das dritte Auge - Hermann Brünjes - E-Book

das dritte Auge E-Book

Hermann Brünjes

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Beschreibung

Allemal, wenn Sie sich für Indien interessieren, sollten Sie diesen Krimi lesen: Acht indische Gäste besuchen die Kirchengemeinde in Himmelstal. Nur sechs fliegen zurück. Zwei haben sich abgesetzt. Einer von ihnen wird kurz vor Weihnachten im Hamburger Hafengebiet tot aufgefunden. Der Lokalreporter Jens Jahnke will wissen, was passiert ist. Er befasst sich mit illegaler Einwanderung, staunt über Hindutempel in Deutschland und unternimmt zuletzt sogar eine aufregende Recherchereise nach Indien. Er will es wissen: Wer und wo ist der Mann mit dem dritten Auge? Diesmal geht es um Verfolgung von Christen in Indien und was uns das angeht. Und es geht um einen Glauben, der etwas kostet. Begleiten Sie den Reporter nach Himmelstal, einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide – und diesmal hinaus ins ferne, fremde und manchmal auch bedrohliche Indien.

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Seitenzahl: 342

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Hermann Brünjes

das dritte Auge

Jens Jahnke Krimi

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Montag, 26.6.

Teil EINS - Mittwoch, 27.6.

Donnerstag, 29.6.

Freitag, 30.6.

Samstag, 1.7.

Teil ZWEI - Samstag, 23.12.

Montag, 25.12. erster Weihnachtstag

Dienstag, 26.12. zweiter Weihnachtstag

Mittwoch 27.12.

Donnerstag 28.12.

Freitag 29.12.

Mittwoch, 10.1.

Teil DREI - Montag, 12.2.

Dienstag, 13.2.

Mittwoch 14.2.

Donnerstag 15.2.

Freitag 16.2.

Samstag 17.2.

Sonntag 18.2.

Teil VIER - Montag, 19.2.

Dienstag, 20.2.

Mittwoch 21.2.

Samstag, 24.2.

Sonntag, 25.2.

Montag, 26.2.

Mittwoch, 28.2.

Sonntag, 3.3.

Samstag, 9.3.

Epilog

Autor, Hinweise zum Buch und weitere Bücher

wichtigste Personen

Impressum neobooks

Prolog

Sie kamen am Tag des Herrn.

Lea hatte gerade das Gleichnis vom verlorenen Sohn vorgelesen, die dritte Lesung heute. Jetzt sangen sie, laut und voller Freude. Mohan spielte Keyboard, Prem die Tabla. Der Junge war ein Naturtalent. Premkumar würde es als Trommler oder Schlagzeuger noch weit bringen. Schon jetzt war er bei Hochzeiten und Kulturveranstaltungen ein gefragter Musiker.

Sie mussten sich abgesprochen und den Anschlag präzise geplant haben. Plötzlich waren sie da. Zuerst rissen sie die Wände aus geflochtenen Bambuselementen von den vorderen und seitlichen Pfosten. Die kleine Gemeinde saß fast im Freien. Nur das Dach und die Rückseite der kleinen Buschkirche standen noch. Erschrocken stockte ihr Gesang. Prem unterbrach sein Trommeln. Mohan entlockte dem Keyboard einen klagenden Ton, so als ginge ihm die Luft aus. Dann jedoch spielte er weiter. Auch Leas helle Stimme ertönte nach kurzem Zögern wieder, jetzt ungewöhnlich laut. Trotzig schmetterte sie den Angreifern ein „Rerela“ entgegen. „Lobt Gott!“

Mindestens fünfzehn Männer umringten die Hütte, die für die kleine Gemeinde Mohans ein Haus Gottes war, eine Kirche. Nicht so für diese Männer. Sie trugen rote Stirnbänder. Rot war die Farbe der Kshatriyas, der Kriegerkaste. Einige hielten Stangen, andere Macheten und zwei sogar brennende Fackeln in den Händen. Sie waren Aktivisten der RSS, radikale Hindu-Nationalisten. Einer filmte die Szene mit seinem Handy.

„Aufhören!“ Der muskulöse Mann in Jeans und weiß-rotem T-Shirt war offenbar ihr Anführer. Über seiner Nasenwurzel war ein Punkt tätowiert, das ‚dritte Auge‘. „Hört auf zu singen!“

Der sichtbar durchtrainierte Aktivist sprang vor den mit einem weißen Tuch bedeckten Altartisch. Er beförderte die drei Lotusblüten, eine wunderschöne Bambusdekoration, mit einem Schlag seines Knüppels in Richtung Kreuz, das an der Stirnwand hing. Dann baute er sich breitbeinig vor Mohan auf und hielt den Knüppel drohend über das Keyboard.

„Du hörst jetzt auf zu spielen. Und ihr alle schwört eurem Jesus ab. Im Namen Shivas, des großen Gottes. Sofort!“

Der Knüppel schwebte über den Tasten.

Mohan hielt den Ton, zog seine Hände jedoch nicht weg. Er schaute dem Angreifer in die Augen. „Niemals!“ sagte er ruhig und seine Tonlage passte zu der des Instruments. „Niemals werde ich Jesus verlassen. Eher verliere ich alles, was ich habe.“

Für einen Moment schien Mohans Entschlossenheit den Hass des Fanatikers zu überwinden. Für einen Moment. Doch dann sauste der Knüppel auf das Keyboard hinab. Mohan konnte gerade noch seine Hände wegziehen. Fünf Monatskollekten hatten sie in das Instrument investiert. Nun zerbarst es in ungezählte Teile. Lea und einige andere Frauen und Mädchen schrien entsetzt auf.

Auf die Männer wirkten der Schlag ihres Anführers und die Schreie wie ein Signal zum Angriff. Sie rüttelten an den Pfosten der Hütte. Die Dachsparren begannen, sich zu lösen. Einer hielt seine Fackel an die trockenen Palmblätter des Daches, ein anderer riss das Holzkreuz von der Wand und zertrümmerte es an einem der Pfosten. Brennende Blätter und Äste fielen zu Boden. Auch die Matten, auf denen die fast zwanzig Gemeindeglieder gesessen hatten, fingen Feuer. Alle flohen nach draußen, empfangen und geschlagen von den Angreifern.

„Dann verlierst du also alles!“ Wie von Sinnen brüllte der Wortführer des Mobs Mohan an. „Zieht ihn aus! Und seine Hure auch!“ Starke Hände packten Mohan und Lea und rissen ihnen die Kleider vom Leib. Prem wollte dazwischengehen. Er bekam einen Schlag auf den Kopf und brach zusammen. Mohans Sohn, gerade einmal vier Jahre alt, wurde von einem der Fanatiker ebenfalls geschlagen und fiel weinend zu Boden. Mohan wollte ihn beschützen, hatte jedoch keine Chance.

