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Ein Schäfer mit Hut, Stab, Hund und Schnuckenherde. Der Schützenverein, Naturliebhaber und Dorfidylle. Die Lüneburger Heide wie aus dem Bilderbuch. Jens Jahnke, Reporter beim Kreisblatt, schaut hinter die Kulissen. Vier tote Wölfe, streng geschützt und doch erschossen. Naturschützer und Weidetierhalter bekriegen einander bis aufs Blut. Der Umgang mit dem Wolf entscheidet über Wahlen, Karrieren und zuletzt über Tod und Leben. Jens Jahnke soll eigentlich nur einen Artikel über Himmelfahrt schreiben, ein christliches Fest, das niemand mehr versteht. Er gerät in ein tödliches Spiel um Macht und Kontrolle. Begleiten Sie den Reporter nach Himmelstal, einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide, das es in sich hat.
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Seitenzahl: 318
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Hermann Brünjes
Eine Frage der Macht
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog
Mittwoch, 4. Mai
Donnerstag, 5. Mai
Freitag, 6. Mai
Samstag, 7. Mai
Sonntag, 8. Mai (Muttertag)
Montag, 9. Mai (Europatag)
Dienstag, 10. Mai
Mittwoch, 11.Mai
Donnerstag, 12. Mai
Freitag, 13. Mai
Samstag, 14. Mai
Sonntag, 15. Mai
Montag, 16. Mai
Dienstag, 17. Mai
Mittwoch, 18. Mai
Epilog
Wichtigste Personen
Autor, Hinweise zum Buch und weitere Bücher
Impressum neobooks
Eine Frage der Macht
Ein Jens Jahnke-Krimi
von Hermann Brünjes
Gewidmet
jenen Menschen in Dorf und Region,
die nach Wegen und Lösungen suchen,
um mit Wölfen und Schafen,
aber auch in Parteien, Kommunen, Kirchen und Familien
den Lebensraum zu teilen.
Ihr seid mir Inspiration und Freude.
Danke.
1. Auflage 2021
Verlag: neobooks/epubli
Kontakt: [email protected]
Info: www.hermann-bruenjes.de
Umschlag, Texte: © Hermann Brünjes
Prolog
Was sein muss, muss sein.
Er spürt, wie sich von seiner feuchten Stirn eine Schweißperle löst und vorbei am rechten Augenlid über den Abzugsfinger gleitet. Er hält die Luft an. Jetzt nur nicht bewegen und kein Geräusch!
Drüben an der Eiche bewegt sich etwas.
Jetzt ist es wieder still. Sein Gegner lauscht vermutlich wie er selbst ins Dämmerlicht des Waldes, ist misstrauisch und wittert die Gefahr.
Eine Mücke summt um sein Ohr. Blödes Vieh. Nicht ausgerechnet jetzt! Jetzt geht es um Alles oder Nichts. Dieser Schuss muss sitzen. Er oder ich – einen Kompromiss wird es nicht geben.
Das Gewehr liegt sicher auf. Gern hätte er ein größeres Kaliber benutzt, etwa eine Mauser oder seine geliebte R8. Aber so passt es besser. Er hat sich gut vorbereitet. Der Hochsitz schützt ihn vor Enttarnung. Unbeweglich visiert er das Etwas neben der Eiche an. Sobald er freies Schussfeld hat, wird er ohne Skrupel abdrücken. Wenn er leben und in diesem großartigen Land auch in Zukunft frei atmen will, muss sterben, was sich dort drüben bewegt.
Das gehobelte Holz, auf dem sein Arm liegt, duftet nach Harz und Kiefer. Wie versteinert starrt er suchend durch das Zielfernrohr. Es hat geregnet. Leichter Dunst steigt auf. Aber das Licht reicht für einen guten Schuss. Das Objektiv von Zeiss ist enorm lichtstark. Der Jäger wird zum Gejagten.
Da! Wieder hat sich etwas bewegt. Er steht noch dort, genau neben dem Stamm der Eiche. Jäger, ob Tier oder Mensch, sind vorsichtig. Zu Recht!
Er braucht Geduld. Dieses Wild ist schlau und gefährlicher als alles, was er je im Visier hatte.
Jetzt scheint er in Adrenalin zu baden. Nicht nur Hände und Arme an der Waffe oder sein Auge sind angespannt wie ein Bogen kurz vor dem Loslassen des tödlichen Pfeils. Sein ganzer Körper fühlt sich an wie unter Strom.
Wann endlich tritt er aus der Deckung?
Die Mücke nervt weiter. Er ist versucht, sie zu erschlagen. Stichst du mich, so stirbst du! Er muss innerlich schmunzeln. Ja, genauso sehe ich das!
Aber er hat sich unter Kontrolle. Er wird sich diesen Schuss nicht nehmen lassen. Auch diesmal wird er treffen und töten. »Homo homini lupus«, der Mensch ist des Menschen Wolf, hat Thomas Hobbes zum Umgang zwischen Staaten und Menschen gesagt und dabei ein altes römisches Zitat benutzt. Dass er sich gerade jetzt an seinen politischen Unterricht erinnert, ist schon seltsam. Doch es stimmt. Auch er ist ein Wolf.
Wie lange brauchst du denn noch, um diese blöde Deckung zu verlassen? Im Anschluss habe ich noch viel zu erledigen. Ich kann nicht ewig hier hocken. Er spürt seinen linken Arm, auf dem der Schaft des Gewehres ruht, kaum noch. Aber er wird durchhalten. Das weiß er. Seine Ausbildung hat sich gelohnt, auch die Zeit bei der Bundeswehr und dann die vielen Schießübungen. Er ist ein Profi.
Jäh werden seine Gedanken unterbrochen. Wie aus einem Reflex wird er ruhig, sein Gehirn macht Pause und sein Finger wird eins mit dem kleinen stählernen Abzug.
Dann knallt es.
Gleich darauf noch einmal.
Jeder Knall scheint gegen seine Schulter zu schlagen. Als würde die leichte Waffe ihn freundschaftlich boxen.
Und dann entspannt er sich. Was er sieht, macht ihn vielleicht nicht glücklich, aber zufrieden.
Der Wolf, der ihn bedroht, ist tot.
Seine wurstigen Finger fuchteln vor unseren Nasen herum. Florian ist unübersehbar sauer.
