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Die Musikerin Victoria Filby aus Aberdeen stammt aus einer wohlhabenden Familie. Sie ist unglücklich verheiratet und lernt in Stockholm den erfolglosen Akademiker Peter Lorent kennen. Obwohl ihm seine zwei Kinder alles bedeuten, entfremdet er sich zusehends von seiner Frau. Er verliebt sich in Victoria. Auch sie hegt starke Sympathien für Peter. Diese sich entwickelnde Liebe wird durch Intrigen und die Hin- und Hergerissenheit der beiden zwischen ihren Ehebeziehungen einerseits und der neuen Liebe anderseits auf eine harte Probe gestellt.
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Seitenzahl: 498
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Der Autor:
Lorenz Filius, geb. 1965, wuchs in der Eifel auf und studierte Erziehungswissenschaften, Psychologie und Philosophie. Nach seinem Studium arbeitete er als Dozent in der Erwachsenenbildung. Seit 1997 lebte er aus beruflichen Gründen jeweils mehrere Jahre in Stockholm, Brüssel, Oslo und Rom. Zurzeit wohnt er in Mecklenburg-Vorpommern an der Ostsee.
... Ich ließ meine Blicke über die Wellen schweifen und genoss den Augenblick. Und doch, trotz des romantischen Moments, war da noch etwas in mir, was mich eigentümlich emotional bewegte, ein Gefühl, das mich bereits in früheren Zeiten hier und da überfiel, jedoch im Trubel des allgemeinen Alltags schnell wieder verflog: ein Gefühl der Sehnsucht, gepaart mit der Befürchtung, dass diese nie gestillt werden könnte ...
* * *
... Eine schwedische Nachbarin sagte mir damals, dass das, was ich als Sehnsucht empfinde, ein typisches skandinavisches Symptom sei, welches alle befalle, die einmal einen skandinavischen Sommer erlebt haben. „Es ist wie ein Virus; wer einmal in Schweden war, den zieht es immer wieder hierher“ ...
Meine Vorgeschichte
Victorias Vorgeschichte
Das Kennenlernen
Weihnachten
Zweisamkeit
Intrigen
Gelebte Liebe
„Kinder, Florian, Katharina, kommt herein und zieht euch um. Johanna und Åke warten bestimmt schon. Wo steckt ihr denn?“
Victoria stand auf der Terrasse vor dem riesigen Garten hinter unserem kleinen Häuschen in Danderyd, einem nördlich von Stockholm gelegenen Vorort. Ich hatte mir gerade einen Sommeranzug angezogen und ging hinaus zu meiner Frau auf die Veranda, um ihr zu helfen, die Kinder zu suchen. Es war ein schöner Sommertag, und die Temperaturen waren prima für einen Kaffeenachmittag im Freien geeignet. Zu einem solchen hatten uns nämlich unsere Nachbarn an diesem Sonntag Ende Juni 2007 eingeladen.
„Haben sie sich wieder versteckt?“, fragte ich Victoria und rief noch einmal selber nach ihnen. Da waren sie, hinter den Brombeerbüschen spielten sie Versteck. „Kommt, in Åkes Garten könnt ihr bestimmt wieder auf dem Trampolin springen.“
„Au ja!“, riefen sie, und schnell waren sie im Haus in ihren Zimmern im Untergeschoss verschwunden, um sich umzuziehen. „Man muss nur wissen, wie man sie packen kann“, erklärte ich meiner Frau scherzhaft. Ich umarmte sie von hinten und strich ihr dabei über ihren Bauch. „Fühlst du dich wohl, Vicky?“
„Ja, sehr.“
Wir genossen ein wenig die Mittsommersonne, während die Zwillinge sich fertigmachten.
„Noch ca. vier Monate, dann sind wir zu fünft“, meinte Victoria leise und führte meine Hand über ihre Bauchdecke.
„Ich kann es fühlen, es bewegt sich schon. Und du bist sicher, dass es ein Mädchen wird?“
„Ziemlich sicher, die letzte Vorsorgeuntersuchung war jedenfalls dahingehend recht eindeutig“, bestätigte Victoria, „und du, bist du soweit?“
„Ja, Liebste, von mir aus können wir los.“
Da kamen auch schon Florian und Katharina die Treppe hoch gestürmt: „Fertig!“, kam es wie aus einem Munde.
„Na dann kommt, gehen wir rüber“, forderte ich meine Familienbande auf. Wir liefen über die Straße zum Gartentor des Hauses, welches uns direkt gegenüberlag. Es war das Haus des Rentnerehepaares Johanna und Åke, die wir hier im letzten Jahr kennen gelernt hatten.
„Hallo alle zusammen“, begrüßte uns Johanna am Eingang, „kommt doch rein. Florian und Katharina, schaut, Åke hat das Trampolin für euch aufgebaut, habt ihr Lust?“
„Ja!“, schrien die Kinder - und weg waren sie.
„Wir freuen uns, dass ihr vier uns heute hier besucht. Einen so herrlichen Sommertag muss man doch einfach mit lieben Menschen verbringen“, meinte Johanna, „komm Victoria, setze dich doch hier her.“
Johanna bot meiner schwangeren Frau einen besonders bequemen Liegestuhl an. Ich ließ mich direkt daneben auf der Gartenbank nieder. Unsere Gastgeber hatten eine gemütliche Kaffeetafel unter einem ihrer großen Apfelbäume an einem schattigen Plätzchen aufgebaut. Es duftete nach frischem Kaffee und Kuchen. Johanna hatte selbstgebackenen Apfelkuchen und frische Sahnetorte aufgetischt. Dann kam Åke daher.
„Hallo zusammen“, hieß er uns willkommen, „ich habe schon gesehen, dass die Zwillinge ja mächtig Spaß haben. Victoria, wie geht es dir?“ Sie wollte sich zum Gruß erheben, aber Åke, ganz Gentleman, drückte sie sanft zurück und meinte: „Bleib sitzen, soweit kommt es noch, dass du dich jetzt in deinem Zustand unnötig erhebst, um den Gruß eines alten Mannes zu erwidern“, und er lachte selbst über seinen eigenen Scherz.
„Mir geht es den Umständen entsprechend gut“, äußerte sie zufrieden auf ihren Bauch schauend.
„Nun nehmt doch alle mal Platz“, sagte Johanna, „dann schenke ich euch schon einmal Kaffee ein - oder möchte die kleine Vicky“, wie sie Victoria immer liebevoll nannte, „lieber Tee?“
„Tee, wenn es keine Umstände macht“, fragte Victoria schüchtern an.
„Natürlich nicht, Tee kommt sofort.“ Johanna verschwand in ihrer Küche und kam wenig später mit einer Kanne Tee zurück. Während dessen machte es sich Åke in einem Gartenlehnstuhl gemütlich.
„So einen Lehnstuhl hatte mein Vater früher auch“, bemerkte Victoria und schaute verträumt auf Åke, wie er da lässig hin und her schaukelte. Als alle saßen, blickte Johanna in die Runde und begann den Kuchen aufzugeben.
„Nun, dann wünsche ich einen guten Appetit, lasst es euch schmecken.“
Es war ein entspannter Nachmittag, und die Kinder bekamen an einem extra Tischchen ihre Portionen aufgegeben. Als wir gesättigt waren und Johanna den Tisch abgeräumt hatte, kredenzte sie uns noch eine Flasche erfrischenden Apfelcidre. „Wann ist es denn soweit, Vicky?“, fragte sie Victoria und zwinkerte gewitzt mit ihren lustigen Augen.
„Im Oktober - und wenn es ein Mädchen wird, dann wollen wir es Johanna nennen.“
„Das ehrt mich aber“, griente Johanna und errötete. Ich nahm Victorias Hand und lächelte sie an. „Und du, Peter“, fuhr unsere Nachbarin fort, „fühlst du dich jetzt hier wohl, nachdem du die Festanstellung bei der IT-Firma auf Lidingö hast?“
„Ich kann nicht klagen“, antwortete ich, „es macht mir richtig Spaß, die Leute in Deutsch zu unterrichten.“
„Wollt ihr denn in Schweden bleiben?“, erkundigte sich Åke.
„Ja“, erwiderte Victoria, „nach dem einen Jahr Babypause habe ich nämlich hier die Möglichkeit, zumindest eine halbe Stelle als Musiklehrerin an der Stockholmer Musikschule zu bekommen. Das reicht mir schon. Ich brauche kein turbulenteres Leben mehr, und ich möchte das Baby nicht schon frühzeitig ganztägig in einen Hort geben müssen.“
„Recht hast du“, pflichtete ihr Åke bei.
„Peter, willst du uns nicht noch einmal erzählen, wie das alles eigentlich mit euch zweien begann“, wollte Johanna wissen.
„Ich weiß nicht“, dabei schaute ich meine Frau an.
„Erzähl es doch, Peter“, nickte diese mir zu und lächelte zu Johanna hinüber.
