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Heidschnucken liegen tot auf der Weide, ein Baby wird entführt, der Altar in Himmelstal verwüstet und das Kruzifix geklaut. Der Provinz-Reporter Jens Jahnke erhält GPS-Koordinaten. Als er die Orte aufsucht, entsteht aus einzelnen Puzzleteilen mehr und mehr eine tragisch-tödliche Geschichte. Ein Team von Touristikern und Kirchenleuten will die regionalen Besinnungswege mit dem internationalen Jakobsweg verbinden. Das Thema 'Pilgern' kommt auf die Tagesordnung. Die Motive, sich zu engagieren könnten unterschiedlicher nicht sein. Diesmal geht es um die Suche nach sich selbst, nach Gerechtigkeit und der Wahrheit. Begleiten Sie den Reporter ins Heidedorf Himmelstal und auf einen ereignisreichen Wegabschnitt der 'Via Scandinavica'.
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Seitenzahl: 338
Hermann Brünjes
des Pilgers Lust
- ein Jens Jahnke Krimi
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Tagebuch einer Pilgerin: Anreise
Samstag, 31.8.
Montag, 2.9.
Mittwoch, 4.9.
Tagebuch einer Pilgerin: 4. Etappe
Freitag, 6.9.
Mittwoch, 11.9.
Sonntag, 15.9.
Tagebuch einer Pilgerin: 5. Etappe, Ruhetag
Dienstag, 17.9.
Mittwoch 18.9.
Freitag, 20.9.
Samstag, 21.9.
Montag, 23.9.
Mittwoch, 25.9. Vormittag
Tagebuch einer Pilgerin: 6. Etappe
Mittwoch, 25.9. Nachmittag
Donnerstag, 26.9.
Freitag, 27.9.
Pilgern. Ein Weg, der überrascht ….
Pilgertagebuch: 1. Nachtrag 2024
Sonntag, 29.9.
Dienstag, 1.10.
Pilgertagebuch: 2. Nachtrag 2024
Mittwoch, 2.10.
Donnerstag, 3.10.
Sonntag, 6.10. Erntedank
Pilgertagebuch: 3. Nachtrag 2024
Sonntag, 6.10. Nachmittag
Montag, 7.10.
Dienstag, 8.10.
Pilgertagebuch: 4. Nachtrag 2024
Mittwoch, 9.10.
Pilgertagebuch: 5. Nachtrag 2024
Donnerstag 10.10.
Freitag, 11.10.
Samstag 12.10.
Mittwoch 16.10.
Pilgertagebuch: 6. Nachtrag 2024
Zwei Jahre später … Sonntag, 29.8.2027
Montag, 30.8.2027
Dienstag, 31.8.2027
Pilgertagebuch: Letzter Nachtrag 2024
Wichtigste Personen
Autor, Hinweise zum Buch und weitere Bücher
Impressum neobooks
Wann eigentlich beginnt man sein ‚Pilger-Tagebuch‘? Erst nach einsamen Wegstrecken, allein mit sich selbst mit Gott und der Natur? Keine Ahnung. Ich beginne jetzt einfach mal früher.
Die günstigste Kabine auf der ‚Stena Britannica‘ war zwar teuer, ist aber sauber und für mich als Einzelperson allemal komfortabel genug. Ich liege auf dem schmalen Bett und fülle die ersten Seiten in diesem kleinen Büchlein. Mareike hat es mir geschenkt. Auf den braun-gelben Umschlag hat sie einen Sticker mit gelber Jakobsmuschel auf blauem Grund geklebt.
Morgen früh, 9.15 Uhr, sollen wir in Kiel ankommen.
Mareike hat mir viel über ihre Heimat erzählt. Ich bin gespannt, was mich erwartet. Deutsch habe ich ja bisher nur in der Schule und mit Mitgliedern der deutschen Gemeinde in Göteborg gesprochen. In Deutschland selbst war ich noch nie und in diesem von meiner Freundin so hochbejubelten ‚Himmelstal‘ erst recht nicht. Dorthin will ich auf jeden Fall einen Abstecher machen, auch wenn dieser Ort eigentlich nicht direkt auf meiner Pilgerroute liegt. Bevor sie Theologie studierte und dann Pastorin in Göteborg wurde, hat Mareike in dem Heidedorf mit dem himmlisch-irdischen Namen ein ‚Freiwilliges Soziales Jahr‘ gemacht. Das christliche Tagungshaus, in dem sie gearbeitet hat, wurde für sie zum Anstoß eines erfüllten Lebens und sie hat dort ihre Berufung zur Pastorin gefunden.
„Du musst dich auf den Weg machen!“ hatte Mareike mir geraten, als mich die neue Schwangerschaft völlig aus der Bahn geworfen hatte. „Gönn dir mal etwas Eigenes, sammle neue Eindrücke und sortiere dein Leben!“ Wegen meinem Naddelchen habe ich mehrere Wochen gebraucht, bevor ich mich entschieden hatte. Auch Tore hat mich ermutigt.
Dann jedoch war alles recht schnell gegangen.
Jan war wieder mal abgetaucht. Ich habe große Angst, dass er unsere Familie mit in den Abgrund zieht. Von meiner Schwangerschaft habe ich ihm bisher nichts erzählt. Er bringt zweifelhafte Typen mit in die Wohnung. Ich fürchte, er hat mit Drogen zu tun. Auch wenn er es abstreitet – seine Aggressivität und sein immer wieder unangekündigtes Verschwinden sprechen für sich. Ich habe Mareike von all dem erzählt. Auch sie ist inzwischen der Meinung, dass ich mich von Jan trennen muss.
Während meiner auf zwei Wochen angesetzten Pilgerreise ist das Pastorenehepaar für mein Naddelchen da. Selbst wenn Jan wieder auftauchen sollte, glaube ich nicht, dass er sich überhaupt um uns kümmert. Eher kriegt er wieder einen seiner Ausraster und seine Hand rutscht ihm aus. Seinen Versprechen auf Besserung glaube ich längst nicht mehr. Tore habe ich auch gefragt, der will aber ein Studienjahr im Ausland machen. Wie gut, dass ich mich auf Mareike verlassen kann!
Ja, ich kann guten Gewissens meine erste Pilgerreise antreten! Noch kann ich sowas ja machen. Am Ende der Schwangerschaft und erst recht in den nächsten Jahren wäre ‚Pilgern‘ wohl kaum das passende Reiseformat.
Vorhin im Schiffs-Restaurant hat ein Kellner mit mir geflirtet, ein durchaus attraktiver Bursche in meinem Alter. Bei ihm habe ich gleich einmal mein Deutsch getestet. Als ich ihm erzählte, dass ich pilgern werde, hat er mich angeschaut, als gehöre ich in eine geschlossene Anstalt. Vielleicht hätte ich besser ‚Wandern‘ oder ‚Trecking‘ sagen sollen.
