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Zwischen Erntedank- und Reformationsfest erwartet man in der Heide einen ruhigen und sonnigen Herbstbeginn. Der "goldene" Oktober kommt jedoch anders als erwartet. Unter den Wurzeln einer alten Buche findet ein Landwirt einen kostbaren Goldschatz. Sein Jugendfreund nimmt ihm das Gold wieder ab und der 'Schatz im Acker' wird zum Objekt der Begierde. Eine turbulente und gefährliche Jagd beginnt. Jens Jahnke und seine Kollegin Elske begeben sich in einen Wettlauf mit einem kriminellen Familienclan. Hehlerei, Prostitution und ein Toter in der Milchkammer, es bleibt den beiden kaum ein Übel erpart. Begleiten Sie die Reporter nach Himmelstal, einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide, das es in sich hat.
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Seitenzahl: 319
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Hermann Brünjes
der Schatz im Acker
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog
Sonntag, 3. Oktober (Erntedank)
Montag, 4. Oktober
Dienstag, 5. Oktober
Mittwoch, 6. Oktober
Donnerstag, 7.10.
Freitag, 8.10.
Samstag, 9.10.
Sonntag, 10.10.
Montag, 11.10.
Dienstag, 12.10
Mittwoch, 13.10.
Donnerstag, 14.10.
Freitag, 15.10.
Samstag, 16.10.
Sonntag, 17.10.
Montag, 18. Oktober
Donnerstag, 21. Oktober
Samstag, 23. Oktober
Donnerstag, 28. Oktober
Epilog
Wichtigste Personen
Autor, Hinweise zum Buch und weitere Bücher
Impressum neobooks
Gewidmet
jenen Menschen in Dorf und Region,
die vom Schatz eines erfüllten Lebens träumen.
Möge Gott euch Augen und Herzen öffnen,
den Schatz eures Lebens zu entdecken und ihn zu heben.
Wo unser Schatz ist, dort ist auch unser Herz.
Danke.
1. Auflage 2021
Verlag: neobooks/epubli
Kontakt: [email protected]
Info: www.hermann-bruenjes.de
Foto Cover: Axel Hindemith © CC BY-SA 4.0
Umschlag, Texte: © Hermann Brünjes
Prolog
Der Kübelwagen macht es nicht mehr lange. Gut, dass es jetzt bergab geht. Erwin nimmt den Gang raus und lässt das kantige Fahrzeug im Leerlauf rollen.
»Die Karre gibt ihren Geist auf. Sie haben den Tank durchsiebt. Der Vergaser zieht Luft.«
Beim Verlassen der Stadt waren sie beschossen worden. Von wo, hatten weder der Fahrer Erwin, noch sein Chef Otto Telschow richtig begriffen. Die rechteckige Windschutzscheibe vor ihnen war in tausend Stücke zerborsten. Eine Kugel musste auch den Tank erwischt haben. Zum Glück hatten sie selbst nichts abgekriegt, abgesehen von einigen harmlosen Schnittwunden auf Telschows Stirn und an Erwins Händen. »Die Briten. Schneller als ich dachte!«, hatte sein Chef trocken bemerkt. »Wenn du den alten Waldweg Richtung Süden nimmst, können wir es schaffen.«
Bis hierher hatten sie es geschafft, wenn auch knapp. Bis Dahlenburg, wo Gauleiter Telschow ein Jagdhaus besitzt, war es allerdings noch weit, zumal sie wegen der englischen Truppen einen langen Umweg fahren mussten.
Am Ende der holprigen Kopfsteintrasse legt der junge Mann in Uniform wieder einen Gang ein. Stotternd aber stetig treibt der von Porsche konstruierte Motor sie vorwärts.
»Unverwüstlich dieser Typ 82.«
»Es wird uns nichts helfen. Wir finden ein anderes Fahrzeug oder gehen zu Fuß.«
Der Oberst macht sich nichts vor, hat er noch nie. Genau deshalb war er Gauleiter geworden und gewissermaßen nebenbei Chef der Reichsbank-Filiale von Lüneburg – was ihn jetzt reich machen wird. Wenn sie ihn nicht erwischen.
Auf beiden Seiten liegt Mischwald. Tannen, Eichen, Buchen und Birken. Deutscher Wald – in dem es bald von Tommys wimmeln wird. Das Donnern der Flak hört man selbst hier noch, über zwanzig Kilometer von der Salzstadt entfernt.
»Ohne diesen Krieg wäre heute ein wunderschöner Frühlingstag«, meint Erwin. »Die Sonne scheint und die zartgrünen Blätter der Buchen strotzen nur so vor Leben!«
Der Oberst hat keinen Sinn dafür. »Fahren Sie, Erwin. Wir haben es noch längst nicht geschafft.«
Der Wald lichtet sich. Einzelne graue Häuser tauchen auf. Hinter einer dicken Feldsteinmauer liegt ein herrschaftliches Gutshaus. Alte Eichen spenden Schatten. Das längliche Gebäude auf der anderen Straßenseite ist vermutlich die Unterkunft der Landarbeiter. Kein Mensch ist zu sehen. Aus dem Sandweg ist wieder eine mit Kopfsteinen befestigte Straße geworden. Dem Ottomotor scheint das gar nicht zu gefallen. Zweimal erschrickt sich Telschow, weil er meint, sie würden wieder beschossen.
»Fehlzündungen!«, kommentiert Erwin.
Kurz bevor es wieder bergan geht, rollt der Wagen aus. Ein Stottern, mehrere Startversuche. Es ist vorbei. In Sichtweite liegt ein Dorf. Man sieht einen Kirchturm. Links geht es eine flache Böschung hinunter in lichten Buchenwald. Weiter hinten beginnt ein Feld, noch unbestellt.
»Wir müssen zu Fuß weiter. Komm, Erwin, hilf mir ausladen. Die Säcke können wir nicht schleppen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als sie zu vergraben.«
Erwin nickt. Was immer in diesen Säcken Wertvolles ist, sein Chef wird es nach dem Krieg wieder ausgraben. Ihm soll es egal sein. Er hat seinen Anteil bereits bekommen, ein geradezu herrschaftliches Honorar. Zwei Sondergehälter.