Nackt trieben sie ihn aus der Kirche. Lea und er mussten, gehetzt von einer wilden Meute, um ihr Leben rennen. Die Dornen und spitzen Steine, über die er lief, spürte er kaum. Sein Sohn, was war mit seinem Sohn? Und Lea? Er sah noch, dass sie ihrer beider Flucht filmten. Nackt, geschunden und verzweifelt. Dann, am Rande des Dschungels, brach er zusammen.

Montag, 26.6.

Mein Chef hätte mich niemals geschickt. Von ‚Kirchenterminen‘ hielt Florian nichts. Er meint immer, die Popen sollten ihre Artikel selber schreiben und nicht das teure Personal der Zeitung verschleißen. Chefredakteur Florian Heitmann hatte zwar ein paar Semester evangelische Theologie studiert, grenzte sich jedoch zynisch und konsequent von allem ab, was mit Religion und Kirche zu tun hatte. Irgendetwas musste während seines Studiums vorgefallen sein – aber abgesehen davon, dass ihm auf einer feucht-fröhlichen Betriebsfeier einmal die Sache mit dem Studium herausgerutscht war, hält er bis heute dicht.

Gut, dass ich als Urgestein der Redaktion unseres Kreisblattes meine Termine eigenständig einteilen und wählen kann.

Nun sitze ich hier in kleiner aber illustrer Runde im Gemeindesaal. Maren hatte mir zuvor am Abendbrottisch von alten Zeiten vorgeschwärmt. „Oliver hat sich damals intensiv um die Partnerschaft gekümmert. Auch die Gemeinde Himmelstal hat oft Geld gesammelt und eines der Kinderheime in Indien unterstützt. Es gab hier viele Freunde der Arbeit dort. Ich bin gespannt, wie viele von ihnen gleich ins Gemeindehaus kommen.“

Jetzt steht meiner Liebsten der Frust auf die Stirn geschrieben. Wir sind nur zu fünft: Maren, meine geliebte Lebensgefährtin; Pastor Hans Werner, der mal Auslandsdienst in Australien geleistet hat, mit Indien aber bisher nichts zu tun hatte; Irene, ein treues, weißhaariges Gemeindeglied; Pastor Hannes Schulz, ein großer, fröhlicher Mann mit Glatze und ‚alter‘ Freund der indischen Stammeskirche, der extra aus Hannover angereist ist – und ich selbst, der angeblich teuer bezahlte Reporter vom heimischen Käseblatt.

Uns gegenüber im Stuhlkreis sitzen acht Inder. Drei davon sind Frauen in bunten Saris und fünf sind Männer in eher tristen Alltagsklamotten.

Die Gruppe der Besucher aus Indien nimmt die geringe Zahl ihrer hiesigen Gastgeber gelassen. Allerdings ahne ich, dass in ihren Köpfen anderes vorgeht als das, was sie hier nach Außen präsentieren.

Maren hat aus den Beständen ihres vor Jahren verstorbenen Mannes einige Fotos herausgesucht. Oliver Bender hat diese ziemlich exotische Partnerkirche mit Gemeinden in einem entlegenen südindischen Stammesgebiet jahrelang begleitet. Nun projiziert Maren einige Bilder mit dem Beamer an die weiße Stirnwand des Saals. Wir lassen uns von den indischen Gästen erklären, was wir da sehen.

S. Jesudos wird uns als Präsident der Kirche vorgestellt. Er wirkt auf mich wie ein harmloser alter Mann mit offenem und klarem Blick, glänzender Fast-Glatze und gutmütigem Wesen. Er scheint jedoch nicht wirklich das Sagen zu haben. Das hat zweifellos sein Übersetzer, ein stämmiger selbstbewusster Macher-Typ in Jeans und rotem Poloshirt namens N. David. Er übersetzt die Beiträge der anderen aus dem Telugu, eine mir bis dato unbekannte, unglaublich schnelle indische Sprache, ins Englische und präsentiert sich als Sprachrohr der Besuchergruppe. Erst nach etwa einer Stunde merke ich, dass außer ihm auch zwei jüngere Männer namens M. Paulson und Kiran Babu ein bisschen Englisch verstehen.

„Ihr seht hier die Godavari. Das Bild muss vor Jahren im Winter aufgenommen worden sein. Damals führte der Fluss an dieser Stelle wenig Wasser. Heute sieht es dort gänzlich anders aus. Das oft einen Kilometer breite Flussbett ist gut gefüllt. Man sieht die Sandbänke nicht mehr und in der Regenzeit tritt der Strom regelmäßig über die Ufer der Steilküste.“

„Der Klimawandel!“ meint Pastor Schulz, den wir einfach nur ‚Hannes‘ nennen sollen. N. David schüttelt mit dem Kopf. Ich habe vorhin mehrfach gesehen, wie unsere Gäste den Kopf schüttelten. Offenbar war mit dem sanften Shaken jedoch nicht ‚Nein‘ gemeint, sondern ‚Ja‘. Jetzt jedoch bewegt der Pastor sein Haupt mit dem pechschwarzen Haar energischer.

„Nein! Diesmal liegt es nicht am Klimawandel.“ Er wirkt sich seiner Sache sicher.

„Auch wenn Indien natürlich davon extrem betroffen ist – es regnet mehr, die Stürme werden heftiger und die Trockenzeiten länger – diesmal liegt es nicht am Klima. Etwa fünfzig Kilometer flussabwärts bei der Stadt Polavaram wurde ein riesiger Staudamm gebaut. Da gibt es nun einen Rückstau – und in der Regenzeit regelmäßig schlimme Überschwemmungen.“

Im Folgenden geht es vor allem um diesen Staudamm und seine Folgen für die Stammesdörfer entlang der Godavari. Mehr als die Hälfte der vierzig Gemeinden dieser lutherischen Kirche liegen im Gebiet des künftigen Stausees. Schon jetzt gibt es jährlich verheerende Überflutungen von Feldern und Siedlungen. Fast eine halbe Millionen Menschen werden umgesiedelt und gezwungen, ihre Heimat und Lebensgrundlagen zu verlassen. Maren zeigt ein Hüttendorf direkt am Steilufer des Flusses.

„Das ist Koida“, erklärt N. David. „Hier lebten Familien verschiedener Stämme friedlich zusammen, egal ob Christen, Hindus oder Animisten. Nun haben die Umsiedlungen begonnen. Die Regierung verfrachtet die Bewohner je nach Zugehörigkeit in verschiedene Kolonien. Die Koya-Christen werden siebzig Kilometer weiter in der Nähe einer großen Stadt angesiedelt.“

Stille. Jede und jeder von uns ist betroffen.

