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Die Schweinepest geht um. Explosionen erschüttern das beschauliche Himmelstal. LAND|Retter. Das hinterlassene Logo verursacht Verwirrung. Polizei und Staatsschutz suchen nach politischen Terrorgruppen. Lokalreporter Jens Jahnke wird hautnah in den Fall verwickelt. EU-Auflagen, Bürokratie, Konkurrenzkampf, Landspekulation und fiese Geschäftspartner. Wie viele andere kämpft und leidet der kleine Mann. Die Großen gewinnen scheinbar immer. Jens Jahnke stellt sich den Problemen der Landbevölkerung und mischt sich ein. Auch dieser achte Krimi nimmt christliche Gedanken auf und stellt sie in den Kontext aktueller Ereignisse. Diesmal geht es um Jesu Nähe zu den , kleinen Leuten'. Begleiten Sie den Reporter nach Himmelstal, einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide, das es in sich hat.
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Seitenzahl: 343
Hermann Brünjes
ein kleiner Mann sieht rot
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog
Pfingstsamstag, 27. Mai
Mittwoch, 31. Mai
Freitag, 9. Juni
Samstag, 10. Juni
Montag, 12. Juni
Dienstag, 13. Juli
Freitag, 16. Juni
Samstag, 17. Juni
Sonntag, 18. Juni
Mittwoch, 21. Juni
Freitag, 23. Juni
Montag, 26. Juni
Donnerstag, 29. Juni
Freitag, 30. Juni
Samstag, 1. Juli
Sonntag, 2. Juli
Montag, 3. Juli
Dienstag, 4. Juli
Mittwoch, 5. Juli
Donnerstag, 6. Juli
Freitag, 7. Juli
Samstag, 8. Juli
Sonntag, 10. Juli
Mittwoch, 13. Juli
Sonntag, 17. Juli
Autor, Hinweise zum Buch und weitere Bücher
wichtige Personen
Impressum neobooks
Ein kleiner Mann sieht rot
Ein Jens Jahnke-Krimi von Hermann Brünjes
Gewidmet jenen Menschen in Dorf und Region, die weder bekannt noch berühmt sind. Den Bauern, die niemals die ‚dicksten Kartoffeln ernten‘. Jenen, die auslöffeln müssen, was andere ihnen einbrocken. Uns ‚kleinen Leuten‘ ist diese Geschichte gewidmet. Wir alle liefern den Stoff, aus dem Romane sind.
Danke.
Selbst wenn er im Scheinwerferlicht auf einer Bühne gestanden hätte, wäre der kleine Mann vermutlich nicht aufgefallen. Unscheinbar in älteren Jeans, dunklem Poloshirt, darüber ein dunkelgrauer Anorak, etwas strähnige Haare, die vermutlich einmal rötlich waren, definitiv klein gewachsen und die Augen vor sich auf dem Boden – so stand er in der Tür zum Pfarrhaus.
Der Geistliche hatte diesen Mann zwar bereits irgendwann irgendwo gesehen, kannte seinen Namen jedoch nicht. Den wollte ihm sein Besucher auch jetzt nicht nennen.
„Ich will beichten.“ Der kleine Mann sprach leise, so als wagte er nicht zu sagen, was er da gerade sagte.
Der Geistliche staunte.
„Das ist ungewöhnlich. Wir sind evangelisch.“
„Ja. Aber ich will trotzdem beichten. Vorausgesetzt, auch ein evangelischer Pfarrer ist an das Beichtgeheimnis gebunden und nichts von dem, was ich erzähle, sagen Sie weiter.“
„Das kann ich Ihnen versprechen. Warten Sie, ich ziehe mir nur kurz etwas an und wir gehen hinüber in die Kirche.“
Ob der Pastor dies vorschlug, weil in seinem Arbeitszimmer das Chaos herrschte und das neue Pfarrhaus kaum auf solche Besuche eingestellt war oder ob Beichte und Kirche einfach wie Topf und Deckel zusammengehörten, blieb sein Geheimnis.
Fünf Minuten später saßen sich die beiden vor dem Altar auf zwei Stühlen gegenüber. Die Jesusfigur am Kreuz neigte seinen Kopf in Richtung des kleinen Mannes. Der Pfarrer sprach ein Gebet und hörte dann zu.
Je länger sein Gegenüber von sich erzählte, desto unruhiger rutschte der Geistliche auf seinem Platz hin und her. Seinem Gesichtsausdruck nach war er tief berührt von dem, was er hörte, manchmal jedoch auch irritiert. Immer wieder unterbrach er den Redefluss des kleinen Mannes, fragte etwas oder schien sogar zu widersprechen. Dem Pastor sah man an, dass er sich in seiner Haut als Beichtvater extrem unwohl fühlte.
Mehrmals stand er auf, ging zwischen Altar und seinem Gast auf und ab und versuchte, etwas zu erklären. Dann setzte er sich wieder und hörte erneut aufmerksam zu.
Anders sein Gegenüber.
Seine Stimme wurde nicht lauter, sein Redefluss war jedoch beachtlich. Man hatte den Eindruck, dieser Mann redete sich alles von der Seele. In seinem Leben musste viel, und vor allem, viel Schlimmes passiert sein. Der kleine Mann wirkte, je länger er sprach, befreit und entlastet.
Nach einer guten Stunde schien er fertig zu sein und zu wissen, was zu tun war. Er bat den Pastor um Gebet und Segen.
„Danke, Herr Pastor, dass Sie zugehört haben. Ich hoffe, Sie verstehen mich und Gott vergibt mir.“
Die Antwort des Geistlichen klang unsicher. „Das wird er. Aber überlegen Sie es sich doch noch einmal. Es ist nicht zu spät. Sie haben eine neue Aufgabe vor sich, sind fit und können mit Ihren Erfahrungen auch völlig anders umgehen – allemal, wenn Sie sich Hilfe holen! Was geschehen ist, lässt sich nicht ändern. Aber Sie können die Zukunft positiv beeinflussen!“
„Danke, Herr Pastor, für Ihre Zeit. Ich vertraue darauf, dass alles unter uns bleibt und Gott Ihr Gebet für mich erhört.“
Ohne Zweifel hatte der Mann Gottes jetzt große Probleme, seinem Gegenüber die Hände aufzulegen und ihn zu segnen. Er rang nach Worten, Worte die nicht alles einfach rechtfertigten würden aber doch Gottes Zusagen ungetrübt transportierten.
*
Wieder zuhause, überlegte der Geistliche, wie er mit dem umgehen sollte, was er in der Kirche gehört hatte. Sollte er die Polizei informieren oder zumindest überlegen, ob er jemanden warnen konnte? Machte es Sinn, Namen und Adresse des kleinen Mannes herauszufinden und ihn noch einmal zu besuchen? Oder würde am Ende entgegen aller Ankündigungen gar nichts geschehen? Hilflos beugte sich der Pastor über seine alte Bibel und bat Gott, das Richtige zu tun – oder es zu lassen.