„Ah, verstehe! ‚Das Wandern ist des Müllers Lust.“
Der Typ hatte nichts verstanden! Ihm fiel nur ein urdeutsches altes Volkslied ein, das vermutlich noch aus der Wandervogelbewegung stammt.
„Das Wandern ist des Pilgers Lust!“ wandelte er den Text dann auch noch ab, schüttelte noch einmal mit dem Kopf und zog seine Arbeit dem Flirt mit einer hübschen Schwedin vor.
Ich hoffe, während meiner Tour auf der Via Scandinavica treffe ich Leute, die mehr Verständnis für mein Abenteuer und mich als Pilgerin haben.
Einen Artikel soll ich nicht schreiben, nur ein Foto mit kurzer Bildunterschrift wurde mir zugestanden.
„Zu viele Weinfeste!“ hatte Florian in der letzten Redaktionssitzung gestöhnt. „Hier in der Kreisstadt, im Klosterflecken, im Kurort und nun auch bei euch in Himmelstal. Was ist bloß mit den Norddeutschen passiert? Sie trinken Wein! Vornehm geht die Welt zugrunde.“ Unser Sportredakteur Steini hatte ihm beigepflichtet: „Genau! Wir Nordlichter trinken Bier!“ Im Stillen hatte ich gedacht ‚und Whisky‘. Vom Dimple-Vorrat im Schrank des Chefs wusste jede und jeder hier. Zwar hatten meine Lieblingskollegin Elske und einige andere den Wein und dessen Feierlichkeiten noch in Schutz genommen, einen Artikel jedoch sollte ich nicht dazu schreiben.
Okay. Reporter Jens Jahnke tut, was von ihm erwartet wird. Meistens. Diesmal mache ich also ein paar Fotos und feiere einfach selber mit.
Das Feier-Ambiente bei uns im schönen Himmelstal ist wahrlich herausragend. Mindestens zweimal jährlich wird eine alte, längst aufgegebene Schmiede urig herausgeputzt: Zum Weihnachtsmarkt und zum Weinfest. Hackschnitzel dämpfen die Schritte, zwischen altem Gebälk und rostiger Schmiede-Deko wie Pflug, Werkzeuge, Hufeisen, Wagenräder und sowas, sind Bierzeltgarnituren und Stehtische aufgebaut. An einer Theke wird verpflegt: Kuchen, Glühwein, Bier und Bratwurst mit Pommes zu Weihnachten – Brezeln, Schmalzbrote und Wein in rot und weiß am heutigen Abend. Mit dabei sind diesmal die ‚Fidelen Himmelstaler‘, eine Bläserformation mit Schlagzeug, die es wirklich in sich hat. Wie von unsichtbaren Marionettenfäden gezogen wippen die Tanzbeine, sobald die ersten Töne der Schlager, Popmusik und Evergreens erklingen.
Komisch finde ich nur, dass die Musiker karierte Hemden und Lederhosen oder Knickerbockers tragen. Muss denn Blasmusik immer unbedingt so bayrisch daherkommen?
Ich finde schon, dass bei uns im Norden inzwischen so viele Oktoberfeste gefeiert werden, verträgt sich kaum mit unserer preußischer DNA. Nun denn, die Himmelstaler lieben es oder nehmen es, wie’s kommt. „Hauptsache, es macht Spaß!“ heißt es immer wieder. Ja, den haben wir.
„Jens, wann kommt endlich wieder mal `ne neue Story von dir? In letzter Zeit schreibst du nur langweiliges Zeug von Feuerwehr, Politik oder Kulturveranstaltungen.“
Hendrik und Axel stehen bei mir am Tisch, darauf zwei Flaschen Spätburgunder und mehrere Gläser.
„Danke, Hendrik. Du erinnerst mich an mein tristes Reporterdasein beim Käseblatt. Dabei wollte ich jetzt einfach nur feiern und Teil dieses netten Dorfes sein.“
Hendrik Meier, Bestatter von Himmelstal, einen Kopf kleiner als ich und mit deutlich weniger Haaren, grinst zurück.
„Na Jens, aber das bist du doch! Wie lange wohnst du hier und bist mit der überaus attraktiven Maren Bender zusammen? Fünf Jahre? Du schreibst über uns, du bist jetzt hier und stößt mit uns an – Jens, natürlich bist du einer von uns!“
„Nach fünf Jahren? Hä, Hendrik, erst wenn jemand hier geboren ist, kann er sagen, er gehört dazu!“
„Reaktionär!“ faucht Hendrik den schmächtigen Sportwart Axel an. „Du bist auch so jemand, der nichts Neues ins Dorf lässt. Erst in zweiter oder dritter Generation gehört man dazu – oder? So ein Blödsinn. Schau dich hier doch mal um. Überall sind neue Leute. Sogar einen größeren Kindergarten kriegen wir demnächst. Da werden dann fünfzig Kinder betreut – und deren Eltern sind zumeist zugezogen.“
Ich muss lachen. „Drei Jahre.“
„Wie, drei Jahre? Der Kindergarten soll nicht erst in drei Jahren, sondern noch in diesem Jahr öffnen.“
„Drei Jahre bin ich erst hier. Wenn du recht hättest, Axel, wird aus mir nie ein Himmelstaler.“
Hendrik hebt sein Glas. „Komm, Jens. Hör nicht auf Axel. Und du Axel, hör auf deinen gesunden Menschenverstand. Wir trinken auf alle hier. Sie alle gehören doch dazu!“
Der liebliche Klang unserer Gläser unterstreicht sein Bekenntnis. So ein Dorffest macht tatsächlich Mut. Ja, man gehört irgendwie zusammen, auch wenn ich viele der über hundert Menschen hier nicht persönlich kenne oder sie sogar noch nie gesehen habe. So ein Dorffest macht dennoch alle gleich. Egal, wie jemand aussieht oder wieviel er oder sie verdient. Egal, was jemand glaubt oder wählt. Im Wein liegt nun mal die Wahrheit.
Gerald Tönnies, mein Nachbar, stellt sich zu uns. Auch er trägt ein blau kariertes Hemd, allerdings keine Lederhose. In der Hand schwenkt er sein Glas, stößt mit uns an.
„Und ihr? Worum geht’s bei euch am Tisch? Auch um die Sache mit dem Baby?“
Wir drei schauen offenbar so dumm aus der Wäsche, dass Gerald sofort kapiert, dass wir nichts kapieren.
„Ihr wisst also noch nichts davon? Christian Moormanns Baby ist verschwunden.“
Ich weiß nicht, wovon Gerald spricht, kenne die Leute hier eben noch immer nicht besonders gut. Axel und Hendrik jedoch wissen sofort, wer gemeint ist. Vermutlich sind sie bereits mit diesem Christian zur Schule gegangen.