Hannes reagiert wieder am schnellsten. „Warum machen die sowas? So werden doch die Dorfstrukturen und sämtliche Beziehungen zerrissen. Gerade in neuer Umgebung könnten sich die Nachbarn sonst doch viel besser gegenseitig unterstützen.“

N. David nickt. „Ja, warum machen sie das? Angeblich soll es verwaltungstechnisch nicht anders gehen. Die Entschädigungen sind auch unterschiedlich gestaffelt. Aber tatsächlich wollen sie Christen und Moslems von den Hindus isolieren. Unsere Regierung denkt in Kasten, in Religionszugehörigkeit und vor allem zugunsten der höheren Hindu-Kasten.“

Hannes scheint das nicht zu glauben.

„Aber Indien ist doch ein säkularer Staat? Oder? Euren Präsidenten Narendra Modi haben wir ja gerade bei den G20 gesehen. Der trat dort wie ein freundlicher, liberaler und weiser Landesvater auf und wirkt auf mich nun gar nicht wie ein Extremist oder gesellschaftlicher Spalter.“

N. David übersetzt Hannes. M. Paulson, uns vorgestellt als Pastor in einem Dorf am Fluss, schüttelt mit dem Kopf. Problemlos erkenne ich ein klares ‚Nein‘. Dem eher schmächtigen Mann, ich schätze ihn auf vierzig, sind beim Nennen des Namens ‚Modi‘ Emotionen anzusehen – und keine positiven.

Er erhebt sich von seinem Platz, um etwas zu sagen.

„That’s his public-face to manipulate the people from oversea!“, meint er in holprigem Englisch. Dann fährt er in Telugu fort, übersetzt von N. David: „Modi war und ist einer der Führer der RSS, der Rashtriya Swayamsevak Sangh. Das ist eine extreme Hindu-Organisation und gewissermaßen der militante Arm der nationalistischen BJP-Partei. Ihr Ziel ist es, Indien zu einem hinduistischen Staat zu machen – ähnlich wie der Iran zum muslimischen Staat gemacht wurde. Systematisch hat Modi seine Leute in allen Positionen platziert. Moslems, Christen und allen Andersgläubigen wird das Leben schwer gemacht. Die RSS schickt Trupps in die Dörfer und verprügelt Christen, steckt ihre Häuser an und tötet sie. Die Behörden tun nichts dagegen.“

Er setzt sich wieder. Ich spüre, dass Paulson noch viel mehr sagen könnte, sich jedoch zusammenreißt.

N. David übernimmt weitere Erklärungen.

„Indien wird seit zwei Legislaturperioden von der BJP regiert. Das sind radikale Nationalisten. Ja, es stimmt: Unsere Verfassung ist demokratisch und säkular, mit Religions-, Presse-, Meinungsfreiheit und allem was dazugehört. Aber sie wird immer mehr ausgehöhlt und unterlaufen. Viele der Bundesstaaten haben bereits Gesetze erlassen, die verbieten, seine Religion zu wechseln. Wer konvertiert, wird kriminalisiert. Zu deutsch: Mission steht unter Strafe. Im Bundesstaat Odisha, aber nicht nur dort, gab es 2008 und 2012 massive Übergriffe auf Christen.“

Er schaut M. Paulson an. „Unser Bruder Paulson hat dies schmerzlich erleben müssen. Es wurden hunderte Menschen bestialisch ermordet und tausende Häuser und Kirchen abgefackelt. Und was hat unserer Regierung getan? Nichts.“

Wieder schweigen alle. Was soll man dazu auch sagen? Mehr Einzelheiten erfragen? Peinlich, weil vielleicht als voyeuristisch empfunden. Meinungen der anderen abfragen? Überflüssig.

Ich sehe den Gesichtern an, wie betroffen sie alle von diesem Thema sind. Besser, ich mache mich später im Internet schlau darüber. Dass es in Indien, einem unserer größten und extrem umworbenen Handelspartner, so etwas gibt, habe ich in dieser Schärfe jedenfalls noch nicht gehört.

Ich bin froh, als Maren das Thema etwas umleitet.

„Dieser Staudamm. Was wird aus euren Gemeinden, wenn sie umgesiedelt werden. Und wann passiert das?“

N. David nickt einer der Frauen zu.

„Da ist Charu direkt betroffen. Sie lebt als Bibelfrau bereits in einer der neuen Kolonien.“

Charu erhebt sich, wenn auch zögernd und nicht so sportlich wie M. Paulson. Ihr blassrosa Sari verbirgt ihre vollschlanke Figur nicht, sondern betont sie eher noch. Irgendwo habe ich gelesen, dass in Indien ‚Dicksein‘ nicht Makel ist, sondern Ausdruck von Reichtum und Schönheit. Nun denn …

Die folglich reiche und schöne Charu verbeugt sich zunächst, beginnt dann mit leiser Stimme und spricht bald schnell und fließend. Wenn ich auch kein Wort verstehe, so spüre ich auch hier persönliche Betroffenheit. David übersetzt:

„Ja, danke. Gelobt sei Jesus Christus. Wir sind bereits umgesiedelt worden, jedenfalls teilweise. Wir Christen vom Koya-Stamm wurden über sechzig Kilometer westlich unseres alten Dorfes in einer riesigen Kolonie angesiedelt. So lange das Wasser noch nicht alles überschwemmt hat, leben unsere Männer allerdings weiter in Koida am Fluss. Unsere Felder und Tiere können wir nicht mitnehmen, also kümmern sich die Männer darum.“

„Wie ist es in den neuen Siedlungen?“ N. David weiß es natürlich, fragt jedoch an unserer Stelle seine Kollegin.

„Schrecklich.“ Charu verzieht das Gesicht. „Wir haben zwar Häuser bekommen, die auf den ersten Blick größer und komfortabler wirken, als unsere Hütten im Dorf am Fluss – allerdings haben sich viele der Flachdächer aus Beton schon in der ersten Regenzeit als undicht erwiesen und im Sommer als viel zu aufgeheizt. Die meisten von uns haben sich deshalb kleine Hütten neben ihr Haus gebaut.“

„Typisch für unsere Regierung!“ kommentiert N. David.

Charu erzählt weiter: „Mehr jedoch wurde uns von der Regierung bisher nicht geholfen. Zum Glück habt ihr deutschen Partner uns mit Zäunen, Pflanzen, Mutterboden und sogar mit Hühnern unterstützt. So haben wir jetzt immerhin eigenes Gemüse und Eier. Aber den meisten von uns fehlt die Lebensgrundlage. Weder gibt es Wald in der Nähe, wo wir jagen könnten oder Früchte und Feuerholz sammeln, noch haben wir wie zuvor einen Fluss für Trinkwasser und Fisch. Auch Arbeit auf den Feldern der umliegenden Bauern gibt es nur selten. Bevor wir kamen, hatten die Landwirte ja bereits ihre Kulis. Auf uns hat niemand gewartet!“

Sie setzt sich. Offenbar ist es für unsere Gäste üblich und respektvoll, dass jene, die das Wort ergreifen, stehend sprechen.

„Wie sieht denn jetzt deine Arbeit als ‚Bibelfrau‘ aus? Bitte bleib doch sitzen.“ Sie will schon wieder aufstehen, kaum habe ich meine Frage gestellt. David gibt ihr einen Wink, im Sitzen zu antworten.

