefluss seines Sohnes anzuleiern.
„… die Bäu…me …“
„Ja? …, weiter …!“
„ … ent … entlau … entlaub …“
„ … entlaubt …!“, erzürnte sich Robert, „mein Gott, das kann man sich ja nicht mit anhören.“ Er stellte sich hinter Fritz’ Stuhl und rückte ihn mit ruppigen Bewegungen hart an die Tischkante heran. Seinen Zeigefinger stieß er in den Text: „Der … Herbst … hat … die Bäu … me … ent … laubt!. Weiter! Es … ist …!“
„Es ist … kalt …“ Fritz verstummte angewidert beim Anblick des Fingers, der drohend, bohrend und immer wieder klopfend an der Zeile entlang rieb.
„ … Weiter! …“
Das Klopfen begann, Fritz im Kopf weh zu tun, viel mehr noch als die Kopfnüsse, die er sich von nun an bei jeder Unterbrechung einhandelte. Noch bevor ihm das Wasser in die Augen steigen konnte, entließ ihn sein Vater mit den Worten: „Ach was … Klapp zu! Es hat keinen Zweck. Mit dir ist es nichts.“ Wütend entfernte er sich, um seine Aufmerksamkeit der Fernbedienung des DVD-Players zu schenken. „Geh spielen!“
Fritz erhob sich, nahm sein großes Schullesebuch unter den Arm und verschwand leise die Treppe hinauf in sein Kinderzimmer. Er legte sich auf das Bett und schaute traurig seinen einäugigen Teddy am Fußende an.
„Soll ich dir etwas vorlesen?“, fragte der Junge ihn unter kritischem Blick auf sein Lesebuch. Dann schlug er es mit einem Seufzer auf. An der Stelle, wo zuvor noch der mächtige Zeigefinger seines Vaters herumradiert hatte, begann er zu lesen. Und nur der kleine Bär, an dessen rechtes Auge lediglich ein zurückgebliebener Nähfaden erinnerte, schien seinem Besitzer damit freundlich zuzuzwinkern, als dieser begann: „Der Herbst hat die Bäume entlaubt. Es ist kalt. Tiere und Menschen kuscheln sich ein …“
Fritz hielt inne und nahm seinen langjährigen Plüschfreund in den Arm, so, dass er zusammen mit ihm in das Buch schauen konnte. ‚Manchmal wäre ich gerne ein Tier, so wie du’, dachte Fritz und las ohne Unterbrechung weiter.
„Oh, was mag da wohl drin sein?“, griente Clara ihrem Mann zu.
Paul nestelte nervös an seiner Krawatte herum. Clara wog das zwei Finger dicke Päckchen in ihren Händen und schüttelte es vorsichtig an ihrem Ohr hin und her. Das viel sagende, erwartungsvolle Lächeln unter ihren hochgezogenen Augenbrauen gab Paul spätestens zu diesem Zeitpunkt zu verstehen, dass er etwas falsch gemacht hatte. Er lächelte andeutend zurück - gar nicht mehr in Erwartung einer wesentlichen Steigerung des Hochgefühls seiner Frau.
„Mach doch mal auf“, überspielte Paul schnell seine Unsicherheit und drehte das Ende seines Schlipses zwischen Daumen und Zeigefinger mehr und mehr zu einer kleinen Rolle zusammen.
Clara hasste das, aber im Augenblick war sie durch das Objekt ihrer Begierde abgelenkt.
„Nein, nein. Nicht so hastig, mein Lieber. Ich möchte den Augenblick genießen. Du weißt doch, wie sehr ich Überraschungen liebe.“
„Ja, weiß ich, aber vielleicht …“
„Mm … Mm“, summte Clara verneinend mit dem Kopf wackelnd, „lass mich raten.“
Sie zankte sich regelrecht mit dem Wunsch, endlich das Paket aufzureißen, um den Inhalt an ihre Brust drücken zu können. Eine geballte Ladung Vorfreude stierte aus ihren Augen und traf Paul mitten im Gesicht.