Als ich ankomme, sind die meisten bereits in bester Stimmung. Enno prostet mir zu.
„Jens, du solltest deine Maren nicht allzu lange alleinlassen!“ meint er grinsend, kaum erreiche ich die Bierzeltgarnitur, an der außer meiner Liebsten noch fünf fröhliche Gesellen sitzen. Enno Diekmann ist unser Feuerwehrchef. Seine Frau Waltraud, zwei Feuerwehrkameraden, unser Nachbar Gerald Tönnies und meine liebe Maren sind wie viele der Feiernden bereits erkennbar angetrunken. Bierflaschen und Schnapsgläser reihen sich auf der blanken Holzplatte, dazwischen Pappteller mit Bratwurst, Steaks und Weißbrotscheiben – oder was eben noch davon übrig ist. Man muss ein wenig brüllen, um gegen die flotte, aber eben auch laute Musik anzukommen. Die »Heidjer Musikgemeinschaft«, eine große Bläserformation aus dem Flecken, sorgt für Stimmung. Mit Unterstützung von Schlagzeug und Elektro-Bass machen sie, gemäß Slogan an den Notenständern, ‚Musik für alle‘. Zwei kleine Mädchen halten sich an Händen und tanzen auf dem Pflaster vor Musikgruppe und Publikum.
„Meinst du, Enno, Maren trinkt zu viel oder meinst du, sie flirtet zu viel?“
Maren, wie viele hier in Jeans und Anorak noch auf niedrige Temperaturen eingestellt, strahlt mich mit ihren braunen Augen an, schüttelt ihre braunen Locken, lacht und gibt mir einen dicken Schmatz. „Vermutlich beides, mein Liebster! Schön, dass du endlich da bist.“
„Versprochen ist versprochen!“ Ich nehme ein Pils vom Tablett, das Gerald mir fröhlich hinschiebt.
„Ich hole noch ´ne Runde Korn“, Gerald ist auf dem Weg zum Bierwagen, noch ehe er den Satz zu Ende gesprochen hat.
„Und, wie war die Sitzung? Kommt die Autobahn nun, wird die Bahntrasse gebaut? Oder wollen sie doch lieber einen Schnellweg für E-Bikes?“ Enno krümmt sich fast vor Lachen.
Maren muss erzählt haben, wie und wo ich mir heute den Pfingstsamstag um die Ohren geschlagen habe.
Ich war auf einer Sitzung zur Verkehrsplanung im Landkreis.
Es war interessant, aber irgendwie auch ätzend ernüchternd. Die Gruppen waren aufeinandergeprallt: Bahngegner und Befürworter einer Neubaustrecke, Autobahnfans und erbitterte Gegner neuer Straßenprojekte. Dazu Tierfreunde vom NABU und Vertreter der städtischen Industrie. Ein Mix, aus dem die Kriege sind! Hätte nicht ein äußerst geschickter Moderator aus Hannover die Veranstaltung geleitet, so säße ich hier jetzt vermutlich mit einem blauen Auge. Es wäre zur Schlägerei gekommen, zweifellos!
„Na, das wäre doch mal `ne Schlagzeile!“ brüllt Enno und schüttelt sich vor Lachen, als er meinen Bericht von der Sitzung kommentiert. „Schlägerei im Kreishaus. Reporter an der Front.“
Die Schwelle, eine Bemerkung als ‚Witz‘ einzuordnen, liegt hier inzwischen recht tief. Besonders die beiden Feuerwehrkameraden stimmen aus meiner Sicht reichlich unreflektiert in das schallende Gelächter ihres Ortsbrandmeisters ein. Die beiden tragen ihre Uniformjacken. Ich nehme an, dass sie vor dem Pfingstbaumpflanzen noch am Feuerwehrhaus waren. Unsere freiwillige Feuerwehr übt dort regelmäßig und eine beachtliche große Jugendgruppe wird an jedem Samstag trainiert.
Einer der beiden ist Axel Kuhlmann, gleichzeitig Platzwart des Sportvereins und ein recht schlichtes Gemüt, den man allerdings einfach gerade deswegen mögen muss. Den anderen nennen alle Henni. Er ist ein ruhiger, unscheinbarer Mann. Wie er richtig heißt, weiß ich nicht und bin ihm auch sonst nicht weiter begegnet. Die beiden haben eindeutig bereits im Spritzenhaus ihren ‚Brand‘ gelöscht, enthält ihr Lachen doch diverse Elemente der Kategorie ‚Lallen‘.
Die Musikgemeinschaft macht eine Pause.
Ich entschuldige mich und stelle mich am Bratwurststand an. Das mit dem Grillen müssen sie noch üben. Es dauert. Ein Zweimetertyp in oranger Warnweste wartet neben mir. Er hat bereits ‚einen im Kahn‘ und erzählt allen Wartenden, warum. Zu zwölft waren sie im Wald, um den Pfingstbaum, eine große Birke, zu schlagen. Traditionell werden nicht eine Säge oder Axt, sondern nur ein kleines Beil benutzt. Jeder hat drei Schläge.
Dann muss er einen Korn trinken. Nun, diesmal war es ein dicker Stamm …
Endlich kriege ich meine Wurst, gehe zurück an den Tisch und hole mein Abendessen nach. Man hört Gelächter aus Richtung Bierwagen und Grillstand, Gesang vom Nachbartisch und helle Kinderstimmen. Vor der Bäckerei tummeln sich einige Kids mit Roller und Skateboard. Was machen die bloß noch um zehn Uhr abends hier? Vermutlich stehen die Eltern am Bierwagen und haben völlig die Zeit vergessen. Am Toilettenwagen warten mehrere Frauen. Ein Mann grinst sie schadenfroh an und kann sofort aufs Männer-Klo.
Ein Pulk Menschen umlagert den Bierstand, meist jüngere Männer wie der eben in der Wurst-Schlange. Mit ‚jünger‘ meine ich zwischen dreißig und fünfzig. Wenn man selbst auf die Rente zugeht, verschieben sich die Maßstäbe. Die ‚Älteren‘ sitzen eher an den etwa acht Bierzeltgarnituren, die den Dorfplatz zusammen mit diversen Lampion-Ketten gewissermaßen zum Festsaal machen.
Jetzt startet die Bläser-Bigband eine weitere Runde. Sie präsentiert flotte Blues, Swing und jazzige Tanzmusik. Einige der Feiernden hält es nicht mehr auf den Sitzen. Die kleinen Mädchen sind inzwischen wohl dort, wo sie um diese Zeit hingehören, im Bett. Das holprige Straßenpflaster des Dorfplatzes wird zur Tanzfläche für Erwachsene. Axel, den ich eher für einen Fan von Volksmusik und Schlager gehalten hatte, scheint Jazz zu lieben. Er steht am Tisch und klatscht im Takt.