„Ich fahre zweimal die Woche in unser altes Dorf und biete dort eine Andacht an. Sonst bin ich in der Kolonie, besuche die christlichen Familien, halte den Gottesdienst in einer improvisierten Kirche und helfe den Frauen.“

David ergänzt: „Wir haben dort jetzt ein Kirchgebäude für drei Kolonien gebaut. Leider ist es noch nicht ganz fertig. Wir hoffen, noch ein bisschen mehr Unterstützung zu bekommen.“

Der Abend dauert etwas länger als zwei Stunden.

Ich hätte nicht gedacht, dass es so interessant ist, von einer jungen Kirche gewissermaßen am anderen Ende der Welt zu hören. Interessant und irgendwie auch schrecklich. Diese Menschen haben viel zu ertragen. Hunger leiden sie offenbar nicht – aber um ihre Existenz müssen sie täglich kämpfen. Wer keine Arbeit hat, hat kein Geld. Wer kein Geld hat, leidet Not. Nur die großen Familienverbände können da unterstützen. Einige haben inzwischen erwachsene Kinder, die in der Stadt einen guten Job haben und ihren Eltern Geld schicken können. Die Bedeutung von ‚Familie‘ ist dort deutlich größer als bei uns hier.

Auch für die Pastoren. Sie leben nur von Kollekten in Andachten und Gottesdiensten und den Gaben ihrer Gemeindeglieder. Beachtlich. Kein Wunder, dass diese Besuchsreise komplett von den Partnern in Deutschland bezahlt wurde.

Eine Woche in ostfriesischen Gemeinden, eine Woche dann hier in der Region. Die Gruppe ist jetzt im Tagungshaus in unserem beschaulichen Himmelstal untergebracht und besucht von hier aus Gemeinden, in denen Abende wie dieser veranstaltet werden – zum Glück sonst mit deutlich mehr Teilnehmenden. Auch Sightseeing war und ist angesagt: Nordsee, Lüneburger Heide, Lüneburg und Hamburg.

Besonders bewegt mich, von den Verfolgungen durch radikale Hindus zu hören. Was diese indischen Christen berichten, klingt ganz anders als das, was ich bisher vom Hinduismus dachte. Mahatma Ghandi, Yoga, Meditation … das war für mich bisher Inbegriff von friedlicher Koexistenz der Religionen und vorbildliche Toleranz. Wie passt das zusammen? Ich werde mich für meinen Artikel da noch etwas schlau machen.

Teil EINS - Mittwoch, 27.6.

Die Inder haben wirklich die beste Zeit des Jahres erwischt, denke ich auf der Fahrt zur Redaktionskonferenz. Der Juni zeigt den deutschen Sommer von seiner besten Seite: Es grünt und blüht, die Felder verheißen üppige Ernte, die Sonne lacht am wolkenlosen blauen Himmel oder spielt Haschen mit fröhlich dahinziehenden Schäfchenwolken. Das Thermometer zeigt zwischen 28 und 32 Grad an, also nicht zu heiß, aber doch richtig schön warm. Auch mein alter Golf scheint diese Temperaturen zu mögen und schnurrt zufrieden über die Kreisstraße Richtung Kreisstadt.

Ich nehme den Seiteneingang und haste die Treppen zum Konferenzraum hinauf. Die anderen haben bereits begonnen. Hemdsärmelig und sommerlich gekleidet sitzen meine Kollegen und Kolleginnen um den ovalen Tisch herum.

Steini, unser meist mürrischer Sportreporter, grinst mir schadenfreudig entgegen, vermutlich weil ich zu spät bin. Der Online-Redakteur, zwei Regionalreporter, die beiden Volontäre und Elske, meine hübsche Kollegin aus Ostfriesland, begrüßen mich mit einem freundlichen Nicken und Lächeln. Unser aller Chef Florian Heitmann verzichtet heute auf die für ihn sonst obligatorische Krawatte. Die Fenster im Konferenzraum sind weit geöffnet. Florians wuchtige Hände greifen entweder zur Wasserflasche auf dem Tisch oder zu seinem karierten Stoff-Taschentuch, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Sein mächtiger Körper füllt die Stirnseite des Tisches.

„Nun denn“, sagt er und wischt sich über die Stirn. „Da nun endlich auch unser weitgereister Kollege angekommen ist, lasst es uns kurz machen. Es ist einfach zu warm hier drin. Wir brauchen wohl doch eine Klimaanlage.“

Alle nicken.

„Du, Jens, hast uns diesen Artikel über den Besuch aus Indien präsentiert. Ist okay. Aber das reicht nun definitiv. Du glaubst ja wohl nicht, dass sich die Leute im Landkreis für ein paar indische Christen vom anderen Ende der Welt interessieren?“

Ich hatte vorab per Mail angefragt, ob ich einen weiteren Artikel machen könne. Angesichts der politischen Lage in Deutschland ist aus meiner Sicht das Thema ‚Nationalismus‘ und ‚Umgang mit Minderheiten‘ hochaktuell. Auf dem Hintergrund ‚Indien‘ könnte man da vieles auch für uns entdecken. Der Chef schaut skeptisch drein.

Unsere Medienbeauftragte Elske, der ich eine Kopie der Mail geschickt hatte, unterstützt mich.

„Chef, ich verstehe ja, was du meinst. Die meisten Leserinnen und Leser unseres Blattes interessiert nur und ausschließlich, was vor ihrer Haustür und vielleicht noch hier im Landkreis passiert. Aber meinst du nicht auch, dass wir als Zeitung eine große Verantwortung tragen? Migration, Ausgrenzung, Antisemitismus, Erfolge rechts-populistischer Parteien … Ich finde, in dieser Indien-Sache sind zweifellos unzählige Themen enthalten, die uns alle unbedingt angehen.“

„Blödsinn. Euch ist das wieder mal nur wichtig, weil ihr von eurem Jesus schreiben wollt!“ Typisch Steini.

Elske und der Sportredakteur fauchen sich an. Elske ist Mitglied beim EC in Ostfriesland, den ‚Entschiedenen Christen‘. Die anderen wissen das natürlich, hatten aber nie den Eindruck, dass unsere allseits geschätzte Kollegin ihren Glauben vor sich herträgt und ständig zum Thema macht.

