Mit Feuer und Geist - Hermann Brünjes - E-Book

Mit Feuer und Geist E-Book

Hermann Brünjes

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Beschreibung

Jens Jahnke stimmt widerwillig zu, eine Reportage über Pfingstbräuche in der Heide zu schreiben. Was er zunächst als langweiligen Traditionsjournalismus einordnet, entwickelt sich schnell zum heißen Eisen - im wahrsten Sinn des Wortes. Zuerst brennt ein Schuppen, dann eine Werkstatt und kurz darauf ein Vereinsheim. Ein Feuerteufel geht um. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es den ersten Toten gibt. Dank pfingstlicher Recherche kommt der Reporter nicht nur einer tragischen Geschichte auf die Spur sondern begibt sich auch in Gefahr um Leib und Leben. Begleiten Sie Jens Jahnke nach Himmelstal, einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide, das es in sich hat und diesmal auch nach Amrum, für manche die schönste der nordfriesischen Inseln.

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Hermann Brünjes

Mit Feuer und Geist

Ein Jens Jahnke Krimi

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Montag, 26. April

Mittwoch, 28. April

Donnerstag, 29. April

Freitag, 30. April

Samstag, 1. Mai

Sonntag, 2. Mai

Dienstag, 4. Mai

Mittwoch, 5. Mai

Donnerstag, 6. Mai

Freitag, 7. Mai

Samstag, 8. Mai

Sonntag, 9. Mai

Montag, 10. Mai

Dienstag, 11. Mai

Mittwoch, 12. Mai

Donnerstag, 13. Mai (Himmelfahrt)

Freitag, 14. Mai

Samstag, 15. Mai

Sonntag, 16. Mai

Epilog

Wichtigste Personen

Autor, Hinweise zum Buch und weitere Bücher

Impressum neobooks

Prolog

Mit Feuer und Geist

Ein Jens Jahnke-Krimi von Hermann Brünjes

Gewidmet jenen Freiwilligen, die das »Tagungshaus mit Herz« beleben,

den Feuerwehrleuten, die oft das Schlimmste verhindern,

meinen Surf-Freunden auf der Insel

und jenen Menschen, mit denen ich im Dorf zusammenlebe.

Ihr seid mir Inspiration und Freude.

Danke.

Prolog

Biikebrennen, er liebte es!

Das Knistern, die Funken, das brennende Petermännchen im höllischen Inferno. Er liebte es, seinen Freund Ole neben sich zu wissen. Wenn sie durch die Dünen streiften und sich der Feuersbrunst vorsichtig näherten, wenn sie über betrunkene Halbstarke lästerten oder dem Fischmann eine kostenlose Portion frischen Kibbeling abschwatzten. Das liebte er.

Nun jedoch gab es nichts mehr zu lieben.

Wie gelähmt starrte er auf das riesige Feuer vor sich. Beißende Hitze brannte sich durch seine Kleidung. Sein T-Shirt und der Anorak glühten trocken, als stünden auch sie gleich in Flammen. Die Löcher mit den verkohlten Rändern darin nahm er nicht zur Kenntnis. Tränen liefen klebrig über seine Wangen. Sie schmeckten nach Meerwasser. Er registrierte es nicht. Das linke Hosenbein seiner Jeans war zerrissen und angekokelt. Nur ein Fetzen Stoff war noch übrig. Das blut- und dreckverschmierte Bein schmerzte stechend und pochend. Er ignorierte es.

Er hockte wie gelähmt neben dem dicken Stamm einer knorrigen Kiefer und starrte auf das lichterloh brennende Wohnhaus. Viel mächtiger als das Biikefeuer am Strand jemals war, dachte er und schämte sich sofort für einen derart unpassenden Gedanken. Er hatte es nicht geschafft, sie zu retten. Er hatte versagt. Sie alle würden sagen, er sei ja noch ein Kind. Trotzdem hatte er versagt. So klein war er auch nicht mehr. Er hätte diesmal nicht gehen und sie nicht diesem Unhold überlassen dürfen. Immerhin hatte er es geschafft, sie bis in den Flur zu schleppen.

Zusammen mit Ole und anderen Kindern hatte er den Erwachsenen geholfen, das Biikefeuer aufzuschichten. Dann war er nach Hause geradelt und hatte gehofft, dass seine Mutter nun endlich Zeit mit ihm verbrachte. Am Abend wollten sie dann wie jedes Jahr gemeinsam zum Strand gehen und mit dem ganzen Dorf das Biikefest feiern.

Als er ihre schrecklichen Schreie hörte, war er ohne zu Zögern ins Haus gerannt. Aus dem Reetdach neben der kleinen Gaube waren bereits erste Flammen gen Himmel gestiegen. Funken wirbelten wie kleine Glühwürmchen um sie herum. Drinnen krachte und knackte es. Wie flüssige Schmutzwatte quoll dicker grauer Qualm die Treppe hinunter. Sie schrie. Er war die Treppe hinaufgerannt. Seine Mutter fiel ihm entgegen. Er konnte sie nicht halten und rutschte mit ihr die Holzstufen hinab. Dann zog er sie an den Armen Richtung Ausgang. Vergebens. Er hatte nicht die Kraft, seine Mutter zu retten. Die Treppe stürzte ein, Balken krachten auf den Flur. Einer davon verpasste ihn um Haaresbreite und schlug seine Mutter zu Boden. Sie bewegte sich nicht mehr. Der Balken auf ihrer Brust brannte, ihre Kleider auch. Da war er mit letzter Luft und Kraft hinausgetaumelt. Er hatte seine Mutter zurückgelassen.

Jetzt kamen die ersten Nachbarn, viel zu spät! Ihr kleines Haus lag jenseits der Ortschaften im Wald. Die Flammen sah man wegen der Bäume erst, wenn man fast da war. Jetzt hörte man auch Sirenen. Gleich würden sie ihn finden. Und sie würden ihn verarzten. Sie würden ihn fragen, wie es passiert ist und wer im Haus war und wer die Schuld hat ... Er barg sein Gesicht zwischen den Armen und umfasste seine blutigen Knie. Er kannte nur diese eine Antwort: Es war seine Schuld, dass er sie nicht retten konnte.

Montag, 26. April

»Das machst natürlich du, Jens!«

Ich meine, nicht richtig zu hören. Mein Chef will mir einen religiösen Artikel aufdrücken. Mein fassungsloser Gesichtsausdruck ermuntert ihn zu weiteren Erklärungen.