„Niemand von denen ist Profi“, erklärt Maren. „Aber sie haben es voll drauf, oder?“
Ja, haben sie. Ohne Zweifel macht es ihnen zudem viel Spaß, auf unserem ‚Dorfbumms‘ Musik zu machen.
Spaß haben auch einige Gäste aus dem Tagungshaus. Zwei der Bierzeltgarnituren sind von ihnen besetzt. Vermutlich werden sie zuhause erzählen, dass sie in Himmelstal ein zünftiges Dorffest miterlebt haben, eines, von dem jeder Heidetourist nur träumen kann. Oh je, der Abend wird lang … Dabei müsste ich noch meine Artikel für die Ausgabe nach Pfingsten fertigmachen. Aber okay, es bleiben ja noch die zwei Feiertage.
Ich beschließe, ein oder zwei Korn mitzutrinken. Als Maren mir heute früh sagte, sie würde zum Pfingstbaum gehen, hat sie mich schadenfroh an das Desaster von vor zwei Jahren erinnert. Damals war ich hier ganz schrecklich versackt und habe mir deswegen noch monatelang Vorwürfe anhören müssen. Aber nun ist Maren selbst auch hier. Folglich hängt sie voll mit drin …
Am Nachbartisch sitzen Theo, seine Freundin, Pastor Werner und einige Gäste aus dem Tagungshaus. Sie konzentrieren sich auf die Musik, manch Hände und Füße zucken im Takt, man schaut zur Musikgemeinschaft, miteinander geredet wird kaum. Vor ihnen stehen deutlich weniger leere Flaschen als auf unserem Tisch und gar keine Schnapsgläser. Theo Beyer ist Leiter des Tagungshauses, ein smarter dunkelhaariger Mann, Anfang vierzig. Auch er ist Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr von Himmelstal. Nun kommt er an unseren Tisch.
„Moin! Und, wie gefällt euch die Musik?“
Maren lächelt. „Na super! Euren Gästen aus der Stadt scheint es ja auch gut zu gefallen. Ihr seid wahrscheinlich froh, dass überhaupt wieder Gruppen kommen können.“
Sie spielt auf ein für die Betreiber des Tagungshauses geradezu tragisches Ereignis an. Anfang April gab es über der Großküche einen schlimmen Wasserschaden. Der Betrieb musste eingestellt werden, da mehrere Räume betroffen und wichtige Elektrogeräte unbrauchbar geworden waren. Nach dem Corona-Lockdown und diversen Turbulenzen, wegen einer Sanierung im Haupthaus, war dies nun alles andere als beglückend.
Theo lacht trotzdem. „Das ist mehr als Glück. Das ist ein Wunder Gottes! Ja, wir starten jetzt wieder durch und das gewissermaßen ‚mit Musik‘!“
Alle nicken und lachen, alle außer Gerald. „Dann wird unser kleines Himmelstal jetzt also wieder von grölenden Jugendlichen belagert, zumal es wärmer wird und sie draußen sind?“
Gerald scheint von den oft wirklich spürbar vielen Gästen im Ort nicht besonders erbaut zu sein.
„Was erzählst du da? Plapperst einfach nach, was andere behaupten? Selbst wenn es mal laut ist, wo ihr wohnt, wird man davon ganz sicher nichts mitkriegen!“
Ob Theo doch schon etwas mehr getrunken hat? So offensiv geht er mit Kritik sonst nicht unbedingt um. Er sitzt sie lieber aus. Nun aber setzt er noch eins drauf: „Was wäre denn Himmelstal ohne die Gäste bei uns im Tagungshaus? Ein paar Fahrradtouristen fahren durch, fragen vielleicht nach dem Weg zum Klosterflecken … das war’s auch schon. Niemand würde dieses Dorf kennen.“
Maren versucht zu schlichten: „Gerald meint es nicht so. Er weist nur darauf hin, dass wir aufeinander achten müssen.“
„Da hat er recht“, Theo lenkt ein, es klingt allerdings etwas gönnerhaft. „Genau so geht es in einem kleinen Dorf ja auch nur! Man kennt sich, man lebt auf engstem Raum zusammen und muss einen Weg finden, miteinander klarzukommen.“
„Was nicht immer so einfach ist!“ Gerald scheint noch nicht besänftigt – oder der Alkohol löst seine sonst eher stille Zunge. „Auch wenn ich nur selten was höre, nur mal laute Musik, so ziehen doch immer wieder Konfirmanden durchs Dorf und benehmen sich wie Rabauken.“
„Dann müsst ihr uns das direkt sagen!“
„Ja, und dann sind wir die blöden Spießer, die dummen Landeier, die von Fremden nichts wissen wollen!“
Enno mischt sich ein: „Gerald, nun mal langsam. So werden wir ja wohl nur selten gesehen, oder? Auch bei uns auf dem Dorf leben wir inzwischen nicht viel anders als die Leute in der Stadt. Sogar Glasfaser haben wir und unser WLAN ist in vielen Häusern sogar besser als das Netz in der Kreisstadt.“
„Lächerlich! Mal abgesehen davon, dass es hier oft nach Schwein stinkt und die Windräder Schatten werfen – die Busverbindungen sind doch kacke. Sie passen nur für Schüler.“ Mein Nachbar nimmt einen Schluck aus seiner Bierflasche, so als tanke er weitere Argumente. „Und die Geschäfte? Selbst im Flecken macht die Autowerkstatt zu. Es gibt nur noch ein paar Supermärkte. Wir Dörfler bestellen das meiste im Internet, und wundern uns dann über die vielen nervigen Lieferwagen.“
Der sonst eher stille Gerald redet sich geradezu in Rage. Immer wieder schlägt er mit der Handfläche auf den Tisch. Ich halte das wacklige Gestell fest, damit die Gläser nicht umfallen.
„Und wer von denen da oben hört auf uns? Die Bahn? Denen ist doch das Land egal und die Dörfer und Höfe, die durch neue Strecken verschwinden, interessieren sie nicht. Die Regierung in Hannover? Die machen große Worte aber nichts passiert. Die Wolfsdichte in unserem Landkreis ist die größte weltweit! Wusstet ihr das? Selbst in Schweden und Polen leben weniger Wölfe als hier bei uns. Und was machen die in Hannover? Und in Berlin? Und in Brüssel? Große Worte! Was ‚im Lande‘ und ‚auf dem Lande‘ passiert, ist denen doch scheißegal!“
Wow. So habe ich unseren Nachbarn noch nicht erlebt. Gerald kriegt sich kaum wieder ein. Erst als seine Frau ihn sanft, aber bestimmt zurück auf den Sitz zieht, reißt seine Frusttirade ab. Er nimmt einen tiefen Schluck aus der Bierflasche. Enno schenkt ihm noch einen Korn ein. Gerald hatte vorhin gleich eine ganze Flasche mitgebracht.