„Selber Blödsinn!“ kontert sie. „Hier geht es nicht um ‚unseren‘ Jesus, sondern um Demokratie und Menschenrechte. Die werden mit Füßen getreten. Da will jemand in Indien eine religiöse Diktatur errichten. Auch wenn wir nur ein Käseblatt sind, so tun wir doch gut daran, uns wann immer möglich als Demokraten zu outen. Na ja, und diese indische Gruppe ist nun mal bei uns im Landkreis und wir haben die Gelegenheit dazu.“

Unser Chef, bis eben vermutlich noch auf Steinis Spur, nickt nun. „Okay. Jens, also noch einen Artikel. Dann reicht es.“

„Gut, ich werde also versuchen, die Gäste aus Indien im Tagungshaus abzupassen und sie einzeln zu interviewen. Das muss dann reichen.“

Mein Vorschlag wird abgesegnet, begleitet von einem genuschelten Kommentar Steinis. „Du und Elske, ihr kriegt doch immer Recht!“ habe ich verstanden. Auch typisch Steini. Wobei er mit Blick auf Elske nicht völlig daneben liegt. Unser Chef mag sie ganz besonders und schlägt ihr nur selten etwas aus.

*

Nach der mehr als gewöhnlichen Sitzung und dem Verteilen der üblichen Aufgaben treffen sich Elske und ich zum Mittagstisch in unserem Stammlokal. Es ist (wie passend!) der Inder im Stadtzentrum. Das Lokal bietet köstliches Essen, ein modernes und ansprechendes Ambiente mit Ausblick auf einen zentralen Platz und außerdem ein eigenes Café mit köstlichem Eis und Kuchen. Wir wählen einen Tisch unter Linden im Außenbereich vor dem Lokal. Shiva Kumar, der smarte Sohn des nordindischen Restaurants-Betreibers, bringt uns ungefragt je einen süß-würzigen Masala Tee.

„Schön, dass ihr wieder da seid!“ meint er freundlich. „Was darf ich euch zu Essen bringen?“

Ich bestelle Butter-Chicken und Elske ein vegetarisches Gericht mit gebackenem Blumenkohl von der Mittagstisch-Karte.

„Ob die Inder bei euch im Dorf auch manchmal indisch essen?“ Elske muss nun über ihre eigene Bemerkung lachen. „Ich meine nicht zuhause in Indien. Hier.“

„Maren hat erzählt, dass sie unterwegs oft zum Chinesen gehen. Dort gibt es Reis und Chilisauce. Letztere vertilgen sie in der Regel schüsselweise.“

„Wie, du meinst dieses rote Zeug im Gewürzständer?“

„Genau. Das für uns nur messerspitzenweise genießbare Chutney mischen sie sich löffelweise unter den Reis – hat Maren jedenfalls erzählt.“

„Sie muss es ja wissen. War sie mit ihrem verstorbenen Mann nicht sogar mal in Indien?“

„Ja, sogar zweimal. Aber ihr bekam weder das Klima noch kam sie mit der Hygiene zurecht ­– auch wenn sie die Leute und die Christen dort beeindruckt haben.“

„So wie auch dich diese Gäste beeindruckt haben, oder?“

„Na ja. Da gibt es jene und solche, denke ich. Ich kenne sie einfach zu wenig und bin deshalb gespannt auf das Interview.“

„Dann mach‘ es nur nicht zu fromm, damit Florian es anschließend auch abdruckt!“

Jetzt kommt das Essen. Schon beim Duft läuft mir das Wasser im Mund zusammen. „Lasst es euch schmecken!“ kommentiert Shiva und stellt noch ein paar knackige Appalam auf den Tisch, jene scharf gewürzte Riesen-Chips, die ich so gerne esse.

Wie ich es von ihr kenne, senkt Elske für einen Moment den Kopf. Ich weiß, dass sie dezent betet und Gott für ihr Essen dankt. Zwar habe auch ich inzwischen dank Maren und Elske einen gewissen Zugang zum christlichen Glauben gefunden, kann mich ans Beten vor dem Essen jedoch nicht gewöhnen. Ohne dass wir es je verabredet haben, essen wir konzentriert und ohne unser Gespräch fortzusetzen.

Dies geschieht dann umso intensiver nach dem Essen. Elske wischt sich mit der Serviette über die Lippen.

„Hervorragend! Wie immer.“

Das kann ich nur bestätigen. „Ich habe mich oft gefragt, ob man auch in Indien so gut indisch essen kann.“

„Na ja, sie werden vermutlich etwas schlichter kochen. Reis mit Sauce oder so, dazu Gemüse. Man isst dort vermutlich viel vegetarisch. Rindfleisch ist ja doch wohl verpönt.“

„Ja. Schweinefleisch auch. Rinder sind heilig, Schweine schmutzig. Also gibt es, wenn überhaupt, Fisch oder Geflügel.“

„Hat Maren dir erzählt? Oder die Inder?“

„Ja, die haben vorgestern auch von ihrem normalen Leben berichtet. Viele Familien können sich am Tag nur eine Mahlzeit leisten. Fleisch gibt es dann nur zu besonderen Anlässen.“

„Da leben sie also gesünder und umweltbewusster als wir?“

Ich zögere. „Vielleicht einige. Aber drei oder vier aus der Gruppe sahen ziemlich gut genährt aus. Von einer Mahlzeit kann das nicht kommen …“

Ich denke an Charu, N. David und vor allem an Pastor Rafael. Letzterer ist ein lustiger Geselle mit fröhlichem Lachen. Er erinnert mich an den lachenden Buddha, der alles andere als einen Asketen verkörpert.

Elske lacht und zeigt ihre Grübchen.

„Nun habe ich eine Vorstellung! Auf dein Interview bin ich gespannt. Wann willst du es machen?“

„Mal sehn. Sie bleiben bis Freitag und fliegen am Samstag zurück nach Indien. Ich hoffe, ich erwische sie noch.“

„Dann viel Glück. Jens, ich muss los. In der Sparkasse gibt es einen Event für Leute aus der Wirtschaft. Es geht um Kreditmöglichkeiten bei der Umstellung auf regenerative Energien.“ Sie steht schon, streicht ihr hellblaues Sommerkleid glatt und schiebt sich ihre Handtasche über die Schulter.

„Na, da bist du ja an der Quelle. Dieses chaotisch eingefädelte Heizungsgesetz wird uns wohl noch länger beschäftigen!“

„Das kannst du wohl sagen. Die 60 Milliarden Defizit im Haushalt ganz sicher auch. Tschüss und grüß Maren!“

Elske winkt noch einmal, während sie über den Platz Richtung Sparkasse geht. Sie sieht wirklich toll aus, meine Kollegin! Ich freue mich sehr, dass Maren und sie sich so gut verstehen.

Wäre Elske älter oder ich jünger, hätte Maren vermutlich allen Grund zur Eifersucht. Nun jedoch freue ich mich über eine Partnerin und eine gute Freundin. Beides trifft eigentlich auf beide zu.

Elske hat Geld auf den Tisch gelegt. Ich lege meine Scheine daneben, winke Shiva noch einmal zu und gehe gemächlich über den Platz zu den Parkbuchten, wo mein Golf auf mich wartet.

Donnerstag, 29.6.

Heute begleitet Maren die indischen Gäste auf ihre Exkursion nach Hamburg. Am frühen Nachmittag wollten sie zurückkommen und für 17.30 Uhr haben wir uns zum Interview mit der Gruppe verabredet.