»Du wohnst in Himmelstal, du bist gewissermaßen Experte für religiöse Feste und du machst sogar aus solchem Quatsch noch eine brauchbare Story!«

Er grinst in die Runde. Alle hier wissen, dass er auf die Sache mit der Auferstehung Benders und die weihnachtlichen Kindermorde anspielt. Zunächst als Story über Brauchtum im christlichen Abendland geplant, sind daraus überraschend brisante Polit- und Kriminalrecherchen geworden.

Mein mir immer wohl gesonnener Online-Kollege nickt.

»Ja Jens, den Artikel solltest du übernehmen.«

»Ich finde auch, Jens. Du bist hier sogar der Einzige, der das richtig gut hinkriegt. Du verstehst am ehesten, worum es bei so etwas geht ...!«

Auch Elske, unsere Öffentlichkeitsbeauftragte pflichtet ihm also bei. Die anderen Kollegen am Tisch schauen sie ein bisschen konsterniert an. Die blonde Ostfriesin, mit deutlich unter Dreißig die Jüngste am Tisch, kann nicht nur sensibel sein, sondern auch mit spitzen Bemerkungen glänzen.

Unser Sport- und Politredakteur Stein reagiert entsprechend: »Nun mal langsam, Mädel, wir alle könnten das ja wohl machen. Jeder von uns kann über alles schreiben! Kennst ja unsere Devise.«

Natürlich weiß jeder am Tisch, dass dies eigentlich nicht stimmt. Unser Chef jedoch schickt uns überall hin. Er meint, ein guter Reporter müsse über alles berichten können. Elske gibt sich aber noch längst nicht geschlagen.

»Steini, zum einen bin ich nicht dein ›Mädel‹ und zum anderen habe ich recht! Jens macht aus solchen Geschichten immer etwas Besonderes. Er hat einfach ein Gespür für religiöse und kirchliche Themen und begegnet dem völlig offen und ohne Vorbehalte.«

Dies ist nun ein Seitenhieb auf unseren Chef Florian Heitmann. Der hält von Religion und Kirche nämlich weniger als gar nichts. Deshalb bin ich ja so fassungslos. Nun kam dieser Vorschlag ausgerechnet von ihm! Gerade will ich in dem kleinen Rededuell zwischen Steini und Elske vermitteln, da fegt Florian alle Wortmeldungen mit einer Bewegung seiner fleischigen Hand vom Tisch:

»Papperlapapp! Jens macht es. Er hat am meisten Zeit, wohnt im frömmsten Kaff unseres Landkreises und kann endlich wieder von seinem Jesus schreiben.« Jetzt sieht er mich an wie ein Kommandant seine Truppe: »Also Jens, eine ganze Doppelseite über Pfingsten und Pfingstbräuche erscheint von dir am Pfingstsamstag. Sogar vier bis sechs Fotos sind drin! Und vermeide frommes Geschwafel!«

Ich gebe auf.

Wir sitzen bereits seit über zwei Stunden in der wöchentlichen Redaktionssitzung und niemand hat mehr Lust, alles auszudiskutieren. Die nächste Ausgabe ist geplant, die für das Wochenende auch und mit dem eben an mich vergebenen Pfingstartikel ist nun auch die längerfristige Planung beendet. Natürlich hätte ich gerne noch etwas zu »meinem Jesus« gesagt und mir solche Plattheit verbeten, aber es wäre ohnehin zwecklos. Florian muss als junger Mann einmal einen Kirchenschaden erlitten haben. Irgendwann auf einer Betriebsfeier hat er mal erzählt, dass er mit einem Studium der Theologie begonnen, dies jedoch dann abgebrochen hatte. Warum, weiß vermutlich nur er allein.

*

Es wird Frühling. Wie Schmetterlinge aus Raupen haben sich aus zarten Knospen samtweiche, hellgrüne Blätter entfaltet. Der Buchenwald zu Beginn meiner Heimfahrt lässt mir wieder und wieder das Herz aufgehen. Es scheint, als käme mit längeren Sonnentagen auch das Leben zurück. Schwarze, kahle Wälder werden zu Boten eines Kreislaufs, der niemals aufhört. Auch politische Erdbeben, Wahlniederlagen, Kriege, Corona, Brände und Flutkatastrophen sind nicht in der Lage, diesen Kreislauf des Lebens zu stoppen. Oder doch? Wenn sich das Klima weiter erwärmt, werden diese Buchen irgendwann sterben. Wenn sich hier in der Heide der Grundwasserspiegel weiter senkt, werden auch die Felder mit ihren saftig frischen Getreidehalmen, durch die ich jetzt fahre, keine Früchte mehr tragen ... Nein! Ich bin nicht bereit, in die Angst- und Pessimistenhaltung einzustimmen, wie sie uns heute so schnell umklammert, allemal nach mehr als einem Jahr Pandemie und diversen Lockdowns. Ich will atmen, will positiv denken, will Gott zutrauen, seine Schöpfung zu bewahren – wenn wir es schon nicht schaffen!

Himmelstal verändert sich. An der Mühle haben sie zwei Häuser abgerissen. Neben der Feldsteinkirche steht fast immer ein großer grüner Lastwagen. Er beleidigt mein auf das Ensemble von Kirche und Fachwerkgiebel gerichtetes Fotografenauge. Der alte Dorfkrug wurde ebenfalls abgerissen. Am Ortsrand im Norden ist eine neue Siedlung im Werden. Ja, und Jens Jahnke wohnt nun auch hier.

Es hat über ein Jahr gedauert. Maren und ich haben uns zunächst nur gelegentlich, dann fast jede Woche und bald sogar beinahe täglich getroffen. Um es schlicht auszudrücken: Es hat zwischen uns heftig gefunkt. Ich habe die Sechziger überschritten, sie ist acht Jahre jünger – da hat man keine Zeit für ein langes Techtelmechtel. Man entscheidet sich, wagt etwas und zieht zusammen. Wir werden sehen, wie es sich entwickelt.