„Ja, nur zu“, bestärkte Åke ihren Wunsch, „wir würden gerne mal die ganze Geschichte hören.“
„Na gut“, gab ich mich geschlagen, Johanna schenkte mir noch einmal Apfelcidre nach, und ich lehnte mich Gedanken versunken zurück: „Also, das war so …“
Die Geschichte, von der ich nun berichte, erzähle ich so, wie sie aus meiner Erinnerung heraus zu Tage tritt. Dinge, die sich zeitgleich abgespielt haben, sind mir von Dritten zugetragen, und ich beschreibe sie hier, wie mir berichtet wurde. Es ist die Geschichte meines Lebens - und gleichzeitig auch die meiner großen Liebe, die ich, wenn auch sehr spät, nach einigen Wirren fand. Ich preise Gott dafür, dass es sich so zugetragen hat, denn in diesem Falle zählt das Ziel und nicht der Weg. Eigentlich sind es zu Beginn zwei Geschichten, die es zu erzählen gibt, die meine und die meiner Frau, genauer gesagt, meiner zweiten Frau, mit der ich zusammen ein neues Leben begann. Bis zu einem bestimmten Punkt hätte unser beider Dasein nicht verschiedener verlaufen können, zu einer Zeit, in der wir zwei nichts voneinander wussten. Es war eine Periode, in der sich unsere Einzelschicksale in komplett unterschiedlichen Welten abspielten. Nicht nur regional - Victoria, so heißt meine Frau, wuchs in Aberdeen auf und ich in einem verträumten Eifelort - sondern auch sozial, Ausbildung, Beruf und Beziehungen betreffend, verlief der erste Teil unseres Lebens grundverschieden; vielleicht in einem Punkt nicht ganz so verschieden, denn eine Gemeinsamkeit hatten wir immer beide schon: Die Sehnsucht; die Sehnsucht nach etwas ganz Bestimmtem und doch nicht Fassbarem, was essentiell zur Erfüllung eines Lebens gehört, und was wir beide in unseren Vorgeschichten offensichtlich nie erreicht hatten. Ich spreche hier nicht von der Sehnsucht nach Anerkennung, Erfolg oder auch sogenannter Liebe, sondern von einer Sehnsucht nach tiefer Zuneigung und innigster Zusammengehörigkeit zweier Menschen, die sich freilich nur selten findet in einer Zeit, in der Sachlichkeit, Erfolg und oberflächliche Emotionen zählen. Diese Sehnsucht war bei mir und wohl auch bei Victoria eine treibende Kraft, sozusagen eine immer schon da gewesene innere Triebfeder, welche allzeit auf der Suche nach einem ganz besonderen Ziel war. Mitnichten möchte ich behaupten, dass mein Leben, bevor ich Victoria kennen lernte, mich nicht zufrieden gestellt hatte - aber was erzeugt Zufriedenheit? Beruflicher Erfolg, ein sattes Polster auf dem Konto, eine harmonische Beziehung, Gesundheit, süße Kinder etc. etc.? Einiges davon hatte ich bestimmt.
Über finanzielle Probleme während meiner ersten Ehe konnte ich nicht klagen, auch, wenn wir zunächst nur wenig Geld hatten; wir kamen damit aus. Die Beziehung zu meiner damaligen Frau Caroline war, wie viele Beziehungen von Mitte 30 bis 40-jährigen Paaren, normal; so normal, dass der Alltag flüssig vor sich hin rauschte. Es funktionierte sozusagen. Kinder habe ich aus dieser Ehe zwei, die recht aufgeweckt sind und mir sehr viel bedeuten, vielleicht auch aufgrund einer besonders starken Affinität zu mir, geprägt durch meine besondere Vaterrolle, die wiederum durch die berufliche Tätigkeit von Caroline vorbestimmt wurde; aber dazu später mehr. Bleibt einzig der berufliche Erfolg, den man mit Anfang 40, wenn er dann mehr oder weniger ausgeblieben ist, doch schmerzlich vermisst. Eigentlich hatte ich von jedem etwas, und doch war die Summe dessen, was ich besaß nicht das, was ich mir von einem erfüllten Leben vorstellte, geschweige denn erträumte. Und dann war da dieses permanente Gefühl von Einsamkeit und fehlender sozialer Bezüge außerhalb meines familiären Lebens, welches mich wieder und wieder umtrieb. Manchmal glaubte ich, irgendetwas Essentielles im Leben falsch gemacht zu haben, was zu meiner Unzufriedenheit und Sehnsucht führte.
Ich bin in einem kleinen Dorf in der Eifel groß geworden. Es war ein sehr kleines Dorf mit ca. 400 Einwohnern. Viel los war dort nie. Das brauchte es aber auch nicht, da ringsherum so viel Natur war, dass ich mit den Jungs aus der Nachbarschaft, die alle so in meinem Alter waren, genug Spielfläche zum herumtoben hatte, wenn wir uns nachmittags nach den Hausaufgaben trafen. Die Schule besuchte ich in einem Nachbarort, Daun. Das war für mich wie eine große Stadt, obwohl dieser kleine Ort auch nur ca. 15000 Seelen beherbergte. Aber dort gab es alles, was ein Städtchen eben so ausmacht, Schulen, Geschäfte, Ärzte und so weiter. In meinem Wohnort gab es lediglich einen kleinen Lebensmittelladen und einen Frisör, zu dem wir Kinder aber nie gingen, da das Haare schneiden nicht nur bei mir, sondern auch bei meinen Kameraden Sache des Vaters oder der Mutter war. So war es denn für mich schon etwas Besonderes, wenn meine Eltern einmal die Woche zu einem Großeinkauf nach Daun fuhren und ich mit meinem Bruder mitfahren durfte. Manchmal sind wir sogar nach Trier oder Köln gefahren, um Einkäufe zu erledigen oder auch einmal andere Besonderheiten zu erleben, wie zum Beispiel Museumsbesuche. Bis hierher reichte mein Horizont in meiner Jugend. Mehr war nicht nötig und mehr brauchte ich auch nicht. Geprägt durch das Landleben war ich eigentlich dort so zufrieden, wie ich lebte. Wenn wir nach einer solchen Tour wieder nach Hause in unseren beschaulichen Ort kamen, phantasierte ich herum, wie es wohl noch weiter in der Welt aussehe. Andere Länder sehen, ja, interessiert hätte mich das schon, aber das schien für mich unerreichbar, weil auch meine Eltern nicht von dem Schlage waren, die große weite Welt kennen zu lernen. Nach meiner Schulausbildung entschloss ich mich dann zu studieren, Psychologie und Pädagogik. Dazu zog ich nach Bonn, in die damalige Deutsche Hauptstadt und fühlte mich recht weltmännisch, als ich mein erstes eigenes Zimmer mietete in der 250000-Einwohner Stadt, die mir als Dorfjunge wie eine kleine Metropole vorkam. Mein Studium ging so lala voran; an meiner Intelligenz lag es wohl nicht, aber an meiner Bequemlichkeit. Ich machte, was ich machen musste, aber was darüber hinausging, nun, da ließ ich gerne mal den Lieben Gott einen guten Mann sein. So war ich früher schon als Kind. Dass ich überhaupt studierte, verdanke ich vorwiegend meinem Vater. Er merkte recht schnell, dass ich gerne immer den einfachsten Weg ging. Bei solch einem Leben auf dem Lande ist oft gar nicht mehr nötig; allerdings darf man dann auch keine beruflichen Wunder im späteren Leben erwarten. Dementsprechend waren meine Schulleistungen mittelmäßig - aber für eine Lehre als Fleischergeselle in Daun oder Gerolstein hätte es wohl gelangt. Erbaut war ich von diesen Aussichten allerdings nicht, und mein Vater machte mir klar, dass, wenn ich mehr vom Leben erwarte, ich auch etwas dafür tun müsse. Also strengte ich mich entsprechend an. Mein Bruder war da ganz anders. Ihn musste man nicht antreiben oder zu seinem Glück zwingen. Er wusste ziemlich früh, was er wollte: raus aus der Einöde. Nur im Gegensatz zu mir traf er Entscheidungen und nahm sein Leben schon früh selbständig in die Hand. Kurz vor Abschluss meines Studiums lernte ich Caroline kennen. Sie war eine süße Brünette mit Puppengesicht, wie ich immer sagte, weil sie so große Augen machen konnte in ihrem recht ebenmäßigen Gesicht. Wir verstanden uns sehr schnell sehr gut. Sie war ein bisschen burschikos, aber eben doch süß, wie ich fand, und so verliebten wir uns dann irgendwann.
Als ich Caroline mit 28 Jahren heiratete - sie war damals 25 Jahre alt – hing der Himmel für uns voller Geigen, obwohl unsere wirtschaftliche Situation zu dieser Zeit wirklich nicht die beste war. Sie lebte von einem Halbtagsgehalt als Sachbearbeiterin, und ich war mitten im Examen und trug mit Gelegenheitsjobs zu unserem Unterhalt bei. Wir verzichteten auf vieles und machten uns trotzdem ein gemütliches Leben. An Kinder dachten wir damals nicht, zumindest für mich war das lange kein Thema, vielleicht eher für Caroline, aber sie brachte das nie richtig auf den Punkt. Meine beruflichen Aussichten waren nach meinem Studium auch nicht gerade rosig, was nicht an einer Miserabilität meines Examens lag, sondern eher an der Chancenlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt. So entschieden wir uns, ins Ausland zu gehen, um dort unser Glück zu versuchen. Carolines Arbeitgeber bot uns die einzigartige Möglichkeit an, dieses zu verwirklichen. Unser Ziel war Schweden, wo Carolines Firma eine Niederlassung in Stockholm hatte, die gerade zu diesem Zeitpunkt eine Vakanz anbot. Ich und auch Caroline sahen unser Leben, wie es von da an verlaufen sollte, sehr illusorisch und durch die rosa Brille.