Ein Klappspaten liegt wie üblich im Heck des Kübelwagens beim Werkzeug. Sie kämpfen sich etwa hundert Meter in den Wald hinein. Der Oberst zeigt auf eine Stelle in Sichtweite zum Acker. Erwin gräbt ein tiefes Loch zwischen den widerspenstigen Wurzeln einer Buche mit ausladender Krone.
Otto Telschow wuchtet die Säcke eigenhändig hinein. Erwin meint, ein leichtes Klirren zu hören. Er verschließt das Loch mit Erde und Steinen und tarnt es mit altem Laub.
»Ich komme wieder, verlass dich drauf!«
Es klingt, als gebe der Oberst sich selbst ein Versprechen.
Der letzte Glockenschlag klingt noch nach, da rollen mir Wogen von Posaunen- und Trompetenklang entgegen. Sie spülen mich in eine der letzten Stuhlreihen, aufgestellt im großen Festzelt auf dem Gelände des Tagungshauses.
»Wohl dem, der einzig schauet nach Jakobs Gott und Teil.« Der Mann hinter mir grölt das alte Kirchenlied, als sänge er »Atemlos« im Chor tausender Fans von Helene Fischer. Hier jedoch haben sich anlässlich des Erntedankfestes nur etwa hundertfünfzig Besucher eingefunden. Zwar ist das große Festzelt gut gefüllt, wegen der Pandemie sind die Stühle jedoch mit Abstand aufgestellt. Die Leute kommen aus mehreren Gemeinden der Region. Die Stimme hinter mir übertönt sie alle.
»Wer dem sich anvertrauet, der hat das beste Teil, das höchste Gut erlesen ...« Ich überlege, ob ich mir einen anderen Platz suche, einen ohne solche Lärmbelästigung.
Maren sitzt vorne. Sie singt im Chor. Jetzt, da auch Singen wieder staatlich erlaubt ist und die Vorschriften trotz steigender Ansteckungszahlen extrem reduziert wurden, können sich auch Chöre und Gruppen wieder treffen. »Ich lebe auf!«, hatte meine Liebste nach der ersten Probe des Singkreises gemeint. »Endlich kommt das Leben zurück!« Ich habe es ihr abgespürt. Nicht nur Maren, wir alle haben im Sommer neue Kraft getankt. Umso erschreckender hatte sich der Schatten einer vierten Corona-Welle über uns aufgebaut. Die Testpflicht und ein als »freiwillig« definierter Impfdruck erwischten viele unerwartet und mitten im Urlaub. Manche mussten in Quarantäne. Fehlendes Personal macht einigen Betrieben zu schaffen. Auch bei uns in der Redaktion muss die Arbeit auf weniger Schultern verteilt werden, weil Kollegen Kontakt mit Infizierten hatten und isoliert werden. Unser Gesundheitsamt versteht da keinen Spaß. Insgesamt jedoch läuft das Leben wieder halbwegs normal bei uns im Norden.
»... den schönsten Schatz geliebt!« Ich muss den Mann, der mich so gnadenlos beschallt, unbedingt sehen. Also drehe ich mich kurz um, grinse ihn freundlich an und nicke ihm zu.
Es ist Rübezahl. Bei unserer ersten Begegnung habe ich ihm wegen seines phänomenalen grauen Rauschebartes und seines geliebten Tirolerhutes mit Gamsbart diesen Spitznamen verpasst. Eigentlich heißt er Walter Hamburger und kommt aus einem Nachbardorf. Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen. Vielleicht war er krank. Jetzt jedenfalls strotzt er vor Kraft zum Lob Gottes. Ein Mann, der seinen Jesus liebt und von ihm redet, wo es nur geht. Ein Traditionalist und Rebell zugleich. Viele der regelmäßigen Kirchgänger um mich herum erlebe ich als bürgerlich angepasst, als schweigend in Glaubensdingen und zwar kirchlich, aber weniger lebendig glaubend geprägt. Bei Rübezahl ist das anders. Er nervt manchmal mit seinen Zwischenrufen und Bekenntnissen – aber jede und jeder nimmt ihm seine Begeisterung für Gott und Jesus sofort ab. »... den schönsten Schatz geliebt!« Das glaubt man ihm.
Die Bläser setzen sich. Einige pusten die Mundstücke ihrer Instrumente trocken. Pastor Werner tritt ans Rednerpult. Es ist inmitten einer prächtigen Blumen-, Obst- und Gemüsedekoration aufgestellt worden. Auch sein wallender schwarzer Talar kann nicht verbergen, dass der Pastor zugelegt hat. Sein Bäffchen sitzt schief. Seine Freundlichkeit und Ausstrahlung sind jedoch wie immer, stimmig und geradeheraus.
»Liebe Schwestern und Brüder aus den Gemeinden unserer Region, liebe Gäste, wir haben wahrlich allen Grund, dieses Erntedankfest zu feiern.«
Er schaut mehrmals in die Runde, sucht Blickkontakt und nickt uns zu. Man hat das Gefühl, persönlich begrüßt zu werden.
»Unser guter Gott hat uns reich beschenkt!« Er weist auf die Blumen und Früchte. »Ich meine auch diese Dinge, all das, was wächst und gedeiht. Ich meine aber viel mehr die Geschichte und die Geschichten unseres Lebens.«
Nun bin ich gespannt. Er wird ja vermutlich nicht die Predigt vorwegnehmen.
»Besonders der Monat Oktober kann für uns ein Zeichen der Güte und Zuwendung Gottes werden.« Ich bin gespannt, warum. »Heute feiern wir nicht nur Erntedank, sondern auch die Deutsche Einheit. Welch ein Geschenk! Wir finden natürlich viele politische Begründungen für den Mauerfall vor inzwischen unglaublichen zweiunddreißig Jahren. Für mich jedoch sind sie allesamt Hinweise auf Gottes unbegrenzte Möglichkeiten. Unser Gott hat unzählige Gebete erhört und handfest eingegriffen. Seiner Macht konnte niemand widerstehen und seine Güte hat Schwestern und Brüder wieder vereint!«
Pastor Werner nimmt einen Schluck Wasser aus dem Glas neben dem Rednerpult. »Der Oktober beginnt also mit dem Gedenken an eine Großtat des schenkenden, gütigen Gottes. Deutschland ist vereint – machen wir also etwas daraus! Und was feiern wir am Ende dieses segensreichen Monats?«
Neben mir sitzen zwei junge Männer, etwa sechzehn, also keine Konfirmanden mehr. Einer flüstert seinem Nachbarn auch für mich hörbar zu: »Den Weltspartag!« Ich muss grinsen. Ja, auch ein guter Kontostand ist so etwas wie eine reiche Ernte, von der man in Freuden leben kann.