»Und ihr? Ihr säuselt Süßholz, streckt eure blassen Gesichter in die Maisonne und verpasst völlig den Anschluss ans wahre Leben!«
Florian Heitmann ist unser Chef. Er hebt den Daumen und er senkt ihn. Jetzt sind beide unten. Aus seiner Sicht hat das ganze Team versagt. Die Lüneburger Zeitung war schon wieder mal schneller.
»Wie kommen die an ihre Fotos und ihr wisst noch nicht mal, wie man Wolf buchstabiert? Wo seid ihr, wenn was passiert? Jens, ja, dich meine ich vor allem. Warst mal auf Zack. Bist vielleicht doch langsam zu alt. Jetzt laufen wir der Konkurrenz hinterher!«
Was soll ich sagen? Ich war tatsächlich mal jünger.
Vor uns liegt die aktuelle Ausgabe der Lüneburger Zeitung. »Der 4. Abschuss!« titelt sie stolz und darunter steht: »Wolfssterben im Süsing.« Ich frage mich wie alle am Tisch, wie die Kollegen der Nachbarstadt an diese Fotos kommen und an die Infos dazu. Vermutlich sind sie einfach besser in die Förster- und Jägerszene vernetzt als wir. Ärgerlich ist nur, dass die Fundorte der illegal geschossenen Wölfe allesamt in unserem Landkreis liegen.
Mein Online-Kollege, der sonst auf alles eine Antwort hat, Sportredakteur Steini, der immer mitredet, auch ohne dass er etwas weiß, die zwei jungen und noch unerfahrenen Regionalredakteure und auch ich als gewissermaßen Reporter-Urgestein der Kreiszeitung senken unsere Blicke wie Schüler, die von ihrem Lehrer der völligen Ahnungslosigkeit überführt wurden.
Nur unsere hübsche Kollegin aus Ostfriesland versucht eine Erklärung. Sie hat echt Mut, die hübsche Blonde aus dem Norden.
»Chef. Die haben vermutlich bessere Kontakte als wir.«
Elske schaut mit ihren funkelnden blauen Augen sogar ein bisschen frech ins zornrote Gesicht unseres Vorgesetzten. Und sie setzt noch eins drauf.
»Und, Chef, mach mal halblang. Vielleicht müssen die Kollegen dort auch nicht zu jedem Feuerwehr- oder Schützentreffen, müssen sich die Abende nicht in langweiligen Sitzungen oder immer ähnlichen Konzerten vertreiben und auch nicht hundertmal ihre Abrechnungen nach unten korrigieren!«
Der Hammer, was sie sich traut! Unsere Blicke richten sich zaghaft auf das Gesicht unseres Chefs. So mit ihm zu reden, traut sich nur Elske, unser überaus charmantes »Küken«!
Florian Heitmann starrt sie an. Man sieht es in ihm arbeiten. Über den dichten Augenbraunen pulsieren die Adern. Seine fleischigen Hände liegen wie eingefroren auf dem Tisch. Er erinnert mich an einen Feuerwerkskörper vom Vorjahr. Gerade entzündet, wartet man gespannt darauf, ob und wann er explodiert.
Doch genau das passiert nicht.
Florian entspannt sich plötzlich. Er nickt Elske versöhnlich zu und lehnt sich zurück.
»Elske, du hast natürlich recht. Über die Sache mit den Aufträgen reden wir später – aber du hast recht mit der Vernetzung der Konkurrenz. Wir sind stark in Sachen Vereine und Veranstaltungen. Die sind stark, was die Vernetzung in Berufsgruppen und so was angeht. Kein Wunder. Ihre Redaktion ist ja auch mehr als doppelt so groß als unsere.«
Wir alle atmen auf. Man kann unseren Chef als cholerisch bezeichnen, ihn für unfair halten oder auch seine Leitungsqualitäten anzweifeln, für eine positive Überraschung ist er jedoch immer gut! Und nun kann die wöchentliche Sitzung sogar noch konstruktiv werden. Genau genommen hat der Chef ja sogar recht. Wir haben in Sachen »Wolf« den Anschluss verpasst. Nach vielen Berichten über tote Schafe auf der Weide, Demos der Weidebesitzer und hunderten zum Teil extrem bissigen Leserbriefen ist uns der Stoff während der letzten Wochen schlicht ausgegangen. Die Nachbarn im Norden waren, was diese illegalen Abschüsse der letzten Monate angeht, wirklich schneller. Sie haben offenbar auch gute Kontakte zur Polizei. Die Kripo ermittelt. Wolfsberater und Experten analysieren die Kadaver. Man versucht, so gut es geht, Spuren der Wilderer zu finden... alles bisher umsonst. Aber auch wenn etwas umsonst ist, kann man fast täglich darüber berichten.
»Wir sortieren also mal, was für den Mai noch so anliegt.«
Florian Heitmann ist wieder bei der Sache. Was er besonders gut kann, außer die Zeitung leiten und in Politik, Verbänden und bei Anzeigenkunden gut Wetter zu machen, ist das Delegieren von Arbeit. Manche finden das doof, ich finde es prima. Was sonst ist die Aufgabe eines guten Chefredakteurs und Leiters? Er oder sie soll den Laden inhaltlich und wirtschaftlich am Laufen halten, ihn nach außen vertreten und sein Team motivieren und es machen lassen.
»Wir haben neben den Veranstaltungen vor allem drei Themen: Den Wahlkampf und das ganze Machtgerangel um die Herrschaft im Land einschließlich des Europatages am Neunten. Den Wolf. Und Muttertag am Achten.«
»Den Volkslauf Anfang Juni müssen wir auch schon in Blick nehmen. Da hängt viel Arbeit dran!« Was Steini unter »viel« Arbeit versteht, ist allerdings unklar. Meistens wirkt der Sportkollege ziemlich entspannt.
»Richtig, Kollege Stein. Das ist natürlich einzig deine Sache! Jetzt, wo diese Coronakacke endlich vorbei ist, kann auch dein Sportlerherz wieder unbeschwert schlagen!«
Florian lacht und wendet sich an die beiden jungen Kollegen ihm gegenüber am Tisch. »Und ihr zwei, ihr übernehmt die kulturellen, kirchlichen und sonstigen Veranstaltungen in eurer Region. Ihr könnt da gerne noch freie Mitarbeiter einspannen.«
Die beiden Regionalredakteure lachen nicht, nicken aber. Florian visiert nun Elske und mich an.
»Und ihr? Klar, ihr macht den Rest. Ihr kümmert euch um die aktuellen Themen.«
Elske runzelt die Stirn.