„Du meinst, Theas Kind? Das ist doch erst ein oder zwei Monate alt! Verschwunden? Wie das denn?“
„Thea war heute Nachmittag beim Edeka. Sie hat das Baby im Maxi Cosi auf den Beifahrersitz ihres Renaults gestellt und hinten den Einkauf in den Kofferraum gepackt. Als sie dann den Einkaufswagen weggebracht hatte und zum Auto zurückkam, war das Baby weg. Samt Maxi Cosi.“
Ich wundere mich, dass ich davon noch nicht gehört habe. Solche Meldungen kommen in der Regel ziemlich schnell bei uns in der Redaktion an, oft kriegen wir sie direkt von der Polizei. Wenn es allerdings erst heute Nachmittag passiert ist …
„Das ist ja furchtbar. Und du bist dir sicher?“
Gerald nickt. „Ja. Ich wollte die beiden zum Weinfest einladen und habe gegen fünf mit Christian telefoniert. Er war total aufgelöst. Die Polizei war auch schon da. Im Klosterflecken und rund um den Supermarkt läuft bereits eine Suchaktion.“
„Diese Moormanns, wohnen die in Himmelstal?“
Ich ahne, dass diese Feier für mich vorbei ist. Es riecht nach Story und die Arbeit ruft.
„Nein.“ Hendrik klärt mich auf. „Christian und Thea wohnen in Allentorfstedt. Sie sind erst seit etwa zwei Jahren zusammen. Christian ist von hier und hat das Haus seiner Eltern im Nachbardorf geerbt. Thea ist zugezogen. Er hat sie im Kreishaus kennengelernt, wo sie zusammen in einer Abteilung arbeiten. Viele von uns hier waren auf der Hochzeit der beiden.“
„Dann ist es also ihr erstes Kind.“
„Genau. Und ihr einziges. Auch wenn Christian schon etwas älter ist – ein Kind hat er nicht mit in die Ehe gebracht. Erstaunlich eigentlich.“ Hendrik grinst, Gerald und Axel nicken und ich schaue wieder mal unwissend von einem zum anderen.
„Wieso erstaunlich?“, frage ich.
„Weil Christian schon immer ein echter Schürzenjäger war. Vor ihm war niemand in Rock und Schlüpfer sicher …!“
„Genau. Wo du das sagst, Hendrik. Vielleicht hat eine seiner Verflossenen das Kind geklaut. So unter dem Motto: Ich will ein Kind von dir!“ Axel lacht über seinen makabren Witz.
Gerald bleibt ernst. „Jetzt ist niemand im Umfeld der Moormanns zu Scherzen aufgelegt. Ihr Baby ist verschwunden!“
Es stimmt. Während wir hier feiern, über Zugehörigkeit und sonst was diskutieren und unsere Witze machen, sind ein Dorf weiter Vater und Mutter furchtbar verzweifelt. Wie schlimm mag es sein, wenn man neun Monate lang ein Kind austrägt, es unter Schmerzen zur Welt bringt, sich über sein erstes Lachen freut – und dann verschwindet es von einer Sekunde auf die andere. Solchen Schmerz kann vermutlich nur jemand ermessen, der selber Kinder hat. Ich habe keine. Trotzdem erschüttert allein der Gedanke daran auch mich.
„Ich muss los.“
Abrupt stelle ich mein Glas auf den Tisch und nicke meinen drei Gesprächspartnern zu. Sie wirken überrascht.
„Du willst schon gehen? Doch nicht deswegen. Du kannst da nichts tun.“
Doch, kann ich. Ich kann weit über zwanzigtausend Leserinnen und Leser unserer Zeitung zum Suchen animieren.
*
Fünfzehn Minuten später fahre ich auf den Parkplatz beim Edeka-Markt im deutlich größeren Nachbarort. Obwohl der Laden bereits geschlossen ist, herrscht hier noch Betrieb. Zwei Polizeiwagen, mehrere Feuerwehren und viele aufgeregte Leute laufen umher. Ein Polizist führt einen braunen Hund mit Schlappohren an der Leine. Der läuft irgendwie planlos umher und wirkt nicht so, als habe er eine Spur aufgenommen.
Ich erkenne den roten Kleinbus unserer Himmelstaler Feuerwehr und entdecke Enno, unseren Ortsbrandmeister, im Gespräch mit einem Polizisten. Ich verlasse meinen Golf und gehe auf die beiden zu. Puh, ich dachte schon, Wachtmeister Westermann redet da mit Enno. Dann könnte ich gleich wieder nach Hause fahren. Der alte Kreispolizist hat mich dermaßen ‚gefressen‘, dass mit ihm keine Zusammenarbeit mehr möglich ist. Dies jedoch ist ein mir unbekannter junger Uniformierter.
„Ach Jens! Dass du hier aufschlägst, wundert mich nicht. Hat also deine Reporternase wieder angeschlagen?“ Enno nickt in Richtung Hund mit Schlappohren. Ich nehme seine Begrüßung als Kompliment.
„Ich habe auf dem Weinfest davon erfahren.“
„Ja, das mit dem Feiern kann ich mir nun leider abschminken. Wir werden noch so lange weitersuchen, wie es das restliche Tageslicht erlaubt.“
„Wenn das Baby wirklich entführt oder gestohlen wurde, werdet ihr es hier nicht finden.“
„Stimmt wohl. Vielleicht hat sich aber auch jemand einen schlimmen Scherz erlaubt und die Babyschale irgendwo um die Ecke abgestellt. Dann wäre es fahrlässig, wenn wir nicht suchen würden.“
Der junge Beamte nickt Enno zu. „Genauso ist es. Wir haben zehn Beamte losgeschickt und von der Feuerwehr suchen weitere zehn nach dem Kind.“
„Und die Eltern? Sind die wieder zuhause?“
Der Polizist nickt und wirkt blass. Vielleicht ist er selber Vater und auch ihn nimmt dieser Fall emotional extrem mit.
„Ja. Eine Polizeipsychologin ist bei ihnen. Die Mutter ist völlig zusammengebrochen. Dem Vater geht es zwar äußerlich besser, er kann hier aber ja auch nicht helfen. Er ist bei seiner Frau besser aufgehoben.“
Ich schaue mich um. Obwohl ich hier ebenfalls regelmäßig einkaufe, sind mir bisher keine Kameras aufgefallen. Der Polizist bemerkt meine suchenden Blicke.
„Ja, es gibt eine Kamera, eine einzige. Die hatte jedoch den PKW von Frau Moormann dort hinten,“ er zeigt an den Rand des Parkplatzes, „nicht im Blick. Folglich geben die Aufnahmen nichts her. Auch mit einer Babyschale läuft niemand durchs Bild.“
„Es gibt also keine Spur, keinen Verdacht?“
„Richtig. Auch den Eltern ist nichts eingefallen, sofern sie bisher überhaupt ansprechbar waren. Alles Weitere und Einzelheiten zu unseren Befragungen darf ich natürlich nicht weitergeben.“ Der junge Polizist ist mir trotzdem sympathisch.