Seltsamerweise ist Maren bis jetzt noch nicht zurück. Es ist kurz vor halb sechs. Ich schnappe mir nach Stunden am Schreibtisch mein Stevens-Crossrad, den Notizblock und meine Canon und düse die paar hundert Meter zum Tagungshaus. Wieder lacht die Sonne vom Himmel, es ist warm und heute wäre ein richtig guter Tag für eine Radtour, fürs Schwimmbad oder zum Grillen. Okay, vielleicht klappt es damit ja morgen.

Im Tagungshaus treffe ich auf eine alles andere als fröhliche Runde. Pastor Werner hatte mich in eines der neueren Gästehäuser bestellt. Dort ist die Gruppe aus Indien untergebracht. Nun sitzen sie mit sichtlich müden, vielleicht sogar deprimierten Gesichtern im gemütlich eingerichteten Clubraum, vor sich Tee, Kaffee und Kekse. Von den Indern sind nur sechs da, dazu Maren und der Pastor. Als ich den Raum betrete, schauen sie zur Tür, senken dann jedoch gleich wieder die Köpfe.

„Was ist denn hier los?“

Ich platziere meine Kamera neben einem der mit Lehnen und Polstern ausgestatteten Stühle und setze mich. Pastor Werner und Maren beginnen gleichzeitig zu sprechen. Beide wirken auf mich erregt und frustriert zugleich. „Zwei …“

Hans Werner überlässt Maren das Wort.

Sie setzt neu an. „Wir waren heute wie geplant in Hamburg und haben uns die Stadt angesehen. Michel, Landungsbrücken, Fischmarkt, Elphi, Rathaus. Alles lief prima und wie geplant. Dann war noch etwas Zeit zum Shoppen. Um Eins wollten wir losfahren und uns am Rathaus treffen. Zwei kamen nicht. Du hast sicher bereits gemerkt, dass wir nicht vollzählig sind.“

Allerdings. Der mir sehr sympathische Paulson fehlt in der Runde und jener junge Mann, der am Montag neben ihm saß. Sein Name war irgendetwas mit ‚Babu‘.

„Ja. M. Paulson und sein junger Freund fehlen.“

„Genau. Kiran Babu heißt sein Freund. Beide leben und arbeiten in den Kolonien. Paulson ist dort Pastor, Kiran Evangelist und Schreiner. Beide sind nicht aufzufinden.“

„Wie, nicht aufzufinden? Habt ihr gewartet?“

„Sicher. Mehr als zwei Stunden. Einige sind nach kurzer Zeit los und haben sie gesucht. Theo läuft immer noch irgendwo in Hamburg herum und hat gefühlt schon die halbe Stadt nach zwei Indern befragt. Er hat gerade wieder angerufen. Nichts.“

„Und die Polizei? Was sagen die?“

„Dort war Theo gegen vier Uhr. Sie haben ihn weggeschickt und gemeint, er solle noch warten und wiederkommen, wenn die zwei bis morgen nicht aufgetaucht sind. ‚Bei Ausländern weiß man nie‘, soll einer der Beamten gemeint haben.“

„Haben die beiden denn kein Handy?“ Auf dem Tisch und in Händen der Gäste hier, sehe ich mindestens vier davon. Ich habe in Englisch gefragt. N. David antwortet.

„Kiran nicht, Paulson hat eins. Es ist offenbar ausgeschaltet. Vielleicht ist sein Akku leer.“

„Oder er hat es verloren, oder er geht nicht ran … Ich mache mir inzwischen echt Sorgen.“ Hans Werner verbreitet auch nicht gerade Hoffnung.

„War euer Treffpunkt denn allen bekannt? Vielleicht haben die beiden sich einfach nur verlaufen.“

„Wir haben uns direkt vor dem roten Rathaus getroffen. Jeder in Hamburg weiß, wo das ist. Paulson spricht zudem etwas Englisch und ist ja nun nicht gerade dumm.“

Der Pastor wirkt nicht nur hilflos, sondern auch ein bisschen verärgert. Jetzt schaut er prüfend in die Runde.

„Hat von euch wirklich niemand eine Ahnung, wo die beiden sein könnten?“ Der Geistliche scheint dem Ganzen nicht recht zu trauen. N. David übersetzt.

Alle schauen ihn traurig an und schütteln mit dem Kopf, nun eindeutig verneinend. Charu verneint auch, starrt jedoch wie abwesend auf den Tisch. Ob sie etwas weiß oder ahnt? Auch Maren fällt ihre Mimik auf. Sie spricht die Bibelfrau direkt an.

„Charu, was denkst du?“

Bei Nennung ihres Namens zuckt die Frau zusammen. Als N. David Marens Frage übersetzt hat, zögert sie. Dann will sie aufstehen. „Kutscho.“ Davids kurze Aufforderung heißt vermutlich „setz dich“, denn Charu sinkt zurück in ihren Sessel.

„Weißt du etwas?“ fragt Maren. „Dann musst du es uns sagen!“ Als David jetzt übersetzt, meine ich, ein Erröten im Gesicht der Inderin zu erkennen – soweit man es bei Menschen mit dunkler Hautfarbe eben sieht, wenn ihnen das Blut in den Kopf steigt. Ich kann mich auch getäuscht haben.

Wieder zögert Charu. Dann jedoch sagt sie etwas. N. David schüttelt mit dem Kopf. Rafael, Jesudos und Divama, die andere Frau, mischen sich ebenfalls ein. Sie beginnen zu diskutieren, reden teilweise alle gleichzeitig. Die Diskussion auf Telugu wird immer hektischer. Wir Deutschen schauen uns an und verstehen nichts mehr.

„Worüber diskutiert ihr!“ Nach einer Weile nutzt Pastor Werner eine kurze Atempause der Gäste, um zu fragen, was auch Maren und mich brennend interessiert.

N. David schaut uns an, gibt den anderen ein Handzeichen zu schweigen und meint etwas verschämt: „Charu hat einen schlimmen Verdacht.“

Wir drei sind sichtlich irritiert. Ich denke an Unfall, Mord und Fremdenhass. Vielleicht ist den beiden ja etwas passiert.

„Vor ein paar Monaten, noch vor unseren Planungen für diese Reise, hat Kiran Babu in Gegenwart von Charu eine seltsame Bemerkung gemacht.“

„Und die wäre?“ Pastor Werner ist ungeduldig.

„Er meinte, wenn er einen Platz in der Gruppe bekäme, würden er am liebsten in Deutschland bleiben.“

Es trifft uns wie ein Hammer.

Wir schauen uns gegenseitig an, dann die indischen Gäste. Niemand sagt etwas. Man sieht, wie es in den Köpfen arbeitet. Was, wenn die beiden sich abgesetzt haben? Aber warum? Und wie wollen sie es ohne Deutschkenntnisse schaffen? Asyl würden sie doch vermutlich sowieso nicht bekommen. Wovon sollten sie hier leben? Wo unterkommen?