»Was heißt das denn, Chef? Ich bin eigentlich Öffentlichkeitsbeauftragte und Pressesprecherin dieser Zeitung, aber doch nicht Reporterin oder Redakteurin.«
Florian Heitmann wedelt wieder mit den Fingern.
»Und wenn, Kollegin. Du bist einfach zu gut fürs Büro. Und einer muss ja unserem lieben Jens auf die Finger schauen!«
Damit meint er mich. Was mich nicht stört, ist doch mein Verhältnis zu Elske hervorragend. Mit ihr im Team macht die Arbeit doppelt Spaß. Ihr scheint es ähnlich zu gehen.
»Okay, Chef, dann arbeite ich also ab sofort mit Jens zusammen. An was denkst du?«
Dass ich nicht zu Wort komme, macht mir nichts aus – jedenfalls nicht, solange alles in meinem Sinn läuft.
»Ihr macht die Berichterstattung über den Europatag und alles, was mit den Wahlen zusammenhängt.«
»Okay. Sollen wir auch Interviews machen? Mit den Kandidaten und so...?«
»Klar. Was ihr wollt, Hauptsache, ihr kitzelt denen ihre wahren Motive und Absichten raus. Was wollen sie wirklich? Warum greifen sie tatsächlich nach der Macht und streben auf Deubel komm raus einen politischen Schleudersitzjob an?« Florian lacht jetzt schelmisch. »Ihr müsst keine Skandale aufdecken, dürft es aber natürlich gerne, wenn es sich ergibt!«
Typisch Florian. Er war vor seiner Zeit bei der Kreiszeitung Redakteur der BILD in Hamburg. Es ist uns bis heute nicht gelungen, unserem Chef gewisse Tendenzen der Boulevardpresse auszutreiben.
Ich habe noch ein Anliegen, weiß jedoch nicht, wie ich es vorbringe. Schade, dass ich darüber nicht schon vor der Sitzung mit Elske gesprochen habe. Sie hätte es vermutlich besser als ich einbringen können. Aber okay, ich hoffe, es gelingt mir, mein Anliegen vorsichtig zu formulieren.
»Chef, im Mai gibt es wieder einen kirchlichen Feiertag!«
Es war wohl doch nicht vorsichtig genug.
Er runzelt skeptisch die buschigen Augenbraunen. Allein das Wort »kirchlich« ist für meinen Chef ein Reizwort. Wie ich vor Jahren während eines feuchtfröhlichen Betriebsfestes herausbekommen habe, hat Florian Heitmann vor seiner Journalistenkarriere ein paar Semester Theologie studiert. Dann gab es einen Bruch in seiner Biografie. Die Hintergründe dazu kennt vermutlich nur er selbst. Seitdem stänkert er herum, wann immer es um Kirche, Glauben und Theologie geht. War also doch nicht so schlau mit dem »kirchlich«.
»Jens, das muss doch nun nicht auch noch sein! Weihnachten, Ostern und Pfingsten hast du nun durch – und nun auch noch Himmelfahrt?«
Ich wusste es. Florian weiß genau, welche Feiertage im Kirchenjahr wann dran sind.
»Ja, warum denn nicht? Meine vorigen Reportagen waren für unsere Zeitung doch recht erfolgreich, oder?«
Elske nickt aufmunternd und auch die anderen am Tisch scheinen dieser Meinung zu sein. Und wirklich, meine über die letzten Jahre verteilten Reportagen über die kirchlichen Feste passten jeweils supergut zu den Themen der Zeit, waren hochaktuell und brachten teilweise sogar sensationelle Auflagen. Es waren wohl die besten und aufregendsten Recherchen, die ich je gemacht habe.
Daran erinnert sich nun vermutlich auch der Chef.
»Okay, Jens. Ich gebe zu, dass du ein gewisses Talent hast, aus kirchlichen Festen Skandale und Kriminalgeschichten zu generieren. Bei Himmelfahrt allerdings weiß ich nicht, wie das gehen sollte!«
Nun springt Elske in die Bresche. Sie hat im Gegensatz zu mir eine geradezu fromme Vergangenheit. In Ostfriesland war sie Gruppenleiterin im EC, bei den »Entschiedenen Christen«.
»Oh, Chef, das würde ich nicht sagen. An Himmelfahrt geht es um nichts anderes als bei den Wahlen und im Wahlkampf.«
Wieder Stirnrunzeln, jetzt nicht nur beim Chef, sondern rundum, auch bei mir. Wieso das?
»Für mich ist Himmelfahrt vor allem Vatertag!«
Steini spricht wieder schneller, als er denken kann.
»Da ziehen wir mit dem Bollerwagen durch die Heide und geben uns die Kante! Freu’ mich riesig drauf. Musste wegen Corona zwei Jahre ausfallen!«
Elske nickt.
»Stimmt. Weil wir mit Himmelfahrt nichts anfangen können und Muttertag uns zu einseitig erscheint, haben wir einen Vatertag draus gemacht. Aber das ist tiefsinniger, als ihr glaubt.«
Der Chef nickt. Ich sag´s ja, er weiß Bescheid. Aber er will mit der Sitzung weiterkommen und unterbricht Elske jetzt.
»Ist schon gut, Kollegin. Wir wollen hier jetzt nicht in Theologie und Zeitgeschichte einsteigen. Ihr macht also auch was über Himmelfahrt – aber nur, wenn ihr es mit aktuellen Themen verbindet und nicht einfach nur frommes Geschwafel! Einverstanden?«
Wir nicken.
»Einverstanden!« sagen wir gleichzeitig.
Ich bin schon gespannt, wie Elske einen Zusammenhang zwischen den Wahlen und Himmelfahrt herstellt. Meine Erfahrung mit diesem Feiertag geht eher in Richtung Steini: Bollerwagen und Besäufnis. Oder mir fällt ein, dass der Flugplatz nahe unserer Kreisstadt dann immer ein riesiges Fest feiert. Himmel und Fliegen passt ja auch gut!
Es wartet viel Arbeit auf uns.
»Ein Thema übernehmt ihr noch!«
Noch mehr Arbeit. Aber ich ahne schon, womit Florian jetzt kommt.
»Ihr steigt tiefer in die Wolfsthematik ein als bisher! Ich will wissen, wer der Wilderer ist, der unsere Wölfe killt. Überlasst das also nicht der Polizei oder den Lüneburger Kollegen. Die Abschüsse sind alle in unserem Revier passiert. Also sind sie unser Thema! Und achtet darauf: Nicht Partei ergreifen, nur recherchieren und sachlich berichten!«
In Elske regt sich Widerstand.