Am Anfang fanden wir dort alles toll; das Land und die Natur sind wirklich einmalig. Schon bei unserem ersten Anflug über die südlichen Gefilde Schwedens im Sommer 1997 kamen uns die Eindrücke wie im Traum vor: die grünen Weiten mit den Flüsschen und Seen unter uns, die wie eingestanzte Löcher die Wälder übersäten, sowie ein herrlicher, nicht enden wollender Sonnenuntergang, der um die Mitsommerzeit nach Überschreiten der Mitternachtsstunde fließend in ein Morgengrauen übergeht; eine wahrhaft romantische Stimmung, die so richtig in mein Grundgemüt passte und mich zum Träumen veranlasste. Das Leben freilich spiegelte diese Stimmung nicht wieder. Die ersten Wochen und Monate vergingen wie im Flug; alles war neu, alles war schön, und was nicht annähernd so war, redeten wir uns schön. Carolines Job war sicher und warf genug für ein komfortables Leben ab, viel angenehmer, als es in Bonn gewesen war. Stockholm ist eine Stadt, in der das Leben pulsiert und doch nicht überläuft. Es gibt genug Platz für alle, und wer die Einsamkeit der Natur sucht, so wie ich, wird schnell fündig. Wir lebten damals auf einer Insel direkt bei Stockholm – Lidingö, ein wunderschönes Eiland im Osten der Stadt, nur durch eine Brücke mit dem Festland verbunden. Im Süden der Insel gab es lauschige Plätze zum Verweilen direkt am Wasser zu den Schären, wo sich besonders in den Abendstunden Boote aller Art tummelten. Das Licht fiel dann seitlich flach durch die Bäume, und das dunkle Gelb der Abendsonne schillerte durch die sich im leichten Wind wiegenden Blattgeflechte der Birken. Caroline und ich gingen während der Sommermonate dort oft spazieren; manchmal saß ich auch alleine stundenlang am Wasser und dachte einfach an nichts. Ich ließ meine Blicke über die Wellen schweifen und genoss den Augenblick. Und doch, trotz des romantischen Moments war da noch etwas in mir, das mich eigentümlich emotional bewegte, ein Gefühl, welches mich bereits in früheren Zeiten hier und da überfiel, jedoch im Trubel des allgemeinen Alltags in Deutschland schnell wieder verflog; ein Gefühl der Sehnsucht gepaart mit der Befürchtung, dass diese nie gestillt werden könnte. In solchen Situationen verließ ich dann den Platz, um mich nicht weiter in diese Emotion hineinzusteigern. Eine schwedische Nachbarin sagte mir damals, dass das, was ich als Sehnsucht empfinde, ein typisches skandinavisches Symptom sei, das alle befällt, die einmal einen skandinavischen Sommer erlebt haben. „Es ist wie ein Virus; wer einmal in Schweden war, den zieht es immer wieder hierher“, gab sie mir zu verstehen. Das Flair des Landes gerade in den Sommermonaten hat so etwas Bezauberndes an sich, das es einem wirklich schwer macht, das Land wieder zu verlassen. In diese Stimmung passen wirklich Geschichten von Trollen und Elfen. Vielleicht war es in der Tat dieses „Virus“, das mich befallen hatte, aber ich hatte die Vorahnung, dass noch mehr bei mir dahinter stecken musste. Komischerweise habe ich mit Caroline darüber nie gesprochen, obwohl wir uns sonst alles sagten. Sie genoss wie ich die Augenblicke, auch wenn sie keine Romantikerin war und wahrscheinlich auch jetzt nicht ist. Sie war auf eine Art sehr emotional und dann im gleichen Moment wieder sehr sachlich; so schnell konnte ich manchmal gar nicht umschalten.
Aber die Stimmungen in Schweden können sich schnell ändern, vor allem wenn der Sommer sich dem Ende neigt und kalte Herbsttage die lauen Sommertage ablösen. Dann wird es unwirtlich und immer dunkler; für einen durchwachsenen Mitteleuropäer eine echte Herausforderung. Um nicht in der Dunkelheit zu versinken, legt man in Schweden viel Wert auf Licht im Winter, wie auch sonst in ganz Skandinavien. Durch welche Stadt oder welchen Ort man auch in den dunklen Monaten insbesondere abends geht, überall ist Licht; nicht nur auf den Straßen, nein auch in den Häusern und insbesondere in den Fenstern und Gärten. Lampen stehen auf den Fensterbänken und leuchten nach außen wie nach innen; ein gänzlich anderes Bild als in Deutschland, wo nachts in den Wohngebieten geschlossene Jalousien oder Schlagläden für die entsprechende Verdunklung sorgen, und wo das Licht mit dem Zubettgehen gelöscht wird - nicht so in Schweden.
Mit dem kürzer werden der Tage und dem Gewöhnen an den Alltag in unserer neuen Umgebung verflog auch allmählich die Romantisierung des Landes. Nun kamen wir nach und nach wieder zurück zu den Gedanken und Problemen des alltäglichen Lebens. Caroline war eingespannt in ihren Beruf und ich … ja, was war eigentlich mit mir? Warum war ich eigentlich hier? Aus beruflichen Gründen? Nun ja, meine Frau hatte sich sicherlich dahingehend verbessert, obwohl es viele Querelen bei der Arbeit gab, von denen sie mir allerdings nur schemenhaft berichtete. Aber meine Aussichten waren in Stockholm nach wie vor nicht rosig. Obwohl ich mittlerweile (nach 10 Jahren) gut schwedisch spreche, machte mir die Sprache damals doch Probleme. So war es auch kaum möglich für mich, eine beständige berufliche Tätigkeit dort aufzunehmen. Ich betätigte mich deshalb als freiberuflicher Autor und schrieb Fachartikel für diverse englische und deutsche Zeitschriften- und Buchverlage, damit ich nicht ganz aus meinem Fachbereich herauskommen würde und so etwas zum Familieneinkommen beitragen konnte. Mir wurde mehr und mehr klar, dass ich mich wohl in eine Abhängigkeit hineinmanövrierte, nämlich in die von meiner Frau, die das meiste Geld nach Hause brachte. Ich war eben nur Mitreisender. Diese Situation konnte nicht konfliktlos bleiben. Ich wurde von Tag zu Tag unzufriedener und depressiver, und Caroline machte der an sich gut bezahlte Job auch nicht besonders viel Spaß, obwohl man ihr die Möglichkeit anbot, in der Karriereleiter hochzusteigen, was unseren Aufenthalt in Schweden noch verlängern sollte. Von Zeit zu Zeit kamen ein paar Einladungen zu Cocktailpartys von Kollegen oder Carolines Vorgesetzten, die ich immer äußerst langweilig fand. Dort drehte sich das Interesse um meine Person nur insoweit, dass zwar kurz gefragt wurde, was ich denn so als Mitreisender mache, wenn dann aber als Antwort mehr oder weniger herauskam, dass ich das Haus hüte und gelegentlich etwas schreibe, war ich meistens für den Rest des Abends mir alleine überlassen. Deswegen versuchte ich solche Veranstaltungen zukünftig zu vermeiden.
Während wir anfangs noch viel gemeinsam unternahmen, kapselten wir uns mit Fortschreiten des schwedischen Winters mehr und mehr voneinander ab. Tagsüber schlug ich die Zeit tot, indem ich viel spazieren ging, und abends, wenn Caroline nach Hause kam, verbrachte ich die Stunden lieber vor dem Fernseher, als mich jeden Abend mit den gleichen Themen meiner Frau, die sich immer irgendwie um Arbeitsprobleme und Karrierepläne drehten, zu befassen. Während dessen saß sie in ihrem Zimmer und grübelte wahrscheinlich über den Sinn unserer Ehe nach. Anderweitige Freundschaften zu knüpfen, gelang mir auch nicht sonderlich, bis auf ein paar flüchtige Bekanntschaften in der Nachbarschaft, da zum einen das skandinavische Privatleben sehr familienbezogen ist und Freundschaften sich lange entwickeln müssen, und zum anderen, da ich selbst nicht unbedingt der Typ bin, der herzlich und offen auf andere Menschen zugeht. Auf meinen winterlichen Spaziergängen durch die verschneite Landschaft konnte ich viel nachdenken. Vor allem der Gedanke an das schnelle Fortschreiten der Zeit, verbunden mit der Angst, älter zu werden, ohne etwas Sinnvolles im Leben getan zu haben, quälten mich permanent. Ich wünschte mir so sehr, aus meinem Leben auszubrechen und ganz neu zu beginnen - aber irgendetwas hinderte mich daran, wahrscheinlich mein innerer Schweinehund, mit dem ich zeitlebens kämpfte. Vielleicht lag es auch am fehlenden Mut, mich von Caroline zu trennen, da ich wusste, dass sie trotz aller Probleme und Stress sehr an mir hing. Es waren vor allem die emotionalen Kalt- und Heißduschen, die unsere Beziehung belasteten. Mal verstanden wir uns gut, wenn bestimmte Dinge vorteilhaft liefen, mal weniger gut und manchmal sogar gar nicht; dann herrschte zwischen uns eine Eiseskälte. So ging das erste Jahr in Schweden dahin.