Als ich in »unsere« Straße einbiege, überkommt mich wieder dieses Fremdheitsgefühl. Es war wirklich ein mutiger Schritt, meine wenigen Habseligkeiten zu verkaufen, meine Wohnung in der Kreisstadt aufzugeben und in Marens Haus zu ziehen. Irgendwie spukt der Geist von Oliver, ihrem verstorbenen Mann, dort noch herum, manchmal jedenfalls. Es ist ihr Haus, sind ihre Möbel, ist ihr Garten ... daran muss ich mich noch gewöhnen. Vermutlich dauert es, bis ich »unser« sagen kann, ohne dass komische Gefühle geweckt werden.

Ich stelle meinen alten grauen Golf IV in den Carport. Ja, meiner alten Kiste bleibe ich treu! Maren ist aus Lüneburg zurück. Ihr schwarzer Golf glänzt im Abendlicht.

»Hallo Jens!« Sie grüßt mich mit einem flüchtigen Kuss. »Ich muss die Wäsche noch eben fertigmachen. Kannst du schon mal den Tisch decken?«

Klar, ich kann. Ich muss. Wir sind beide berufstätig und teilen uns die Hausarbeit, na ja, fast.

Beim schlichten Abendessen erzählen wir uns dies und jenes. Sie hat einen stressigen Tag im Krankenhaus hinter sich und hat sich über einen Oberarzt geärgert. Dann berichtet sie von einem Telefonat mit ihrer Tochter in Berlin und einem mit Miriam. Die ehemalige Untermieterin Marens wohnt mit ihrem kleinen Sohn Jeschu nun bei ihrem Verlobten Peter auf dem Eichenhof südlich von Unterlüß und ist richtig glücklich. Im nächsten Jahr wollen die beiden heiraten. Ich erzähle Maren von meinen Frühlingsgefühlen auf der Herfahrt und dann vom Artikel, zu dem Florian mich verdonnert hat.

»Oh Jens, das ist doch prima! Pfingsten ist der Geburtstag der Kirche. Ist doch spannend!«

Ich weiß nicht, ob das spannend ist. Und auch nicht, ob es ein fröhlicher Anlass ist, den Geburtstag der Kirche zu feiern. Immerhin hat die nicht nur Gutes gebracht, sondern auch viel Unglück. Nicht nur die Blutspur im Mittelalter mit Inquisition und Hexenverbrennung oder die kolonialistische Missionsgeschichte, auch die seit vielen Jahren unter den Tisch gekehrten Fälle von Kindesmissbrauch lassen die Kirche nicht gerade gut dastehen. Aber Maren scheint an so etwas nicht zu denken.

»Da kannst du was über das erste Pfingsterlebnis der Jünger Jesu schreiben«, meint sie und ihre braunen Augen strahlen, als wäre sie dabei gewesen, »und wie sie gepredigt haben und von allen verstanden wurden. Und dass der Geist Gottes wie in Feuerflammen auf sie kam.«

Ich staune über die Naivität meiner geliebten und sonst so klugen Partnerin.

»Und wie stellst du dir das vor? In Feuerflammen?«

»Na, weiß ich auch nicht. Vielleicht ist es ja nur ein Bildvergleich, eine Metapher. Die Jünger waren derart begeistert und hatten eine solche Ausstrahlung, dass man meinte, es schweben feurige Flammen über ihren Köpfen.«

»Wie so vieles in der Bibel also nicht wirklich, nicht tatsächlich passiert, sondern nur in bildhafter Sprache beschrieben ist?«

Maren schaut mich missbilligend an.

»Natürlich nicht. Auch wenn Metaphern gebraucht werden, ist es doch ganz genau so geschehen!«

Soll einer die Frauenlogik verstehen. Ich habe längst gelernt, nicht weiter zu bohren und auf meine »Wahrheit« zu pochen. Also lenke ich das Thema in eine andere Richtung.

»Ich soll auch über Pfingstbräuche schreiben. Kennst du welche?«

Maren schiebt sich ihre braunen Locken über die Ohren. Ich liebe diese Bewegung, wenn sie nachdenkt. Sie lacht.

»Pfingstochse?«

»Das ist ja wohl kein Brauchtum, oder?«

Wieder lacht sie.

»Ich glaube doch! Jedenfalls weiß ich, dass man in manchen Regionen im Süden zu Pfingsten die Tiere auf die Weiden treibt. Die Rinder werden geschmückt und man macht eine festliche Prozession aus dem ersten Auftrieb. Der stattlichste Ochse geht dann am prächtigsten geschmückt vorweg.«

Ihr Allgemeinwissen ist wirklich beachtlich. Ich bin beeindruckt und nehme mir vor, dazu mehr zu recherchieren.

»Aber hier in der Heide gibt es das nicht. Oder gibt es hier Pfingstschnucken?«

Sie lacht – und ich mag es sehr, wenn sie lacht!

»Witzbold. Nee, hier gibt es zwar manche Ochsen, aber nicht nur zu Pfingsten, sondern ganzjährig. Dafür haben wir den Pfingstbaum.«

»Ich denke, das ist der Maibaum? Der wird am 1. Mai aufgestellt und dann wird kräftig gesoffen.«

Wieder lacht Maren schallend.

»Gesoffen wird hier auch sonst recht kräftig, jedenfalls die jüngeren Leute. Uns älteren wird ja meistens schneller schlecht.«

»Na, das sah aber beim Feuerwehrball etwas anders aus. Da haben die Alten ganz schön mitgehalten.«

»Stimmt. Aber du hast recht. Pfingstbaum und Maibaum sind im Grunde dasselbe. Nur die Traditionen unterscheiden sich. Meist sind es Birken. Ein langer, schlanker Birkenstamm wird auf einem zentralen Platz aufgestellt. Die frühlingsfrisch belaubte Krone wird mit bunten Bändern geschmückt und in manchen Orten klettern die jungen Männer auch hinauf.«

»Und wieso Pfingsten? Das ist doch eher Ende Mai, jedenfalls in diesem Jahr.«

»Stimmt. Pfingsten ist jedenfalls immer fünfzig Tage nach Ostern. Daher kommt der Name. ›Penta‹ ist das griechische Wort für fünfzig. Da Ostern wechselt, ändert sich auch das Datum für Pfingsten.«

»Dann steht der Maibaum also schon.«

»Ja. Aber in vielen Orten bei uns im Norden werden zu Pfingsten kleine Birken vor die Häuser gestellt. Manchmal suchen junge Männer auch besonders die Häuser heraus, in denen junge Mädchen wohnen ... und dann wird Spiegelei gegessen und Schnaps getrunken. Kennst du den Spruch dazu?« Bevor ich antworten kann, redet sie schon weiter: »Der Maibusch ist genagelt, nun will er auch begossen sein. Es können ein paar Eier sein oder eine Flasche Wein.«

Nun lache ich. »Na, das hört sich eher nach Süddeutschland an, das mit dem Wein jedenfalls.«

»Stimmt, kann sein. Hier müsste irgendwas mit Bier und Korn kommen.«

»Und was ist die Bedeutung dieser Bäume?«

»Das kommt irgendwie von den Germanen und hat mit Fruchtbarkeit zu tun.«

Was mir sofort einleuchtet. Diese Jahreszeit strotzt nur so vor Fruchtbarkeit. Kein Wunder, dass auch Jungs und Mädels ihre Kraft und Zuneigung unter Beweis stellen.