»Aber die Wölfe sind streng geschützt!«
Steini murmelt etwas wie »Auch die Schafe wollen leben! Also abschießen!« vor sich hin. Florian geht dazwischen.
»Genau deshalb! Das Thema polarisiert hier bei uns wie kaum ein anderes. Wir brauchen sachliche Information, keine Stimmungsmache – egal in welche Richtung! Okay?«
Elske und ich nicken auch diesmal wieder synchron.
*
»Am Sonntag kommen die Kinder!«
Maren strahlt. Ihre Tochter mit Enkel und ihren Sohn Benni hat sie seit Weihnachten nicht gesehen.
»Bruno ist nun schon sieben! Ich bin echt gespannt auf ihn. Mir kommt es vor, als habe ich in den fast zwei Jahren Coronabeschränkungen völlig den Anschluss an seine Entwicklung verpasst. Nicht mal bei seiner Einschulung war ich.«
Für mich ist Maren mit ihren 58 Jahren eine tolle, begehrenswerte Frau. Tatsächlich aber ist sie Oma. Und sie ist es gerne. Sie liebt Kinder und findet es schade, dass ich keines und sie nur ein Enkelkind hat. »Mit deinen 63 hättest du längst einige Enkel haben können!« hat sie mir mal ins Stammbuch geschrieben. »Aber du hast ja nicht einmal Kinder!«
Mir gefällt ihr Humor.
Ich erzähle, was in der Redaktion los war. Sie lacht.
»Typisch Chef. Verteilt die Arbeit. Was macht er eigentlich, wenn die Sitzung vorbei ist? Sitzt vermutlich im Sessel und trinkt heimlich seinen Simpel-Dimple?«
Maren hat von diesem offenen Geheimnis gewissermaßen zwangsweise von mir erfahren. Wann immer einer seiner Leute ihn glücklich gemacht hat, schenkt Florian Heitmann von seinem hinter Akten versteckten Whisky ein. Wer privilegiert ist, seinen Spruch »Jedem Simpel einen Dimple« zu hören, muss damit rechnen, ganz furchtbar zu versacken. Maren musste mich leider während unseres zweijährigen Zusammenlebens in Himmelstal schon zweimal spät abends und völlig fahruntüchtig aus der Redaktion abholen.
Ich sehe mich trotzdem genötigt, Florian zu verteidigen.
»Er leitet. Der Chef sorgt dafür, dass die Einnahmen und die Positionierung des Blattes in Politik und Öffentlichkeit stimmen und die Anzeigenkunden bei der Stange bleiben.«
Maren schmunzelt wissend.
»Toll. Also Telefon, Sektempfänge und kaltes Büffet.«
»So ähnlich. Aber wie gesagt, das kann er gut. Unser Blatt ist bisher durch alle Krisen unbeschadet hindurchgekommen.«
»Und du kannst also euren Leserinnen und Lesern nun wieder einen kirchlichen Feiertag nahebringen. Die hübsche Ostfriesin und der clevere Reporter als Himmelfahrtskommando.«
Sie lacht. Ich berichte ihr vom Strategiegespräch mit Elske, das wir gleich nach der Sitzung geführt haben.
Meine Kollegin hat mir den Zusammenhang von Himmelfahrt und Wahlkampf plausibel gemacht. Es klang einfach, birgt aber vermutlich doch dicke Fragezeichen. »Jens«, hat sie lachend erklärt, »Himmelfahrt bedeutet, dass Jesus Christus die Macht übernommen hat. Erst tot, dann auferstanden, dann im Himmel bei Gott, also auf dem Herrscherthron über alle Welt. Jesus ist der Chef von allem, könnte man auch sagen. Er hat ›alle Macht im Himmel und auf Erden‹ – vermutlich kennst ja sogar du als ehemaliger Religionsbanause das Zitat aus Matthäus! Also, was verbindet den Wahlkampf mit Himmelfahrt? Das Thema Macht!«
Als ich Maren davon erzähle, strahlen ihre braunen Augen ähnlich wie die von Elske heute Nachmittag.
»Jens. Deine Kollegin trifft den Nagel auf den Kopf! Immerzu geht es um Macht. Klar, es geht auch um Geld und Ansehen, und manchmal vielleicht sogar um Verantwortung oder Liebe. Aber die Kernfrage in all dem ist oft genug: Wer hat die Macht? Wer bestimmt? Wer kann machen, was er will? Wer setzt sich am Ende durch? Und deine hübsche blonde Lieblingskollegin trifft den Kern: Jesus Christus ist der Chef. Die Politiker, und eigentlich wir alle, tun allerdings gerne so, als wären wir nicht nur unser eigener, sondern auch Chef der anderen.«
Höre ich da einen leisen Ton von Eifersucht auf Elske aus Marens Worten? Nein. Ich weiß, dass Maren viel von meiner Kollegin hält. Die beiden Frauen sind sich mehrfach begegnet und haben sich immer super verstanden. Hoffentlich bleibt es so. Vielleicht spürt Maren aber doch, dass ich Elske sehr sympathisch finde. Hätte ich sie als junger Mann getroffen... Aber nun gibt es wahrlich keinen Grund zur Eifersucht. Ich liebe Maren und nur sie! Aber Frauen...
»Jens, ich kann dir sogar sagen, was die Wölfe mit Himmelfahrt zu tun haben!«
Sie schiebt sich keck ihre braune Haarsträhne aus dem Gesicht. Seltsam, wie gewisse Gesten irgendwie erotisch wirken.
»Na, da bin ich aber gespannt.«
»Nun, der Wolf ist doch ein Symbol für Stärke, Klugheit und, wenn man so will, auch für Macht.«
»Aber doch wohl eher für die Macht des Bösen!«
»Ja, meistens wird es so gesehen. Fressen und gefressen werden. Der Mensch ist des Menschen Wolf. Der Wolf als Metapher für Aggression und existenzielle Bedrohung.«
»Vermutlich ist es genau dies, was die Wolfsgegner motiviert, ihn zu bekämpfen, oder?«
Maren schüttelt mit dem Kopf.