Eines Abends kam Caroline unerwartet früher vom Büro nach Hause und war sehr schweigsam. Das war sie sonst nie, sie hatte eigentlich immer irgendetwas von unterwegs zu erzählen, auch wenn es mich nicht sonderlich interessierte. Aber an diesem Abend im Frühjahr 98 war sie so ganz anders. Sie ging wortlos an mir vorbei in ihr Zimmer und grübelte. Ich fragte sie, ob irgendetwas Besonderes geschehen sei, sie sei so anders als sonst.
„Seit wann interessierst du dich für meine Probleme?“, entgegnete sie mir und schaute mich mit wässrigen Augen aus ihrem dunkelblondhaarigen Puppengesicht an. Ihre großen braungrünen Augen wurden unter den aufkommenden Tränen mehr und mehr verwaschen. Aber sie antwortete nicht und saß verschlossen auf dem Stuhl an ihrem Schreibtisch. Mir schossen in diesem Augenblick nur zwei Gedanken durch den Kopf: jemand war gestorben oder sie hatte einen anderen Mann kennen gelernt.
Plump fragte ich „Sag bloß, du hast dich verliebt?“
Sie guckte mich nur noch trauriger an und flüsterte: “Du verstehst auch gar nichts.“
„Wie soll ich es verstehen, wenn du es mir nicht sagst“, antwortete ich etwas pampig und wissbegierig zugleich, „wenn ich eins nicht ausstehen kann, dann ist es dieses Geheule ohne Antworten“, pflaumte ich sie weiter an. Ich war sehr angespannt und ärgerlich, weil ich mir wirklich einredete, sie hätte einen anderen. Eigentlich hätte mich das doch nicht aufregen dürfen, da es mir ja dann eher leichter fallen würde, ihr eine Trennung vorzuschlagen. Aber ich war gänzlich auf dem Holzweg. Ich wollte gerade ihr Zimmer verlassen, um mir meinen Frust abzuspazieren, da lief sie hinter mir her, stellte sich vor mich und fixierte mich mit ihren verweinten Augen. Dann ertönte eine ganz leise Stimme aus ihrem Mund mit den Worten „Ich bin schwanger.“ Meine Reaktion darauf benötigte einige Zeit; ich konnte und wollte nicht glauben, was ich da hörte. Angewurzelt stand ich da mit feuchten Händen und starrte Caroline an.
„Bist du sicher, ich meine woher weißt du das?“, fragte ich.
„Ich war heute nach Büroschluss beim Arzt, und der hat es bestätigt.“
Ich war wie versteinert. Wortlos drehte ich mich um und ging ins Wohnzimmer, nahm mir ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte mich aufs Sofa. Das war nicht gerade die Wunschreaktion eines Mannes, welche eine Frau erwartet, die ihm mitteilt, dass sie ein Baby von ihm bekommt. Und doch war diese Reaktion meinerseits ein Zeichen dafür, dass unsere Beziehung wohl so ziemlich auf dem Nullpunkt war. In mir keimte ein Unbehagen auf über die Tragweite dieser Nachricht. Meine Gedankenspiele von Trennung, Neuanfang etc. konnte ich nun nicht mehr weiterspinnen. Wie soll man eine Frau verlassen, die einem gerade sagt, dass man Vater wird?
„Und, freust du dich?“, fragte ich auf den Boden starrend.
„Du weißt, dass ich immer schon ein Kind haben wollte“, meinte sie, „aber was denkst du? Gerade begeistert bist du ja nicht.“
„Was willst du hören, dass ich glücklich bin? Soll ich jetzt vielleicht Luftsprünge machen? Du weißt genau, wie ich darüber denke, und dass das meine Situation nicht besonders verbessert.“
„Du denkst natürlich wieder nur an dich und deine Situation; du hast doch alles was du brauchst, Geld und den ganzen Tag Zeit; jetzt bekommst du eben noch eine sinnvolle Aufgabe“, fauchte Caroline auf mich ein.
„Was soll das heißen, sinnvolle Aufgabe? Für dich ist wohl klar, dass du weiter die Karrierekiste fährst und der blöde Mann zu Hause, der eh nichts zu tun hat, kann sich ja dann um das Kind kümmern; du machst es dir ja sehr einfach; fantastische Aussichten für mich“, entgegnete ich ironisch.
„Dann stellen wir ein Kindermädchen ein“, äußerte Caroline wohl nicht ganz ernst gemeint, „mit der kannst du ja den ganzen Tag rumflirten und brauchst dich ums Windelwechseln nicht zu kümmern; oder du gehst arbeiten und ich bleibe zu Hause.“
Ärgerlich, mit einer Wut im Bauch, schnappte ich mir meinen Mantel und verließ das Haus. Ich musste jetzt noch mal alles in Ruhe überdenken, ohne mich in sinnlosen Streitfloskeln mit meiner Frau zu erregen. 1000 Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich durch das verregnete Stockholm wanderte. Ich wollte eigentlich kein Kind, nicht weil ich Kinder nicht mag, sondern weil ich mit mir selbst noch überhaupt nicht im Reinen war, was meine Zukunft betraf. Aber passiert war nun mal passiert. Ich sah keinen Ausweg aus dieser Situation, also musste ich mich ihr stellen. Flucht war da auch keine Lösung mehr, und ich wusste auch nicht, wohin ich hätte flüchten sollen. Als ich nach Hause kam, lag Caroline schon im Bett. „Bist du noch wach?“, fragte ich, was sie bejahte und durch das schemenhafte Licht des Mondes, welcher durch das Fenster schien, sah ich in ihre von Tränen glänzenden Augen. „Komm in meinen Arm“, wandte ich mich halbherzig versöhnlich zu ihr, und sie kuschelte sich eng an mich und traute sich nicht zu reden.
„Halt mich ganz fest“, flüsterte sie dann und schlief ein.
Die Schwangerschaft von Caroline verlief soweit normal - und unsere Beziehung wurde dadurch wieder etwas enger. Auch die Tatsache, dass wir Zwillinge erwarteten, belastete mich nicht allzu sehr, da die Situation nun mal so war, wie sie war. Am 15. Dezember war es dann soweit, die Zwillinge kamen zur Welt. Zwei wirklich süße und gesunde Babys, zweieiig, Junge und Mädchen. Den Jungen nannten wir Florian und das Mädchen Katharina. Alles schien von nun an in festen Bahnen zu laufen. Die Kinder waren pflegeleicht, und mir kam meine Situation nicht mehr ganz so unzufrieden vor. Ich hatte in der Tat eine neue Aufgabe. Solange Caroline zu Hause war - sie hatte immerhin drei Monate Urlaub -, lief alles perfekt, und wir unterstützten uns gegenseitig. Auch die schwedische Sprache lernten wir mehr und mehr. Alles sah so ruhig und geordnet aus. Aber das war nur von temporärer Dauer. Obwohl es Caroline am Anfang schwer fiel, wieder zu arbeiten, legte sich das nach kurzer Zeit und sie begann mehr und mehr in ihrem Job aufzugehen. Sie hatte sich mittlerweile hochgearbeitet, und man schlug ihr vor, doch für immer oder zumindest viele Jahre lang in Schweden zu bleiben; ein Angebot, dem sie kaum widerstehen konnte. Ich war davon nicht sonderlich begeistert, da das für mich bedeutete, weiterhin dieses Leben zu führen, wie es bereits vor der Geburt der Kinder war, nur dass ich jetzt eben die Aufgabe hatte, mich um diese zu kümmern. Und da war es wieder, mein Problem; ich fühlte mich allmählich wieder so wie früher. Caroline war immer öfter weg, auch abends, aus dienstlichen Gründen, wie sie sagte, was ich ihr auch abnahm. Ich war rund um die Uhr mit den Kleinen beschäftigt und freute mich, dass sie so gediehen. Ich schien ein echtes Händchen dafür zu haben, wenn es mich auch nicht sonderlich ausfüllte. Caroline sah die Kinder vorwiegend spät abends, wenn sie schon schliefen, und am Wochenende.
