Miriams Baby - Hermann Brünjes - E-Book

Miriams Baby E-Book

Hermann Brünjes

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Beschreibung

Eigentlich soll es eine weihnachtliche Reportage werden, ein besinnlicher Beitrag für das Kreisblatt, ein Artikel zum Umgang mit einem Fest, das einmal christlich war ... Es kommt anders. Der eigensinnige Provinzreporter Jens Jahnke steckt plötzlich mit beiden Beinen im braunen Sumpf. Undercover recherchiert er bei völkischen Siedlern und wird nicht nur mit einer überwunden geglaubten Ideologie konfrontiert, sondern mit brutaler Gewalt. Begleiten Sie Jens Jahnke nach Himmelstal, einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide, das es in sich hat. Begegnen Sie Miriam und Ihrem Baby. Bangen Sie mit um Mutter und Kind, um den Reporter und vielleicht auch um uns alle ...

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Hermann Brünjes

Miriams Baby

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Montag, 2.12.

Dienstag, 3.12.

Mittwoch, 4.12.

Donnerstag, 5.12.

Freitag, 6.12.

Sonntag 8.12., 2. Advent

Montag 9.12.

Dienstag 10.12.

Mittwoch 11.12.

Donnerstag 12.12.

Freitag 13.12.

Samstag 14.12.

Sonntag 15.12., 3. Advent

Montag 16.12.

Dienstag 17.12.

Mittwoch 18.12

Donnerstag 19.12.

Freitag 20.12.

Samstag, 21.12.

Sonntag, 22.12., 4. Advent

Montag 23.12.

Dienstag 24.12. Heiliger Abend

Epilog

Beteiligte Personen

Autor, Hinweise zum Buch und weitere Bücher

Impressum neobooks

Prolog

Miriams

Baby

Gewidmet jenen Menschen,

denen ich im »Tagungshaus mit Herz« begegnet bin.

Ihr wart mir Inspiration und Freude.

Danke.

»Nie zuvor musste ich so etwas tun!«

Dr. Christine Fuhrmann wischte sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn. Der Schutzhandschuh fühlte sich klebrig an. Das Skalpell schimmerte sanft im Kunstlicht, so als wolle es seine Unschuld beteuern.

Als die Gerichtsmedizinerin den ersten Schnitt ansetzte, hielt Inspektor Georg Martens die Luft an. Er wollte wegschauen, konnte jedoch nicht. Wie gebannt starrte er auf den kleinen Körper, der nun gnadenlos obduziert werden sollte.

Der Schnitt saß. Die Ärztin verstand ihren Job.

Seltsamerweise trat kein Blut aus. Trotzdem musste Martens seinen Blick abwenden. Er schaute zum Nachbartisch. Unter dem grünen Laken hob sich die Kontur eines zweiten Körpers ab. Die Bahre aus Edelstahl war auf menschliche Größen ausgelegt, also über zwei Meter lang. Nur ein Viertel davon beanspruchte der kleine tote Mensch darauf.

Hier lag das zweite Baby. Tot.

Frau Dr. Fuhrmann begann ihren monotonen Singsang. Sie sprach in ein Mikrophon, das sie am Revers ihres Kittels befestigt hatte. Das Meiste verstand Martens nicht. Es war ihm fremd wie die Litanei einer lateinischen Messe.

Auch der Inspektor musste noch niemals zuvor so etwas tun. Ein Jäger hatte vorgestern die erste Leiche entdeckt. Sie lag in einer Senke südlich der Kreisgrenze mitten im Wald. Man hatte das Baby mit starken Ästen und Laub zugedeckt, Tiere hatten sich jedoch Zugang verschafft. Einer der beiden zuerst eintreffenden Polizisten hatte sich übergeben müssen. Sie hatten den Fundort abgesperrt und bereits die Personalien des Jägers aufgenommen, als Martens eintraf. Der hatte daraufhin eine Hundestaffel aus Lüneburg angefordert und die Gegend durchsuchen lassen. Seine Hoffnung war, wenigstens noch die Kleidung des Kindes zu finden, schon allein um die Identifikation zu erleichtern. Fehlanzeige.

Die Kleider wurden nicht gefunden, dafür das zweite tote Kind. Es lag nur etwa hundert Meter vom ersten entfernt in einem Fuchsbau. Jemand hatte es dort hineingesteckt, als sei es ein Stück Abfall. Vielleicht hatte man auch gehofft, das kleine Bündel Mensch würde schnell im Magen hungriger Tiere verschwinden.