Der Pastor beantwortet seine vermutlich eher rhetorisch gemeinte Frage selbst: »Wir feiern am 31. Oktober den Reformationstag. Wieder ein Freudenfest für Christen, jedenfalls für uns evangelische. Erntedank, Wiedervereinigung, Reformation – wenn wir die Tage dazwischen im Sinn dieser Ereignisse gestalten, wird der Oktober ganz gewiss ein Monat werden, der unser Leben reich und glücklich macht. In meiner Predigt wird es gleich genau darum gehen: Wie wird ein Leben reich und glücklich?«
Die Jugendlichen tuscheln wieder. Ich verstehe nur: »Der 31. Oktober, ist das nicht Halloween?« Sie lachen und ziehen Grimassen. Rübezahl stößt sie mit seinem Gehstock an und zeigt ein grimmiges Gesicht.
Ich will mich gerade auch über das Flüstern ärgern, freue mich dann aber. Die beiden haben aufmerksam zugehört. Was will man mehr! Eine Jugend, die zuhört, ist für Kirche und Glaube alles andere als verloren!
Der Gottesdienst gefällt allen, das spürt man. Die Gemeindelieder, der Chor, Posaunen, ein modernes Lied mit Gitarre – fast habe ich vergessen, wie sich ein ansprechender und schöner Gottesdienst anfühlt. Ich war noch nie ein richtiger Insider von Kirche, sondern bin erst vor wenigen Jahren dazugestoßen. Wäre ich nicht den Christen hier in Himmelstal begegnet und wären Maren und ich nicht ein Paar geworden – vermutlich säße ich heute weder hier noch würde ich verstehen, worum es geht. Auch jetzt ist mir manches noch ziemlich fremd. Trotzdem weiß ich jetzt, was mir in der Coronazeit gefehlt hat: Die Gemeinschaft mit Christen, das Singen von Lobliedern und gemeinsame Gebete.
Eine Frau und ein Mann treten ans Mikrofon. Ich kenne sie nur vom Sehen. Sie kommen aus einer Nachbargemeinde. Abwechselnd tragen sie zusammen, wofür sie danken. Woran ich eben dachte, ist auch dabei, aber ihre Liste ist gewissermaßen unendlich. Das Meckern, Problematisieren, Kritisieren und Nörgeln der letzten Monate hat in ihrem vorbereiteten Text nichts mehr zu suchen. Nur die Dankbarkeit. Es wird nicht verschwiegen, was belastet. Klimakrise, Flutkatastrophe, Kriege, Corona, Afghanistan, Flüchtlinge ... all das wird wahrgenommen. Aber in all dem entdecken die beiden den Gott an unserer Seite und formulieren einen großartigen »Psalm« der Dankbarkeit.
Ich muss nachher unbedingt fragen, ob ich den Text bekomme. Vielleicht kann ich ihn mal in einer Samstagsausgabe unterbringen. Wenn mein Chef Florian Heitmann sich im Kollegenkreis auch als Kirchen- und Religionshasser präsentiert – manchmal hat auch er lichte, emotionale Momente und lässt außer Fakten auch Deutungen und Interpretationen der Wirklichkeit zu.
Wie so oft in Gottesdiensten und wortlastigen Veranstaltungen macht sich mein Denken selbstständig. Zwar merke ich, dass inzwischen die Predigt »läuft«, aber ich bin mit meinen Gedanken immer wieder woanders.
Wofür habe ich zu danken? Für Maren, fällt mir zuerst ein, auch wenn wir oft in verschiedenen Welten leben. Für meinen Job, den ich als Berufung erlebe, auch wenn es manch ätzende Aufgabe gibt. Für ausreichend Einkommen, auch wenn ein Lottogewinn nicht schlecht wäre. Für das zarte Pflänzchen meines Glaubens, auch wenn Zweifel und gelegentlich schlechte Erfahrungen mit Kirche und Christen es manchmal kräftig durchschütteln. Für meine Nachbarn und Freunde im Dorf, auch wenn es immer wieder Zerwürfnisse gibt. Ja, ich habe viel, wofür ich danken und »Erntefest« feiern kann. Keine Kartoffeln, Äpfel oder Rüben, wie sie vorn am Altartisch liegen, aber manch gute Story und viele tolle Menschen und Erlebnisse, die ich niemals missen möchte. Auch wenn ...
Mir fällt plötzlich auf, dass ich immer wieder dieses »auch wenn« anfüge. Einfach nur danken fällt mir offenbar schwer. Immer wieder fehlt noch etwas an der Vollkommenheit meines Lebens. Ob das normal ist und allen anderen auch so geht? Ob Leben immer auch die Suche nach mehr Leben beinhaltet?
Pastor Werners Predigt ist überraschend kurz. Oder kommt mir das nur so vor, da ich dauernd in eigene Gedanken abdrifte? Er spricht von einem Schatz, den man nicht materiell und gegenständlich beschreiben kann, der aber doch sowohl über die eigene Zufriedenheit als auch über das Zusammenleben von Menschen entscheidet. Ob ich diesen Schatz gefunden habe? Maren nenne ich gelegentlich »Mein Schatz«. Wieder schweifen meine Gedanken in eine andere Richtung. An Maren denke ich ausgesprochen gerne. Sie bringt mich gewissermaßen immer wieder »auf Kurs«.
»Es ist eine Schande, dass wir als Christen immer noch nicht gemeinsam handeln oder zu selten.« Jetzt redet Pastor Werner von der Kirche und den trennenden Konfessionen. Ich denke an meine Erfahrungen mit Kirche ...
Ob ich jetzt sogar ein bisschen eingenickt bin? Zum Thema »Kirche« würde das aus Sicht mancher Zeitgenossen ja passen. Posaunenklang bringt mich zurück. Der Gottesdienst ist zu Ende.
Rübezahl streckt mir seine Faust entgegen. Ich ticke meine dagegen. »Jens, preist den Herrn! Wie schön, dass uns die Gnade einer neuen Begegnung zuteil wird.« Rübezahl ist nicht nur eines, er redet auch wie ein Original.