So liefen die Jahre dahin. Florian und Katharina wuchsen heran; und dabei war ich ihre ständige erste Beziehungsperson, bis sie mit sechs Jahren im Sommer 2005 an der deutschen Schule in Stockholm eingeschult wurden. Meine Frau, die jetzt auch häufig auf Dienstreisen war, war nur sehr unregelmäßig zuhause. Wohl aus einem schlechten Gewissen mir gegenüber heraus kam sie eines Tages mit der Idee auf mich zu, doch ein Kindermädchen einzustellen; das könnte ja bei uns wohnen, da wir genug Platz hätten. Zunächst war ich nicht sehr erbaut von dieser Idee, aber andererseits konnte ich so zumindest etwas mehr Freiraum zurückgewinnen. Die Einschulung der Zwillinge brachte mir zwar schon halbtageweise eine Arbeitsentlastung, aber im Haushalt war dennoch immer viel zu tun. So willigte ich ein. Fiona Plääti hieß sie und kam aus Helsinki; sie sprach recht gut deutsch und war von robustem Schlage. Sie konnte wirklich mit Kindern umgehen und entsprach in ihrem Stil dem, was wir uns vorstellten. Als sie bei uns einzog, nahm sie vor allem mir gleich sehr viel Arbeit ab. Sie tat das wirklich gerne, und man sah ihr den Spaß, den sie mit den Kindern hatte, an. Sie brachte sie zur Schule und holte sie auch ab; oft taten wir das gemeinsam. So konnte ich wirklich mal ohne schlechtes Gewissen relaxen und mich meinen Gedanken widmen. Ich entwickelte einen Wust von Ideen, was ich nun anstellen könnte mit meiner neu gewonnenen Freiheit, aber ich musste auf dem Boden der Tatsachen bleiben, da ich trotz allem hier zuhause die Stellung halten musste und die Verantwortung hatte. Eine großartige Abwechslung gab es so nicht, und auch Unternehmungen mit der ganzen Familie waren rare Ereignisse, da Caroline fast nie Zeit hatte; und wenn sie sie hatte, wollte sie sich einfach nur vom Stress erholen. So entschied ich mich, etwas zu tun, was meinem Geiste wohl tat, außer nur Artikel zu schreiben; eigentlich keine große Sache, aber eine Aktivität, aus welcher sich weit reichende Folgen ergeben sollten. Ich meldete mich als Gasthörer an der Stockholmer Universität an, um in unterschiedliche Fachbereiche hineinzuschnuppern und meinen Horizont zu erweitern. Ich nahm an verschiedensten Vorlesungen zu geisteswissenschaftlichen Themen teil, die mich interessierten und vom eher öden Heimalltag ablenkten, auch wenn ich manchmal sprachliche Probleme hatte, zu folgen.
An einem Donnerstag in der Adventszeit im Jahre 2005 - ich war mit Fiona und den Kindern auf einer Museumstour unterwegs - auch um etwas für den Geburtstag der Zwillinge zu besorgen, denn sie wurden sieben Jahre alt -, machte ich einen kurzen Abstecher ins Universitätsgebäude, wie ich es auch sonst wöchentlich tat, um zu schauen, ob diverse interessante Sonderveranstaltungen angeschlagen waren. Viel Neues fand ich an diesem Nachmittag dort nicht, nur eine Vorlesungsankündigung neueren Datums für die nächsten Wochen war dort bekannt gegeben. Es ging dabei um Musik des Mittelalters und deren moderne Interpretation im klassischen Orchester. Klang interessant und bei weiterem Lesen der Bekanntmachung hieß es „Föreläsning på engelsk“, was soviel hieß wie „Vorlesung auf Englisch.“ Das fand ich gut, endlich mal eine Vorlesung, die ich komplett verstehen würde; gleich notierte ich mir die Vorlesungsdaten - immer donnerstags um 15:00 - in meinen Taschenkalender. Die Rednerin hieß Victoria Filby und war Gastlektorin an der Universität Stockholm. Schon in der nächsten Woche sollte es losgehen. Ich musste nur noch Fiona davon überzeugen, da sie immer donnerstags ihren freien Tag hatte und das evtl. mit meinem neuen Termin kollidieren könnte. Als ich mit den Kindern und Fiona nach Hause kam, sprach ich sie beim Abendessen darauf an. Sie war zunächst nicht sehr dafür zu gewinnen, ihren freien Tag zu verschieben, aber als ich ihr anbot, stattdessen den Freitag frei zu nehmen – zumindest vorübergehend – zeigte sie sich zufrieden in Anbetracht verlängerter Wochenenden, an denen sie dann zu ihrem Freund nach Finnland reisen konnte.
An diesem Abend holte ich über die Vorleserin meiner neuen Veranstaltung Informationen über das Internet ein, wie ich es sonst auch über andere Veranstaltungsleiter tat, um fachliche Hintergrundinformationen über die Seminarleiter zu erhalten. Die Kinder waren zu Bett gebracht, Caroline noch im Büro, und Fiona hatte ich für den Rest des Abends frei gegeben. So stöberte ich im Internet nach Informationen über die neue Dozentin. Viel fand ich zunächst nicht unter ihrem Namen, und das, was ich fand, schien auch nicht zu dem zu passen, was ich suchte. ‚Victoria Filby: Früher bekannte englische Kinderschauspielerin in diversen Jugendserien’ oder ‚Victoria Filby: ehemalige Schauspielerin und Musikerin in Toronto’. Weit herumgekommen, überlegte ich; aber nichts zu finden von wegen Universitätsdozentin oder ähnlichem. Dann endlich, nach einigem Stöbern fand ich eine Art Kurzbiografie von ihr. Ich war nicht ganz sicher, ob das wirklich die Frau war, nach der ich suchte. Ein Bild war auch dabei, wohl aber noch aus jungen Jahren. Da war sie schätzungsweise nicht älter als 17 oder 18 Jahre; hellblondes, sehr langes Haar, mit einem verschmitzten Lächeln, am Klavier sitzend. Hübsch, dachte ich, mal sehen, was da steht. Die Biografie enthielt neben den üblichen Lebensdaten eine beachtliche Ausbildungslitanei, die mit einer kurzen Filmografie begann und dann überging in eine Reihe von erfolgten Auszeichnungen im musischen und sportlichen Bereich. Vor allem im klassischen Tanz, Ballett und Eistanzen schien sie recht erfolgreich gewesen zu sein, und bei Jugendmusikwettbewerben hatte sie einige Preise gewonnen. Die Dame hat es ja drauf, sinnierte ich. Weiter stand dort: Spätere Ausbildung zur klassischen Musikerin und absolviertes Musikstudium mit Universitätsabschluss, letzteres sogar mit Promotion. Sie spielte zwei Instrumente, Klavier und Fagott. Ihr Alter wurde auf der Homepage mit 26 angegeben, was wie gesagt nicht zum Bild passte. Die Biografie brach dann relativ abrupt ab. Nach der Altersangabe fand sich abschließend nur noch der lapidare Hinweis, dass sie sich zurzeit wohl in Aberdeen aufhalte und dort als Lehrerin in einer Musikschule arbeite und dass über ihre sonstigen Tätigkeiten nichts Offizielles bekannt sei. Eine Kontaktadresse gab es nur in Form einer c/o-Adresse der Musikschule in Aberdeen. Ich schaute mir die Filmografie näher an. Von den Filmen, in welchen sie wohl im Alter von 10 bis 12 Jahren gespielt hatte - meist typische, wöchentlich ausgestrahlte Kinderserien -, hatte ich öfter gehört, diese aber nie gesehen, vielleicht weil sie damals in Deutschland auch nie gesendet wurden. Auch ihr Name war mir in diesem Zusammenhang nicht bekannt. Ihr beruflicher Werdegang hingegen schien einfach nur vorbildlich, alles mit Auszeichnung. Sie musste eine intelligente, aktive Person sein. So viele Ausbildungen und Prämierungen in jungen Jahren mit Abschlüssen an Universitäten etc. beeindruckten mich total, und ich konnte einen schwachen Anflug von Neid nicht leugnen. Blieb nur die Frage, ob das wirklich die Ms. Filby war, die ich eine Woche später in der Uni treffen sollte, zumal sie ja wohl in Schottland lebte und nicht in Stockholm. Ich suchte noch nach ein paar aktuelleren Photos im Internet, fand aber nichts bis auf Filmaufnahmen und das besagte Bild auf der wahrscheinlich nicht mehr ganz so aktuellen Internetseite. An diesem Abend dachte ich noch lange über Victoria Filby nach. Wie schafft es eine Person, so viel so früh auf die Beine zu stellen? Sie musste doch ein interessantes Leben führen; und woran lag es wohl andererseits, dass solche Typen wie ich mit Anfang 40 immer noch nicht die Kurve gekriegt hatten, zumal ich ja selbst einen Uni-Abschluss hatte, aber eben ohne weiteren nennenswerten Erfolg; von sozialer Anerkennung einmal ganz abgesehen. Gleichzeitig war ich wirklich gespannt auf die kommende Woche, in der ich diese Frau, die mich sofort in ihren Bann zog, zum ersten Mal sehen würde. Die Faszination, die in meinen Augen von ihr ausging, war vielleicht nicht nur von ihren Erfolgen geprägt, sondern zusätzlich von einer plötzlichen, noch unbewussten, fixen Idee, die Bekanntschaft mit einer Frau ihres Kalibers könnte mich aus meiner innerlichen Lethargie befreien. Albern; und doch ertappte ich mich beim leisen Hoffen auf die Chance einer Unterhaltung mit ihr - vielleicht nach der Vorlesung. Letzteren Gedanken verwarf ich gleich wieder, da doch oft solch viel beschäftigte Menschen, die dazu auch noch in der Öffentlichkeit stehen, nur wenig Zeit für einzelne, nun nennen wir es mal ‚Fans’ haben. Und wie gesagt, vielleicht war es ja auch eine völlig andere Person, die die Veranstaltung leiten würde als die, von der ich so unvermittelt zu schwärmen begann. Ich träumte weiter vor mich hin, und auch an diesem Abend schlief ich wie so oft ein, ohne dass Caroline bereits zu Hause gewesen wäre.