„Habt ihr die Presse schon informiert? Je schneller die Öffentlichkeit an der Suche beteiligt wird, desto schneller könnte man eine Spur finden.“
„Ja. Polizeisprecher Julius Spieckermann aus Himmelstal ist informiert. Er setzt eine Suchmeldung in die Pressedienste und vor allem in die sozialen Medien. Wir warten auch noch, ob ein Erpresserbrief oder sowas auftaucht … Warum sonst sollte jemand ein Baby entführen, wenn nicht für Geld?“
Mir würden schon noch diverse andere Gründe einfallen.
Trotzdem wende ich mich an Enno: „Ich habe die Info von Gerald. Wenn Julius eine Meldung rumschickt, sollte das reichen. Morgen ist ja leider Sonntag und es erscheinen keine Zeitungen. Ich werde den ganz sicher sehr kurzen Text von Julius aber noch ein bisschen im Käseblatt und auch für unseren Online-Auftritt aufwerten.“
Er nickt.
Ich mache ein paar Fotos vom Parkplatz samt Supermarkt. Blaulichter, rote Feuerwehr und ein bisschen Hektik betonen auf den Bildern die Dringlichkeit der Meldung. Wenn ich gleich unseren Onlineredakteur anrufe, wird der es sofort bringen.
Dass ich den gestrigen Sonntag so richtig genossen habe, kann ich nicht sagen. Das Wetter war allerdings optimal. Schon im Juli und August konnten wir einen prächtigen Sommer genießen, angeblich den sonnenreichsten seit Wetteraufzeichnungen. ‚Dank‘ Klimawandel, vermute ich … Es fiel genug Regen für die in unserer Gegend extrem wichtige Landwirtschaft und es gab viel Sonne für unsere durch viele schlechte Nachrichten überschatteten Gemüter.
Auch der Ausflug in die noch wunderbar blühende Nordheide bei Egestorf hätte für Maren und mich ein schönes Sonntagserlebnis zu zweit werden können – wären da nicht unsere ernsten und nervigen Gesprächsthemen gewesen.
Während wir mehreren von dem lila Blütenteppich der hügeligen Heidelandschaft begeisterten Wanderern begegneten, einer riesigen Familie mit quirliger Kinderschar bei einem Foto-shooting ausweichen mussten und über uns lustige Schäfchenwolken über den hellblauen Himmel zogen, diskutierten wir über das verschwundene Baby, den Krieg in der Ukraine, über Israels Rolle in der arabischen Welt und die Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen. Welch ein Kontrast!
Als ich Maren irgendwann darauf aufmerksam machte, meinte sie trocken: „Wir nennen das ‚Leben‘.“
Immerhin hat mich unser Heide-Spaziergang etwas ruhiger gemacht. Es scheint, wenn wir uns Unterbrechungen wie diese gönnen, sortiert sich unser Alltag deutlich leichter.
Zwei Wanderer, ein Mann und eine Frau um die vierzig, kamen uns entgegen. Sie waren offenbar für eine längere Tour ausgerüstet. Beide trugen einen prallen Rucksack, feste Wanderschuhe an den Füßen und Hut bzw. Cape auf dem Kopf. „Das sind ganz sicher Pilger,“ hatte mich meine Maren aufgeklärt, als die beiden außer Hörweite waren. „Oder einfach nur Wanderer“, hatte ich geantwortet. Maren jedoch ließ das nicht gelten.
„Weißt du eigentlich, dass hier ein Teil vom Jakobsweg verläuft?“ Nein, wusste ich nicht. „Der berühmte Campino mit dem Ziel Santiago de Compostela in Spanien führt hier entlang?“
„Allerdings. Hast du nicht das Muschelsymbol an den Wegweisern bemerkt?“ Nee, hatte ich nicht.
Ich war mit unseren politischen Themen befasst, da lasse ich mich nicht von irgendwelchen maritimen Wegweisern mitten in der Lüneburger Heide ablenken.
Immerhin war durch die Pilger unser Gespräch in eine andere, angenehmere Richtung gelenkt worden. Maren überraschte mich mit enormen Kenntnissen über das Pilgern.
„Von Hamburg führt ein alter Pilgerweg über Wilsede, Schneverdingen und Soltau. Er wurde früher von Mönchen und heute von Wanderern aller Art genutzt, eben auch von Pilgern. Es ist gewissermaßen einer der vielen Zubringer zum Campino und für die Pilgerwege nach Rom und zu den Wallfahrtsorten im Süden. Jetzt wurde der Weg von Kirchengemeinden und Touristikern als ‚Jakobsweg durch die Heide‘ wieder aktiviert und beworben.“ Meine Liebste klärte mich weiter darüber auf, dass es noch andere Pilgerwege im Norden gibt. Einer davon, die Via Scandinavica, führt sogar recht nah an Himmelstal vorbei. Von Puttgarden aus geht dieser Weg über Lüneburg und entlang der Heideklöster gen Süden. „Wir überlegen gerade, ob wir unsere Besinnungswege mit der Via Scandinavica verbinden.“
Jene Familie mit dem Fotoshooting hatte uns dann gestern auf ein anderes Thema gebracht: Familie. Maren macht sich Sorgen um ihre erwachsene Tochter Caren, die in Berlin lebt. Sie ist geschieden und erzieht ihren Sohn nun allein. Ich finde, Caren packt es gut und Bruno ist ein prächtiger Junge – aber Mütter machen sich vermutlich prinzipiell viele Sorgen.
Als wir dann gestern am Nachmittag wieder zuhause in Himmelstal ankamen, waren wir beide platt, hatten uns aber trotz der teils aufreibenden Gesprächsthemen ein bisschen erholt. Am Abend allerdings verpuffte der Erholungswert unseres Spaziergangs sofort nach den ersten Hochrechnungen Wahlen in Thüringen und Sachsen. 30% für die AfD – welch ein Desaster!
*
Nun denn, das war gestern – wenn auch, soweit es die Wahlen betrifft, mit großen Auswirkungen auf die nahe Zukunft unseres Landes.
Jetzt aber stelle ich mein Cross-Rad an den Zaun vor dem Haus von Thea und Christian Moormann. Bevor ich das Grundstück betrete, mache ich ein Foto von dem Haus.
Das Wetter ist weiterhin prächtig. Mit dem Rad durch die spätsommerliche Landschaft zu düsen ist für mich ein Hochgenuss. Die Kartoffelernte beginnt. Von starken Treckern gezogene Maschinen ziehen lange graue Staubfahnen hinter sich her. Mit den Leuten, die oben auf den Rodern stehen und die wertvollen Knollen sortieren, möchte ich nicht tauschen. Dann lieber Reporter sein und im aufgewirbelten Staub der Geschichte nach Geschichten suchen. Sogar die Rübenernte beginnt bereits. Man sieht erste weiße Rauchfahnen von der weit entfernten Zuckerfabrik aufsteigen. Die Kampagne beginnt.