„Hast ja recht, Gerald. Aber trotzdem ist Himmelstal ein tolles Dorf! Kommt, darauf trinken wir noch einen!“
Enno füllt auch die anderen Gläser in Reichweite und jene, die wir ihm rüberschieben. Die Flasche mit dem Klaren ist nur noch knapp halb voll, als er sie in den Kühlzylinder zurückstellt.
„Prost! Trinken wir auf unser schönes Dorf, auf die dörfliche Idylle und auf uns großartige Landeier!“
Wir alle heben unser Glas, kippen den Korn in die Kehle, schütteln uns und stellen die kleinen Gläser geräuschvoll zurück auf die Tischplatte.
Auch Theo strahlt, nachdem er sein Glas geleert hat. „Wie schön, dass wir uns einig sind. In Himmelstal ist die Welt noch in Ordnung. Und wenn nicht, kriegen wir das wieder hin!“
Er klopft auf unseren Tisch, nickt uns zu und setzt sich wieder zu seinen Gästen. Ich beobachte, wie Pastor Werner zum Bierwagen geht und Nachschub holt. Das Gespräch an unserem Tisch verfolge ich mit nur einem Ohr.
Es geht weiter um das Image der Dorfbewohner. Gerald beharrt darauf, dass ‚die da oben‘ ‚uns hier unten‘ nicht wirklich wahrnehmen. Er ist weiterhin ziemlich redselig. Wir sollen wählen gehen, Steuern zahlen und ansonsten unseren Mund halten.
Auch Axel und sein Kumpel Henni ergänzen etwas auf gleicher Linie. Axel meint, dass unsere Dörfer ja auch nicht mehr sind, was sie mal waren. Henni korrigiert mit zwar leiser aber erstaunlich fester Stimme, dass sie nie waren, was sie angeblich sind.
Die beiden kommen ins Philosophieren. Dorfleben gestern, heute und morgen könnte man ihre teils ausschweifenden Gedanken überschreiben. Ich schiebe ihr durchaus nicht nur unintelligentes Geschwafel auf den aktuellen Alkoholspiegel. Auch meiner hebt sich schnell und deutlich spürbar. Aber ich habe keine Lust, über das Dorfleben zu sinnieren und dabei Stadt- und Landleben gegeneinander auszuspielen.
Wieder stehen die leeren Bierflaschen auf dem Tisch Spalier und reihen sich aneinander wie Soldaten beim Zapfenstreich. Ich murmle etwas von „Ich bin dran“, klemme sie mir gekonnt zwischen die Finger und mache mich auf den Weg zur Quelle. Irgendwann wäre ich sowieso für die nächste Runde zuständig gewesen. So ist das auf dem Dorf: Jeder ist mal dran.
Es dauert, bis ich meine Bestellung aufgeben kann. An der Bude ist es rappelvoll. Hendrik Meier, umgeben von sechs oder acht Leuten, gibt gerade eine Runde Korn aus. Das wird teuer. Als einziger Bestatter im Dorf kann er es sich allerdings wohl leisten. Seine ‚Platte‘ glänzt. Vermutlich schwitzt er den gerade eingefüllten Alkohol unmittelbar wieder aus.
„Jens, unser Starreporter! Komm, trink einen mit. So jung kommen wir nie wieder zusammen!“
Wo er recht hat, hat er recht. Also trinke ich einen mit. Wir stoßen an. Ich bin inzwischen ganz offenbar ein Teil des Dorfes. Welch Ehre, weiß ich doch, dass es in der Regel mindestens zwei Generation dauert, bis jemand halbwegs aufgenommen ist – und das auch nur, wenn er oder sie sich im Dorf einbringt, etwa bei der Feuerwehr, beim Sportverein oder wenigstens in der Kirchengemeinde. Nun, ich halte es wie manch andere Neubürger auch und tauche bei möglichst viele Festivitäten auf. Je mehr man da mit den Leuten redet und anstößt, desto schneller wird man als einer von ihnen akzeptiert.
Vielleicht habe ich auch ein paar Bonuspunkte, weil ich Maren Benders Lebensgefährte und zusätzlich Reporter beim Kreisblatt bin. Gut so.
Auch eine zweite Runde, gesponsort von Kerstin, dient der Integration. Die junge Frau darf bei der Feuerwehr nicht mehr mitmachen, weil sie einmal einen Brandstifter gedeckt hat. Sie ist jedoch nach wie vor bei allen beliebt. Ich habe ihr damals geholfen und jetzt prostet sie mir zu.
„Jens, auf den Frühling und dieses schöne Fest!“
Hendrik kann offenbar nicht ohne Trinkspruch: „Prost Jens! Du weißt ja: Auf einem Bein kann man nicht stehen!“
Ich muss sehen, dass ich hier wegkomme und winke einem der Helfer in der Bude. Alle, die hier ausschenken und vom Durst ihrer Gäste profitieren, sind Mitglieder im Junggesellenverein. Der finanziert sich und seine eigenen feuchtfröhlichen Zusammenkünfte durch solche Feste. Einst alles Junggesellen, haben die meisten inzwischen geheiratet – der Name dieser dörflichen Aktionsgemeinschaft ist geblieben. Was hier niemand komisch findet.
Leider ist meine Bestellung von vorhin untergegangen. Während mein Bier nun weiter auf sich warten lässt, kommt eine weitere Runde Schnaps in unseren Kreis. Wieder hat Hendrik bestellt. Vermutlich will er einen seiner Trinksprüche anbringen.
„Jens“, meint er und reicht mir die klare Frucht des Weizens mit einem strahlenden Lachen. „Dreimal ist Bremer Recht!“
Die anderen sind schon wieder ins Gespräch vertieft. Auch in dieser Runde geht es um Politik. Der Ukraine-Krieg, Heizungstausch, grüner Familienfilz, Preise für Rüben und Schweinefleisch … Mit halbem Ohr höre ich hin, während ich auf mein Bier warte. Die Landwirtschaft, der Wolf, das Bauland und wie Häuslebauer angesichts steigender Zinsen zu kämpfen haben – immer wieder wird von ‚denen da oben‘ gesprochen.
„Der kleine Mann hat sowieso nichts zu sagen!“
Hendrik bringt auf den Punkt, was alle aufregt. Mit seinen zirka 1,65 m ist er selbst so ein ‚kleiner Mann‘, meint es jedoch vermutlich allgemein. „Alles, was die da oben verzapfen, müssen wir kleinen Leute ausbaden!“ regt er sich auf.
Endlich schiebt einer der Ex-Junggesellen ein Tablett mit Bierflaschen in meine Richtung. Ich zahle, balanciere das schwere Tablett aus und nicke allen freundlich zu.