Maren spielt an ihrem Handy herum. So macht sie es immer. Wenn sie etwas wissen will, googelt sie. Und sie will viel wissen und interessiert sich für alles Mögliche.

»Schau hier. Früher gab es noch viel mehr Pfingstbräuche. Die waren überall verschieden. Jedenfalls galt Pfingsten auf dem Land als schönstes Fest des Jahres. Die Mägde haben am frühen Morgen noch vor dem Melken einen geschmückten Pfingstbusch ans Fenster genagelt bekommen. Oh!« sie lacht laut auf. »Wenn sie faul waren, bekamen sie statt des frischen Baumes einen trockenen Besen!«

Ich nehme mir vor, meiner Liebsten am Pfingstsamstag einen frischen Maibaum vor die Tür zu stellen. Einen Besen haben wir schon und sie verdient ihn nicht! Hoffentlich vergesse ich meinen Vorsatz nicht ...

Mittwoch, 28. April

Plötzlich und schrill heult die Sirene.

Ist heute Montag? Am Montagmittag gibt es jeweils einen Probealarm, wohl damit die Sirene nicht einrostet. Jedes Mal zucke ich zusammen und der Warnton zieht wie ein stechender Schmerz durch alle meine Glieder. Nein, heute ist Mittwoch, abends gegen neun.

Ich arbeite gerade in meinem Kellerbüro an einem Artikel über ein Konzert im Alten Lichtspielhaus. Ein engagierter Zahnarzt hat eine Initiative gegründet und im ehemaligen Kinosaal des Nachbarortes einen Kulturtreff eingerichtet. Die »Line Walkers«, eine Cover-Band, imitiert Johnny Cash und hat den wegen Corona etwas reduziert im Saal verteilten Zuschauern gestern unglaublich eingeheizt. Obwohl Tanzen, Mitsingen und Jubelstürme nicht erlaubt waren, fühlte man sich zurückversetzt in die sechziger oder siebziger Jahre. Auch ich war fasziniert. Es war überraschend, wie viele der Hits des »King of Country« ich bereits kannte. »Wenn ich die Augen schließe, meine ich, Jonny Cash sei auferstanden«. So sagte es mein ebenfalls begeisterter Sitznachbar, ein Jungsenior, vermutlich wie ich Anfang der Sechziger. Richtig gut, diese Truppe! Gerade tippe ich den Titel eines der Hits des »Man in Black« in meine Tastatur: »Ring of fire«.

Da heult also die Sirene auf dem Dach des Tagungshauses gegenüber der Kirche los. Feuer!

Ich ahne, was jetzt an unserer kleinen Feuerwehrstation neben dem Friedhof los ist. Vermutlich ist Gerd Meyer, ein Mittvierziger aus der Nachbarschaft, wieder als erster bei den Fahrzeugen. Er ist Truppführer bei der freiwilligen Feuerwehr von Himmelstal. Sein Chef, Ortsbrandmeister Enno Dieckmann hat mir erzählt, dass Gerd manchmal sogar auf Socken und in Boxershorts angelaufen kommt, direkt in die Ausrüstung steigt und dann sein Fahrzeug schon mal vor die Halle fährt. Ein Pfundskerl, dieser Gerd, und zuverlässig dazu. Kurz nach ihm werden auch die anderen da sein, sich umziehen, noch Reste an Ausrüstung einpacken und los geht‹s.

Kurz nachdem ich Anfang des Jahres nach Himmelstal gezogen war, brannte es das erste Mal. Ich glaube, es war in der zweiten Februarhälfte. Es war ein alter Bootsschuppen neben einem Teich. Als die Feuerwehr eingetroffen war, gab es nichts mehr zu retten. »Vermutlich Brandstiftung«, informierte mich der Ortsbrandmeister. Ich habe nur eine winzige Meldung geschrieben, nicht einmal ein Foto gemacht. Da gab es auch nichts mehr zu fotografieren. Der morsche Schuppen mit einem löchrigen Ruderboot darin war nur noch ein Haufen Asche. Zum Glück hatten sie eine große, knorrige Trauerweide daneben gerettet und damit auch das Wohnhaus abgesichert. Wenn man den Qualm erst später entdeckt hätte, wäre ein viel schlimmerer Ausgang möglich gewesen. Etwa eine Woche danach habe ich noch mal nachgefragt. »Na ja, die Polizei war da und hat im Schutt herumgestochert«, meinte Enno, der mir, wie in diesem himmlischen Dorf offenbar üblich, gleich bei der ersten Begegnung das Du angeboten hatte, »aber die haben auch keine Spur gefunden. Und niemand hat etwas gesehen.« Damit war die Sache damals zunächst erledigt gewesen.

Ich höre jetzt weitere Sirenen, zuerst aus dem Nachbarort, dann von Feuerwehrfahrzeugen. Der Kampf um Ruhm und Ehre hat begonnen. Ich weiß, dass nun mindestens drei Dörfer darum ringen, als erste am Brandort zu sein. Es ist der ganze Stolz freiwilliger Feuerwehren, schnell und konsequent ganz vorne mitzumischen ... Man kann das kritisch sehen, sich aber auch darüber freuen. Sie beeilen sich definitiv.

Ich greife zum Telefon. Enno hat mir seine Mobilnummer gegeben. Er nimmt sofort ab. Im Hintergrund höre ich die Sirene des Fahrzeuges, in dem er vermutlich gerade sitzt, gleichzeitig höre ich sie durchs gekippte Fenster meines Büros. Sie sind also ganz in der Nähe.