»Ich glaube nicht, jedenfalls nicht nur. Zumindest die Schäfer kämpfen teilweise ums Überleben. Was jedenfalls auch in diesem Fall eine Rolle spielt: Sie kämpfen. Es geht also wieder um Macht. Wer setzt sich durch? Wer ist der Stärkere? Da hast du wieder die Verbindung.«
Mir ist schon fast ein bisschen unheimlich zumute. Heute Morgen dachte ich noch, Himmelfahrt sei ein freundlich frühlingshaftes und etwas geheimnisvoll-skurriles kircheninternes Thema – jetzt, am Abend desselben Tages, ist es mit Wahlkampf, Wolfsabschüssen und Machtkämpfen verbunden. Ich bin gespannt, was sich noch ergibt.
Ich rufe Schorse an. Mein alter Freund Georg Martens ist Hauptkommissar bei der Lüneburger Kripo. Leider hat er keine Ahnung, was es mit den illegalen Abschüssen auf sich hat.
»Mensch Jens«, meint er lachend, »wenn wir von der Mordkommission uns auch noch um tote Viecher kümmern sollen, bräuchte ich zehn Schreibtische und täglich zwanzig Stunden Arbeitszeit! Nee, das machen die Kollegen. Ich kümmere mich um die tote Großmutter, aber nicht um den bösen Wolf – es sei denn, der hat sie gefressen.«
Schorse kichert ins Telefon.
Wer jemals in seinem Büro war, kann sich die Sache mit den Schreibtischen sofort bildhaft vorstellen. Seinen sieht man vor lauter Akten, Kartons und Papierstapeln schon nicht mehr. Auch wenn man es der lieblichen Lüneburger Heide nicht zutraut: Die zu überprüfenden Todesfälle in dieser Region sind überaus zahlreich. Bei fast dauerhafter Unterbesetzung der Kripo hat es Schorse manchmal schwer. Er hat sogar schon überlegt zu wechseln und schimpft vor allem auf die Politik, von der sich die Polizei oft im Stich gelassen fühlt.
»Kannst du mir denn einen Kontakt machen?«
»Klar. Ich spreche mit den Kollegen, kriege heraus, wer den Fall bearbeitet und melde mich. Okay?«
»Danke! Wir sollten mal wieder ein Bierchen trinken.«
»Oh Jens, das ist Musik in meinen Ohren!«
Etwa eine halbe Stunde später ruft mich eine Kollegin von Schorse an und gibt mir Namen und Durchwahl des Beamten, der die Sache mit den Wölfen bearbeitet. Ich rufe an. Der Beamte, ein Oberkommissar Hansen, ist nicht anwesend. Ich kann jedoch einen Termin für heute Nachmittag machen.
Gut, dass ich ein Dach über dem Kopf habe, denke ich. Der Wonnemonat Mai präsentiert sich in den letzten Tagen, und besonders heute, gänzlich anti-wonnig. Ein Sturmtief aus Südwesten zieht über die Heide. Stark- und Dauerregen wechseln sich ab. Die Sonne versucht zwischendurch zwar zögernd, ein paar Strahlen auf die Erde zu schicken, die Löcher zwischen den Wolkenbergen zeigen in solchen Momenten auch blauen Himmel und versprechen Licht und Lebensfreude – es bleiben jedoch leere Versprechen.
Seit ich in Himmelstal wohne, habe ich das häusliche Arbeitszimmer von Oliver übernommen, Marens verstorbenem Ehemann. Es liegt mit dem Fenster nach Westen im Keller. Es ist schon ein bisschen komisch, in die Fußstapfen des ehemaligen Besitzers dieses gemütlichen und gut ausgestatteten Büros zu treten. Selbst einige seiner Bücher stehen noch in Schränken und Regalen. Maren hat ihren Mann geliebt. Es ist ihr Haus und ihr Keller, nicht meiner. Manchmal komme ich mir vor wie ein Kuckuck. Ich setze mich ins gemachte, fremde Nest. Maren tut ihr Bestes, mir bei der Aneignung dieses neuen Lebensraumes zu helfen. Doch auch im dritten Jahr fühle ich mich immer wieder etwas fremd und komme mir vor wie ein Schnorrer. Obwohl ich natürlich kräftig mithelfe, mein Reportergehalt einsetze und in Haus und Garten anpacke.
Für einen Moment reißt die Wolkendecke auf. Als könnte mich das flüchtige Blau des Himmels motivieren, nehme ich mir unsere To-Do-Liste vor.
Elske will mit den Interviews einiger Politiker beginnen und Kandidaten der SPD, CDU und der Grünen befragen. Sie wohnt in der Kreisstadt und wird die Vertreter dieser Parteien in ihren Büros besuchen. Die schwierigeren Bewerber um die Macht im Staate wollen wir uns dann zusammen vornehmen. Allemal den Spitzenkandidaten der DZP, der rechts außen für immer mehr Furore sorgenden Deutschen Zukunfts-Partei. Liest man das Parteiprogramm und hört man die Reden der meist männlichen Vertreter der DZP, weiß man, was sie am liebsten wollen: Zurück in die Zukunft eines vierten Reiches.
Besonders spannend oder bedrohlich, je nach Einstellung: Der Spitzenkandidat der DZP rechnet sich Chancen aus, in den Landtag zu kommen und dort sogar in eine regierende Koalition einzusteigen. Der Mann heißt Konstantin von Bering. Er ist erst 38 Jahre alt, sieht gut aus, ist klug und als charmanter Redner besonders bei den Frauen beliebt. Seine Familie lebt ganz in der Nähe unseres Dorfes auf einem großen Gutshof. Elske macht den Termin. Ich bin sehr gespannt, diesen politischen Senkrechtstarter kennenzulernen.
Ich habe es übernommen, einige Interviews wegen Himmelfahrt zu führen. Es wird ähnlich laufen wie ich es bei den anderen Feiertagen gemacht habe: Ein Fachgespräch mit unserem Pastor, Befragungen von jungen Leuten im christlichen Tagungshaus und von Gemeindegliedern. Natürlich wird es auch um den »Vatertag« gehen, um Bollerwagen, Saufen und Flugschau. Ansprechpartner dafür finde ich mehr als genug – und wenn mir doch noch jemand fehlt, interviewe ich meinen Kollegen Steini als Bollerwagenexperten.
Beginnen werde ich allerdings mit der Wolfsthematik. Da »brennt es« gewissermaßen.