„Danke für die Runde! Am Tisch warten sie auf mich!“
Meine Bestellung und die damit verbundene soziale Verantwortung gibt mir die Chance, die Thekenrunde um Hendrik ohne Gesichtsverlust zu verlassen.
Zurück an unserem Tisch jubelt Enno: „Endlich! Da kommt der Champagner der kleinen Leute! Mensch Jens, wo warst du denn so lange? Wir sind hier schon halb verdurstet!“
Sofort fliegen Kronkorken und wir prosten uns zu.
Maren will tanzen. Ich habe zwar zwei linke Füße, lasse mich jedoch, bevor das Politgeschwafel der ‚kleinen Leute‘ wieder beginnt, sehr gerne aufs Pflaster vor den Band-Pavillon ziehen. Die ‚Heidjer Musikgemeinschaft‘ hat das Fest im Griff. Wenn auch die musikalische Qualität inklusive der Musiktitel inzwischen etwas nachgelassen haben, für unser Dorf und beim jetzigen Alkoholpegel reicht es allemal. ‚Atemlos‘ hüpfen wir ‚über sieben Brücken‘, träumen vom ‚Haus am See‘ mit den Orangenblüten und wenn es so weitergeht mit Tanz und Schnaps, werden wir problemlos ‚ein Bett im Kornfeld‘ finden. Die Truppe bläst alles, was wir lautstark mitgrölen wollen und können. Musik für alle eben.
Wie gesagt, Himmelstal ist ein guter Ort zum Leben!
Seit dem Pfingstbaum-Begießen schwirrt mir ‚der kleine Mann‘ im Kopf herum. Ja, ich war zwar betrunken am letzten Samstagabend – aber nicht so, dass ich keine interessante Story mehr erspüre oder rieche. Sucht es euch aus. Jedenfalls fand ich die Diskussionen und die darin sich offenbarenden Haltungen auch im Rückblick hoch interessant.
Beim späten Frühstück am Pfingstsonntag hatte ich mit Maren dann über meine Idee gesprochen.
Beide zwar noch ein bisschen verkatert, war dennoch ein gutes Gespräch zustande gekommen. Es hat mir den Rest an Gewissheit gegeben. Ja, ich werde heute in der Redaktionssitzung eine Artikelreihe zum Thema „Der kleine Mann“ ankündigen. Egal, was mein Chef Florian Heitmann dazu sagt, ich werde ihn überzeugen, dass unsere Leser begeistert sein werden. Was will man mehr als Journalist und Chefredakteur?
Maren hatte mich am Sonntag gewissermaßen zwischen Frühstücksei und Katerkaffee weiter inspiriert. Sie hat auf eine Dimension im Thema hingewiesen, die mir selbst niemals in den Sinn gekommen wäre.
Zu meiner Überraschung hatte sie schmunzelnd gesagt: „Jens, das ist ja richtig gut! Es passt auch zu Pfingsten.“
Ich muss ein wenig dumm aus der Wäsche geguckt haben.
„Du siehst die Verbindung nicht? Ich schon!“
„Du meinst, die Leute, die den Heiligen Geist bekommen haben, waren auch alles ‚kleine Leute‘?“
„Genau. Aber nicht nur das. Jesus selbst hat sich Tag für Tag mit unbedeutenden Menschen umgeben und sich vor allem ein ‚Freund der kleinen Leute‘.“
Wie immer, wenn sie mir theologischen Nachhilfeunterricht erteilt und ihre Jesus-Sicht entfaltet, hatte meine Liebste über beide Wangen gestrahlt und ihre Augen funkelten.
„Schon bei der Geburt Jesu ging es doch los. Nicht bei König Herodes im Palast oder in einem der prächtigen Regierungsgebäude und auch nicht bei den kirchlichen Würdenträgern im Tempel kam der Sohn Gottes zur Welt. Nein! Er war Sohn eines Zimmermanns und einer jungen, unbedeutenden Frau. Hirten waren dann die ersten, die gratulierten, nicht Honoratioren aus der Stadt. Und Jesus ist auch nicht in der Stadt, sondern irgendwo in der Provinz geboren und aufgewachsen – und fast ausschließlich hat er auf dem Lande gewirkt und gepredigt.“
Wow. Ich fand das interessant, gebe ich zu.
„Dann war Jesus selbst also auch so etwas wie ein ‚Landei‘ und einer, der vor allem in Dörfern unterwegs war?“
„Genau. Er war einer von uns. Auch er war ein ‚kleiner Mann‘ in den Augen der Mächtigen und Einflussreichen.“
„Das war er dann ja später wohl nicht mehr. Zumindest drei Jahre lang hat dieser vermeintlich kleine Mann ja ziemlich große Dinge getan und gewissermaßen die Welt verändert. Heute kennt ihn jede und jeder.“
„Da siehst du mal, wozu ‚kleine Leute‘ fähig sind! Klar ist Jesus heute bekannt. Aber meinst du wirklich, er kriegt Einfluss und wird gehört? Doch wohl eher nicht. Gehört werden die Großen, die Mächtigen, die Herrscher.“ Maren wirkt zornig.
„Ja, in den Medien und auf den Bühnen dieser Welt. Aber auf dem Lande? Da sind doch ‚die da oben‘ eher entweder weit weg oder gar Feindbild für alles, was schwierig ist.“
„Sag‘ ich ja. Jesus feierte besonders auf dem Lande seine großen Erfolge. In der Stadt Jerusalem wurde er gekreuzigt – in Kapernaum, Tiberias, Kana und wie die Dörfer damals sonst hießen, wurde er gefeiert und konnte große Wunder tun.“
„Was ihm am Ende auch nichts gebracht hat, oder?“
Maren hatte eine Blaubeere aus ihrem Müsli auf die Gabel gespießt und sie sich genussvoll in den Mund geschoben.
„So würde ich es nicht sagen. Weißt du, wie die Landbevölkerung und die einfachen und meist armen Leute damals genannt wurden?“
Nein, ich hatte es nicht gewusst.
„Am Haarez. So nannte man im rabbinischen Judentum die einfachen, ungebildeten Menschen. Man kann es übersetzen mit ‚Volk des Landes‘. Und genau an dieses Volk hat sich Jesus primär gewandt. Aus seiner Mitte kam er selbst und hat sich seine Jünger gerufen und mit ihnen ein Team gebildet. Fischer, Zöllner, Buchhalter – also lauter ‚kleine Männer‘.“
„Und ‚kleine Frauen‘!“
Maren hatte gelacht. „Ja, und kleine Frauen! Endlich hat Jens Jahnke es mit dem gendern kapiert! Ja, auch die Frauen an Jesu Seite waren völlig unbedeutend und eher anrüchig. Als Models und Vorbilder waren sie jedenfalls nicht zu gebrauchen.“
„War nicht sogar eine Ex-Prostituierte dabei?“
„Ja. Maria Magdalena. Bei der anderen Maria hatte Jesus sieben Geister ausgetrieben.“
„Was immer das war …“ Ich kann mir das bis heute nicht vorstellen. Körperlich und psychisch krank würden wir vielleicht diagnostizieren. Oder, schlichter ausgedrückt: Krank, verrückt und abgedreht.