Ich war spät dran an diesem Donnerstag. Der Gong zum Stundenbeginn in der Uni schlug schon zum zweiten Mal, was bedeutete, dass die Rednerin jetzt jeden Moment eintreffen konnte. Ich war als letzter kurz vor dem Eingang des Hörsaals, und ich sah beim Eintreten gerade noch am anderen Ende des Ganges eine schlanke Gestalt heraneilen. Ich überlegte, ob ich mich eher weiter vorne hinsetzen oder mehr nach hinten begeben sollte, als die schlanke Person von gerade an mir vorbeihuschte und sich ans Rednerpult begab. Hastig ließ ich mich nun direkt vorne in der ersten Reihe nieder, gleich neben der Tür und stellte mein Aktenköfferchen, welches ich übrigens immer dabei hatte, wenn ich unterwegs war - das war damals so eine Marotte von mir - neben mir auf den Boden. Ich nahm meine Schreibmappe heraus und legte sie auf den Tisch. Dann kramte ich aus der Seitenlasche einen Ausdruck des Photos aus dem Internet und legte ihn vor mich hin. Der Hörsaal war nur spärlich besetzt; ob es am geringen Interesse der Studenten lag, oder eher doch daran, dass es auf die Weihnachtsferien zuging, konnte ich nicht sagen, aber es war ein sehr angenehmes und entspanntes Gefühl, mit nur wenigen Studenten in diesem großen, mit Dämmerlicht beleuchteten Saal zu sitzen und dem zu folgen, was vorne vor sich ging. Nur das Podium war stärker beleuchtet, und die Pultlampe streute ein schwaches Licht auf das Gesicht der Rednerin. Ich mochte solche Beleuchtungsszenarien. Das hatte immer etwas Gemütliches und Entspannendes an sich. Zu dumm nur, dass ich meine Brille zu Hause vergessen hatte, so musste ich recht angestrengt nach vorne schauen. Bevor sie noch anfing zu reden, verglich ich das Bild vor mir mit meinem Gegenüber. Was ich anfangs bezweifelte, bestätigte sich nun. Sie war es wirklich. Die Haare waren anders, nicht so lang wie auf dem Photo, etwa schulterlang, leicht gewellt und dunkler. Ihre Größe schätzte ich auf etwa einsfünfundsechzig. Aber das Gesicht war eindeutig dasselbe, wie auf dem Bild. Alle Details konnte ich natürlich aus dieser Perspektive nicht erkennen, aber sie war es. Unerwartet trat sie mit einem Stapel DIN A4-Bögen hinter ihrem Pult hervor und eilte in meine Richtung, von mir aus gesehen rechts vorne. Schnell schob ich ihr Photo unter meine Mappe. Sie reichte mir den Stapel mit den Worten: „Would you please hand out this to the audience?“ Ich nahm das Papier entgegen und reichte es weiter durch zu den übrigen Studenten. Es war ein Vorlesungsskript. Als sie wieder nach vorne ging, um sich hinter ihr Pult zu begeben, hielt sie auf halbem Wege inne, wendete sich zu uns hin und meinte: „Well, perhaps I should start the lesson by introducing myself to the audience.“ Etwas unsicher kam sie mir vor dabei, als wenn sie so etwas noch nicht sehr oft gemacht hätte. Umso gespannter war ich, was sie denn alles von sich preisgeben würde. Natürlich war nicht zu erwarten, dass sie alles das erzählte, was ich bereits in ihrer Biografie gelesen hatte; dazu neigte sie wohl zu sehr zum Understatement, wie ich später selbst erfahren sollte. Abgesehen davon gehört in eine persönliche Kurzvorstellung eigentlich auch nicht die Selbstbeweihräucherung besonderer Leistungen. Dementsprechend sympathisch erschien mir ihr Auftreten, und das, was sie uns über sich mitteilte, stimmte haargenau mit meinen Vorabnachforschungen überein.
„Well, and now I am here to tell you something about medieval music“, schloss sie ab. Dann begab sie sich endlich hinter das Rednerpult, sammelte sich und begann ihre Vorlesung. Ich fand diese Frau von Anfang an faszinierend, vielleicht auch etwas geprägt durch meine Vorinformationen und beeindruckt durch das, was sie erreicht hatte. Ich versuchte ihrer Lesung zu folgen, ertappte mich jedoch dabei, dass ich ihrer Mimik, Gestik und Stimme mehr Aufmerksamkeit an sich schenkte als dem, was sie uns erzählte. Auch war ich sonst eher bestrebt, in Vorlesungen möglichst viel mitzuschreiben, was ich diesmal nicht tat, obwohl es ein Leichteres gewesen wäre als bei den sonstigen schwedischen Vorlesungen und Seminaren. Mehr und mehr geriet ich dabei in Gedanken darüber, wie diese eigentlich erfolgreiche Victoria Filby nun dazu kam, an einer Uni im verschlafenen Stockholmer Winter zu lehren, wo sie doch mit Sicherheit mit ihren Fähigkeiten andere Angebote hätte annehmen können. Dabei wäre ich selbst wohl froh gewesen, solch ein Angebot zu bekommen. Ich überlegte mir unterschiedlichste Szenarien, aus welchen Beweggründen sie in die schwedische Hauptstadt gekommen sein könnte. Freilich erschloss sich mir das Geheimnis ihres Werdeganges so nicht wirklich, und das, was ich im Folgenden erzähle, ist mir so zugetragen worden, wie Victoria es wohl erlebt hat. Dies ist nicht in einem Stück geschehen, sondern nach und nach, während wir uns kennen lernten.
Victoria war als Kind immer schon ein sehr aufgeschlossenes, lebenslustiges Mädchen. Sie war das Nesthäkchen in der wohlhabenden Familie, mit der sie in einem kleinen Haus in Denmore, einem nördlich von Aberdeen gelegenen Vorort, aufwuchs. Ihre beiden Brüder Timothy und Jonathan mochten sie sehr und verhätschelten sie fast ein bisschen. Für ihren Vater Patrick, einen bekannten Anwalt in Aberdeen, war sie allerdings der absolute Liebling. Er konnte ihr keinen Wunsch abschlagen und ließ sich immer um den Finger wickeln, was häufig zu Konflikten in der Familie besonders zwischen den Eltern führte; allerdings zu einem Preis, der, wie sich später herausstellte, nicht immer zu Victorias Vorteil war. Patrick war sehr ehrgeizig und verlangte frühzeitig viel von seinem Nachwuchs. So redete er immer von Plänen, die er mit den Kindern hatte. Mit den zwei ältesten Söhnen funktionierte das weniger gut. Sie verstanden es meistens mit Hilfe ihrer Mutter Cora, die Vorstellungen des Vaters abzuwiegeln und taten eher das, was ihnen gefiel oder besser in Mutters Vorstellungen passte. Vor allem Victoria entwickelte früh Interesse an Musik und Ballett. Um so mehr versuchte Patrick seine Ideen an ihr auszuleben, wohl auch als eine Art Gegenleistung für die Wünsche, die sie hatte. Da entwickelten sich regelrechte Tauschgeschäfte. Durch seinen Beruf hatte Patrick verschiedene Verbindungen und Beziehungen zu Film und Fernsehen. Auch kannte er einige Prominente aus diesem Metier. Eines Abends kam er nach Hause und hatte der Familie einen Vorschlag zu unterbreiten.
„Da findet nächste Woche ein Casting statt, die suchen ein Mädchen, das eine Rolle in einer Kinderserie spielen soll - das wäre doch was für Victoria“, strahlte Patrick in die Runde beim Abendessen. Die damals Achtjährige machte große Augen.
„So richtig mit Filmen und so“, fragte Victoria.
„Ja, ja“, entgegnete ihr Vater und schaute erwartungsvoll seine Jüngste und die anderen an. Die Mutter verzog etwas das Gesicht und meinte: “Ich weiß nicht, Patrick, müssen wir unbedingt die Kinder in dieses Milieu einführen?“
„Was heißt hier Milieu“, rief Patrick, „so eine Chance bekommt man nicht oft.“
„Au fein“, fiel Victoria ein, „da will ich mitmachen!“
„Na, ja, weißt du, Vicky“, erklärte ihr Vater, „da musst du schon ein bisschen Text lernen und vor den Leuten da eine gute Show abliefern.“
„Das mache ich schon“, freute sich die Kleine und schaute dabei fragend ihre Mutter an. Diese schien nicht sehr begeistert: „Sie hat doch schon Ballettunterricht und Musikstunden, reicht das denn nicht?“, winkte aber dann ab und meinte nur, „also gut, dann versucht es halt mal“, wohl denkend, dass das ganze Projekt wenig Aussicht auf Erfolg haben würde.
„Also, dann melde ich dich da an“, beschloss Patrick stolz und nickte seiner Tochter vielsagend zu. Das Mädchen war sehr eifrig, wenn es darum ging, etwas zu erreichen, und so lernte sie auch emsig den Text, den sie von der Castingagentur erhalten hatte. Am Tag des Vorsprechens war Victoria ganz aufgeregt, stand aber prima die Sache durch. Zuhause waren alle stolz, insbesondere der Papa. Und einige Zeit später kam in der Tat ein Anruf der Castingagentur, die der Familie mitteilte, dass man ihrer Tochter die Rolle gerne anbieten würde.