Nun aber lagen beide hier auf den kalten Edelstahltischen. Die Identifikation würde schwierig werden, ganz ohne Kleidung. Immerhin waren beide Gesichter noch halbwegs anschaulich. Es waren wirklich niedliche Babys. Martens musste an seine Neffen denken. Zwar konnte er nicht viel mit diesen kleinen Dingern anfangen – aber sie anschauen und über diese kleinen Wunderwerke staunen, das konnte auch er.

Drei Stunden später war die Obduktion der beiden Babys abgeschlossen. Martens war noch einmal gegangen, nun jedoch verabredungsgemäß wieder zurück in der Gerichtsmedizin.

Dr. Fuhrmann zog die Gummihandschuhe von ihren Händen, warf sie in einen Beutel, tat das Gleiche mit dem grünen Kittel und wandte sich an den Inspektor.

»Danke, dass sie wiedergekommen sind.«

»Frau Doktor, dass ist nicht nur mein Job, ich will und muss wissen, was mit diesen Kindern passiert ist.«

»Beide sind erstickt worden. Man hat ihren Kopf in eine Plastiktüte gesteckt und sie verrecken lassen.« Ihr Entsetzen über diese Tat war in jedem Wort spürbar. »Wann? Vermutlich vor drei Tagen. Beide Kinder sind gleich alt. Sie sind etwa Weihnachten letzten Jahres geboren worden.«

»Sind es Geschwister?«

Martens tippte auf Familiendrama.

»Das wird der bereits eingeleitete DNA-Abgleich vermutlich ausschließen. Zähne, Gesichtsform und viele andere Details unterscheiden die Babys. Beides sind Jungen.«

Es würde eine lange Ermittlung werden, das war Martens klar. Die eigene Mutter, Familie oder Angehörige – damit würde er nach der Identifizierung beginnen müssen.

Montag, 2.12.

»Jens, bei allem Respekt, du hast sie ja nicht mehr alle!«

Die Meinung meines Chefs Florian Heitmann zu meiner Person ist mir bekannt. Respekt und Kopfschütteln zugleich. Jetzt offenbart er sie auch gegenüber dem Redaktionsteam. Na schön. Die Ressortchefs, unsere Mediensprecherin und zwei verdiente Journalisten sitzen zur regelmäßigen Konferenz zusammen. Einer der beiden Journalisten bin ich, wobei ich meiner Meinung nach nicht verdiene, was ich verdiene.

»Chef, das habt ihr bei Oliver Bender auch gesagt.«

Alle nicken. Ja, die letzte Story um den auferstandenen Bender hat großen Wirbel gemacht. Es war die Story – leider konnten wir sie nicht ganz zu Ende schreiben.

»Jens, so etwas passiert nur einmal im Journalistenleben. Du kannst jetzt nicht plötzlich fromm werden und Jesusgeschichten schreiben. Das überlass mal schön den Kirchenfuzzies! Die haben ja auch eigene Medien – auch wenn die Nutzerzahlen vermutlich lächerlich niedrig sind.«

Ich hätte natürlich ahnen müssen, das Florian Heitmann meinen Vorschlag ablehnen würde. Er ist manchmal geradezu ein Kirchenhasser. Vielleicht liegt das daran, dass er früher einmal selbst Theologie studiert hat. Im dritten Semester hat er abgebrochen. Warum, habe ich auf der betrieblichen Weihnachtsfeier am letzten Wochenende auch nach diversem Sekt-, Bier- und Whiskygenuss nicht herausgefunden. Er hat nur etwas davon gelallt, dass man ihn ausgenutzt und manipuliert habe. Jedenfalls ist er dann auf Journalismus umgestiegen und hat später sogar bei der Bildzeitung in Hamburg Karriere gemacht.

»Aber lass ihn doch erst einmal ausreden!«

Der Ressortleiter unserer Online-Redaktion und ich verstehen uns gut. Er ist stellvertretender Chef und hat auf die Kollegen großen Einfluss. Wäre er nicht hier, hätte unser Kreisblatt vermutlich längst sowohl Buchstabenformate, Schriftbild und Aufmachung der BILD, als auch das inhaltliche Niveau dieses schönen, bunten Bildungsblattes übernommen.