„Genau, was immer das war.“ Maren hatte geheimnisvoll gegrinst. „Aber auch die Männer, mit denen Jesus sich umgab, waren nicht besser und absolut keine braven Bürger der Mittel- und Oberschicht! Du weißt, wer damals Hirte wurde?“
Nein, wusste ich nicht. „Ergebnis der Berufsberatung?“
Sie hatte mir wieder ihr leuchtendes Lachen geschenkt.
„Nee, dann eher Ergebnis des Justizvollzuges. Die meisten Hirten durften sich in der Stadt nicht mehr sehen lassen, weil sie von der Polizei gesucht wurden. Diebe, Betrüger und sogar Mörder versteckten sich in der Provinz.“
„Und eben die waren dann Jesu erste Anhänger und huldigten dem Jesuskind in der Krippe?“
„Genau! Und später kamen sogar Zöllner dazu. Die machten Kasse mit überzogenen Steuern und Abgaben. Sie waren zwar Juden, kooperierten aber mit den römischen Besatzern.“
„Eben deshalb waren sie so unbeliebt?“
„Genau. Wer erwartet, dass die Jesusleute alle astrein sind und Vorbilder in allen Bereichen, der oder die hat nie begriffen, worum es Jesus ging.“
Mir hatte die Frage auf der Zunge gelegen, worum es Jesus denn genau ging aber ich hatte sie heruntergeschluckt. Maren wäre vom Hundertsten ins Tausendste gekommen. Mir hatte es jedoch bereits gereicht. Ob ich die theologische Sicht zum ‚kleinen Mann‘ in meiner Serie verarbeiten würde, war mir noch nicht klar. Florian würde jedenfalls mit dieser Version seine Probleme haben. Unser Chef hatte früher einmal selbst ein paar Semester Theologie studiert. Dann jedoch muss irgendetwas vorgefallen sein, das ihn davon abgebracht hatte. Bis heute haben weder ich noch meine Kollegin Elske herausgefunden, was es war.
*
Nun sitze ich im Bus und bin auf dem Weg in die Kreisstadt. Ja, richtig gehört. Jens Jahnke fährt Bus. Weil er endlich das Klima retten will? Weil er wegen seiner CO2-Bilanz ein schlechtes Gewissen hat? Falsch. Es bleibt mir nichts anderes übrig. Mein alter Golf kriegt neue Bremsen und muss durch den TÜV. Ich bete, dass er das schafft.
Außer mir gibt es nur vier Fahrgäste, eine ältere Frau und drei Schülerinnen. Die meisten Schüler sind bereits am frühen Morgen gefahren. Vor Schulbeginn gibt es immerhin drei oder vier Busverbindungen in den Flecken. Von dort fährt man weiter in die Kreisstadt oder steigt in einen anderen Bus in Richtung Kurort. Die Busse klappern sämtliche Dörfer ab und machen große Umwege. Für Schüler aus unseren Dörfern bedeutet dies oft eine Anreise zum Schulort von einer Stunde oder mehr.
Sobald jemand achtzehn ist, macht er oder sie den Führerschein – die Freiheit auf dem Land liegt auf dem Rücken der Pferdestärken. Wir alle wissen, dass dies nicht gerade unser Klima schützt, haben uns aber damit abgefunden. Solange die Busse nur zu und nach den Schulzeiten im annehmbaren Takt unterwegs sind, dazwischen und abends jedoch nichts geht, werden wir ‚Landeier‘ weiter mit dem Auto fahren. So ist es, trotz aller grünen Klimaretter-Träume. Dass ein mit nur fünf Personen fahrender Riesenbus – und da gibt es auf dem Land diverse Fast-Leerfahrten wie diese – das Klima schützt, kann ich ohnehin nicht nachvollziehen.
Mich nervt schon jetzt die An- und Abreise zur Redaktionskonferenz. Ich muss vom ZOB noch mindestens zwanzig Minuten zu Fuß gehen, da unsere Redaktion auf der anderen Seite der Stadt liegt. Der Anschluss mit dem Stadtbus passt nicht. Am Nachmittag muss ich gegen zwei Uhr aufbrechen. Ein gemütliches Essen beim Inder und inspirierende Gespräche mit Elske sind also nicht mehr drin. Und warum das alles? Weil mein alter, treuer Golf durch den TÜV muss. Weil nur so wenig Busse fahren. Weil die Konferenz Pflicht ist und wir sie nach Corona nicht mehr im Homeoffice machen.
Immerhin kann ich mir in Ruhe die Landschaft angucken.
Es ist wieder grün, endlich. Zwar haben im April und Anfang Mai die Temperaturen gelegentlich verrückt gespielt, es gab sogar noch Nachtfröste, aber jetzt hat sich der Frühling durchgesetzt. Die meisten Felder präsentieren sich im satten Grün. Im Stadtwald dominieren Buchen und nach Wochen zarten Grüns ziehen die meisten von ihnen bereits ihr etwas dunkleres Sommerkleid an. Die Eichen haben erst kürzlich und zögernd begonnen, ihr sanftes grünes Kleid anzulegen. Jetzt tragen sie es mit großer, stolzer Würde. Tannen und Kiefern wirken im Vergleich zu ihren Laubgenossen immer noch etwas winterlich.
Die Mädels gegenüber tuscheln und lachen. Eine schaut zu mir herüber. Ob sie über ‚den alten Sack‘ sprechen? Wahrscheinlich spekulieren sie, was ich von Beruf bin und wieso ich in die Stadt fahre. Mit meinem kleinen dunkelgrauen Rucksack, der braunen abgewetzten Lederjacke, blauen Jeans und dunklen Lederschuhen entspreche ich vermutlich dem Klischee von Pädagogen, Sozialarbeitern oder Pastoren in Zivil. Wer sie kennt, der oder die weiß, dass Journalisten und freischaffende Medienleute häufig ähnlich herumlaufen: Lässig zeigend, dass Klamotten nicht das Wichtigste sind, eher praktisch als schick und leicht auch ein bisschen heruntergekommen. Nun, ich trage jedenfalls keinen Bart, auch keinen Dreitagebart. Ich dusche jeden Morgen, putze meine Zähne und ziehe immer wieder frische Sachen an. Zugegeben, meine Hosen, Shirts und Schuhe ähneln sich und für eine Modenschau stände ich nicht zur Verfügung. Wenn ich, wie jetzt, lange nicht beim Frisör war, mag auch meine graue Matte etwas wild wirken – aber dennoch, ich finde den Typ, den ich morgens im Spiegel anschaue, ganz okay.