Noch heute Morgen beim Bäcker war ich Zeuge einer Auseinandersetzung wegen einer Meldung im Radio. »Sie haben schon wieder einen Wolf geschossen!« meinte Axel, unser Sportwart. »Die sollte man umgehend einbuchten!« Jan, ein mir recht unsympathischer Feuerwehrkamerad, konterte: »Nee, denen sollte man einen Orden verleihen! Die sehen den Wolf und knallen ihn ab. So muss es sein. Der Wolf gehört hier nicht her!« Die brünette Bedienung schüttelte mit den Kopf. »Jan, was redest du da? Du kannst doch nicht alles abknallen, was hier nicht hergehört!« »Wieso denn nicht? Wenigstens vergrämen oder wie sie das nennen, ist doch angesagt. Das gilt für Flüchtlinge aus dem Süden genauso wie für Wölfe aus dem Osten.« »Du solltest dich bei Konstantin und seiner DZP bewerben, Jan. Kannst ihm den Koffer tragen und die Drecksarbeit machen.«
Wie das Gespräch ausging, habe ich nicht mehr mitgekriegt. Es begann, als ich schon an der Kasse stand und den Laden gerade verlassen wollte. Im Nachhinein war es falsch, dass ich ohne ein Wort gegangen bin. Sonst mische ich mich gerne ein – allemal, wenn es um derartige Themen geht. Das Thema »Wölfe« polarisiert zumindest hier in der Region jedenfalls genauso wie das Thema »Flüchtlinge«. Ich finde, es wird sogar noch kontroverser und aggressiver diskutiert. Flüchtlinge gibt es seit der Welle 2015 kaum bei uns auf den Dörfern. Wölfe umso mehr.
Die Fronten sind klar. Tierschützer, darunter auffällig viele Hundeliebhaber, freuen sich über die Rückkehr der Wölfe und wollen sie um jeden Preis schützen. Schafzüchter und andere Weidetierhalter verlieren durch Wölfe viele ihrer Tiere und haben durch Schutzmaßnahmen extrem hohe Kosten. Sie wollen die Wölfe loswerden. Auch ohne Interviews der verschiedenen Gruppen kenne ich inzwischen die Argumente. Einen Mittelweg lehnen viele kategorisch ab. Danach allerdings suchen die meisten Politiker und Bürger der Region. Mit Wölfen leben, deren Vermehrung jedoch kontrollieren und sie von Nutztieren und Menschen fernhalten – dass dies nicht gerade einfach ist, liegt auf der Hand. Inzwischen gibt es etwa 350 Wölfe in Niedersachsen. Das sind sieben bis acht auf tausend Quadratkilometer. In Kanada sind es nur sechs und in Russland nur ein einziger Wolf auf der gleichen Fläche.
Die Konflikte sind also vorprogrammiert und es wundert mich nicht, dass inzwischen bereits hunderte von Artikeln und Leserbriefen zu diesem Thema allein in unserer Kreiszeitung abgedruckt wurden.
Nun jedoch eskaliert die Sache: Wilderer dezimieren den Wolfsbestand, wie es aussieht, systematisch – oder sie setzen zumindest »Zeichen« für ihre Position. Die Gegenseite steht dem nicht nach. Militante Tierschützer fackeln Hochsitze ab und greifen Jäger an, wenn sie jemanden verdächtigen, die geschützten Wölfe zu schießen. Die Politik macht, was sie immer tut: Man redet, streitet und verhandelt.
Der strenge Schutz des Wolfes im Bundes- und EU-Recht macht den Umgang mit dem Raubtier besonders schwierig. Während sich bei uns in der Heide die Wölfe fröhlich vermehren und sich an den nur unzureichend geschützten Weidetierbüffets gütlich tun, spielt das Thema in der »großen Politik« kaum eine Rolle. Auf der »kleinen« politischen Bühne allerdings eskaliert der Streit vor Ort.
Ich recherchiere wie immer zunächst im Internet. Andere europäische Länder regulieren ihre Wolfspopulation. In Schweden werden 300, in Frankreich 500 erwachsene Tiere akzeptiert. Danach wird »entnommen«, also abgeschossen. Mir erscheint das logisch. Eine Zeit lang macht ein radikaler Schutz Sinn, dann nicht mehr. Es wird interessant, die Wahlkandidaten unserer Region zum Umgang mit dem Wolf zu befragen.
Für heute jedenfalls ist es genug.
Auf meinem Schreibtisch liegen diverse Zettel mit Stichworten und Zahlen zum Thema Wolf. Telefonisch treffe ich noch eine Verabredung mit einem Schäfer, der auch Gründungsmitglied von »wolfsfreie Dörfer« ist. Zu dieser als Verein organisierten Initiative gehören vor allem Weidetierhalter, aber auch Eltern, die um die Sicherheit ihrer Kinder fürchten und Touristiker, die Angst haben, dass Gäste und Urlauber ausbleiben, weil sie sich nicht mehr in die Wälder trauen.
Jedenfalls gehe ich vorbereitet in die Gespräche und weiteren Recherchen.
*
Mein treuer Golf IV schnurrt über die Landstraße. Auch heute Nachmittag wütet das Sturmtief. Schauer und Wolkenlücken wechseln sich ab. Irgendwie hat das was. Die regennasse Asphaltdecke dampft unter plötzlich kräftigen Sonnenstrahlen. Kurz darauf prallen dicke Regentropfen auf den schwarzen Belag. Bevor sie sich in die abwärts fließenden Wasserströme einfügen, hüpfen sie noch einmal in die Höhe. Ich muss kurzzeitig langsamer fahren, um Aquaplaning zu vermeiden.
Rechts und links liegen Felder, weiter hinten Wald. Die Kartoffeln sind gepflanzt. In manchen der Furchen fließt das Wasser in kleinen, immer reißender werdenden Strömen gen Senke. Es ist hügelig. Manche Felder präsentieren sich in sattem Grün, andere sind noch braun, doch frisch gepflügt und gedrillt. Am Wegrand blühen Schlehen und Felsenbirne. Birken, Buchen, Erlen und andere Bäume und Büsche tragen helles Grün. Schwarz recken alte Eichen ihr noch winterliches Geäst in den Himmel. Das große zusammenhängende Waldgebiet im Hintergrund und jene Region, durch die jetzt fahre, heißt »Süsing«. Irgendwo dort hat man die erschossenen Wölfe gefunden. Ich durchfahre den kleinen Nachbarort und komme an den mit Maibäumen dekorierten Gebäuden eines beliebten Bekleidungs- und Schuhladens vorbei. Kurz darauf tauche ich ins Waldgebiet ein. Zu Beginn erinnert mich die Landschaft an den Schwarzwald: Hohe Nadelbäume, Hügel und Abbrüche, die man fast als Schluchten bezeichnen kann. Bis auf 110 m erheben sich hier eiszeitliche Verschiebungen. Später bleibt es hügelig, wirkt jedoch weniger schroff. Nadel- und Mischwald wechseln. Gelegentlich gibt es Weiden oder Äcker. Außer einer kleinen Straße nach rechts geht es über zwölf Kilometer geradeaus, immer durch Wald. Der Sturm ist hier weniger zu spüren. Allerdings liegen immer wieder kleinere Äste auf der Straße, teils mit frischen Blättern.