Schon gestern wollte ich nach Allentorfstedt, um Moormanns zu interviewen. Maren hatte es mir jedoch ausgeredet. „Der Verlust ihres Babys ist viel zu frisch. Lass sie in Ruhe!“ Sie war richtig verärgert. „Außerdem wollten wir uns die blühende Heide anschauen.“ Was mir gestern also nur mit einem fetten Streit möglich gewesen wäre, hole ich heute nach.
Moormanns wohnen am Rand des von großen Höfen geprägten Ortes in einem kleinen, älteren Einfamilienhaus mit gemauertem Windfang. Es liegt an einer ruhigen Straße, an der auf der einen ältere, auf der anderen Straßenseite neuere Häuser stehen. Ich drücke die Klingel neben dem schmiedeeisernen Gitter vor dem Glas einer alten Haustür. Ein Mann, ich vermute Christian Moormann, öffnet. Er trägt kurze Hose, ein verwaschenes T-Shirt und Birkenstockschlappen. Ich schätze ihn auf Mitte vierzig, eher älter. Mit genug Fantasie, ihn mir mit Krawatte vorzustellen, meine ich sofort, den Verwaltungsbeamten und ‚Schreibtischtäter‘ zu erkennen.
Ich stelle mich vor, drücke ihm mein Mitgefühl aus und erkläre ihm, dass ich von Gerald und Enno von ihrem Schicksalsschlag gehört habe.
„Wir wollen keine Presse,“ gibt er mir Auskunft. „Gestern in den sozialen Medien und heute in der Zeitung reicht uns. Inzwischen klingelt dauernd das Telefon.“
„Sie bekommen also Hinweise?“
„Schön wär’s. Andere Pressefritzen rufen an, sogar die von Radio Niedersachsen. Alle sind sie sensationsgeil!“
„Das tut mir leid. Darf ich trotzdem hereinkommen?“
Wohl, weil ich mich auf zwei einheimische Freunde berufen kann, lässt er mich hinein.
„Meine Frau ist völlig fertig. Sie hat eine Schlaftablette genommen und liegt im Wohnzimmer auf der Couch.“ Er zeigt auf eine geschlossene Tür und dirigiert mich in die Küche.
Wir setzen uns an den Küchentisch.
„Wollen Sie was trinken? Wasser, Saft oder einen Kaffee?“
Ich bitte um einen Saft und er serviert einen gut gekühlten Apfelsaft aus dem Tetra Pack.
„Ich war vorgestern beim Edeka. Enno hat erzählt, dass ihr überhaupt keine Ahnung habt, wer euch das Kind weggenommen haben könnte.“
Er nickt. „Stimmt. Wir haben keine Feinde, die sowas tun würden. Es muss absolut Zufall gewesen sein, dass jemand ausgerechnet unser Baby entführt hat.“
„Ein Erpresserschreiben kam auch nicht?“
„Warum sollte uns jemand erpressen? Schauen Sie sich doch um: Sieht so ein Haus von jemandem aus, der viel Geld hat?“
Es stimmt. Bereits von außen war es mir aufgefallen. Das Haus ist alt, vermutlich schlecht gedämmt und noch mit Öl beheizt. Die Fenster sind aus Holz und einfach verglast. Auch die Einrichtung hat schon bessere Tage gesehen: verbleichter Läufer auf dem Flur, eine furnierte braune Küche aus den Sechzigern … zu stehlen und holen gibt es in diesem Haushalt tatsächlich nicht viel.
„Ist jemand neidisch auf Sie? Oder haben Sie jemanden wegen seiner Kinder oder so beleidigt? Will jemand Rache?“
Er überlegt. „Das hat uns die Polizei auch schon gefragt. Nein, war und ist die Antwort.“
Für einen Moment nippen wir beide an unserem Apfelsaft. Meine nächste Frage muss ich vorsichtig formulieren.
„Ihre Freunde auf dem Weinfest haben erzählt, dass sie mit Ihnen zur Schule gegangen sind.“
„Gerald und Hendrik? Ja. Wie die meisten anderen in Himmelstal und den kleineren Nachbardörfern sind wir in dieselben Schulen gegangen, zuletzt im Klosterflecken.“
„Sie sollen dort immer wieder viel Erfolg bei den Mädels gehabt haben.“ Nun ist es raus.
Er stutzt. „Ja, das mag sein. Ich hatte tatsächlich mehrere Freundinnen. Aber was hat das mit unserem Problem zu tun?“
„Vermutlich nichts. Könnte es sein, dass eine Ihrer Verflossenen nun Rache übt? Vielleicht für eine Abfuhr durch Sie?“
„Sie meinen, eine meiner Ex ist sauer auf mich?“
„Vielleicht. Oder eine von ihnen hätte gern ein Kind mit Ihnen gehabt und nimmt es sich nun.“
Moormann überlegt, schüttelt dann jedoch den Kopf.
„Selbst wenn. Das ist fünfundzwanzig Jahre her.“
„Aber vielleicht gab es eine spätere Affäre. Vielleicht hat sich eine Frau erhofft, Sie würden mit ihr eine Familie gründen.“
Nun erscheint mir mein Gegenüber ein wenig nervös.
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Es war immer nur kurz.“
Aber irgendetwas scheint ihm durch den Sinn zu gehen, etwas, das er nicht aussprechen mag – und schon gar nicht vor einem Reporter. Ich muss anders ansetzen.
„Sie haben erst kürzlich geheiratet?“
„Ja, vor zwei Jahren. Thea und ich haben uns im Job kennengelernt und uns dann irgendwann verliebt.“
„Sie ist in Ihrem Alter? Das ist spät für ein Kind.“
„Nein. Thea ist deutlich jünger, erst Anfang zwanzig.“
„Dann war es für Sie ja ein richtiger Glücksgriff.“
„Genauso ist es! Ich dachte schon, es wird nichts mehr mit Familie und so … Aber gerade zeitgleich mit dem Erbe von meiner Mutter, fand sich auch eine Frau. So konnten wir dann dieses Haus beziehen.“
Ich weise auf ein Hochzeitsbild, das neben der Tür an der Wand hängt und mir sofort aufgefallen war.
Thea schenkt allen am Küchentisch Sitzenden ein strahlendes Lachen aus hellen Augen und einem von blonden Locken umspültes Vorzeigegesicht.
„Könnte es sein, dass Sie Thea jemandem weggenommen haben? Oder jemand es zumindest so empfindet. Immerhin scheint Ihre Thea ja eine attraktive Frau zu sein.“
„Sie meinen, jemand nimmt uns das Kind aus Rache, weil ich ihm die Freundin ausgespannt habe? Unmöglich!“
Trotzdem spüre ich, dass er zögert. Irgend etwas ‚rattert‘ da in seinen Erinnerungen. Leider wird er es mir vermutlich nicht sagen – vielleicht weil es ihm peinlich ist?