»Walter, ich freue mich auch, dich zu sehen!«
Wir unterhalten uns einen Moment. Wieder ist er schnell bei der immer gottloseren Welt. Ob Corona eine Strafe Gottes ist? Er geht davon aus. Aber wir müssen uns eben alle demütig darunter beugen ... So sehr ich Rübezahl seinen Glauben und seine Freude an Gott abnehme, so sehr ist mir seine negative Weltsicht doch mehr als suspekt.
Am Ausgang drückt uns Irene, eine treue und liebenswerte Kirchgängerin, zwei Zettel in die Hand. Einer ist die Einladung zu einem Seminar anlässlich des Reformationstages, der andere die Werbung für heute Abend. Die Deutsche Einheit soll bei uns in Himmelstal nicht nur im Gottesdienst, sondern den ganzen Tag über gefeiert werden. Gleich gibt es Erbsensuppe aus der Gulaschkanone der Freiwilligen Feuerwehr. Darauf freue ich mich schon. Für den Nachmittag hat das Team vom Kindergottesdienst ein buntes Programm für Kids vorbereitet. Maren engagiert sich da. Ich Oldie kann also ein kleines Nickerchen machen.
Zum Tanzabend mit den »Egerländer Heidjern« bin ich dann wieder fit. »Danz op de Deel« mit Bratwurst, Schnaps und Bier – für viele im Dorf ist das der Höhepunkt einer jeden Feier, und wenn schon Einheit, wo sonst sollte sie so intensiv und körperlich erlebt werden wie an der Theke und auf der Tanzfläche? Klar, dass Maren und ich nachher dabei sein werden! Ich nehme mir fest vor, heute Abend weniger zu trinken als etwa beim Maibaumpflanzen. Damals, am ersten Mai, begleitete meinen peinlichen Absturz dieselbe Band.
*
Mit einem Teller heißer Erbsensuppe auf dem Schoß sitzen Maren und ich auf einer Bank mit Blick auf Kirche und Wiese am Tagungshaus. Es ist wegen des Windes nicht besonders warm, aber die Sonne scheint. Ein »goldener Oktober« hat uns begrüßt. Kalte Nächte, sonnige Tage. Die Birken verlieren bereits ihre Blätter, das Grün der anderen Bäume verwandelt sich in gelb, rot und braun. Nur die Eichen trotzen noch dem herbstlichen Wandel.
Auf der Wiese wuseln Kinder herum. Sechs Jugendliche nutzen den Volleyballplatz und pritschen oder baggern einen hellroten Ball über das Netz. Familien belagern die aufgestellten Biertischgarnituren und löffeln wie wir ihre Suppe. Einige ältere Damen bilden einen Halbkreis, stützen sich auf ihre Gehhilfen und beobachten das Treiben vor sich. Es sind Bewohnerinnen der kleinen Seniorenresidenz in unserem Dorf. Fast jeden Tag spazieren sie mit ihren Rollatoren im Dorf herum.
Maren isst ihre Suppe und klönt nebenbei mit zwei Frauen vom Kindergottesdienstteam. Wegen des Nachmittags gibt es noch manches zu verabreden.
Ich beobachte die Menschen um mich herum. Das mache ich gerne, erzählen sie mir doch allein durch ihr Aussehen und Verhalten manch interessante Geschichte. Durch die lichten Büsche sehe ich viele PKW, abgestellt rund um die Kirche. Endlich mal wieder volle Parkplätze! An Sonntagen in Coronazeiten standen hier nur einzelne Autos, wenn überhaupt.
Am Haus gegenüber der Kirche hält ein hellgrauer Mercedes. Er fällt mir auf, weil ich selbst einmal eine solche Limousine der E-Klasse gefahren bin. Die Beifahrertür öffnet sich und ein Mann steigt aus. Er passt nicht richtig zum Publikum dieser kirchlichen Veranstaltung. Der etwa Dreißigjährige ist klein, drahtig und entweder sportlich oder militärisch durchtrainiert. Er trägt eine enge Jeans, ein offenes gelbes Hemd und eine schwarze Lederjacke.
Sich suchend umsehend kommt der Mann über die Straße auf das Gelände vom Tagungshaus. Jetzt bewegt er sich er in meine Richtung. Haare und Bart des Mannes wirken gepflegt. Er trägt eine goldene Kette um den Hals und eine Tätowierung auf beiden Handrücken. Es wirkt, als suche der Mann jemanden. Zweimal spricht er Gäste an. Beide schütteln mit dem Kopf.
Allerdings scheint sich der Mann nicht besonders wohl zu fühlen. Nach kurzer Zeit verschwindet er wieder in Richtung Mercedes. Er öffnet die Beifahrertür, spricht mit dem Fahrer, steigt ein und der Mercedes fährt davon. Ich überlege, ob ich die beiden Gäste, mit denen der Mann geredet hat, frage, worum es ging. Aber Maren stößt mich an.
»Jens, bringst du bitte die leeren Teller weg? Ich muss gleich zum Kinderprogramm.«
Klar doch. Besonders Journalisten kümmern sich ums schmutzige Geschirr der Gesellschaft! Ich sammle noch die Teller bei der Rollatortruppe ein und bringe den Stapel zur Küche. Dari, eine von zwei Auszubildenden, schaut zögernd aus der Tür, so als wolle sie nicht hinaus. Ich drücke ihr den Stapel Teller in die Hand und bedanke mich.
»Ihr macht einen echt guten Job!«, rufe ich ihr zu. Sie nickt und verschwindet in der Spülküche. Seltsam. Normalerweise ist Dari zwar still, wirkt dabei aber fröhlich und selbstbewusst. Nun jedoch scheint ihr etwas auf dem Herzen zu liegen – oder sie ist einfach nur müde und gestresst.
*
Inzwischen »boxt der Papst«, wie Enno es gerne ausdrückt. Enno ist Chef der Freiwilligen Feuerwehr von Himmelstal. Er löscht Brände. Heute geht es um einen besonders lebensbedrohlichen Brand. »Durst« nennen wir ihn. Gemeinsam gehen wir ans Werk: Enno Diekmann und Gerd Meyer von der Feuerwehr, unser Nachbar Gerald Tönnies, Sportwart Axel Kuhlmann, Tagungshausleiter Theo Beyer und ich, Jens Jahnke, Journalist und Reporter vom Käseblatt.