Von da an änderte sich Victorias junges Leben mit einem Mal gewaltig. Sie musste nun ständig ans so genannte ‚Set’ zum ‚drehen’. Das war an den unterschiedlichsten Orten und manchmal auch im Studio. Ihr Vater, der nun auch gleichzeitig ihr Manager war, fuhr sie immer hin zu den entsprechenden Drehplätzen. Victoria war einerseits begeistert, jedoch wurde die ganze Lebensumstellung, die mit diesem Thema zusammenhing, mehr und mehr zu einer Belastung für sie. Die Schule schaffte sie noch so nebenher, intelligent genug war sie dazu, aber ansonsten blieb ihr nicht mehr viel Freizeit - und mit Freunden spielen oder etwas unternehmen kam auch nur noch sehr selten vor. So war sie denn ganz froh, als die Serie abgedreht war und sich das Leben wieder zu normalisieren begann. Da war sie neuneinhalb Jahre. Aber dennoch schien nicht alles so wie früher gewesen zu sein. Die Kinderserie war ein voller Erfolg, und schon kam die Anfrage für eine Folgestaffel durch die Filmgesellschaft. Cora, Victorias Mutter, lehnte ab: „Nein, kommt überhaupt nicht in Frage, der Stress beim letzten Mal hat gelangt, das Kind wird nicht wieder diesen Strapazen ausgesetzt.“
„Was regst du dich so auf?“, fragte Victorias Vater, „die Kleine hat ihre Sache doch bei den Dreharbeiten prima gemeistert, was meinst du denn dazu?“, dabei schaute er fragend und insistierend seine Tochter an. „Die ganzen Fans und Leute, die du kennen gelernt hast, hat dir das nicht gefallen?“
„Rede nicht so auf sie ein!“, ging ihre Mutter dazwischen.
„Ich weiß nicht“, meinte Victoria, „schon wieder?“
„So kommst du im Leben aber nicht weiter“, wurde Patrick nun eindringlicher, „solche Chancen bekommt man nicht oft unter die Nase gehalten, da kann man nicht immer gleich die Brocken hinschmeißen.“
„Hör doch auf“, rief Cora, „sei ehrlich: es geht Dir doch letztendlich dabei auch um die Werbewirksamkeit deiner Tochter für deine Anwaltskanzlei.“
„Lächerlich“, erwiderte Patrick, „ich bemühe mich hier, ihr die Bahnen für ein erfolgreiches Leben zu ebnen, und gedankt wird es einem mit Nörgelei; von nichts kommt eben nichts.“
„Aber sie ist noch keine 10 Jahre alt“, gab Cora zu bedenken, „setze sie doch nicht so unter Druck. Und denke auch mal an Timothy und Jonathan. Seit der Sache mit der Serie warst du doch nur noch für Victoria da.“ Die zwei Söhne standen schweigend im Hintergrund.
Patrick war jetzt ziemlich wütend: „Die beiden machen doch sowieso, was sie wollen, da ist Hopfen und Malz verloren, aber Victoria hat Grips genug zu wissen, was die Sache für sie bedeuten kann.“ Er schaute Victoria ermunternd an. Sie verzog etwas das Gesicht und sah zu Boden. „Also, wenn du jetzt ‚nein’ sagst“, ereiferte er sich weiter, „dann brauchst du mich in Zukunft um keine Gefallen mehr zu bitten, das sag ich dir.“ Dann ging er in sein Arbeitszimmer und schmiss die Tür hinter sich zu. Victoria lief hinter ihrem Vater her. „Papa, Papa“, „ich mach’s ja, es macht mir ja auch Spaß!“, rief sie.
„Das musste ja jetzt kommen“, meinte Cora und wollte die Kleine zurückhalten, aber da kam Patrick schon aus der Tür und nahm seine Tochter beiseite mit den Worten in Richtung ihrer Mutter: „Siehst du, sie möchte das doch auch.“ Er beugte sich zu Victoria nieder und flüsterte ihr ins Ohr: „Und wenn du deine Sache wieder so super machst wie beim letzten Mal, dann fahren wir zwei endlich ins Disneyland nach Paris.“ Victoria grinste breit, und Patrick wusste, dass er sie damit für sich gewonnen hatte.
Die Wochen vergingen, und Victoria war viel mit ihrem Vater unterwegs; von Hotel zu Hotel, von Drehort zu Drehort. Es war sehr anstrengend, und trotzdem hatten die beiden viel Spaß zusammen, jedenfalls sah das Victorias Vater so. Ihr neues Leben fand sie einerseits wirklich spannend; sie kam mit allerhand neuen Leuten in Kontakt; Produzenten, Schauspieler, und andere Menschen, die sie schon aus dem Fernsehen kannte. Vor den Hotels fanden sich kleine Gruppen von Jugendlichen ein, die ein Autogramm ergattern wollten. Es war wie in einer Scheinwelt. Alle schienen sie zu mögen. Victorias Brüder und ihre Mutter aber bekam die junge Schauspielerin in dieser Zeit nur selten zu sehen. Ein Familienleben gab es eigentlich während dessen nicht. Eines Abends, nach einem langen Drehtag im Hotel, fragte Patrick seine Tochter beiläufig, ob sie nicht auch Spaß an einem noch größeren Projekt hätte.
„Was meinst du damit?“ wollte sie erstaunt wissen, „noch einen Film?“
„Ja, aber diesmal einen richtigen fürs Kino und so.“
„Du meinst so einen richtigen mit echten Filmstars?“, eiferte sie.
„Genau, mit echten Filmstars und mit amerikanischen Drehorten. Es ist zwar keine Hauptrolle, aber der Produzent meinte, dass du mit deinem Talent wie geschaffen für den Part bist.“
„Da wird Mama aber was dagegen haben“, raunte seine Tochter.
„Ach, das kriegen wir schon hin“, beruhigte sie Patrick.
Die zweite Staffel der Serie war wieder sehr erfolgreich. So dauerte es nun nicht mehr lange, bis die kleine Victoria ein Angebot nach dem anderen bekam. Freilich konnte sie die nicht alle annehmen, dennoch, in zwei Jugendspielfilmen wirkte sie dann doch noch mit. Sie war bald eine richtige kleine Prominente. Aber sie war eigentlich auch Schülerin und hatte einen großen Ehrgeiz, die Schule ordentlich fertig zu machen. Denn da, wie auch sonst, wollte sie ihren Vater auf keinen Fall enttäuschen. Allerdings entfremdete dieses permanente Hin und Her zwischen Familie, Schule und Freunden einerseits und Showbusiness andererseits sie zusehends von dem, was ihr wichtig war, nämlich ersteres. Ihr Vater managte sie prima, nur eben im Sinne ihrer Karriere, und finanziell gesehen war das für Victoria sehr einträglich. Die Gagen, die sie erhielt, waren nicht unerheblich, und nach einiger Zeit konnte sie auf ein kleines Vermögen blicken, welches ihr Vater gewinnbringend anzulegen wusste. So würde sie später ein sattes Polster auf dem Konto haben. Die Mutter hatte kaum Einfluss auf diese Situation, weil Victoria sich von klein auf immer schon an ihren Vater klemmte und in einer Art Leistungs-Gegenleistungssymbiose lebte.
In den folgenden Jahren hatte Victoria mehr oder weniger Erfolg beim Film. Nach der dritten Staffel der Serie wurde diese eingestellt, weil die Einschaltquoten doch nach und nach geringer wurden und damit auch das öffentliche Interesse an Victorias Person. Um die Eisen im Feuer zu halten, engagierte ihr Vater eifrig Werbeaufnahmen für sie, obwohl sie dazu überhaupt keine Lust hatte; aber wie trichterte Patrick ihr immer wieder ein: „Nicht alles im Leben macht Lust und Spaß.“ Sie merkte sehr bald, dass Freundschaften in diesem Metier sehr abhängig von Erfolg und Misserfolg waren. Ihr Vater war natürlich immer für sie da, doch je älter sie wurde, desto mehr avancierte die Vater-Tochter Beziehung zu einem geschäftlichen Verhältnis. Er war nun nämlich nicht mehr nur ihr Manager, sondern auch Teilhaber an Victorias mehr oder weniger vorhandenen Erfolgen, sei es in finanzieller Hinsicht, oder bezogen auf kundenorientierte Werbewirksamkeit. In der Schule wurde Victoria zwiespältig betrachtet, es gab keine richtigen Freunde, nur Fans, die sich mehr für ihre Merchandising-Identität als für sie selbst interessierten, denn ihr Leben passte so gar nicht mit dem Alltag der Klassenkameraden zusammen. Und so versuchte sie, die über Jahre gewachsene zwischenmenschliche Leere zu kompensieren, indem sie sich in allen möglichen Aktivitäten engagierte. Über die dort durchaus vorhandenen Erfolge in sportlichen und kulturellen Bereichen versuchte die mittlerweile 17jährige an Beliebtheit zu gewinnen. Aber Liebe gewann sie so nicht. Lies die Beliebtheit in ihren Augen nach, so musste schnell ein neuer Erfolg her. Es war wie eine Sucht: eine immerwährende Suche nach Liebe und Anerkennung. Damit verbunden war das ständige Hasten von Termin zu Termin, von der Tanzstunde zur Ballettaufführung, von Werbespots zum Musikunterricht. Victoria war immer unterwegs. Und je mehr sie unterwegs war, desto mehr entfremdete sie sich wieder von ihrem sozialen Umfeld. Die Art der Beziehung zu ihrem Vater verstärkte diesen Teufelskreislauf zusätzlich, weil er der einzige war, an den sie sich wenden konnte - und unbewusst nutzte er das wohl auch aus. Einzig in ihrem Hobby, dem Klavierspiel, fand sie Entspannung und zeitweise Ausgeglichenheit. Wenn Victoria spielte, und das tat sie sehr gut, vergaß sie die hektische Welt um sich herum.