Ich frage, ob ich auch mit Thea kurz sprechen kann. Er schüttelt mit dem Kopf. „Lieber nicht. Es wird uns echt zu viel!“
Ich habe den Eindruck, er will mich nun loswerden.
Vielleicht hat ihn der Gedanke in seinem Kopf ins Schleudern gebracht … oder es wird ihm wirklich zu viel. Ich nicke, trinke meinen Apfelsaft aus, gebe ihm meine Karte und gehe zur Haustür.
„Rufen Sie mich an, wenn ich irgendwie helfen kann oder Sie die Öffentlichkeit brauchen.“
Das auf dem Flur an der Wand angebrachte Telefon klingelt, als er gerade die Tür öffnen will. Er bittet um Entschuldigung und geht ran. Plötzlich verändert sich sein Gesichtsausdruck. Er wirkt wie ausgewechselt.
„Wo ist das?“ fragt er doppelt so laut wie nötig. „Die fahren dort sofort hin?“ „In Medingen? Ich komme!“ Er legt auf und öffnet die Tür zum Wohnzimmer.
„Thea, sie haben eine Nachricht wegen Benni. Irgendwo in Medingen soll ein Baby gefunden worden sein.“
Sofort erscheint die wenn auch jetzt blasse und etwas zerzauste attraktive Thea in der Tür. Sie trägt Jeans und eine helle Bluse. „Unser Benni lebt?“
„Das haben sie nicht gesagt. Wir sollen nach Medingen zum Kloster kommen. Sie melden sich auf Handy, wenn sie ihn gefunden haben.“
„Dann los. Was stehst du hier noch rum?“ Erst jetzt registriert sie mich in der Haustür stehend. „Wer ist das?“
„Das ist Jens Jahnke vom Kreisblatt. Er will uns helfen.“
„Jetzt scheinen wir ihn ja nicht mehr zu brauchen.“
Thea hat natürlich recht.
Ich ärgere mich jetzt, nicht mit dem Auto gekommen zu sein. Bis nach Hause brauche ich von hier etwa zehn Minuten mit dem Fahrrad. Zum Glück geht es meist bergab. Die Fahrt nach Medingen mit dem Auto wird dann etwa fünfzehn Minuten dauern. Okay, ich muss jetzt nicht fragen, ob sie mich mitnehmen und damit womöglich noch Diskussionen losstoßen. Wenn ich selbst fahre, bin ich deutlich unabhängiger.
*
Der Weg zum Kloster ist ausgeschildert. Ich fahre durch den Torbogen und über eine löchrige Asphaltstraße an einem Bildungsinstitut vorbei. Dann liegt das Kloster vor mir, aufgeräumt, strahlend weiß mit vielen Fenstern und dem Kirchturm in der Mitte. Außer mir scheint allerdings niemand hier zu sein. Ein paar Fahrräder stehen neben der Infotafel, ein Audi parkt auf dem sonst leerem Parkplatz – keine Sanis, keine Polizei, keine Moormanns. Ich drehe also um. An der Kreuzung studiert ein Radfahrer die Karte an der Infowand. Ich frage ihn, ob er irgendwo Polizei oder Krankenwagen gesehen hat. Ja, hat er. Der Mann mit Helm weist Richtung Wassermühle.
„Hinter der Mühle ist irgendwas los. Da dürfen Sie aber nicht weiterfahren.“
Ich bedanke mich, fahre die Straße hinunter, soweit es geht, schnappe meine Canon und marschiere an der Mühle vorbei über die Brücke. Eine blonde Frau mit einem jungen braunen Hund kommt mir entgegen. Er zerrt an seiner Leine. An der Mühle wurde der Heidefluss aufgestaut. Über einen Kopfsteinweg erreicht man ihn, im Ablauf nun flach und eher ein breiter Bach. Bedenkt man, dass die Ilmenau früher bereits ab Lüneburg schiffbar war und den Salztransport zur Elbe ermöglicht hat, kann man sich nur wundern, wie schmal sie hier noch ist.
Direkt an der Brücke blinkt es blau. Neben dem Rettungswagen parkt ein Polizeifahrzeug. Auch Moormanns müssen ihr Auto weiter vorn abgestellt haben, ohne dass es mir aufgefallen ist. Christian steht an der Tür zum Krankenwagen, Thea entdecke ich drinnen. Ich bin froh, einen der beiden Sanitäter persönlich zu kennen – sonst hätte mich die Polizei wohl verjagt.
„Lennart, du hier?“
Fast erschrocken dreht sich mein junger Freund um.
„Jens! Das frage ich dich. Hast du einen siebten Sinn? Wie sonst kannst du hier plötzlich auftauchen?“
Er nimmt mich in den Arm. Sein zum Irokesenschnitt gestylter Haarschopf kratzt an meiner Wange. Ohne Gel oder Pattex scheint sowas nicht zu halten. Zur seriösen orangen Retter-Uniform will diese Frisur samt der professionellen Ohrlocherweiterung schon gar nicht passen.
Ich lache. „Nein, ich habe nur immer mal wieder etwas Reporter-Glück.“
Lennart nenne ich gerne meinen ‚Ziehsohn‘. Vor Jahren haben wir uns bei einem gemeinsamen Vorstoß in die rechte Szene kennen und schätzen gelernt. Er hat mich als Ex-Nazi unterstützt, einer jüdischen Mutter zu helfen. Auch damals ging es um ein Baby – was Lennart auch sofort einfällt.
„Wenn es so weitergeht, werden wir zwei noch das Bundesverdienstkreuz kriegen: Die Babyretter aus der Heide.“
Er zeigt in den Kleinbus. Dort stillt Thea ihren kleinen Benni. Der Junge hat es also überstanden.
„Wie und wo habt ihr ihn gefunden?“
Lennart schüttelt mit dem Kopf. „Besser, du fragst die Polizei dort unten. Als Sanitäter kriegen wir Ärger, wenn wir Details von unseren Einsätzen ausplaudern.“
Auch wenn mich erstaunt, dass der sonst mit dem Gesetz eher locker umgehende Lennart jetzt nichts sagt, bin ich doch froh. Mein Ziehsohn wird vernünftig!
Ich mache mit Einverständnis der Eltern einige Fotos von der Familie im und vor dem Einsatzfahrzeug. Dann schieße ich auch Fotos von den Polizisten unten am Fluss. Es sind nur zwei, die dort gerade ein blauweißes Absperrband ziehen.