Ohne es zu wollen, hat sich dieser erlauchte Kreis Gleichgesinnter an einem runden Stehtisch vor der Theke eingefunden. Unsere Frauen sitzen mit anderen Frauen am Tisch und sprechen über ... na, ich vermute Kinder, Männer und Klamotten. Wobei das natürlich ein Klischee ist. Meine liebe Maren diskutiert auch gerne über alles, was mit Menschen, Beziehungen und Gesundheit zu tun hat – und was hat nicht damit zu tun? Bei uns in der Männerrunde geht es um Autos, die große Weltpolitik und, man staune, um die Kirche. Theo hatte soeben ganz nebenbei gemeint, dieser Tag mache ja deutlich, dass die Kirche mitten im Leben steht.
»Wir beten, wir sprechen über Lebensträume, es gibt gut zu Essen, wir kümmern uns um die Kinder, hören flotte Musik und jetzt wird gefeiert, bis der Morgen graut. Dieser Tag ist doch Beweis genug! Wir von der Kirche verstehen etwas vom Leben!« Theos blaue Augen strahlen. Der Mittvierziger reibt sich den Dreitagebart, schmunzelt und prostet uns zu.
Gerd brummt irgendetwas vor sich hin.
»Gerd, sag’s ruhig laut. Wir von der Kirche sind Kritik gewohnt. Selbst Jesus musste sich schon manches anhören.«
Der kurz vor der Rente stehende KfZ-Mechaniker lässt sich das nicht zweimal sagen.
»Mag sein, dass ihr hier irgendwie aus dem kirchlichen Rahmen fallt und anders seid. Aber schau doch deine Kirche mal kritisch an. Ihr predigt und fuchtelt mit dem moralischen Zeigefinger herum wie mit einem Schwert, aber die Aufarbeitung von Missbrauch verhindert ihr. Und die Pfarrer lassen den Gutmenschen heraushängen. Wie viel Geld unserer Kirchensteuern ihr in Aktienpakete, überflüssiges Personal und Gebäude steckt, statt den Armen zu helfen, will ich gar nicht wissen. Vom Papst mal ganz abgesehen ...«
Je länger er redet, desto mehr regt sich Feuerwehrmann Gerd auf. Er hat schon jetzt ein paar Brände zu viel gelöscht.
Theo kontert wie erwartet: »Du verwechselst da was. Wir hier sind nicht katholisch. Wir sind evangelisch. Seit der Reformation vor über fünfhundert Jahren gibt es bei uns keinen Papst und auch kein Zölibat.«
»Aber Missbrauch hat es in evangelischen Heimen und sogenannten Erziehungsanstalten auch gegeben.« Enno nimmt Gerd in Schutz. Feuerwehrkameraden halten eben zusammen. Wobei auch Theo in der Feuerwehr aktiv ist. Er hat sich sogar in diversen Fortbildungen besonders qualifiziert und wird von den Kameraden deshalb hochgeachtet.
»Stimmt«, gibt er nun zu, »auch bei uns passiert eine Menge Mist. Kirche ist eben immer auch eine Institution mit eigenen Regeln und starren Gewohnheiten. Aber Martin Luther hat uns damals doch auf eine andere Spur gesetzt.«
»Die Spur der großen Worte, Predigt und so. Das ‚Wort’ als Gottes scharfes Schwert. Ein Konfirmandenunterricht, wo man mehr auswendig lernen muss als während der gesamten Schulzeit, nein danke. Viel besser als die katholische ist die evangelische Kirche auch nicht!«
Ich staune, befasst sich doch Enno mit dem Thema Kirche offenbar heute nicht das erste Mal. Er weiß gut Bescheid und scheint sich sogar mit der Reformation auseinandergesetzt zu haben. Theos Argumentation muss er allerdings oft zustimmen. Der Leiter des Tagungshauses ist uns allen in theologischen Fragen überlegen.
»Wenn man die Reformation auf die Trennung von der katholischen Kirche reduziert, hat man sie nicht verstanden. Luther ging es zuerst um die innere Befreiung des Menschen und um unser Gottesbild. Erst als Konsequenz daraus hat er in seinen 95 Thesen Veränderungen in der Kirche gefordert.«
»Das mag ja stimmen. Trotzdem ist die Trennung der Konfessionen ein längst überholtes Relikt aus dem Mittelalter. Was damals unbedingt nötig war, macht heute aus meiner Sicht die Christen unglaubwürdig.« Enno lacht jetzt triumphierend. »Das hat doch unser Pastor vorhin auch gesagt! Und mal ehrlich, wenn sogar die deutsche Einheit möglich war und immer besser funktioniert, dann müssten wir Christen es mit der Einheit von Kirche doch auch langsam auf die Reihe kriegen!«
Wir werden unterbrochen. Maren zieht mich am Arm.
»Komm, Jens, wir wollen tanzen!«
Ich ignoriere die Vereinnahmung durch das »wir« und lasse mich auf die hölzerne Tanzfläche ziehen. Spätestens nach zwei Discofox bin ich raus aus dem Thema »Kirche«. Der zweite ist eigentlich ein Salsa, aber diesen flotten Tanz beherrsche ich nicht mehr. Maren meckert mit mir und erinnert mich an den Tanzkurs, den wir zu Beginn unserer Beziehung gemeinsam besucht haben. Schon damals war ich leider vor allem linksfüßig unterwegs. Wir haben keine Lust mehr und ersparen uns den Quickstepp, den die Band nun präsentiert.
Ach ja, die Band. Nicht nur der Name, auch die Typen passen zur Musik. Der Keyboarder mit Schlapphut und im Lodenmantel ist gekleidet wie ein Schäfer aus der Heide, der Gitarrist mit Tirolerhut und Lederhose wie ein bayrischer Jodelkönig und die Schlagzeugerin mit Heidekranz auf dem Kopf und einem böhmischen Trachtenkleid symbolisiert die Verbindung vom Egerland im tschechischen Grenzgebiet und Lüneburger Heide. »Egerländer Heidjer«, international in Sachen Schlager und Volksmusik aufgestellt, könnte man sagen.
Am Stehtisch schenkt mir Axel sofort einen Korn ein.
»Komm, Kumpel, stärke dich erst einmal. Hast eben einen etwas geschwächten Eindruck gemacht.«
Das Thema »Kirche« ist während meiner kurzen Abwesenheit ad acta gelegt worden. Nun geht es um das verheerende Hochwasser in West- und Süddeutschland. Niemand glaubt, dass so etwas auch hier bei uns in der Heide passieren kann.