Die Stadt ist belebt. Im Bereich von Post, Kaufhaus und in der kurzen Fußgängerzone sind viele Leute unterwegs. Mir kommt wieder mein Thema in den Sinn. Sind das alles ‚kleine Leute‘? Wo eigentlich beginnt ‚klein‘ und wo endet es? Wenn jemand große Verantwortung hat und reich oder mächtig ist – dann gehört er oder sie nicht mehr dazu, oder? Bestimme eigentlich ich selbst, ob ich zu den ‚kleinen Leuten‘ gehöre? Oder andere?
Mir fallen weitere Begriffe ein: ‚Der ist ein 0.8.15-Typ‘, ‚ein Otto-Normalverbraucher‘ oder ein ‚Durchschnittsbürger‘. Politiker sagen manchmal ‚die Menschen dort draußen‘ oder Medien reden von ‚Bürgern‘ oder einer ‚normalen Bevölkerung‘. AfD und Querdenker haben der Protestbewegung in der DDR den Slogan geklaut: ‚Wir sind das Volk‘! Ob man dies alles wohl als Umschreibungen für ‚kleine Leute‘ bezeichnen kann?
Vielleicht ja, allerdings mit unterschiedlichen Akzenten.
Mein Thema ist vermutlich doch nicht so glatt und einfach, wie es mir unter dem Pfingstbaum erschien.
Wie erwartet, erreiche ich unser Verlagsgebäude erst mit einer guten halben Stunde Verspätung. Die Dame am Empfang grinst. „Lange geschlafen, Jens?“
„Witzig. Schlaf du mal im Bus!“
Schnell passiere ich die Anzeigenabteilung, um zu vermeiden, dass weitere Sprüche meine Laune verderben.
Das Redaktionsbüro im ersten Stock ist nicht besetzt. Allerdings flimmern die Monitore auf den Schreibtischen und es sieht nicht nach Schließung des Ladens, sondern nach Arbeitspause aus. Die Tür zum Chef steht offen, sein Schreibtisch ist unbesetzt. Ich öffne die Tür zum Konferenzraum.
„Ah, unser verlorener Sohn!“ Da sage einer, unser Chef Florian sei fern der Bibel und des Himmelreiches. Er benutzt immerhin deren Sprachmuster. „Schön, dass der Herr Jahnke auch noch kommt!“
Ich nehme mein MacBook heraus und schiebe meine Tasche neben den Stuhl.
„Sorry, mein Golf ist in der Werkstatt.“
„Oh je, und da musste der große Jens Jahnke mit dem Bus fahren! Welch Abstieg in das Reich der kleinen Leute!“
Steini, unser Sportredakteur, kann es nicht lassen. Sooft es passt oder auch nicht, nörgelt er und kritisiert. Nicht nur bei mir, immer und alles sieht er zuerst einmal negativ. Aber seltsam, auch er sieht sich als ‚kleiner Mann‘ bei ‚kleinen Leuten‘ Außer mir hat dies jetzt vermutlich niemand so aufmerksam gehört. Unser Chef, Florian Heitmann, bleibt gelassen.
„Ich vermute, Jens, wenn du den Bus nehmen musstest, ist die halbe Stunde Verspätung noch im Rahmen des Erträglichen.“ Er spielt mit einem Kugelschreiber, lässt den um seine mächtigen Finger kreisen und hat dann offenbar eine Idee.
„Jens, zu deiner Info. Wir sind mit den Rückblicken durch und wollten gerade mit den Anliegen der nächsten Woche beginnen. Du hast mich da eben auf eine Idee gebracht …“
Steini stöhnt. Unser Online-Kollege, Elske, unsere drei Regionaljournalisten und die beiden Volontäre blicken ihn interessiert an. Elske nickt. Florian registriert das und wirkt irritiert.
„Aber du weißt doch noch gar nicht, was mir vorschwebt!“
Elske lacht ihr breites Ostfriesenlachen.
„Chef, das liegt doch auf der Hand. Verspätung, was fällt uns ein? Die Bahn. Richtig. Seit dem 1. Mai gibt es das 49 Euroticket. Was liegt näher als eine Reportage über die Auswirkungen der angeblichen ‚Verkehrswende‘ für unseren Landkreis?“
Schade, dass ich den offenen Mund Florians nicht so schnell im Bild festhalten kann. Er müsste eigentlich wissen, dass unsere hübsche blonde Kollegin aus dem hohen Nordwesten seine Gedanken geradezu lesen kann. Das ist ja das Gute: Wenn man Florian manipulieren will, muss man sich Elskes Gespür für sperrige und zugleich herzensgute Chefredakteure anvertrauen.
„Elske, manchmal kriege ich Angst vor dir“, gibt Florian nun unumwunden zu. „Du kannst also auch Gedanken lesen.“
Steini murmelt unverständliches Zeug. Ich ahne, dass er ein Kompliment, das jemand anders als er bekommt, nicht einfach so stehen lassen kann. Zum Glück versteht nur er selbst seinen heruntergeschluckten Kommentar.
„Es stimmt. Ich finde, nach einem Monat 49 Euroticket ist es Zeit, für uns hier in der Heide mal Bilanz zu ziehen.“
„Deutschlandticket“, Steini triumphiert. Er zeigt, was er weiß! „Es heißt ‚Deutschlandticket‘, nicht 49-Euroticket!“
Alle am Tisch machen ein genervtes Gesicht. Nicht, weil es nicht stimmt, sondern weil es unser Klugscheißer vorbringt.
„Herr Stein, das ist doch klar und wir alle wissen das. Aber ich finde die Idee vom Chef gut.“ Tamara hat Mumm.
Unsere Volontärin, eine achtzehnjährige Brünette mit Brille und kecker Kurzhaarfrisur hat längst gemerkt, wie Steini ‚tickt‘.
„Auch ich bin auf die Öffis angewiesen und fahre jeden Morgen Zug. Wenn wir den Metronom nicht hätten, wäre das Chaos noch deutlich schlimmer.“
„Genau das meine ich. Wer also macht die Reportage? ‚30 Tage Verkehrswende, eine Zwischenbilanz‘ wäre doch ein prima Aufmacher. Jens, machst du es?“ Florian zeigt mit dem Stift in meine Richtung, ein klarer Auftrag.
Typisch. Du bringst irgendetwas ein und schon musst du es selber machen. Nein, ich wollte etwas über die ‚kleinen Leute‘ schreiben, den ‚kleinen Mann‘ und ‚die kleine Frau‘, jene Landbewohner um mich herum, zu denen ich selbst ja auch gehöre. Menschen auf dem Lande, in den Dörfern … Vielleicht hätte ich Elske vorher einweihen sollen. Sie hätte es dem Chef sicher schmackhaft gemacht.
Nun jedoch muss ich selbst es versuchen.