»Okay, Jens. Rede weiter, aber mach es kurz!«

»Viel gibt es da nicht mehr zu sagen.« Ich finde, meinen Vorschlag gut. »Es sind nur noch drei Wochen bis Weihnachten. Wir berichten über Adventsfeiern bei der Feuerwehr oder im Sozialverband. Wir drucken romantische Fotos von Weihnachtsmärkten und tollen Lichtinstallationen am Bahnhof und in der Stadt. Wir machen Live-Übertragungen vom alten Rathaus mit den Kunstfenstern als Adventskalender. Aber worum geht es Weihnachten wirklich?«

Ich schaue mich um und sehe viele nicken.

»Es geht um Schokolade, Licht, Frieden und Geschenke!«

Florian grinst. Ich vermute, er meint es ernst und sagt es aus tiefster Überzeugung, auch wenn es sich wie eine ironische Provokation anhört. Der BILD-Reporter steckt eben noch tief in ihm drin.

»Richtig Chef, und was ist das größte Geschenk zu Weihnachten?«

Eine Kollegin kichert: »Die freien Tage!«

Florian grinst: »Du meint, dein Jesus?«

Ich merke zum Glück rechtzeitig, wie sich mir die Haare aufstellen und bemühe mich um freundliche Sachlichkeit.

»Ja, Chef. Es ist natürlich nicht mein Jesus, sondern genauso auch dein Jesus. Ohne die Geburt Jesu würde es Weihnachten nicht geben. Folglich geht es um seinen Geburtstag!«

»Den haben wir ja am Wochenende deftig gefeiert. Was meinst du, was mich das gekostet hat?«

In den Gesichtern der Kolleginnen und Kollegen spiegeln sich Missbilligung und Widerspruch. Elefanten sind gleichzeitig sensible Geschöpfe, zumindest außerhalb von Porzellanläden. Unser Chef hat nicht nur die Statur jener sensiblen Tiere, er teilt auch ihre Klugheit. Also macht er schnell einen Rückzieher. »Oh sorry. Ich meine natürlich nicht mein Geld, sondern das der Redaktion. Und natürlich habt ihr alle diese üppige Weihnachtsfeier unbedingt verdient. Das habe ich ja auch am Samstag in meiner Dankesrede zum Ausdruck gebracht.«

Die Kollegen schauen nun etwas wohlwollender. Florian entspannt sich.

»Also Jens, du willst moderne Jesusgeschichten schreiben? So was wie die letzte Auferstehungsgeschichte?«

»Vermutlich gibt es so etwas nicht noch einmal. Ansonsten stimmt es: Ich will schreiben, was Menschen hier und heute von Jesus halten, wie sie Weihnachten als seinen Geburtstag feiern und was ihr christlicher Glaube für ihr alltägliches Leben austrägt.«

Alle nicken jetzt zustimmend, bis auf den Chef.

»Und du meinst, das interessiert unsere Leser?«

»Allerdings. Wir müssen den Hype um Jesus nach der Geschichte um Oliver Bender ausnutzen. Noch immer sind die Gerüchte um den Auferstandenen nicht abgeklungen.«

Ich mache eine kleine Pause und trinke einen Schluck Wasser, bevor ich meine letzten Karten auf den Tisch lege. Vielleicht stechen ja die touristischen Trümpfe.

»Chef, außerdem liegt in unserem Landkreis ein bisher verborgenes Juwel: Himmelstal. Die Dörfer Himmelstür und Himmelpforten kriegen massenhaft Post in diesen Wochen und sind allein wegen ihres Namens weltberühmt.«

Florian grinst. »Ja, weil der Nikolaus und der Weihnachtsmann dort ein- und ausgehen. Und nun willst du deinen Jesus bei uns im Landkreis ansiedeln? Himmelstal statt Bethlehem.«

»Noch mal Chef, es ist auch dein Jesus! Ja, warum denn nicht. Der Name des Dorfes hat enormes Potential, berühmt zu werden. Gott kommt vom Himmel ins Tal. Weihnachten in Himmelstal!«

»Ich weiß nicht. Mir kommt das alles viel zu fromm und gleichzeitig zu alltäglich vor, langweilig und sensationsfrei. Ja, wenn es Tote gäbe! Wir haben ja gerade gesehen, wie die Lüneburger Konkurrenz die Geschichte von den zwei toten Babys ausgeschlachtet hat. So etwas wollen die Leute lesen, etwas mit schaurigem Gruselgefühl und der gleichzeitigen Freude, selbst nicht betroffen zu sein. Aber Jesus heute? Weihnachten und Gott in Himmelstal? Wen interessiert das schon?«

»Mich zum Beispiel!«

Unsere Medienbeauftragte sagt das erste Mal etwas und sofort sind alle Augen auf die hübsche Blondine aus Ostfriesland gerichtet. Elske ist erst zweiundzwanzig und seit wenigen Monaten beim Kreisblatt.