„Ach nun komm. Mach schon“, munterte er seine Frau auf, seinem durch diesen Einschlag bedingten Schmerz nun doch den Gnadenstoß zu versetzen.
Aber stattdessen quälte Clara ihn weiter. Sie betastete vorsichtig, ja fast schon zärtlich streichelnd die Oberfläche des goldenen Geschenkpapiers. Auf diese Weise berührte sie ansonsten nur Paul, wenn auch in letzter Zeit nicht mehr so oft. Claras Finger wanderten langsam zu den Rändern des Päckchens, und ein gleichsam prüfender Reflex ließ sie einen leichten Druck darauf ausüben - quasi wie auf einen Schalter. Und es geschah, das Licht der Freude erlosch mit einem Mal aus ihrem Gesicht und ließ sich auch nicht mehr durch verzweifelte Versuche weiteren, hektischen Abtastens einschalten.
„Ehm …“, setzte Paul noch einmal an, aber er brauchte Clara nicht mehr aufzufordern, seinem Drängen nachzukommen.
Hastig und ohne Rücksicht auf Verluste riss sie das Goldpapier auf, und die kleine, mit einem Herz versehene Glückwunschkarte in der Mitte durch. Beides fiel zu Boden. Claras Blicke stolperten zuckend über die Oberfläche des Inhaltes, auf der Suche nach etwas, das mit dem Verstreichen jeder folgenden Sekunde in immer weitere Ferne rückte.
„Es ist die gebundene Ausgabe“, versuchte Paul, das Unglück aufzuwerten, wohl wissend um die Vergeblichkeit seiner Bemühung. „Mit … mit Widmung“, schob er zögernd und kleinlaut hinterher. Dann versank er, wie schon sein Gegenüber zuvor, in Stille.
Paul hatte nicht dazu gelernt. Das bekam er an diesem Abend auch zu spüren, oder vielmehr nicht zu spüren. In seinem Nachttisch lagen sie alle, die selbstverfassten Versuche vergangener Jahre, sich mitzuteilen. Clara schlief fest, und unter Pauls Bettdecke wanderte eine Taschenlampe Zeile für Zeile, Seite für Seite durch jenes Buch, welches den Tag verdorben hatte: Clara und Paul, eine Liebesgeschichte im mittlerweile fünften Teil. Die Müdigkeit und das Nachlassen der Batterien verbannten dann auch dieses Werk zu den anderen seiner Art im Nachttisch - jedes versehen mit einem Lesezeichen, dessen zerrissenes Herz hoffnungsvoll am Buchrücken herausschaute.
Halb sieben. Es wird Zeit, und Fred erhebt sich aus seinem Sessel. Endlich. Die Warterei über den Tag hat ihn ganz schön nervös gemacht. Er schaltet die Talkshow ab, deren Episode ihn irgendwie an eine Folge von letzter Woche erinnert - oder war es in der Woche davor? Egal. Fred muss los. Der Bus wartet nicht. Schnell noch ein wenig aufgeräumt; die leere Lasagneschale in den Müll und Löffel und Kaffeetasse in die Spüle zu den andern Löffeln und Tassen. ‚Kurz noch abwaschen? Schaffe ich jetzt nicht mehr’, denkt Fred, ‚hat Zeit bis morgen.’ Ein Blick zur Uhr. ‚Das wird heute aber knapp. Noch soviel zu tun’, überlegt der 45-jährige Frührentner. ‚Dann mal los, sonst verpasse ich den Bus heute in der Tat.’