Nach knapp dreißig Minuten passiere ich das Zentrum von Lüneburg mit der St. Johanniskirche. Nördlich davon liegt das große Verwaltungsgebäude der Stadt, in dem auch die Polizei untergebracht ist. Ich frage mich durch. Schorses Büro würde ich inzwischen finden, das von Inspektor Hansen liegt in einem anderen Stockwerk. Irgendwo lese ich »Dezernat Einbruch, Diebstahl und Sachbeschädigung«. Vielleicht zählen auch Wölfe juristisch immer noch zu den Sachen und ein Abschuss fällt unter Sachbeschädigung. Mit fünf Minuten Verspätung klopfe ich an die Tür mit Hansens Namensschild.
»Herein.«
Das Büro vor mir ähnelt dem von Schorse. Der Ausblick auf die hohen Bäume am Flüsschen Ilmenau ist ähnlich. An den kräftig bewegten Trauerweiden und hin und her wankenden großen Buchen sieht man deutlich, wie die Sturmböen den Bäumen zusetzen. Anders sind Stil und Ordnung des Büros. Es ist aufgeräumt, wirkt strukturiert und organisiert. Auf dem Schreibtisch aus Nussbaum liegen neben einem Flachbildschirm und einer Tastatur nur drei oder vier Aktendeckel, zwei Stifte und eine FFP-Maske.
Der Inspektor begrüßt mich mit Handschlag. Er sehnt sich, wie die meisten von uns, offensichtlich zurück zu Zeiten von »vor Corona«. Ich weiß, das klingt seltsam, fast wie »vor Christus«.
»Kommen Sie herein«, meint der gemütlich wirkende Mittsechziger und platziert seinen zwar nicht dicken, aber gut genährten Körper in den gepolsterten Stuhl hinter seinem Schreibtisch. Er trägt ein helles Hemd unter einer braunen Strickjacke. »Sie können die Maske auch gerne abnehmen. Ich bin geimpft und bei Ihnen vermute ich das auch.«
Da hat er recht. Im letzten Jahr wurden alle, die es wollten, geimpft. Polizisten und auch Journalisten waren sogar schon recht früh dran. Im Sommer hat man dann das Virus halbwegs unter Kontrolle bekommen. Trotzdem werden Masken noch empfohlen und sind in manchen Bereichen weiterhin Vorschrift. Ich bin jedoch froh, dass ich meine jetzt wegstecken kann. Begegnungen Gesicht zu Gesicht sind mir wesentlich lieber als lediglich Hi in Auge.
Inspektor Hansen schenkt mir, ohne zu fragen, ein Glas Mineralwasser ein. Er wirkt auf mich sofort wie ein ehrlicher Beamter, der viel Erfahrung hat, aber sich selbst als Auslaufmodel einordnet. Neugierig schaut er mich an.
»Sorry«, meint er, »unser Kaffeeautomat streikt. Ich hoffe, ein Wasser tut es auch.«
Brav wie ich bin, bedanke ich mich.
»Was führt Sie zu mir? Mich wundert, dass nun auch unser Nachbarkreis an den Wölfen Interesse findet.«
»Immerhin wurden sie auf dem Gebiet unseres Landkreises gefunden und erschossen – oder?«
»Ja, stimmt schon. Aber wir haben den Fall übernommen, weil die ersten Meldungen hier eingingen und die Kollegen bei euch keine Kapazitäten frei hatten.« Er grinst, ohne überheblich zu wirken. »Verkehrsüberwachung, Vandalismus und Ordnungsdelikte scheinen alle ihre Kräfte zu binden.«
»Und Sie bearbeiten die Tötungen aller vier Wölfe?«
»Richtig. Ich bin für Wilderei genauso zuständig wie für Vergehen gegen den Naturschutz, also ist es mein Fall.«
»Ich habe gelesen, dass alle vier Wölfe mit derselben Waffe erschossen wurden. Stimmt das?«
Hansen lehnt sich zurück und nickt.
»Das stimmt. Welche Waffe genau benutzt wurde, wissen wir allerdings noch nicht. Es war ein Jagdgewehr mit Kaliber 9,3x62, ein Kaliber, das viele Modelle benutzen, aber es war immer dieselbe Waffe.«
»Also haben Sie die Kugeln untersucht?«
»Klar. Die Hülsen haben wir leider nicht gefunden. Der Schütze muss sie mitgenommen haben. Er ist jedenfalls clever. Auch andere Spuren gab es keine.«
Oder ihr habt sie nicht gefunden, denke ich.
»Hat er die Wölfe dann irgendwie angerührt, sich Trophäen abgeschnitten oder so etwas?«
Mein Gegenüber lacht.
»Sie sehen zu viel fern! Nein, hat er nicht. Die Tiere waren intakt, wenn auch teilweise bereits von Nagern, Vögeln oder Wildschweinen angefressen.« Sein Lachen ist sympathisch. »So ist das in der Natur. Fressen und gefressen werden! Der Stärkere siegt. Da dürfen auch die Wölfe für sich keine Ausnahme beanspruchen!«
»Allerdings war hier nicht der Wolf, sondern der Mensch der Stärkere!«
Wieder schmunzelt der Inspektor.
»Möglicherweise steckt in jedem von uns ja auch ein Wolf.«
»Haben Sie rekonstruieren können, von wo aus geschossen wurde?«
»Das war schwierig. In nur zwei von den vier Fällen haben wir es herausgekriegt. Der Jäger, äh der Wilderer, hat dort einen Hochsitz benutzt.«
»Er kannte also die Wege der Wölfe. Es war ein Jäger?«
»Guter Gedanke. Den hatten wir auch schon. Zumal in unserem Land nur Jäger ein geeignetes Gewehr führen dürfen.«
Das bezweifle ich und widerspreche deshalb.