»Jens, ich kann jetzt nicht! Wir sind im Einsatz!«

»Ja, ich weiß«, sage ich und hoffe, dass er nicht auflegt. »Ich würde gerne wissen, wohin ihr fahrt. Vielleicht kann ich diesmal einen Artikel machen. Bitte. Ich bin immer fair, das weißt du!«

Ein kurzes Zögern, dann atme ich auf.

»Es ist ganz bei dir in der Nähe, hinten am Bauhof am Ortsausgang. Komm hin, und sag’ den Kameraden an der Absperrung, du willst zu mir.« Dann legt er auf.

»Jens, pass auf dich auf!« ruft Maren mir noch hinterher, als ich die Haustür öffne. Es klingt schon wie bei einem alten Ehepaar. Dabei ist noch alles ganz neu für mich.

Drei Minuten später sitze ich auf meinem Stevens-Rad. Auch das habe ich natürlich aus der Kreisstadt mitgenommen. Ein besseres kriege ich nie im Leben!

*

Wieder brennt ein Schuppen. Was darin aufbewahrt wird, kann man nicht erkennen. Vermutlich wird es enden wie bei dem Bootsschuppen von damals: Mit einem verkohlten Holz-, Metall- und Aschehaufen. Drei Feuerwehren sind bereits dabei, ihre Schläuche auszurollen. Zwei von ihnen haben eigene Tanks im Fahrzeug. An der Hauptstraße gibt es einen Hydranten. In der langsam immer schwärzer werdenden Dunkelheit sich drehende gelbe und blaue Lichter verstärken die gespenstische Atmosphäre des Feuers. Ich habe den Weg durch die östliche Neubausiedlung genommen und bin schon nach knapp zehn Minuten nach meinem Telefonat dort. Die Feuerwehren waren schneller. An der Straße unten stehen mindestens vier rot-weiße Fahrzeuge, alle mit Blaulicht. Ein Rohr befeuert den Schuppen bereits mit dickem Wasserstrahl.

Ich lehne mein Rad an die Böschung des Bauhofs und gehe zur Einfahrt des Geländes des kleinen privaten Bauunternehmers. Wie erwartet ist alles abgesperrt. Ich halte einem der mir fremden Feuerwehrleute, der den Verkehr auf der Hauptstraße stoppt und zur Umkehr anweist, meinen Presseausweis unter die Nase und berufe mich auf den Ortsbrandmeister.

»Da kann ja jeder kommen!«

Der Kamerad weist mich schroff ab. Er hat hier jetzt endlich etwas zu sagen! Aber nicht unbedingt mir. Ich entdecke neben einem der Fahrzeuge eine junge Erwachsene aus der Nachbarschaft. Auch sie trägt Uniform. Ich glaube, sie leitet die Jugendfeuerwehr.

»Kerstin, kannst du mal eben kommen!«

Ich bin der jungen Frau mehrfach begegnet. Immer war sie fröhlich und hatte eine positive Ausstrahlung. Nun kommt sie sofort an die Absperrung und klärt den eifrigen Kollegen auf, dass ich nicht stören, sondern nützen werde. Der Mann murrt noch etwas, fühlt sich vermutlich auch unwohl, weil eine Frau ihn korrigiert, lässt mich jedoch durch.

Meine Canon im Anschlag nähere ich mich dem Brandherd. Je näher ich komme, desto größer die Hitze. Die Flammen schlagen wie muntere Tänzer aus dem mit Platten bedeckten, aber offenbar löchrigen Dach des Schuppens gen Himmel. Die zweiflüglige Holztür ist bereits verbrannt und herausgefallen. Drinnen stehen kleinere Baugeräte. Im Qualm erkenne ich einen Zementmischer und einen Rüttler. Ich mache Fotos von dem Inferno.

Plötzlich steht Enno neben mir.

»Kein Problem, Jens«, meint er. »Wir haben alles im Griff. Es gibt Sachschaden, aber der ist vermutlich versichert.«

»Ein Glück. Und ist es wieder Brandstiftung?«

Bevor er antwortet, ruft Enno den beiden Männern an der Spritze einige Anweisungen zu. Sie platzieren den Strahl etwas tiefer in den Brandherd. Dann nickt Enno.

»Ich vermute. Wie sonst soll so ein Schuppen Feuer fangen? Nein, da hat jemand nachgeholfen. Und wie du weißt, ist es jetzt bereits der vierte Brand seit dem Bootsschuppen im Februar.«

Ja, ich weiß – und das macht das Ganze jetzt langsam doch zur Story für einen Käseblattreporter. Zuerst der Bootsschuppen, dann ein Brand in einer Scheune direkt neben dem Tagungshaus. Der wurde zum Glück von einem jungen Mann aus dem Team dort entdeckt und der hat ihn dann auch eigenhändig gelöscht. Ich sehe Jonas nun auch hier, neben Gerd. Zusammen halten sie die Hochdrucklöschanlage. Allein könnte man diese nicht kontrollieren. Das Wasser wird mit Hochdruck in kleinste Tröpfchen zerteilt und diese auf die Flammen gesprüht. So ist der Effekt wesentlich größer als bei einem normalen Strahl.

Der dritte Brand konnte auch gelöscht werden, bevor es zu spät war. Ein Heuschober unten an der Brücke über den Bach hat gebrannt. Etwa zehn Rundballen waren dort aufgeschichtet worden und mit einer Schutzplane bedeckt. Selbstentzündung hat man eindeutig ausgeschlossen.

»Wenn du über dies hier schreibst«, meint Enno jetzt, »schreib ruhig, dass die Feuerwehr von Brandstiftung ausgeht. Schreib aber nicht, dass wir ab sofort nächtliche Streifen losschicken! Wir wollen den Feuerteufel nicht vertreiben, sondern ihn auf frischer Tat ertappen!«

Davon hatte ich bisher nichts gehört.

»Habt ihr das im Vorstand beschlossen?«

»Nein, ich habe das beschlossen, gerade eben!« grinst Enno mich an. »Aber ich bin sicher, meine Kameraden ziehen mit. Du kannst auch mitkommen, wenn du willst. Im Dorf gibt es schon jetzt Gerede. Viele Bauern und alle Hausbesitzer mit Schuppen im Garten haben Angst. Bald wird jeder jedem misstrauen. Wir müssen etwas tun!«

Das Dach bricht ein. Es kracht. Der Schuppen fällt mehr und mehr in sich zusammen. Dicker Qualm verdeckt inzwischen die meisten der Flammen.