Mit 18 Jahren war das Verhältnis zu ihrer Familie dann nicht mehr besonders gut. Victorias Mutter fand das, was ihre Tochter tat, nicht sehr zuträglich für sie. Ihre Brüder gingen ebenfalls ihre eigenen Wege in Ausbildung und Beruf. Beide studierten mittlerweile in London. Nur ihr Vater zeigte seinen Stolz auf seine Tochter, wo er nur konnte. Wenn sie mit ihm auf gesellschaftlichen Anlässen war, prahlte er, was das Zeug hielt; sie konnte es manchmal nicht mehr mit anhören. Allmählich begriff sie, dass sie in all den vergangenen Jahren vornehmlich Werkzeug für Patricks Reputation war. So begann sie immer mehr, eine Aversion gegen ihren Vater zu entwickeln. Dies äußerte sich in zunehmenden Konflikten. Immer öfter stritten sie. Victoria warf Patrick vor, ihr die Kindheit durch seine Ideen geraubt zu haben, und ihr Vater entgegnete, dass sie ohne seine Beziehungen nie so weit gekommen wäre wie jetzt, und dass sie nun hervorragende Voraussetzungen hätte für ihr Studium und ihren Beruf. Ohne das alles müsste sie sich genauso jämmerlich, wie er es nannte, durchschlagen wie ihre Brüder oder ehemaligen Klassenkameraden. „Lieber jämmerlich durchschlagen, als bezugs- und emotionslos die Karriereleiter hochzuklettern“, resümierte sie, worauf er ihr wieder Undankbarkeit vorwarf. So ging das eine lange Zeit weiter, bis Victoria ihre Ausbildung begann. Es war ein Musikstudium an einer Musikschule in Aberdeen. Obwohl die Schule in ihrem Wohnort lag, mietete sich Victoria ein kleines Zimmer. Sie hätte auch zu Hause wohnen können, aber die Konflikte in der Familie, vor allem mit ihrer Mutter, die ihre Karriere mit Argwohn betrachtete, hielten sie davon ab. Manchmal fragte sie sich, warum sie eigentlich so schlecht mit ihrer Mutter auskam. Eigentlich wollte diese sie ja nur vor den ausufernden Ideen ihres Vaters schützen; und eigentlich gab es vor allem deswegen immer Streitereien zwischen Victoria und Patrick. Und dennoch tat Victoria immer noch das, was Patrick wollte. Offensichtlich war gerade dies der heikle Punkt, den ihre Mutter ihr zum Vorwurf machte.
In ihrem Studium kam die junge Studentin schnell voran. Vor allem das Klavier war hier ihre große Leidenschaft. Sie machte gute Fortschritte und schloss die Ausbildung mit mehreren Instrumenten ab. Sie war so gut, dass sie gleich ein Stipendium an der Universität Toronto angeboten bekam. Der Sprung über den großen Teich faszinierte Victoria schon, obwohl das für sie bedeutet hätte, sich von ihrem Vater zu trennen, zumindest geographisch. Nach einigem Zögern aber entschloss sie sich, diesen Schritt zu gehen, ertappte sich jedoch dabei, wie sie im Stillen darüber nachdachte, ob ihr Vater das gut findet, und ob er sie dabei unterstützen würde, aber wie sagte gerade er immer zu ihr?: „So eine Chance bekommst du nicht wieder.“ Auch ihre Mutter hieß Victorias Entscheidung, nach Kanada zu gehen, für gut; wohl hauptsächlich deswegen, weil sie ihre Tochter dann endlich aus dem Einflussbereich des Vaters schwinden sah. Victoria würde so mehr ihre eigenen Ideen verfolgen können. Nach alledem fiel ihr der Abschied denn auch nicht sonderlich schwer.
In Toronto angekommen, bezog sie ein kleines Zimmer in einer Wohngemeinschaft, in welcher auch andere Musikstudenten lebten. Eigentlich war sie für solche Verhältnisse nicht zu haben, da sie gerne alleine für sich studierte und sich so besser auf ihre Arbeiten konzentrieren konnte. Aber die Tatsache, dass es für Musiker aufgrund befürchteter Geräuschentwicklungen im Hause nicht so viele Zimmerangebote gab, und weil in dieser Wohngemeinschaft ein Klavier vorhanden war, zog Victoria es vor, dort einzuziehen. Auch waren ihre Studienkollegen recht umgängliche Typen. Die zwei Studenten Fred und Marvin aus Toronto und eine weitere Studentin Sonia aus Deutschland wohnten nun mit Victoria zusammen. Das war eine gänzlich neue Erfahrung für sie. Zum ersten Mal getrennt vom Vater, völlig auf sich gestellt und in der Pflicht, sich mit anderen zu arrangieren, kam sich Victoria in ihrer neuen Umgebung recht unsicher vor. Ja, sie fühlte sich sogar etwas unbehaglich. Aber die Gruppe nahm sie sehr freundlich auf, und zu ihrem Erstaunen behandelten sie sie so wie ein gleichwertiges, aber nicht besonderes Mitglied ihrer Gemeinschaft. Das kannte Victoria aus ihrem früheren Leben, der Schauspielerei und aller damit verbundenen Aktivitäten nicht. Ihre neuen Kollegen zeigten ihr das Leben und die Organisation in der Wohngemeinschaft. Sie gliederte sich schnell ein. Insbesondere mit Fred und Sonia kam sie gut aus, da die beiden ebenfalls Klavier spielten. Unter der Woche sahen sich die Vier eigentlich recht selten, weil sie in unterschiedlichen Semestern waren und völlig verschiedene Terminpläne hatten. Waren die einen zuhause, so waren die anderen unterwegs und umgekehrt. Jeder lebte im Prinzip sein eigenes Studienleben, und man sah sich vor allen Dingen abends beim gemeinsamen Abendessen. Hier tauschten sie sich aus, bis danach auch wieder jeder so seinen persönlichen Dingen nachging; es war eben mehr eine reine Wohngemeinschaft als eine Freundschaftsgemeinschaft. Victoria störte das nicht allzu sehr. Nur die Wochenenden empfand sie doch als ziemlich einsam, denn Sonia verbrachte diese immer bei ihrem Freund in Toronto, und Marvin fuhr meistens zu seiner Familie in einen Vorort, so auch Fred, wenn auch er manchmal zum Lernen am Samstag noch in der Wohngemeinschaft blieb.
An solch einsamen Wochenenden ging Victoria oft lange spazieren. Sie fühlte sich dann wirklich alleine. Bei ihren weiten Wegen durch die Stadt dachte sie häufig über ihr bisheriges Leben nach und fragte sich, ob das wohl alles gewesen sei, wenn sie denn in ein bis zwei Jahren ihr Studium abgeschlossen haben sollte. Sie resümierte dann über ihre früheren Erfolge und den damit verbundenen Trubel in ihrem Leben. Was hatte sie jetzt noch davon mit ihren 22 Jahren, außer natürlich relativ viel Geld? Manchmal wollte sie ihre Eltern anrufen, aber sie tat es dann meistens doch nicht, weil sie auch nicht recht wusste, was sie immer Neues erzählen sollte. Ihre Brüder meldeten sich dann und wann bei ihr, um nach dem Rechten zu hören und zu berichten, was sie jetzt so machten. So erfuhr sie dann auch, dass Timothy als Lehrer arbeitete und sich verlobt hatte und Jonathan in die Kanzlei seines Vaters Patrick eingestiegen war. Letzterer meldete sich überhaupt nicht bei Victoria. Das empfand sie als besonders verletzend. Früher war er doch immer für sie da, aber sie ahnte nun, dass mit dem Verlust ihrer populären Funktion auch das Interesse ihres Vaters an ihr nachgelassen haben könnte, und dass er bei alledem eigentlich nicht vorwiegend ihr Wohl im Auge hatte, sondern nur seinen eigenen Erfolg. Auf Nachfrage bei ihrer Mutter, was denn mit Vater los sei, dass er sich kaum nach Victoria erkundige, bekam sie nur die lapidare Antwort, dass er eben schwer beschäftigt sei und auch den Rest der Familie, insbesondere Cora, mehr und mehr vernachlässige. „Er ist eben ein Erfolgsmensch; dennoch Kind, er liebt dich natürlich nach wie vor“, versicherte Cora ihr am Telefon. Solche unerfreulichen Gespräche machten Victoria nur noch mehr einsam. Und sie beschloss, den Kontakt nach Aberdeen zu ihrer Familie nicht unnötig zu forcieren. Im Innersten wusste sie, dass ihr Vater sie wirklich liebt, und er war ja auch immer gut zu ihr. Aber die Prioritäten, die er seinem Leben setzte, nämlich vor allem der Erfolg, standen der Vater-Tochter-Beziehung immer ein wenig im Weg. Deswegen hegte sie auch keinen Groll gegen ihn, aber enttäuscht war sie trotzdem.