Wir drei Deutschen schütteln alle zugleich mit dem Kopf.

Maren ist die erste, die eine der vielen Fragen formuliert: „Charu, warum sollten sie das tun? Sie bringen sich selbst, aber auch euch und uns als Gastgeber damit in große Probleme.“

Die Bibelfrau schüttelt mit dem Kopf. Sie hat keine Ahnung.

Rafael antwortet an ihrer Stelle: „Mir haben sie nichts gesagt. Aber unmöglich wäre es nicht. Selbst mir geht es hier so: Ich sehe euren extremen Reichtum und frage mich, warum ich mich eigentlich Tag für Tag abquälen muss, während man hier bestens leben könnte.“

„Aber ihr müsstet doch wissen, dass Deutschland nicht einfach alle aufnimmt, die hierherkommen. Und inzwischen müsstet ihr auch mitbekommen haben, dass dies hier kein Schlaraffenland ist.“

„Ja, das wissen wir. Im Vergleich mit Chiguramamidi allerdings kommt es dem Paradies schon recht nahe. Wir wissen auch, dass ihr euer Sozial-System nicht überlasten wollt. Aber ihr gebt ja doch Asyl, oder?“

„Das stimmt. Asyl bekommen hier aber nur Verfolgte, nicht Leute, die wegen ihrer Armut fliehen.“

Maren wirkt geschockt.

Fast schüchtern reagiert Charu, nachdem David Maren übersetzt hat. „Aber Paulson und Kiran Babu werden doch verfolgt! Von den Hindus. Die lassen bei ihnen einfach nicht locker.“

Ich ahne, dass wir uns dem Thema ‚Christenverfolgung in Indien‘ nun doch selbst im zehntausend Kilometer entfernten Himmelstal werden stellen müssen, wenn sich die beiden wirklich abgesetzt haben.

Pastor Werner bittet seine Gäste, sich einen Moment zu gedulden und uns hinaus vor die Tür. Er lehnt sich auf der kleinen Veranda an die Mauer, Maren und ich setzen uns auf die weiße Bank, die sonst gerne von Gästen genutzt wird, um draußen eine zu rauchen.

„Wenn stimmt, was Charu vermutet, werden wir jetzt eine Menge Probleme bekommen.“ Pastor Werner ist besorgt.

Maren versucht, ihn und mich zu beruhigen.

„Aber das wissen wir noch nicht. Im Moment kann alles Mögliche passiert sein. Die Version mit dem ‚Verlaufen‘ erscheint mir am schlüssigsten.“ Meine geliebte Maren, immer versucht sie die Dinge positiv zu sehen!

„Das mag sein“, sage ich. „Allerdings scheint ja Theo mit seiner Suche in Hamburg bisher erfolglos zu sein.“

„Jens, Hamburg ist eine Großstadt! Da findet man nicht mal eben jemanden so schnell wieder.“

Manchmal liebe ich Marens nüchterne Art, manchmal liegt sie leider auch daneben.

„Das Zeitfenster für eine Klärung ist ziemlich eng. Am Samstagmorgen fliegt die Gruppe zurück nach Indien. Oder meint ihr, wir sollen umbuchen und warten, bis wir die zwei gefunden haben?“ Der Geistliche beantwortet seine Frage gleich selbst: „Eher nicht. Wer soll das bezahlen? Nein, die Gruppe muss fliegen, selbst wenn zwei fehlen.“

Das sehen Maren und ich genauso. Allerdings bleibt ja immerhin noch ein Tag.

„Soll ich versuchen, sie über die Medien zu finden?“ Ich finde meine Idee plausibel und gut.

„Wie willst du das anstellen? Mit einer Suchanzeige? Oder einem Steckbrief in den Sozialen Medien? Das könnte ganz schön Wirbel machen.“

„Naja, aber wenn wir sie so finden …“

„Warten wir noch bis morgen. Dann ziehen wir alle Register. Okay? Ich will unsere Gäste nicht vorschnell blamieren. Sie sind ohnehin schon völlig von der Rolle.“

Pastor Werner scheint noch andere Gedanken als die des Aufspürens der Verlorenen zu haben. Ich ahne auch, welche.

„Sie meinen, es würde die indischen Partner bloßstellen, wenn zwei von ihnen flüchten und hier illegal einreisen? Da hätten sie gewissermaßen sowas wie ‚Verräter‘ unter sich. Leute, die ihr Privileg der Reise für eigenen Zwecke missbrauchen.“

„Genau. Aber nicht nur die Inder wären brüskiert und würden sich verraten fühlen und vermutlich auch uns gegenüber irgendwie schuldig. Auch unsere Freunde hier, die Landeskirche, das Missionswerk und vor allem jene, die uns ohnehin wegen unseres Engagements in Indien kritisieren, würden so ihre Fragen stellen. Einige könnten uns gar der Begünstigung und Beihilfe verdächtigen … was weiß ich, was da für ein Rattenschwanz an Problemen dranhängt.“

Maren erhebt sich, fast springt sie von der Bank.

„Nun mal langsam, Hans! So negativ kenne ich dich ja gar nicht. Wo bleiben denn deine Hoffnung und Zuversicht, von der du so gerne predigst – und das Gottvertrauen?“

Dem Pastor schießt ein Schwall Röte ins Gesicht. Bei ihm mit rötlichem Haar und heller Haut sieht man es wunderbar.

„Du hast recht, Maren. Ich sollte mehr auf meine eigenen Predigten hören. Gott wird helfen.“ Er lacht. „Das Verlorene zu suchen ist er ja gewöhnt! Da ist er gewissermaßen Spezialist als Hirte seiner meist widerspenstigen Schafe.“

Nun lachen wir zu dritt.

„Allerdings, wenn ich es richtig verstanden habe, sollen wir ihm ja bei der Suche nach dem Verlorenen helfen – oder?“

„Herr Jahnke, Sie haben es verstanden! Also machen wir uns morgen früh an die Arbeit.“

Maren zögert. „Morgen haben wir noch Termine in Harsefeld. Es ist geplant, dort zu übernachten und am Samstag direkt von dort aus zum Flughafen nach Hamburg zu fahren.“

Pastor Werner nickt. „Ich weiß. Der Termin in Harsefeld ist wichtig. Es macht keinen Sinn, dass wir ihn streichen und hier herumsitzen. Am besten, wir treffen uns morgen zum Frühstück und dann entscheiden wir, wie wir vorgehen.“

Wir sind einverstanden.

Als wir zurück in den Clubraum kommen, knien unsere Gäste vor den Tischen auf dem Boden. Sie beten.

Freitag, 30.6.

Maren und ich gehen gegen acht Uhr ins Tagungshaus, um mit der Gruppe zu frühstücken. Wieder scheint die Sonne. Es ist noch angenehm kühl, man ahnt jedoch, dass uns auch heute ein warmer Sommertag erwartet. Maren trägt Jeans und eine weiße Sommerbluse – praktische Reisekleidung also.