Also bitte ich um Aufmerksamkeit und entfalte meine Gedanken. Alle hören schweigend und interessiert zu. Elske nickt und ich weiß, die Sache kommt durch. Auch der Online-Kollege ist auf meiner Seite. Steini gibt sich genervt. Er wird eine Retourkutsche loslassen, das ist klar. Wenn es ihm doch mehr um die Sache, als um seinen Stolz ginge … !
Immerhin kann ich meine Gedanken ohne Zwischenbemerkung loswerden. Alle schauen zum Chef. Er hat bei größeren und mehrteiligen Reihen immer das letzte Wort. Allerdings ist Florian klug genug, auf das Team zu achten. Manchmal lässt er den Chef heraushängen, in Wahrheit jedoch ist er Teamplayer und weiß genau, dass eine Zeitung nur so funktioniert. Nur so werden wir als Journalisten motiviert und ein gutes, informatives und buntes Blatt entsteht.
Auch ich bin gespannt auf Florians Reaktion.
Er sitzt mit gefalteten Händen, den Stift zwischen die Finger geklemmt, vor uns und lächelt verschmitzt. „Gut Jens. Ich bin einverstanden. Drei Folgen mit je einer halben Seite inklusive Fotos. ‚Die kleinen Leute‘ oder ‚Landeier‘ oder ‚Der kleine Mann‘.“ Ich bin happy.
Allerdings redet er gleich weiter: „Wie du deine Serie betitelst, überlasse ich dir. Aber die erste Folge gebe ich dir vor: ‚30 Tage Verkehrswende im ländlichen Raum‘.“
Der Schuft! Ich will aufbegehren. Elske bremst mich durch einen kurzen Blick aus. Also warte ich, was sie sagt.
„Chef, das ist eine gute Idee!“ Ich kann es nicht fassen. Meine Lieblingskollegin hintergeht mich! „Wenn es um die ‚kleinen Leute‘ geht, die Menschen auf dem Lande, über die Jens schreiben will, dann spielt ja auch die Anbindung an die Stadt und überhaupt der Verkehr eine große Rolle. Aber das ist ja nur ein Thema. Wie wäre es, wenn Jens die Unterschiede mit Blick auf den Verkehr zwischen Land und Stadt aufzeigt und ich genau den Artikel mache, den du gerade vorgeschlagen hast. Dann könnte Jens seinen Gedankenbogen unabhängig von der momentanen Situation schlagen und ich würde die kritische Analyse der Gegenwart übernehmen.“
Elske, du bist die Beste! Ich lehne mich wieder entspannt zurück und weiß, es kommt, wie von mir erhofft und wie Elske es vorschlägt.
Nach der Sitzung bleibt mir nur, ihr zu danken.
„Danke, Elske. Du hast mich gerettet!“
Sie lacht und nimmt einen Schluck aus ihrem Kaffeebecher.
„Naja, der Chef wollte dich vermutlich nur ärgern, vor allem aber seine Idee unterbringen.“
„Ich hoffe, du schaffst das alles. Die ganze Öffentlichkeitsarbeit, nun auch noch diverse Energiefragen und jetzt die journalistische Herausforderung mit dem Verkehr.“
„Ja, das hoffe ich auch. Aber ich finde eben dein Thema auch spannend. Außerdem hat es ja sogar etwas Biblisches.“
Ich hätte es mir denken können. Elske ist in Ostfriesland Mitglied im EC, einer christlichen Jugendbewegung. Sie ist also ‚entschiedene Christin‘ und meint es mit dem Glauben an Gott wirklich ernst. Jetzt jedoch hat mich ja meine Maren schon auf Jesus ‚eingenordet‘.
„Ich weiß. Maren hat mir von den Am Haarez und der Neigung Jesu erzählt, sich mit den ‚kleinen Leuten‘ zu befassen.“
Wieder lacht Elske und schüttelt ihre blonden Locken.
„Sehr clever, Jens! Ich meine, dass du dein biblisches Wissen eben nicht ausgebreitet hast. Steini hätte nur Sprüche geklopft und der Chef sein abgebrochenes Theologiestudium wieder mal aufarbeiten müssen. Also, gut gemacht! Aber in deinen Artikeln wird das hoffentlich einen Platz kriegen.“
„Ich weiß noch nicht wie und wo, aber ich behalte es im Hinterkopf. Ich hoffe nur, dass nicht soviel anderes dazwischenkommt. Die Artikelreihe muss ich ja zusätzlich machen.“
„Tja, so ist das. Über Veranstaltungen berichten und aktuelle Themen im Landkreis aufnehmen ist nun mal dein Job – so wie meiner die Öffentlichkeitsarbeit ist, ich mich aber nebenbei um das große Thema ‚Energie‘ kümmern muss. Hoffen wir also, dass nicht wieder irgendwelche Katastrophen passieren.“
Nun lache ich. „Du meinst Morde oder sowas?“
„Genau! In Himmelstal weiß man nie, was dort am nächsten Morgen passiert! Von wegen, auf dem Lande ist es langweilig!“
Wir verabschieden uns, weil ich zum Bus muss. Schade. Den Kaffee haben wir in der Redaktion aus dem Automaten gezogen. Er schmeckt deutlich besser als der Automatenkaffee in manchen Filmen abschneidet. Trotzdem, viel lieber wären wir nach der Sitzung noch zum Inder gegangen und hätten dort noch ein bisschen ‚die Weltgeschichte geordnet‘.
Land | Retter
Das Logo war gut gelungen. Er warf einen letzten Blick auf den Monitor und schickte einen stillen Dank an die Grafiker der Organisation. Zufrieden drückte er die Enter-Taste seiner speckigen Laptop-Tastatur. Als sträube sich der schwarze Kasten unter dem alten Küchentisch gegen den Arbeitsauftrag, schepperte sein Drucker zunächst und es knirschte und knackte bedrohlich, dann jedoch ratterte der Epson los. Er streifte sich ein frisches Paar der blauen Latexhandschuhe, von denen er sich gleich eine Großpackung besorgt hatte, über die Hände.
Erst danach nahm er den Ausdruck aus dem Drucker und kontrollierte ihn. Ja, in Farbe käme es besser. Aber je schlichter, desto mehr würde es wirken. Deshalb hatte er auch die Grafik verändert und nur den markanten Schriftzug übernommen.
Ihm lief die Zeit davon. Auch wenn er wusste, dass Viren enorm widerstandsfähig waren, so konnte das Ganze doch schiefgehen, wenn er zu lange wartete. Aufgeregt und zugegeben auch ein wenig nervös, ging er seine Schritte noch einmal in Gedanken durch. Er kannte jede Straße, alle Besonderheiten und besonders die Gefahrenpunkte genau. Kameras gab es keine, es sei denn sie hatten im Nachbardorf wieder mal die ‚Zecke‘ aufgestellt. Bei der Vorstellung, dass er wegen zu schnellem Fahren geblitzt wurde, musste er grinsen. Ihn