Gedankenblitze schießen Fred durch den Kopf, als er merkt, dass es ernst wird und er in wenigen Minuten die Wohnung verlassen muss. ‚Kaum zu schaffen’, plagt es ihn noch einmal, und er fühlt den Schweiß seiner Hände auf der Stirn, die er sich angespannt und nach Konzentration suchend reibt. Und als er sich fragt, ob er vorher noch die Toilette aufsuchen sollte, beginnt es wie von selbst, in ihm zu rumoren. ‚Terrassentür checken’, lässt er seinen Gedanken springen. „Ja, ist zu; ist … zuhu“, sagt Fred laut zu sich selbst, als er mehrfach die Arretierung des Verschlusshebels rappelnd betätigt. „Ist zu. Zu.“
Der Herd ist Freds nächster Gedanke. ‚Habe ich nicht benutzt. Nur den Backofen mit der Lasagne.’ Der Blick auf die Armaturen des Herdes treibt ihm erneut die Hitze ins Gesicht, als er gleichzeitig den drohenden Minutenzeiger seiner Funkuhr in der Küche taxiert. Die geht genau und lässt keinen Spielraum für weitere Sperenzchen. Das Grummeln im Bauch meldet sich wieder. ‚Warum müssen die Einteilungen auf den Drehschaltern auch so abgewetzt sein? Man kann ja kaum erkennen, was an und aus ist’, ärgert sich Fred. Sein Blick fixiert die Schalterstellungen, als wolle er sie damit festhalten. ‚Bloß nicht berühren - ja, müsste aus sein. Ist aus. Aus.’ Mit beiden Händen fasst er auf die Herdplatten. Einmal hat er sich dabei schon verbrannt. ‚Ja, muss wirklich aus sein.’ Ihm fällt wieder die Tür zur Terrasse ein und die Kerzen. ‚Ach nein, die Kerzen sind sicher, mache ich nur am Wochenende an, und heute ist Dienstag.’ Noch einmal die Tür prüfen. ‚Zu. Ist zu. Jetzt muss ich aber wirklich.’
Ein Blick abermals in die Küche zum Herd. ‚Das Bügeleisen!’, fällt es Fred dabei siedendheiß ein, was ihm die Konzentration auf die Herdschalter aus der Ferne erschwert. ‚Alles aus, die Lämpchen brennen ja nicht. Aus, aus, aus, aus, aus’, nickt er jedem einzelnen Regler zu; und da schaut der Stecker des Bügeleisens gerade noch rechtzeitig auf dem Boden zwischen Mülleimer und Küchenschrank hervor. ‚Super. Wo immer es ist, es muss aus sein.’
‚Und Schluss jetzt!’, wird Fred nun energischer zu sich selbst, als er wieder an die Verandatür und doch noch einmal an die Kerzen denkt. ‚Nur noch drei Minuten. Das schaffe ich gerade noch so um die Ecke zur Haltestelle. Und die Toilette? Nein, jetzt nicht mehr. Los jetzt. Kann ich so gehen? Ja, warm genug. Zeitverbrauch zum Anziehen entfällt, Gott sei Dank.’ Beherzt zieht Fred die Wohnungstür hinter sich zu. Ein paar mal noch dreht sich das Türschloss hin und her, dann herrscht Stille - für 20 Minuten.
Die Wohnungstür öffnet sich, Fred tritt herein, macht Licht und begibt sich ins Wohnzimmer. Mit einem aufatmenden Seufzer stellt er seine Plastiktüte auf den Couchtisch und schaltet den Fernseher ein. ‚Geschafft!’, freut sich Fred und schaut zufrieden in die Tragetasche. Eine Pizza und eine Lasagne. ‚Dann brauche ich morgen nicht los’, fließt es beruhigend über seine Gesichtszüge, als er die Tiefkühlkost im Eisschrank verstaut und die beiden Sixpacks in den Abstellraum verfrachtet. Mit zwei Flaschen zurück im Wohnzimmer, lässt sich der Heimgekehrte in seinen Sessel fallen. Er blickt zur Terrassentür. ‚Draußen roch es eben noch so mild nach guter Luft’, befällt ihn kurz der Hauch einer Wehmut. Dann aber steht er auf und öffnet die Tür mit einem erleichterten Dreh an ihrem ausgeleierten Griff - ohne ihm einen weiteren Gedanken schenken zu müssen -. Fred tritt hinaus, und mit einem Schauer der Zufriedenheit beginnt er seine Auszeit, die ihm in diesem Moment wie eine kleine Ewigkeit vorkommt.