In einem der geräumigen Speiseräume ist ein Büfett aufgebaut. Als wir kommen, essen die indischen Gäste bereits. Auch wir bedienen uns. Ohne es darauf anzulegen, bemerke ich, wie sich Charu und Rafael die Teller füllen. Nun und in der folgenden halben Stunde verstehe ich das Geheimnis ‚indischer Schönheit‘. Rafael geht vier, Charu dreimal. Sorry, ich habe heimlich mitgezählt. Besonders lieben sie die hellen Brötchen, Marmelade, Honig, Eier, Schinken, Käse … also „breakfast German style“. Von wegen, alle Inder sind Vegetarier.

Beim Essen besprechen wir Deutschen, wie wir vorgehen wollen. Hausleiter Theo Beyer, ein smarter, dunkelhaariger Typ Mitte vierzig, ist gestern spät aus Hamburg zurückgekommen. Er hat leider nichts erreicht. N. David und S. Jesudos haben das Gepäck der beiden Vermissten gecheckt. Ihren Koffer hatten sie im Zimmer zurückgelassen, eine Tasche bzw. einen kleinen Rucksack allerdings mitgenommen. Auch ihr Waschzeug war nicht da und einige Sachen zum Wechseln könnten sie ebenfalls eingepackt haben. Das würde ein bewusstes Verschwinden nahelegen. Da jeder von ihnen allerdings mit wenig Gepäck gereist ist, war sich N. David nicht sicher, was wirklich fehlt.

Wir beschließen, dass Maren die Gruppe nach Harsefeld begleitet und morgen zum Flughafen bringt. Das Gepäck der beiden sollen sie zur Sicherheit im Kleinbus mitnehmen. Pastor Werner wird in Hamburg die Kirchengemeinden abtelefonieren und bitten, bei der Suche zu helfen. Theo ruft die Polizeidienststelle an, auf der er gestern schon mit einem Beamten gesprochen hat und ich mobilisiere, soweit möglich, die Medien. Wann immer sich eine Spur findet, teilen wir uns dies gegenseitig mit.

Bevor wir das Frühstück beenden und die indischen Gäste ihre Sachen holen, beten wir noch gemeinsam. Einige unserer Gäste beten laut, schnell und lange. Es klingt seltsam beschwörend. Inzwischen habe ich viele Geschichten aus Indien und von diesen Christen gehört. Das Gebet spielt bei ihnen eine zentrale Rolle. Sie berichten von Heilungen durch Gebet, von Wundern und rettenden Ereignissen. Manches klingt wie die religiösen Legenden um katholische Heilige oder wie Wundergeschichten aus der Bibel. Ich bin da skeptisch.

Aber egal, Hauptsache, wir finden die beiden Vermissten wieder. Am Ende wird sich zeigen, dass es sowohl für ihr Verschwinden als auch ihr Auftauchen erklärbare und natürliche Gründe gibt. Trotzdem kann es ja nicht schaden, auf ein ‚Wunder‘ zu hoffen.

Pastor Werner und ich verabschieden uns von den Gästen.

„Kommt mal zu uns!“ lädt uns der Präsident ein. „Wir danken euch für alles und freuen uns über einen Gegenbesuch.“

Alle beteuern den Wert der Partnerschaft, allen merkt man jedoch die belastende Situation an.

Maren und ich steigen in den Kleinbus des Tagungshauses und düsen zu unserem Haus. Meine Liebste schnappt sich ihre bereits gepackte Reisetasche, dazu einen leichten Sommermantel und legt beides in den roten Bulli. Noch ein Kuss zum Abschied und schon sitzt sie hinterm Steuer.

„Grüß die Inder noch mal. Und viel Spaß in Harsefeld!“

Ich winke ihr zu. Sie lässt das Fenster herunter.

„Hoffentlich findet ihr die zwei! Melde dich sofort per WhatsApp oder Telefon. Egal, wo die verlorenen Schafe in Hamburg auftauchen, wir holen sie ab.“

*

Ich winke noch einmal und verziehe mich dann in mein Arbeitszimmer im Keller unseres Hauses.

Weit entfernt von Indien bin ich dort nicht. Marens verstorbener Mann Oliver hat die Kirche dort über viele Jahre begleitet. Sein Zimmer hatte er mit Souvenirs aus Indien dekoriert.

Ein Büffelhorn mit Pfauenfedern geschmückt vom Koya-Stamm, ein kunstvoll geschnitztes Joch für Zugtiere, Pfeile und Bögen, Trommeln, Töpfe, Leuchter, Elefanten verschiedener Größe … alles Mögliche hing an den Wänden oder stand hinter Glas im Schrank. Das meiste davon habe ich in eine Kiste gepackt, als ich damals das Büro übernommen habe.

Nur das Joch hängt weiterhin an der Wand. Vielleicht passt gerade dieses Symbol zur Existenz eines Schreiberlings wie mir. Ein bisschen sind wir wie Ochsen: Die Last der Wahrheit auf den Schultern bilden wir Medienleute Meinungen und Weltanschauungen. Ganz schön schwer – und schlecht bezahlt.

Ich telefoniere zunächst mit meinem Online-Kollegen, neben Elske mein bester Verbündeter im Verlagshaus. Ich frage ihn, wie man die beiden indischen Freunde mit Hilfe digitaler Medien aufspüren könnte.

„Jens, da bist du ja wieder mal einer abgefahrenen Story auf der Spur!“ Er lacht. „Ich kann eine Meldung machen und die über die Pressedienste rumschicken. Hast du ein Foto?“

„Ja. Wir haben den Ausschnitt von einem Gruppenbild.“ Wie gut, dass Maren daran gedacht hat. „Das schick ich dir!“

„Schick auch die Namen mit und eine Kontaktnummer, falls jemand sie findet.“

„Kriegst du in fünf Minuten. Was meinst du, passiert, wenn die Pressedienste die Meldung weiterleiten?“

„Keine Ahnung. Ich hoffe, der NDR nimmt es auf. Ich kann noch jemanden bei NDR-Info anrufen. Die können vielleicht sogar eine Durchsage machen, es aber zumindest im Netz verbreiten. Auch ich kann die Meldung online stellen.“

„Gut, mach das. Morgen früh werden dann vermutlich auch Zeitungen die Sache aufnehmen – aber da ist der Flieger nach Indien schon in der Luft.“

„Wenn deine beiden Inder sich abgesetzt haben, werden sie ja ohnehin nicht mitwollen. Probleme kriegen sie so oder so.“

„Das lässt sich nicht vermeiden. Danke dir jedenfalls – und bitte kein Wort von ‚absetzten‘ oder ‚illegaler Aufenthalt‘!“

„Schon klar. Einfach nur eine Suchmeldung.“

Wir verstehen uns. Gut so.