»Allerdings könnten uns extrem lange und heiße Dürrephasen treffen, Starkregen kann viele Ackerflächen samt Getreide wegspülen und Tornados können ganze Dörfer und Städte zerstören. Also sagt nicht, bei uns kann nichts passieren!«
Enno hat damit sicher recht. Am Ende einer längeren Diskussion einigen wir uns darauf, dass es wohl doch am bereits erwärmten Klima liegt. Wir wollen auf weitere Bratwürste verzichten, lästern über Gerds SUV und meinen uralten Golf und kommen dann auf das Thema Photovoltaik, die Windräder, viel zu große gelbe Tonnen für Plastikmüll und völlig überflüssige Reisen nach Mallorca.
Die Tanzphase ist inzwischen vorbei, die »Egerländer Heidjer« machen immer längere Pausen und die Hälfte der Feiernden ist bereits gegangen. Gerade verhandeln wir das Thema Elektromobilität. Axel kann das Wort allerdings inzwischen nicht mehr richtig aussprechen. Er spricht, nein er lallt, deshalb etwas von »Stromautos« und »Stromkrise«. Er steht eben unter Strom.
Im Augenwinkel bemerke ich bereits etwas länger, dass ein junger Mann immer wieder zu unserem Tisch herüberschaut. Ich kenne ihn vom Sehen. Er arbeitet auf einem Gutshof ganz in der Nähe. Auch er hat inzwischen diverse Bier und Korn intus, scheint aber recht trinkfest zu sein. Zwei seiner Kumpels am Tisch grölen lautstark mit: »Ein Bett im Kornfeld ...« Vielleicht lieben besonders Landwirte diese Bierzelthymne.
Der Jungbauer indes steht still da. Irgendetwas blockiert ihn, in die Trinklieder seiner Freunde einzustimmen.
Überraschend taucht Maren plötzlich neben mir auf. Zeitgleich stößt Geralds Frau ihrem Mann in die Rippen.
»Männer, es ist Zeit. Wir gehen.«
An besagtem ersten Mai dieses Jahres haben wir Männer unseren Abgang zu genau diesem Zeitpunkt verpasst. Es gab später mächtig Ärger. Folglich habe zumindest ich beschlossen, es beim nächsten Mal besser zu machen. Nun ist das nächste Mal. Maren schmiegt sich an meine Schulter.
»Jens. Ich will nach Hause. Es ist fast ein Uhr.«
Ich nicke. »Nur noch eben das Bier austrinken.«
Sie bleibt neben mir stehen. Auch Gerald löscht seinen letzten Brand unter ehelicher Kontrolle. Wir verabschieden uns von den anderen.
»Aber ihr wollt doch noch nicht gehen? Wir haben ja gerade eben erst vorgeglüht!«, lallt Axel.
»Du hast gut Reden, Axel. Wer wie du als Single lebt, kann selbst entscheiden. Die beiden sind aber mit ihren Frauen hier. Da hat die Nacht ein Ende!«
Enno provoziert mit seinen angeblich mitfühlenden Worten natürlich ganz bewusst unseren Widerstand.
»Blödsinn!«, meint Gerald. »Auch wenn man verheiratet ist, bestimmt man über sich und seine Zeit immer noch selbst!«
Ich merke, worauf er hinauswill. Für einen Moment erwäge auch ich meine männliche Gegenwehr zur weiblich verordneten Nachtruhe. Dann jedoch setzt sich mein zweites Ego durch. Ich habe keine Lust auf tagelanges Schmollen und immer wieder diesen Abend aufs Brot geschmiert zu bekommen.
Also zieht Geralds Frau an dem einen und ich an seinem anderen Arm.
»Komm, Gerald, denk’ an den Fehler von damals!«
»Welchen Fehler? Ach so ...« Vermutlich meint er eher den Kater vom letzten Mal. Mehrfach versichert er unseren Kumpeln, dass er nur ungern mitgeht, aber beim nächsten Mal zu ihnen steht. Dann sind wir draußen vor dem Zelt.
»Jens Jahnke?«
Der junge Mann vom Nachbartisch ist uns nachgegangen. Er ist ein schlanker, braungebrannter Typ, dem man ansieht, dass er auch schwere Arbeit nicht scheut. Seine blonden Haare trägt er lang, gekleidet ist er mit schwarzer Jeans, hellblauem Hemd und einem dunklen Leinensakko. Ein sympathischer Bursche.
»Ja.« Ich bleibe stehen und bremse unseren Tross aus.
»Sie sind doch der Reporter?«
»Ja, aber im Moment gewissermaßen außer Dienst.«
»Ich hatte gehofft, Sie haben noch etwas Zeit für mich.«
»Und Sie sind ...?«
»Oh, sorry. Ich bin der Sohn vom alten Heimfeld. Sie wissen vielleicht, der Hof im Nachbardorf, der mit den Eichen und der Feldsteinmauer.«
»Darf ich vorstellen«, lallt Gerald mit übertrieben charmanter Handbewegung, »Fabian von Heimfeld.«
Die Einheimischen kennen sich natürlich.
Fabian nickt. »Ich würde Sie gerne unter vier Augen sprechen.« Ich spüre ihm ab, dass ihn diese Bitte viel Mut kostet. Vielleicht hat er den ganzen Abend gebraucht, sich diesen Mut anzutrinken.
»Warum wollen Sie mich sprechen?«
»Weil, weil mir etwas geschehen ist, was Sie vielleicht auch gerne wissen wollen.« Er stottert etwas.
Maren und die anderen beiden sind bereits einige Schritte weitergegangen. Ich spüre, dass ich diesen jungen Mann jetzt nicht einfach abwimmeln sollte – selbst wenn es später Ärger gibt. In betrunkenem Zustand mit ihm reden will ich allerdings auch nicht. Doch er hat mich neugierig gemacht.
»Also haben Sie etwas für die Zeitung?«
»Vielleicht. Vor allem brauche ich Ihre Hilfe. Sie sind doch der Journalist, der damals Oliver Bender geholfen hat, und dieser jungen jüdischen Mutter und Kerstin und Jonas?«
Der Mann hat ganz offensichtlich intensiv verfolgt, was ich in den letzten Jahren so getrieben habe. Trotzdem sind weder er noch ich heute Nacht in der Lage, sein Anliegen zu klären.