Sabine hat es satt. Zu oft hatte sie sich zwischen die Stühle gesetzt. Nein, dieses Jahr wird es anders werden, überlegt sie und reißt ihren Koffer im letzten Moment von der Stufe des Einstiegs am hintersten Wagon. Jetzt hatte sie sich so abgehetzt, um den Zug nach München zu erreichen - damit sie ihre erwartungsvollen Familienmitglieder wie jedes Jahr pünktlich zum Fest im Münchener Vorortidyll in Empfang nehmen könnten -, um nun doch einen Rückzieher zu machen - endlich einmal. Sabine hat die klischeehaften Worte ihrer Mutter im Ohr, die sie ausschließlich zur Begrüßung bei diesem Anlass und dazu noch vor allen Familienangehörigen standardmäßig verlauten lässt: Da ist ja unsere eigenwillige Weltenbummlerin, und schlecht siehst du aus, Kind, wirklich schlecht.
Welch ein niederschmetterndes Kompliment; die anderen sehen viel übler aus, unzufriedener und angespannter, dachte sich Sabine daraufhin jedes Mal. Es war doch immer das Gleiche; alle begrüßten die Jüngste des Clans stürmisch und mit warmen Worten, fragten sie über ihr Leben im Ausland aus, um dann wieder zur dörflichen Tagesordnung überzugehen. Denn das, was sie berichtete, von sich und ihrer Welt, schien für ihre Geschwister und deren Anhang so interessant zu sein, wie eine Auslandsreportage im Fernsehen. Dementsprechend waren auch die Reaktionen: ‚Ist ja interessant’ war dabei noch die positivste Floskel, die allenfalls von ihrem Vater kam, der Sabines Auslandstätigkeit nicht ganz so distanziert betrachtete wie der Rest der Familie. Jedoch konnte auch er nicht verbergen, dass sein Weltenkreis ein ganz anderer war, wenn er zwischen die Geschichten seiner Tochter aus heiterem Himmel solche Bemerkungen einbrachte wie: „Ach wusstest du schon, die alt’ Frau Müller vom Remi-Markt ist tot und der Eisen-Mayer hat dicht gemacht.“ Beides wusste Sabine - seit Jahren.
Die Übrigen schauten meist Kopf nickend mit eingebautem ‚Mhm … Mhm … ach ja’ durch ihre exotische Verwandte hindurch, als ob sie überlegten, das laufende Programm abzuschalten, wenn sie es denn gekonnt hätten. Einzig ihr Schwager ging noch intensiver auf sie ein, doch nur, um selbst zu zeigen, welcher Wichtigkeit er gerne entsprungen wäre. Auf alles, was Sabine sagte, hatte er eine Antwort und für Probleme gleich die Lösungen parat. Vom grünen Tisch, versteht sich, denn Sabines Schwager, ein mittlerweile arbeitsloser kleiner Bankangestellter, hatte einen Hass auf alles, was mit seinem Ex-Metier zusammenhing; und so war es nicht verwunderlich, dass er nebst anderen der Branche auch Sabines Arbeitgeber als Verbrecher titulierte. Die junge Managerin nahm es ihm nicht übel, zog es aber dennoch vor, sich nach der ersten Begrüßungseuphorie zurückzuhalten, was ihr eigenes Leben anbetraf. Dabei ärgerte sie sich jedes Mal, wieder so viel von sich erzählt zu haben. Sie wollte bestimmt nicht im Mittelpunkt des Familienfestes stehen, jedenfalls nicht mehr und nicht weniger als die anderen, die dies aber schon alleine aufgrund ihrer regionalen Majorität taten.