„Sie haben die Spurensicherung gerufen,“ erklärt Christian Moormann. „Der Maxi-Cosi samt Baby stand unten auf dem Holzsteg. Ein Pärchen, das hier baden und sich sonnen wollte, hat es vorhin gefunden. Allerdings hatte die Polizei schon vorher einen telefonischen Hinweis auf unseren Ben bekommen.“
Ich vermute, er meint die zwei Jugendlichen, die mit ihren Fahrrädern etwas weiter hinten am Weg stehen. Ich bedanke mich bei dem jetzt wieder glücklichen Vater und gehe hinüber zu den beiden. Der Junge ist ein blonder Lockenkopf in lässigem T-Shirt, halblanger Hose und weißen Sneakers, das Mädchen eine Brünette mit kurzen Haaren, einem Bikinioberteil und dazu passenden Shorts. Am Lenker eines der Mountainbikes hängt eine große Kunststofftasche, in der sie offenbar ihre Badesachen und eine Decke transportieren.
„Hallo. Ich bin Jens, Reporter vom Käseblatt. Ihr habt das Baby gefunden?“
Haben die beiden bisher eher eingeschüchtert auf mich gewirkt, scheinen sie nun aufzutauen. Stolz klingt mit, als der Junge nickt und antwortet.
„Ja. Wir wollten heute mal chillen. Zwar ist das hier nicht die Ostsee, aber ein bisschen erfrischen kann man sich dort unten im Fluss schon.“
„Na ja,“ ergänzt das Mädchen. „Und der Steg eignet sich auch zum Sonnen.“
„Und dann stand dort die Babyschale?“
„Genau. Wir waren geradezu schockiert und wussten sofort, wen wir da gefunden hatten. War ja bei Instagram und überall. Also haben wir sofort die Bullen, äh, die Polizei angerufen. Die sagten allerdings, dass schon jemand auf dem Weg sei und tatsächlich kamen schon fünf Minuten später die Sanis.“
Ich mache ein Foto von den beiden ehrlichen Findern. Nach kurzem Zögern erlauben sie mir, es in die Zeitung zu setzen.
„Wollte schon immer mal in die Zeitung!“ gibt der Junge grinsend zu. „Auch wenn so rauskommt, dass wir ein bisschen Schule geschwänzt haben. Aber wir hatten sowieso nur zwei wichtige Fächer …“
Einer der Polizisten kommt den Trampelpfad hinauf zu uns. Es ist jener sympathische Beamte, den ich mit Enno bei Edeka getroffen habe. Auch er hat mich bereits erkannt.
„Ah, Jens Jahnke vom Kreisblatt. Ich bin wirklich beeindruckt, wie schnell Sie auch diesmal auftauchen.“
Auf dem Schild an seiner Uniform steht sein Name. Ich strahle ihn an. „Danke, Herr Riepe. Nun, ich war gerade bei Moormanns, als sie die telefonische Nachricht bekamen, dass ihr Kind wieder aufgetaucht sei.“
„Zur rechten Zeit am richtigen Ort. Ich wünschte, wir Polizisten wären das auch öfter. Sie wollen vermutlich wissen, was hier passiert ist.“
„Klar. Ich hoffe, auch von Ihnen erfahre ich wenigstens ein bisschen.“
Zu meiner Überraschung macht mein Gegenüber jetzt nicht dicht und beruft sich auf irgendwelche Vorschriften. Er nickt.
„Mehr als ein bisschen wissen auch wir noch nicht. Vorhin ging ein Notruf ein. Eine verzerrte Stimme gab Koordinaten durch und brach dann sofort ab. Die Beamte in der Zentrale hat die Nachricht dann vom Mitschnitt her aufgeschrieben.“
Er zeigt mir einen Zettel mit Zahlen und Buchstaben. Ich darf ihn abfotografieren: 3HR9+CMC
„Es sind GPS-Koordinaten fürs iPhone. Zuerst hat unsere Kollegin das nicht durchschaut, dann aber schnell reagiert. Sie hat die Sanis alarmiert. Die waren dann als erste hier. Etwas später kam auch ein Anruf von Jugendlichen, die das Kind kurz vor Ankunft der Sanitäter gefunden hatten.“
„Hat Ihre Kollegin in der Zentrale etwas über die Stimme am Telefon gesagt? Mann oder Frau, Akzent oder ohne? Gibt es Hintergrundgeräusche? Konnten Sie die Nummer zurückverfolgen?“ Ich merke etwas spät, dass ich ihm zu viele Fragen auf einmal stelle. „Sorry, vielleicht dürfen Sie das alles ja gar nicht beantworten.“
Wieder lacht er und ich ahne, dass die Sympathie auf Gegenseitigkeit beruht. Was wirklich hilfreich wäre!
„Sie haben vermutlich schlechte Erfahrungen mit gewissen Polizisten gemacht.“
Ich ahne, er weiß von meinen Problemen mit Hauptkommissar Westermann von der Kreispolizei.
„Aber ich kann Sie beruhigen. Alles, was der Aufklärung von Straftaten dient, darf ich auch einsetzen. Wenn Sie also berichten, dass man nur diese Koordinaten hatte, sonst nichts, habe ich mir nichts vorzuwerfen.“
Er macht es geschickt. Er sagt nichts, verrät aber doch, was ich wissen wollte.
„Die Polizei hat also den Anruf nicht zurückverfolgen können und es gibt durch die verzerrte Stimme auch keine Anhaltspunkte auf den Anrufer oder die Anruferin?“
Klaus Riepe lacht. „Wenn Sie es sagen …“
„Ich vermute, Sie sperren hier ab, da Sie noch Spuren suchen? Stimmt es, dass der technische Dienst aus Lüneburg kommt?“
„Na, Herr Jahnke, woher wissen Sie denn das wieder?“
„Ist doch logisch. Vielleicht findet man Fußspuren oder Fingerabdrücke. Den Maxi Cosi werden Sie daraufhin ja wohl sowieso untersuchen.“
Riepe nickt. „Wir nehmen die Sache ernst. Wenn herauskommt, wer das Kind entführt hat, wird er oder sie es mit krassen Konsequenzen zu tun bekommen – auch wenn das Kind fit und gesund ist!“
„Das scheint es ja zu sein. Jemand hat sich also gut um das Baby gekümmert. Das Ganze war also entweder ein Versehen oder ein Warnschuss den Moormanns gegenüber.“
„Das ist reine Spekulation und Sie sollten davon nichts in die Zeitung setzten.“
„Okay, versprochen. Danke jedenfalls, Herr Riepe. Es ist mir eine große Freude, neben Julius Spieckermann nun auch mit Ihnen so gut zu kooperieren.“
Wieder lacht der fitte Polizist. „Dank zurück! Ich habe inzwischen viel Gutes von Ihnen und Ihrer Arbeit gehört. Besser, die Polizei arbeitet mit Ihnen zusammen. Sie haben bei uns im Revier der Samtgemeinde den Ruf, meist schneller als die Polizei zu sein …“
Das ehrt mich, aber der Gentleman genießt und schweigt.