»Komm etwas zurück«, weist mich Enno an, »das Dach besteht aus Toschiplatten. Da ist giftiger Asbest drin. Wenn der Wind nicht aus unserem Rücken käme, dürften wir hier überhaupt nicht stehen!«

Ich danke ihm, mache noch einige Fotos und ziehe mich dann zurück. Vielleicht sollte in der nächsten Redaktionssitzung eine Reportage über Freiwillige Feuerwehren im Landkreis vorschlagen. Wir berichten ja oft über Feuerwehren, es gibt unzählige Fotos von Uniformierten mit Auszeichnungen und in Versammlungen – aber über Einsätze und Gefahren, über private Motivation und Erfahrungen der Feuerwehrleute bei ihren Einsätzen habe ich bei uns im Kreisblatt noch nicht viel gelesen.

*

»Und, was war los?«

Ich erstatte Maren kurz Bericht. Sie nickt.

»Das wäre also das wievielte Mal?«

»Das vierte Mal. Also ist es eine Serie.«

»Genau. Und wir haben im schönen Himmelstal vermutlich einen inzwischen überaus aktiven Brandstifter, der unser Dorf zum Höllental machen kann.«

Wir sind uns einig. Maren steht bereits auf der Treppe nach oben. »Ich muss morgen früh raus. Du wirst jetzt vermutlich gleich deinen Artikel schreiben. Sei nachher leise!«

Ein kurzer Kuss und gute Nacht. Sie kennt mich.

Zurück am Schreibtisch notiere ich mir Orte, Daten und Zeiten der Brände. Es begann mit dem Bootsschuppen am 21. Februar. Am 3. März brannte die Scheune, die zum Glück gerettet wurde. Am 18. März wurden die Heuballen Opfer eines Feuers und heute ist der 28. April. Ein Muster erkenne ich nicht. Im April gibt es eine größere Lücke, sonst fällt mir nichts auf. Brandstifter kommen oft aus den Orten, die betroffen sind, das ist bekannt. Manchmal sind sie gar Mitglieder der Feuerwehr und gerne mal als Erste am Brandort. Aber das kann auch ein Klischee sein. Und wenn, träfe es hier auf viele zu, angefangen bei Enno selbst, über Gerd, Kerstin und andere bis hin zu Jonas aus der christlichen Gemeinschaft, der ja offenbar ebenfalls Mitglied der Jugendfeuerwehr ist. Na ja, kaum vorstellbar, aber »bei Gott sind alle Dinge möglich« heißt es ja sogar in der Bibel.

Donnerstag, 29. April

Bis Pfingstsamstag habe ich noch gut drei Wochen. Da mein Standardprogramm weiterläuft, will ich aber nicht allzu spät mit den Pfingst-Recherchen beginnen. Noch bevor ich am Morgen in die Redaktion fahre, rufe ich deshalb den Gemeindepastor an und melde mich danach auch im Tagungshaus. Ich will auch die jungen Leute dort zu Pfingsten befragen. Immerhin leben sie in einer christlichen Lebensgemeinschaft zusammen, da werden sie ja wohl etwas zum angeblichen »Geburtstag der Kirche« zu sagen haben.

Der Pastor hat erst in der nächsten Woche Zeit, sagt er. Das Team im Tagungshaus lädt mich bereits zum Abend ein. Nach getaner Arbeit und nach der Abendandacht soll ich sie auf ihrer Etage besuchen. Sie alle haben viel zu tun, da sie einen regionalen Kirchentag vorbereiten, der am kommenden Wochenende in Himmelstal veranstaltet wird. Schade. Ich hatte gehofft, heute Vormittag hier mit Recherchen zu verbringen und erst am Nachmittag in die Kreisstadt zu fahren. Nun also umgekehrt, erst in die Redaktion, dann die Pfingst-Recherche.

*

»Kein Problem! Deine Brandserie nehmen wir mit rein!« Mein Chef genehmigt 75 Zeilen und zwei Fotos. Das ist nun wahrlich nicht viel, aber immerhin ein Anfang.

»Wenn es wirklich eine Serie ist«, ergänzt Florian mit dem süffisanten Lächeln eines auflagefixierten Chefredakteurs, »hat sie ja noch Potential nach oben. Vielleicht brennt ja auch mal ein Wohnhaus oder ein Stall mit Tieren.«

Alles kann ich ihm natürlich nicht durchgehen lassen. Mein Chef war vor diesem Posten Redakteur bei der BILD in Hamburg. Die dort erworbenen Sitten und Denkweisen gehen leider manchmal mit ihm durch.

»Chef, du meinst das ja hoffentlich nicht ernst! Schon jetzt haben viele Leute in Himmelstal, besonders Bauern und Gartenbesitzer, große Angst. Und du weißt ja, wenn so etwas erst einmal grassiert, verdächtigt am Ende jeder jeden. In einem so kleinen Dorf wie Himmelstal kann das die Dorfgemeinschaft ganz schön beschädigen.«

Er lacht. »Jens, dann kommst am Ende auch du noch in Verdacht! Immerhin begann die Brandserie kurz nachdem du zugezogen warst, wenn ich dich richtig verstanden habe.«

Es haut mich fast um.

Dabei hat er recht, so etwas könnte man denken. Umso wichtiger ist es, dass ich Ennos Einladung folge und bei der Feuerwache mitmache, oder Bürgerwehr, oder wie auch immer sie das dann nennen werden.

Florian lehnt sich in seinen gepolsterten Bürosessel zurück. Seine massige Gestalt entspannt sich, seine bisher etwas schief herunterhängende graue Krawatte glättet sich ein wenig. Er könnte sie mal bügeln. Allerdings verbringt er die meiste Zeit entweder in der Redaktion oder bei Geschäftsempfängen, bevorzugt bei jenen, die ein Büffet enthalten. Vor einigen Jahren hat seine Frau ihn verlassen. Seitdem stellen sich bei ihm langsam mehr und mehr die mir aus vielen Jahren Singledaseins wohl bekannten Symptome von Junggesellen ein. Knitterige Kleidung ist davon noch eines der harmlosesten.

»Wenn aus der Brandserie auch eine Zeitungsserie wird, Jens, gebe ich einen Whisky aus.«

Mir schwant Schlimmes. Wenn Florian jemandem seinen im Schreibtisch versteckten Dimple einschenkt, ist ein Absturz vorprogrammiert. Ich sage lieber nichts mehr.