»Chef, vergiss die vielen Frauen unter unseren Lesern nicht. An ermordeten Babys haben die mit Sicherheit keinen Gefallen. Das geht allemal den Müttern viel zu nahe. Aber wie es etwa in Himmelstal weitergeht, oder wie andere Familien Weihnachten feiern, oder ob Glaube, Beten und die religiöse Seite von Weihnachten für Menschen heute überhaupt noch eine Rolle spielen – das interessiert uns Frauen!«

Die anderen drei Frauen in der Runde nicken zustimmend.

»Und wie hoch ist der Anteil der Frauen bei unserer Leserschaft?« Der Online-Chef unterstützt Elske und mich auf seine sachliche Art. »Bei den Zeitungen die Hälfte und Online sogar weit darüber!«

Florian bleibt nichts anderes übrig, als mir den Auftrag zu geben. Gegen Frauenpower hast du als Mann keine Chance.

»Also Jens, dann bringst du in den Adventswochen jeweils einen Artikel mit Fotos von deiner Jesus-in-Himmelstal-Serie. Du kriegst in den Dienstagsausgaben jeweils eine ganze Seite, natürlich inklusive Werbung. Heiligabend wäre dann dein letzter Beitrag dran. Beginnen kannst du meinetwegen schon morgen.«

Wenn schon, denn schon! Unser Chef ist ein Mann der Tat. Allerdings ist mir das zu rasant.

»Chef. Bis Morgen habe ich nichts. Sagen wir, meine Beiträge stehen immer an den Advent-Samstagen drin. Der letzte kommt dann am Heiligen Abend, pünktlich zum Geburtstag des Christkindes.«

»Okay, berede das mit dem Setzer. Wir rechnen also mit dir! Aber untersteh dich und sülze zu viel frommes Zeug daher – und wehe, es wird eine kirchliche Werbekampagne!«

Er wischt über den Tisch, als läge dort ein Blatt mit »Jesus lebt in Himmelstal« und er müsse es wegschieben, damit das Leben weitergeht. Dabei gibt es noch keine einzige Notiz – mal abgesehen von einigen Gedanken in meinem Kopf.

Ich hatte mir bereits im Sommer vorgenommen, einmal etwas über die christliche Gemeinschaft im Tagungshaus von Himmelstal zu machen. Mit tausenden Gäste-Übernachtungen leisten sie dort einen spürbaren Beitrag zur touristischen Bedeutung unseres schönen Heide-Kreises. Durch den Gästebetrieb ist das kleine Dorf Himmelstal in Deutschland und darüber hinaus bekannt. In Indien unterstützt der Träger des Tagungshauses viele Bildungseinrichtungen seiner Partner dort. Um es kurz zu machen: Bei uns im Landkreis wissen die Leute gar nicht, welcher Schatz im kleinen Himmelstal greifbar neben ihnen liegt. Das sollte sich dringend ändern.

Auf dem Weg von der Redaktion nach Hause, langsam vor mich hinradelnd, überlege ich noch, ob ein zweiter Grund mich ins kleine Dorf Himmelstal treibt. Maren Bender heißt sie. Seit ihr Mann wieder beerdigt wurde, habe ich sie weder gesehen noch mit ihr gesprochen. Vermutlich hat sie keinerlei Interesse an mir. Aber mir geht sie nicht aus dem Sinn.

*

Den Nachmittag verbringe ich mit Recherchen im Internet. Zwar habe ich einen Schreibtisch im Verlagshaus, muss jedoch nicht unbedingt anwesend sein. Zwei freie Mitarbeiterinnen nutzen meinen Arbeitsplatz ebenfalls. Je mehr ich zuhause arbeite, desto mehr Möglichkeiten der Präsenz im Verlag haben diese beiden Kolleginnen. So jedenfalls meine Ausrede ...

Das »Tagungshaus mit Herz« hat eine gut aufgemachte Internetseite. Es gibt viel zu stöbern. Bei meinem letzten und ehr zufälligem Besuch dort, habe ich bereits verstanden, was mit dem Kürzel »HG« gemeint ist. Hausgemeinde. Das sind junge Menschen, die dort einen Freiwilligendienst leisten. Sie leben in Gemeinschaft zusammen, arbeiten im Gästebetrieb, halten Gebäude und Grundstück in Schuss und machen Andachten in der Kirche. Ich bin gespannt zu hören, was sie von Weihnachten halten ...