»Sie haben sich über mich informiert?«
»Die Geschichten kennt hier jeder. Da muss man sich nicht informieren. Aber meine Geschichte kennt noch niemand, jedenfalls niemand, der mir glaubt.«
Ich werde immer neugieriger.
»Worum geht es denn?«
Er will noch nicht heraus mit der Sprache.
»Nur wenn Sie sich Zeit nehmen, kann ich alles erzählen.«
Ich entscheide mich. Vernunft gegen Neugier.
»Okay. Ich besuche Sie morgen Vormittag gegen zehn Uhr. Dann reden wir über alles, versprochen! Ich komme – aber Sie sagen mir schon jetzt, worum es geht.«
Er überlegt einen Moment.
»Gut. Ich vertraue Ihnen. Um es kurz zu machen: Ich habe einen Schatz gefunden, zwei Säcke mit Gold.«
Mir verschlägt es die Sprache. Der Mann hat zu viel getrunken. Oder ich.
»Sie haben einen Goldschatz gefunden? Ein Scherz, oder?«
»Leider nicht. Der Schatz ist wieder weg. Ich bin einfach nur ein Idiot!«
Nun kommt mir dieser Fabian doch ein wenig betrunken vor. Schatz hin und Gold her – wir reden morgen darüber.
Noch vor sieben Uhr wache ich auf. Maren liegt leise schniefend neben mir und schläft. Ich schleiche mich aus Bett und Zimmer. Mein Kopf brummt zwar etwas, aber nach einem Kaffee aus der Maschine wird es schnell besser.
Ich will Maren nicht wecken und setze mich in mein Kellerbüro an den Computer. Das Arbeitszimmer habe ich von Oliver, Marens verstorbenem Ehemann, übernommen. Es ist groß, ruhig und mit Schreibtisch, Bücherregalen und Sitzecke samt Fernseher ausgestattet. So habe ich einen prima Arbeitsplatz, aber auch einen hervorragenden Rückzugsort gefunden.
Dieser Fabian von Heimfeld spukt durch meinen Kopf, genauer der Schatz, von dem er sprach. Gefunden und wieder weg. Er meint, er sei ein Idiot. Das klingt entweder nach riesigem Blödsinn oder nach einer sauguten Geschichte.
Ich google den Namen. Es gibt ein paar Bilder vom alten Gutshof und Trecker bei der Feldarbeit. Auf einem Foto steht Fabian neben einem älteren Herrn, vermutlich seinem Vater. Ansonsten finde ich nur die üblichen Adressendaten.
Definitiv spannender wird es, als ich »Schatzfunde« eingebe. Ich finde eine lange Liste wertvoller Funde. Der Wert bezieht sich meistens auf die archäologische Bedeutung. Die Funde geben den Experten Aufschluss über Leben und Situation vergangener Zeiten. Ob es um die berühmte Himmelsscheibe geht, 1999 bei Nebra gefunden, oder um den Goldschatz »Hort von Gessel«, der fast zwei Kilogramm Goldschmuck enthielt – immer übersteigt der archäologische Erkenntniswert den des reinen Material- oder Verkaufswertes.
Manchmal bekam man durch Untersuchung des Materials Hinweise zu Handelswegen, Lebensgewohnheiten, Wissenschaften und politischen Verhältnissen. Bis in die Bronzezeit hinein reichen die Funde.
Bizarre Geschichten sind oft damit verbunden.
Die Himmelsscheibe etwa wurde von Sondengängern gefunden. Die haben sie verkauft und das bronzene Zeugnis mittelalterlicher Astrologie wurde mehrfach von Hehlern zu Geld gemacht, bevor es endlich konfisziert werden konnte. »Raubgrabung« nennt man so etwas, wann immer eine Schatzsuche ohne behördliche Genehmigung und Meldung geschieht. Oft sind es Sondengänger, die mit ihren Metalldetektoren durch Feld und Wald streifen und nach wertvollem Metall suchen. Ich bin gespannt, ob Florian auch dazugehört.
Auch in unserer Region wurden bereits diverse Schätze gefunden. Fast jedes Jahr berichten wir in unserer Zeitung darüber. Meist waren es einzelne Fundstücke, darunter Münzen und Schmuck aus Bronze, Silber oder selten auch Gold.
Besonders herausragend war ein Goldfund in Oedeme, einem Ortsteil von Lüneburg. Man hat dort einen urzeitlichen Grabhügel vermutet und den Sondengänger Florian Bautsch beauftragt, das Areal vor der Ausgrabung zu prüfen. In einer sonderbaren Bodenmulde fand er im Herbst 2014 einzelne Goldmünzen. Die Archäologen machten sich an die Arbeit. Am Ende wurden insgesamt 217 Goldmünzen sichergestellt. Der Materialwert des Goldes betrug zwar »nur« 45.000 Euro, der Erkenntniswert allerdings war unbezahlbar. Der Schatz war eine Hinterlassenschaft der Nazis. Vermutlich auf der Flucht vor dem siegreichen Feind wurde das Gold bei Kriegsende versteckt, von wem ist nicht bekannt. Die Herkunft der Münzen bewies die Vernetzungen der Deutschen Reichsbank in ganz Europa und darüber hinaus.
Im Nebenraum rumort es. Maren steckt Wäsche in den Trockner. Es ist Zeit, meine Recherche abzubrechen.
Eine halbe Stunde später sitzen wir gemeinsam am Frühstückstisch. Maren trägt noch ihr baumwollenes Nachthemd, die kastanienbraunen Haare offen und eine Mütze Müdigkeit im Gesicht. In diesem Zustand macht es keinen Sinn, ihr von Fabian von Heimfelds Schatzfund zu erzählen oder gar ein Gespräch über Schätze in der Heide zu beginnen. Ich bin gerade am Morgen fit und gesprächig.
Maren braucht außer einer Tasse Kaffee vor allem Ruhe, um Kraft für den Tag zu tanken. Sie »Morgenmuffel« zu nennen, ginge allerdings zu weit, manchmal singt sie morgens sogar.
Ich frage sie also nur kurz nach Fabian von Heimfeld.