»Noch etwas Jens. Du schreibst am besten auch den Artikel vom regionalen Kirchentag. Eigentlich sollte ja Steini den machen, weil du als Neu-Himmelstaler befangen sein könntest. Aber dein geschätzter Kollege hat sich wieder mal krankgemeldet. Angeblich hat er sich im Dienst auf dem Sportplatz eine Erkältung zugezogen.«

»Aber dürfen denn überhaupt wieder Zuschauer auf die Sportplätze, ich meine wegen Corona?«

»Ja, wenn auch nur begrenzt.« Er schmunzelt und hebt nichtwissend die Hände. »Aber selbst in der harten Zeit damals gab es auf den Dörfern vereinzelt Zuschauer. Du weißt ja: Wo kein Kläger, da kein Richter.«

Ja, ich weiß. Manche Dorf-Vereine haben während des Lockdowns vor einem Jahr zwar nicht mit Spielen, aber mit dem Training weitergemacht. In den Sommermonaten der ungeregelten Lockerungen war es dann häufig drunter und drüber gegangen, nicht nur in den Bars, Kneipen, Fußgängerzonen und auf Familienfesten, auch im Sport. Als dann im Herbst letzten Jahres die zweite Welle kam, wurden strenge Gesetze erlassen und auch viel mehr kontrolliert. Jetzt sind wir, nach über einem Jahr mit dem weltweit gefürchteten Virus in einer neuen Phase angekommen: Es wird wärmer, die Infektionszahlen gehen runter und, das Wichtigste, einige Impfstoffe sind in Massenproduktion. Politiker und Virologen sind sich jedoch einig: Wir müssen mit der Pandemie leben und werden das Virus vermutlich nicht gänzlich ausmerzen können.

»Ach Chef, lass das mal auch für Steini gelten: Im Zweifelsfall für den Angeklagten! Ich mach’s jedenfalls mit dem Kirchentag am Wochenende.«

Ich sage ihm nicht, dass es mir sogar gut gefällt. So kann ich zuhause bleiben und weitere Leute wegen Pfingsten befragen. Die Gäste des Christentreffens kommen aus verschiedenen Orten. Ich werde also auch überregionale Akzente zum Pfingstverständnis und Brauchtum setzen können, ohne selbst zu reisen.

»Also, Florian, kein Problem, ich lebe ja nun gewissermaßen auf dem Kirchentag!«

Florian sieht jetzt besorgt aus und runzelt seine stattlichen Stirnfalten.

»Und das nennst du ›kein Problem‹? Ich hoffe doch, du lässt dir nicht den Kopf verdrehen von den Jesusfreaks dort. Wenn ja, wäre es möglicherweise um meinen Starreporter geschehen.«

»Wie meinst du das? Willst du mich rausschmeißen, wenn ich wie du es ausdrückst ›meinen Jesus‹ zu sehr liebe?«

Er lacht.

»Natürlich nicht! Du bist zu wertvoll für unser Blatt und ja auch schon seit Ewigkeiten hier. Die Abfindung wäre mir zu teuer! Nein, da lege ich mich nicht mit der Gewerkschaft und deinen Freunden hier an. Aber ich will, dass meine Leute echte Journalisten sind – und das meint zumindest neutral in der Sache!«

»Und da gibst du mir einen Artikel ausgerechnet über Pfingsten?«

Jetzt schaut er mich fragend an. Ich habe ihn ertappt. Natürlich weiß er genau, was Pfingsten bedeutet. Ein bisschen muss ja wohl von seinem Theologie-Semester hängengeblieben sein. Ich stochere noch ein bisschen weiter:

»Na, Pfingsten ist alles andere als neutral! Du weißt ja, was da passiert ist?«

Florian kratzt sich am Kinn und pult dann an seinen breiten Fingernägeln herum.

»Na klar weiß ich das. Da haben die Jünger Feuer unter den Hintern gekriegt und danach sind sie losgerannt in alle Welt und haben herumposaunt, dass Jesus lebt und sie den Heiligen Geist bekommen haben.«

Ich sehe mich bestätigt, dass er nur allzu genau weiß, worauf sich Pfingsten bezieht, auch wenn er es etwas merkwürdig ausdrückt.

»Du meinst, die ersten Christen waren Feuer und Flamme für ihren Glauben.«

»Genau. Das war auch so etwas wie eine Brandstiftung. Danach war nichts mehr wie vorher. Die verängstigten und deprimierten Schüler des Rabbi Jesus sind losgezogen und haben missioniert.«

Florian macht ein Gesicht als ekle ihn der Gedanke daran. Er kennt sich mit religiösen und biblischen Dingen jedenfalls viel besser aus, als er zugibt. Wer weiß, vielleicht hatte er in seiner Jugend selbst so etwas wie ein pfingstliches Glaubens-Erlebnis. Möglicherweise hat er längst registriert, dass sein Starreporter tatsächlich mit ›seinem Jesus‹ infiziert war und auch heimliche Tests mancher Redaktions-Kollegen auf dieses Virus bereits positiv ausgefallen sind.

Ich habe zwar nie offen darüber gesprochen, aber schon bei der Sache mit der Auferstehung und auch später bei dem Ringen um die Bedeutung von Weihnachten, sind mir manche Leuchter auf- und angegangen. Es hat sozusagen gefunkt, nicht nur zwischen Maren und mir, auch zwischen mir und dem christlichen Glauben. Brandstiftung, das trifft es schon. Ob das etwas mit dem Heiligen Geist zu tun hat, um den es Pfingsten geht? Mein Chef Florian jedenfalls scheint das zu befürchten. Seltsam, dass diese Feuerserie und das Pfingstthema so unmittelbar zusammenfallen. An Zufälle mag ich nicht mehr glauben, seit ich so seltsame Geschichten erlebt habe.

»Chef, lassen wir das. Du hast deinen und ich meinen Glauben. Was uns ganz sicher verbindet, ist diese Redaktion. Und da mache ich mich jetzt an die Arbeit!«

Ich stehe auf. Er bleibt sitzen.

»So ist es gut!« strahlt er. »Nicht ewig diskutieren, arbeiten!«

Mein geliebter Chef will immer gerne das letzte Wort behalten. Also kritzelt er jetzt etwas mit einem weißen Werbekuli unserer Zeitung auf seiner Kladde herum und straft mich mit Missachtung. Ich bin vorerst zum Arbeiten entlassen. Gut so.