»Wirklich? Darf nicht jeder mit einem entsprechenden Waffenschein auch ein Gewehr besitzen? Also auch Sportschützen, Soldaten und... Polizisten?«
Hansen stutzt und fummelt an seiner Lesebrille herum.
»Sie denken echt mit. Stimmt. Trotzdem gehen wir davon aus, dass die Wilderer zugleich auch Jäger sind.«
»Und Jäger, die außerdem die Gegend kennen, also Jäger aus der Region. Dann müssten Sie diese doch befragt haben, oder?«
Der Inspektor lacht.
»Natürlich – schön wär’s! Es sind ja auch nur ein paar hundert Personen, die theoretisch in Frage kommen! Der Süsing und umliegende Waldgebiete sind riesig. Da gibt es Unmengen an Jagdrevieren. Teilweise handelt es sich um Staatsforst, teilweise um Privatbesitz. Wir haben die Wölfe an sehr verschiedenen Orten gefunden.«
Also wurden die Jäger nicht befragt.
»Wir? Die Polizei hat die Wölfe gefunden?«
»Nein, natürlich nicht. Zweimal haben Forstarbeiter, einmal ein Förster und einmal ein Wanderer die Tiere entdeckt.«
»Und die Kadaver lagen offen da? Oder haben die Wilderer versucht, sie zu verbergen? Oder sind die Wölfe angeschossen worden und irgendwo im Wald verendet?«
»Wo sie’s sagen. Nein, die toten Wölfe lagen alle offen da, zwei sogar mittig auf einem Weg. Herr Jahnke, wieder eine kluge Frage! Vielleicht sollten wir Sie als Profiler engagieren, wie in den amerikanischen Filmen...!«
Hansen lacht. Er hat ein echt gutmütiges Gemüt, für einen Polizisten allerdings vielleicht etwas zu schlicht gestrickt.
»Sie haben also keine Verdächtigen?«
Er setzt sich die Brille auf die knollige Nase und blättert in einer der Akten.
»Herr Jahnke, und wenn, dürfte ich Ihnen das doch nicht sagen! Aber nein. Wir haben keine Verdächtigen außer jenen, die für so etwas sowieso in Frage kommen.«
»Wen meinen Sie da?«
»Ist doch klar: Die Weidetierhalter und Aktivisten von ›Wolfsfreie Dörfer‹ und solchen Initiativen. Die wollen die Wölfe jedenfalls loswerden. Und das versteht man ja auch.«
Sein letzter Satz kommt sichtbar von Herzen.
Am Ende des Gesprächs zeigt mir der Inspektor auf einer Karte die Fundorte und diverse Fotos, die nicht in der Zeitung waren. Ich darf die Karten fotografieren.
Wir stehen schon und haben uns verabschiedet, da fällt mir noch eine Frage ein.
»Inspektor, wie kommt es eigentlich, dass die Lüneburger Presse so schnell informiert war? Hätte der Pressesprecher Ihrer Dienststelle die Sache wie üblich weitergegeben, hätten doch auch wir sofort davon erfahren. Hören Ihre Medien etwa den Polizeifunk ab?«
Mir scheint fast, mein Gegenüber errötet. Er druckst ein bisschen herum, bleibt aber der ehrliche, harmlose Polizist.
»Tja, da bitte ich um Entschuldigung. Als im Januar die Meldung vom ersten toten Wolf hereinkam, war mein Schwager zufällig zu Besuch. Er ist Ihr Kollege beim Lüneburger Kreisblatt.«
So etwas habe ich mir schon gedacht.
»P.K. Hinter diesem Kürzel steckt also Ihr Schwager?«
»Ja. Es ist mir peinlich. Aber er wollte dann auch bei den nächsten Wölfen immer alles als Erster wissen. Patrik Ka-linowski heißt er.«
Wir wissen beide, dass Hansen sich damit kurz vor Ende seiner Dienstzeit keinen guten Dienst erwiesen hat. Das sage ich ihm auch, nehme ihm jedoch die Angst, diese Indiskretion zu melden. Im Gegenzug verspricht er mir, sich bei weiteren Vorfällen zuerst bei mir zu melden. So ist das Mediengeschäft: Wer zuerst an die Infos kommt, vermarktet sie. Unsere Fragen bezüglich der schnellen Pressemeldungen sind also geklärt. Die »gute Vernetzung« der Lüneburger besteht in diesem Fall schlicht in verwandtschaftlichen Kontakten zwischen Presse und Polizei und ich kann mir den geplanten Besuch bei der Konkurrenz und dem eifrigen Kollegen Kalinowski ersparen.
Als ich gehe, bin ich im Bild:
Die Ermittlungen wurden vermutlich ohne besonderen Eifer durchgeführt. DNA und Obduktion der Wölfe wurden dem Wolfsberater und dem Labor in Berlin überlassen. Die Polizei hat die Berichte abgeheftet, sie aber vermutlich nicht ausgewertet. Von Inspektor Hansen habe ich den Eindruck, dass auch er die Wölfe in unseren Wäldern und Kulturlandschaften für fehl am Platz hält. Vielleicht hat ihn auch das in seinem Eifer ausgebremst, abgesehen von seiner sinkenden Vorruhestandsmotivation.
Der oder die Täter waren klug und haben Hinweise wie leere Patronenhülsen und andere Spuren beseitigt oder vermieden. Sie haben die Wölfe allerdings nicht nur erschossen, sondern auch präsentiert. Was bedeutet: Die Tiere sollten gefunden und damit sollte folglich ein Zeichen gesetzt werden. Welches, ist klar: Keine Wölfe in der Heide. Abschuss frei!
Im Januar fand man den ersten erschossenen Kadaver, einen älteren Rüden. Ende Februar folgte eine trächtige Fähe, direkt nach Ostern ein junger Rüde. Das letzte »Zeichen« war dann ein Jährling. Ihn fand man vorgestern, kurz vor dem offiziellen Beginn des Wahlkampfes. Ob das von Bedeutung ist? Vielleicht geht es auch um ein Zeichen an die Politik.
*
Auch als ich zurückfahre, regnet und stürmt es noch. Ich konzentriere mich auf die nasse Straße. Immer wieder jedoch gleitet mein Blick zum Waldrand. Hier leben Wölfe. Unsere Wälder sind nicht mehr so harmlos und ungefährlich wie vor Jahren noch.