»Du meinst den jungen Mann von gestern Abend?«
»Ja, der mich zum Schluss noch aufgehalten hat.«
»Gut, dass du trotzdem mitgekommen bist! Ich hatte schon Angst, du bleibst am Ende wieder an der Theke hängen.«
Ich schmolle. »Ich doch nicht!«
»Nee, du natürlich nie!« Sie schmunzelt. »Das also war von Heimfeld Junior. Ich kenne seine Mutter. Sie ist Mitglied im Singkreis. Sehr nette Frau! Was wollte er denn?«
Nun siegt ihre Neugier über die Morgenschläfrigkeit. Trotzdem werde ich ihr lange Diskussionen über Schätze ersparen, zumal ich dazu im Moment selbst keine Lust habe.
»Das hat er mir nicht genau gesagt. Wir haben uns für heute Vormittag verabredet.«
»Na, da bin ich aber gespannt. Wenn du rechtzeitig zurückkommst, kannst du es mir ja noch erzählen.«
Maren hat diese Woche Spätschicht, ist also von zwei bis zehn Uhr im Krankenhaus.
»Gerne, mein Schatz! Nur so viel hat dieser Fabian verraten: Es geht um einen Schatz, den er hatte und nun wieder nicht!«
Ich kann also meinen Mund doch nicht halten. Wie immer drängt es mich, die Dinge auszusprechen. Maren lacht.
»Na, das kann ja alles sein! Vielleicht hat er sich verliebt und sein Schatz hat ihn sitzen lassen. Oder er hat seine Briefmarkensammlung verloren oder seine kostbaren Kindheitsfotos sind verbrannt.«
»Er hat von zwei Säcken mit Gold gesprochen.«
Maren schaut mich an, als ob mir die Sicherung fehlt.
»Zwei Säcke Gold? Ihr wart gestern Abend ja echt gut drauf. Warum nicht gleich der Schatz im Silbersee?«
»Maren, ohne Quatsch! Ich war zwar angetrunken, konnte aber noch gut hören und mitdenken. Zwei Säcke Gold hatte er zunächst gefunden und nun sind sie wieder weg, hat Fabian gesagt – und dass er ein Idiot sei.«
Wenn sich der Zweifel ein Gesicht suchen wollte, würde er Marens auswählen. »Das Letzte mag ja stimmen. Ich kenne diesen Fabian nicht und weiß nicht, ob er ein Idiot ist. Das mit dem Gold klingt aber ziemlich idiotisch und wie ein Kindermärchen oder eben Karl May.«
»Ich habe nachgelesen. So abgedreht ist das gar nicht. Man hat auch in dieser Gegend immer wieder Schätze gefunden.«
»Einzelne Münzen vielleicht. Aber doch keine Säcke mit Gold. Von einem Bankraub habe ich auch nichts gehört. Wo also sollte so etwas herkommen?«
»Keine Ahnung. Erst 2014 hat man in Lüneburg einen beachtlichen Goldschatz gefunden. Der kam von den Nazis, die ihn kurz vor Kriegsende verbuddelt haben, damit er den Briten nicht in die Hände fällt.«
»Ich erinnere mich. Raubkunst, Nazigold ... eingeschmolzene Schmuckstücke aus den Konzentrationslagern und so etwas. Ja, das gab und gibt es sicher in Österreich, der Schweiz und dort, wo Tunnel, Stollen und Höhlen als Verstecke genutzt wurden, aber hier bei uns?«
Nun ist Maren wach. Der Kaffee und ein Müsli mögen auch dazu beigetragen haben, vor allem jedoch das Thema. Allemal wenn meine Liebste ein bisschen psychologisieren darf, ist ihre Müdigkeit schnell vorbei. So auch jetzt.
»Schatz! Welch eine Metapher! Sie steht für die großen, unerfüllten Träume von uns Menschen. Der Treffer des Lebens, der Lottogewinn, der Traumprinz, der reiche Erbonkel in Amerika, die einzig wahre Chance ... wir fallen doch immer wieder auf so etwas herein. Schatzsuche, Schatzgräber, Piratenschatz ... davon haben wir bereits als Kinder geträumt.«
»Das stimmt. Aber immer wieder hört man von Träumen, die in Erfüllung gehen. Auch ich habe ja meinen ‚Schatz’ gefunden. Dich!«
Sie tätschelt meine Wange und gibt mir einen Kuss.
»Zum Glück! Auch in der Bibel ist vom Schatz die Rede. Jesus beschrieb das Reich Gottes als ‚Schatz im Acker’. Er hat die Menschen und sich selbst gut beobachtet. ‚Wo dein Schatz ist, dort ist auch dein Herz’ hat er einmal mit Blick auf die Vergötterung des Reichtums gesagt.«
»Siehst du. Es geht also um ein zentrales Thema. Es geht um die Frage, was uns besonders wertvoll ist, worauf wir auf keinen Fall verzichten wollen und woran wir unser Herz hängen! Sag’ also nicht, die Sache mit dem ‚Schatz’ ist nur ein Kindertraum oder ein Märchen.«
Maren lacht und beginnt, den Frühstückstisch abzuräumen.
»Jens, du findest auch immer wieder ein Argument für deine Sicht der Dinge. Natürlich lieben wir alle unsere Schätze und es gibt sie gelegentlich auch, sowohl materiell als auch ideell. Aber zwei Säcke Gold bei einem Himmelstaler Bauern halte ich doch für reichlich fragwürdig – zumal die ja auch wieder weg sind.«
Ich stelle das Geschirr in die Spülmaschine. Maren wischt den Tisch ab und signalisiert so, dass dieses Thema für sie zuerst einmal beendet ist.
»Okay«, ich habe gern das letzte Wort, »ich treffe diesen Fabian gleich und kann dir dann ja berichten.«
*
Ich muss heute noch einen Artikel über die gestrige Veranstaltung schreiben. Die Kombination Erntedankfest und Tag der Deutschen Einheit finde ich interessant, und was die Verantwortlichen in Himmelstal daraus gemacht haben prima. Hier wurde ja gewissermaßen Einheit praktiziert: Kirche, Sportverein und Feuerwehr haben den Festtag gemeinsam gestaltet. Ich ziehe mich für eine knappe Stunde in mein Arbeitszimmer zurück und mache mir Notizen.
Die Fotos von meiner Canon sind gut geworden. Dem Artikel werde ich ein Bild vom Gottesdienst und eines vom Tanzabend beifügen.