Die Weihnachtsfestlichkeiten verliefen denn auch wie immer. Zutaten: Sieben Erwachsene, vier Kinder zwischen drei und acht Jahren, reichlich Speis und Trank nebst Bescherungsmaterial. In Sabines Elternhaus, in welchem genügend Platz vorhanden war, wäre es ein Leichtes gewesen, sich ausreichend zu verlaufen, je nach Stimmungs- und Interessenlage. Jedoch zogen es alle vor, sich in der guten Stube festzusetzen; vor der Bescherung, nach der Bescherung und am ersten Weihnachtstag auch. Das war die kritischste Zeit, denn danach verließ die eine Hälfte der Familiendarsteller wieder das weihnachtliche Theater, und der Rest hielt sich mehr oder weniger bedeckt; je nach Themendominanz der Vortage. Und diese war bestimmt durch eine Mischung aus persönlichen Befindlichkeiten, längst verjährten Familienreibereien - untergerührt in Diskussionen über das aktuelle Tagesgeschehen - sowie der dazugehörigen Portion Kinderquengelei. Um eines ging es aber nie; nämlich um den wirklichen Grund, warum die Familie sich mal wieder so schmerzlich zusammengerauft hatte: um ein festliches, gemütliches und familiäres Miteinander
Das tat Sabine immer sehr leid, da sie sich bei jedem ihrer weihnachtlichen Besuche zuhause im Stillen erhoffte, das Verbindende zu erfahren, das ihr übers Jahr so sehr abging. Stattdessen sah sie sich regelmäßig in der Funktion der Schlichterin, die im Ringkampf bei Tisch versuchte, so manche aufkommende Wallung der Aggression niedrig zu halten. Am liebsten hätte sie sich zwischen den kulinarischen Runden einfach irgendwo in eine stille Ecke des Hauses verkrümelt, nur um einfach mal zu entspannen, was ja eigentlich auch der Zweck ihres gesamten Besuches gewesen sein sollte. Aber sie blieb im großen Wohnzimmer bei den anderen, wo sich schmollende Grüppchen gebildet hatten, um nicht als diejenige dazustehen, die die Familie mied. Alleine die Tatsache, dass sie in ihrer Einzelposition auch wie eine Außenseiterin wirkte, führte am Ende allen Debattierens zur ultimativen Problemlösung: Es waren letztendlich dann doch die unqualifizierten Ratschläge der verlorenen Schwester, die für das Übel jeder einzelnen Verbohrung verantwortlich waren.
Der Zug rollt los, und Sabine schaut hinter ihm her, nicht ohne den Anflug eines schlechten Gewissens. Sie macht kehrt und begibt sich in Gedanken versunken langsam zum Ausgang des Bahnhofs, ihren Koffer hinter sich herziehend. Das Rattern seiner kleinen Rollen klingt auf einmal ganz anders in ihren Ohren, heimisch und nicht mehr so zerrend. Ein Lächeln erweicht ihre eben noch so stressig zusammengepressten Lippen. ‚Zu Hause‘, denkt Sabine, ‚zu Hause ist da, wo ich mich wohl fühle.‘
Das kleine silbrige Schloss klemmte verloren inmitten des lang gezogenen und sich hoch erstreckenden, doppelten Drahtzaunes, der den bewachten Sportplatz der Jugendvollzugsanstalt von der Landstraße trennte. Es hatte vielleicht die Ausmaße zweier Fünf-Mark Stücke - mehr nicht. Unauffällig war es, so unauffällig, dass nicht einmal die Wärter während ihres mehrmaligen täglichen Kontrollganges über den Platz es für nötig zu halten schienen, das unscheinbare Ding zu entfernen. Vielleicht übersahen sie es einfach nur - im Heer der Schlösser, die sie tagtäglich zu Gesicht bekamen. Und ein Schloss zu viel ist in einer Strafanstalt im schlimmsten Falle immer noch besser als eins zu wenig. Recht würdelos hing es nun da, Tag und Nacht bei Wind und Wetter.