Es bleibt warm, ja sogar heiß. Wenn auch für den Süden und den Westen Deutschlands wieder einmal Gewitter mit Starkregen angesagt sind – in der Heide bleibt es trocken. Unseren Rasen zu wässern, um ihn grün zu halten, haben wir längst aufgegeben. Zu kostbar ist Leitungswasser – und trotz großer Mengen reicht unser aufgefangenes Regenwasser nicht. Also stelle ich mein ästhetisches Empfinden von grün auf braungrau um, genauer: grün, grau und braun gescheckt.
Auf dem Weg zur Redaktionssitzung in die Kreisstadt setzen sich die Farben aus meinem Garten fort. Noch bringen Mais, Zuckerrüben, Gründünger, Weiden in Bachtälern und der Wald ein sattes Grün ins Landschaftsbild. Die bereits abgeernteten Felder mit blanker Erde oder jene mit trockenem Kartoffelkraut steuern ihre Brauntöne bei. Noch gelb wirken verbliebene Stoppelfelder oder auch die nach der Ernte zum Trocknen in Reihen ausgebreiteten Zwiebeln. Rote Dächer in den Ortschaften und immer mehr bunte Autos auf den Straßen sorgen für farbliche Vielfalt. Die schlanken, mal grau, mal weiß leuchtenden Windräder machen aus dem Bild ein lebendig bewegtes. Der blaue Himmel über allem, immer wieder mit weißen Schäfchenwolken betupft, macht aus unserer Agrar- und Kulturlandschaft erst ein wirkliches Kunstwerk. Oder trage ich zu dick auf? Bei Regen wirkt es anders …
Jetzt jedoch genieße ich die Anfahrt Richtung Kreisstadt. Wer weiß, was mich in der Redaktion erwartet.
Ich komme wieder einmal knapp zu spät. Komisch, lege ich doch bei anderen Leuten großen Wert auf Pünktlichkeit. „Unpünktlichkeit ist Lieblosigkeit!“ hatte ein guter Freund mal gesagt und mich damit beeindruckt. Nun, mit meiner Liebe zu meinen Kollegen scheint es also nicht besonders weit her zu sein. Für Steini gilt das allerdings noch krasser. Auch diesmal kommt er deutlich später als ich.
Wir sitzen um einen ovalen Tisch im Konferenzraum neben dem Büro des Chefs. Bis auf Steini sind alle da, als ich komme.
Elske und ich sitzen seit Jahren nebeneinander. Als ich komme, steht sie auf und wir umarmen uns.
„Jens, wie schön, dass sie das Baby wiedergefunden haben!“
Meine liebste Kollegin hat Herz und Verstand. Außerdem ist die schlanke Blondine ausgesprochen hübsch und wenn Maren und sie nicht befreundet wären, hätte Maren allen Grund zur Eifersucht. Immerhin bin ich mit Elske recht oft zusammen, da sich auch unsere Schreibtische in der Redaktion gegenüberstehen. Allerdings würde es altersmäßig nicht passen …
Mit am Tisch sitzen Tamara und Ben, bisher unsere Volontäre, seit Juli nun fest angestellte Redakteure. Die beiden haben die Prüfungen mit Bravour bestanden und sich ihre Anstellung wirklich verdient. Sie sind nicht nur fleißig, sondern auch pfiffig und klug – drei wichtige Qualitäten für gute Reporter.
Dr. Mayer, unser Jurist gehört noch dazu, zwei weitere Redakteure, unser Online-Redakteur, unser Chef Florian Heitmann und eben, noch nicht anwesend, Steini, unser oft schwer handhabbarer Sportreporter. Ich hätte ihn längst rausgeschmissen. Er drückt sich von der Arbeit, wo es geht, stänkert dauernd herum und hat es besonders auf mich als angeblichen ‚Starreporter‘ unseres Blattes mit bissigen Bemerkungen abgesehen. Okay, ich gebe zu, Steini kennt sich in der Sportwelt des Landkreises, vor allem im Fußball, aus wie kein anderer. Er kennt dort jeden und jede und schreibt oft genug herrliche Geschichten darüber. Also bleibt er. Wenn er denn kommt.
„Auf unseren Sportkollegen werde ich jetzt nicht warten. Am besten, wir stricken schon mal unsere Tagesordnung.“
Unter der Leitung von Florian sind wir schnell damit fertig. Zu Beginn gibt es immer einen Rückblick. Diesmal geht es dabei vor allem um die Berichterstattung über die Wahlen in Thüringen und Sachsen. Dazu werden uns allerdings eher Artikel geliefert, als dass wir selbst welche schreiben.
„Wir sollten nicht zu viel über die AfD schreiben,“ sagt Florian immer wieder und achtet auch darauf. „Je mehr wir sie thematisieren, desto mehr spielen wir ihr zu.“
Recht hat er. Ohne die Medien und deren Umgang mit den Rechten wäre es vielleicht nicht so weit gekommen.
„Ich fand deinen Artikel über das wiedergefundene Baby prima,“ meint Tamara in meine Richtung. „Wie hast du nur so schnell diese ganzen Infos gekriegt? Sowohl als es verschwand als auch als es gefunden wurde, warst du sofort vor Ort.“
„Die Reporternase?“ Elske lächelt mich grinsend an.
„Nee, Glück und Köpfchen!“
„Weiß die Polizei denn schon mehr?“ Florian hatte mich gebeten, in der Sache am Ball zu bleiben.
„Nein. Weder wer angerufen hat noch wer Benni in Medingen abgelegt hat, ist bekannt. Es ist auch nichts weiter passiert.“
„Komisch.“ Elske wirkt nachdenklich. „Fast habe ich das Gefühl, die Sache geht noch irgendwie weiter. Es kann doch nicht sein, dass ein Baby für einen Tag verschwindet, dann gesund und munter wieder auftaucht – und das war’s dann.“
Zwar habe ich auch schon in die Richtung gedacht, allerdings ohne Ergebnis. „Warten wir’s ab,“ sage ich deshalb. „Vielleicht wollte jemand auch einfach nur mal sehen, wie es ist, ein eigenes Baby zu haben.“
Inzwischen war, eine Entschuldigung murmelnd, auch Steini hereingestolpert. Er räuspert sich nun. „Find ich gut. Sowas wie eine Probefahrt. Wenn das Kind quietscht, kackt und plärrt, kannst du es wieder zurückgeben!“
Typisch Steini, denke ich und vermutlich jede und jeder in der Runde.
Wir verteilen die anstehenden Aufgaben.
„Der Wolf hat wieder zugeschlagen!“ berichtet Florian. „Ich habe hier eine brandneue Meldung vom Veterinäramt. Gleich drei Tierärzte wurden heute am frühen Morgen nach Ahnstorf zitiert. Was genau dort passiert ist, wird nicht mitgeteilt.“