In der Redaktion teile ich mir den Schreibtisch samt Computer mit einem freien Mitarbeiter. Da dieser Halb-Kollege selten kommt, habe ich früher viel von hier aus gearbeitet. Jetzt, da »home-office« wegen der Pandemie ohnehin salonfähig geworden ist, ziehe ich mein Arbeitszimmer in Himmelstal vor und versuche, mir die Fahrerei zu ersparen. Die Vor-Ort-Recherchen im gesamten Landkreis und darüber hinaus muten meinem Oldie-Golf ohnehin schon zu viele Kilometer zu.

Die Sache mit den »Brandstiftern« lässt mir keine Ruhe. Ich google »Pfingsten«. Eine lange Liste interessanter Seiten wird angeboten, gleich oben die Fragen: Was wird Pfingsten gefeiert? Was bedeutet das Pfingstfest? Rechts daneben geht es zu Wikipedia. Wenn ich das alles durchgelesen habe, weiß ich vermutlich Bescheid! Jetzt jedoch erschlägt es mich geradezu. Ich klicke mich durch bis zur Bibelstelle, auf die sich im Grunde alles bezieht: Apostelgeschichte Kapitel 2, Vers 1 bis 41. Der Text erscheint nicht, sondern nur eine Beschreibung. Ärgerlich. Ich will an die Quelle! Erst als ich die Bibelstelle separat bei Google eingebe, kommt der Text auf einem »Bibel-Server«. Erstaunlich, was es alles gibt!

Ich lese den Bericht über das Pfingstfest. Hm. Alles sehr seltsam. Alle waren beieinander. Plötzlich brauste es wie von einem Sturm. Dann erschienen Zungen, »wie von Feuer« steht dort. Die setzten sich auf sie. Seltsam. Maren hat vermutlich recht, es sind Metaphern und sie stehen für etwas, was man nicht beschreiben kann.

Noch seltsamer wird es danach. Die Jünger beginnen in verschiedenen Sprachen zu predigen, so wie es der Geist ihnen eingibt. Wie das? Dieses Erlebnis hätte ich gerne im Englischunterricht gehabt. Dann hätte ich Russisch und Französisch gleich dazugenommen. Diese Leute wurden von allen verstanden? Das steht dort. Jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache. Dann war es also nicht nur ein Sprachwunder, sondern vor allem ein Hörwunder. Sollte Pfingsten primär dies bedeuten: Menschen verstehen einander? Dann wäre alles insgesamt eine Metapher für eine der größten Sehnsüchte der Menschheit: Man versteht einander. Endlich! Der »Heilige Geist« wäre dann vor allem der Geist der Einheit, der Gemeinschaft und des Verstehens. Interessant.

»Jens, träumst du?«

Elske steht neben meinem Tisch. Es riecht ein wenig frischer, so als bringe sie aus Ostfriesland einen Hauch Nordseeluft mit in die Redaktion. Unsinn. Vermutlich hat sie nur ihr lockig blondes Haar oder ihre helle Bluse und das kesse Jäckchen darüber mit irgendetwas eingesprüht.

»Nein, nein. Ich meditiere gewissermaßen über einen Text. Sieh selbst.«

Ich drehe den Bildschirm so, dass sie es lesen kann. Wie vermutet kennt sie den Bericht. Ich weiß von ihr, dass sie als Jugendliche in einer sehr engagierten christlichen Gruppe mitgemacht hat. »Entschiedene Christen« nennen die sich, also aus Sicht eines kirchenfernen Streuners wie mir gewissermaßen Hardcore-Christentum.

»Na Jens, das ist ja wohl das Mindeste: Du machst einen Artikel über Pfingsten, folglich liest du natürlich den Bibeltext dazu. Und nun?«

»Nun überlege ich, wie das gemeint ist. Sind das alles Metaphern oder ist es ein nüchterner Tatsachenbericht?«

»Oh, mein lieber Kollege, was macht denn da den Unterschied?« Elskes Lachen wird immer breiter.

Ich bin wieder einmal überfordert. Soll einer die Frauen verstehen! Da müsste es auch Pfingsten werden, der Heilige Geist müsste über uns kommen wie ein Sturmwind und uns gegenseitiges Verstehen zwischen Mann und Frau schenken. Das wäre echt ein Wunder! Flammen und Brausen bräuchten wir dann vermutlich nicht mehr.

Elske merkt, dass mich ihre Frage verwundert.

»Na, ich meine, eine Metapher ist doch der Ausdruck für etwas, das wirklich geschieht. Sie ist ja nicht nur ein Bildwort für etwas, das gar nicht stattfindet. Folglich stehen auch die Flammen, das Brausen und das Hörwunder für etwas sehr Reales.«

»Und was ist das, deiner Meinung nach?«

»Na, für das reale Wirken Gottes. Die erste Gemeinde wird gegründet. Leute kommen zum christlichen Glauben, lies nur weiter im Text! Über dreitausend Leute bekehren sich zu Jesus, lassen sich taufen und treffen sich regelmäßig in den Häusern und in der Gemeinde. Das ist nun wahrlich alles andere als ›nur‹ eine Metapher. Da passiert richtig was!«

Meine Kollegin ist von dem, was sie mir da erzählt, begeistert. Ihre blauen Augen strahlen, ihre schmalen Hände betonen die Worte mit dezenten aber klaren Gesten, ja, ihr gesamter schlanker Körper strahlt aus, was sie sagt: Der Geist von Pfingsten ist faszinierend und real zugleich.

»Du meinst also, Pfingsten ist so etwas wie ›Gott in Aktion‹? Also nicht nur einfach der Geburtstag der Kirche?«

»Na ja, das auch. Aber das ist ja nur ein Phänomen unter vielen. Gott wirkt. Predigten werden verstanden und gehen zu Herzen, die Leute treffen sich zum Gebet und zum Lesen in den alten Schriften, viele verkaufen, was sie haben und geben es den Armen, ganz normale Leute werden zu Missionaren, einer von ihnen namens Stephanus lässt sogar sein Leben für seinen Glauben, Heiden kommen zum Glauben ...«

Ich grinse innerlich und muss ein witziges Wortspiel loswerden, das ich irgendwann im Tagungshaus aufgeschnappt habe. »Also auch ›Lüneburger Heiden‹?«