Am späten Nachmittag rufe ich eine der angegebenen Nummern an. Nach mehrfachem Klingeln nimmt jemand ab. Im Hintergrund klappert Geschirr und scheppert ein Radio. Vielleicht bereiten sie das Abendessen vor und lassen Musik laufen. Eine junge Frauenstimme meldet sich.

Ich bitte sie, mir ihren Chef ans Telefon zu holen.

»Oh, welchen meinen Sie? Den vom Gästebetrieb oder unseren Pastor?«

»Na, den Leiter vom Ganzen!«

Ich bekomme eine andere Nummer, wähle erneut und habe Erfolg.

»Theo Beyer.«

Den Namen dieses Leiters höre ich das erste Mal. Aber ich bin richtig verbunden. Der Mann ist der Stimme nach Mitte oder Ende dreißig. Wir verabreden uns für morgen Vormittag gegen elf Uhr.

Dienstag, 3.12.

Als wären Landschaft und Orte mir fremd, so erscheint mir die Anfahrt. Nein, nicht fremd. Farblos, verlassen, triste und kahl trifft es eher. Diese Strecke bin ich oft gefahren, zuletzt Ende August. Der Wald, die Felder, Dörfer und Straßen sind mir bekannt – und doch tauche ich jetzt in eine Welt ein, die ich anders in Erinnerung habe, frischer, freundlicher, sommerlicher. Das gelbe Ortsschild ist der einzige Lichtpunkt, als ich hinab ins Bachtal mit der Wassermühle fahre. Knorrige Eichen und kahle Linden ragen schwarz in den Himmel. Ihre Äste wirken vor dem dunkelgrauen Hintergrund der Wolken irgendwie gespenstisch. Die Teiche und der zur Mühle gehörende Wasserlauf liegen neben der feuchten Asphaltstraße wie schwarze Löcher im Universum. Ein Hund streunt vor der Landbäckerei herum. Vielleicht sucht er nach Brotresten. Gleich zweimal kreuzen Katzen die Straße, eine schwarze und eine braun gefleckte. Ich muss bremsen. Abergläubisch bin ich nicht. Ich vergesse auch immer die Richtung, in der die schwarze Katze über die Straße laufen muss, damit es gefährlich wird. Außerdem beweisen diverse platt gefahrene Katzen auf unseren Straßen, dass vor allem wir gefährlich sind. Ob auch Katzen abergläubische Weisheiten tradieren? »Mensch von rechts bringt Schlecht’s, Mensch von links, Glück bringt’s.«

Einige Autos kommen mir entgegen, alle mit Licht, obwohl es Vormittag ist. Kein Mensch ist auf der Straße. Die Feldsteinkirche wirkt inmitten der kahlen Eichen nicht mehr einladend und idyllisch wie im lichten Sommer, sondern abweisend wie eine Trutzburg im dunkelsten Mittelalter. Man kann sich jetzt gut vorstellen, dass der heutige Glockenturm damals als Wehrturm gute Dienste leistete.

Ich parke meinen grauen Golf IV vor der Kirche. Das Hinweisschild für einen Besinnungsweg ist nach dem Ortsschild der zweite Farbklecks. An der Kirche beginnt der »Auferstehungsweg«, ein Angebot für Pilger, Natur- und Kunstfreunde, die sich mit den biblischen Ostergeschichten, sich selbst und der Natur auseinandersetzen wollen. Im nächsten Ort gibt es ein Kloster. Dort endet dieser meditative Weg mit Bildern des Künstlers Werner Steinbrecher nach vierzehn Stationen. Der durchsichtige Kasten am Pfosten der Station enthält keine Flyer mehr. Vermutlich ist die Saison für Pilger längst vorbei.

Ob sie irgendwann auch noch einen »Weihnachtsweg« installieren? Das wäre doch mal eine Idee. Für meine Weihnachts-Recherche käme ein solches Projekt zwar zu spät, aber vielleicht wird sie ja zum Auslöser dafür.

Auch am Tagungshaus gegenüber der Kirche sehe ich keinen Menschen. Der Fachwerkgiebel wirkt bei trübem Licht abgewetzt und reparaturbedürftig. Die mächtige Säuleneiche davor hält ihre braunen Blätter fest, als seien es Kinder, die sie nicht loslassen möchte, weil sie um ihr Sterben weiß.

Wieder amüsiere ich mich über das kleine Schild neben dem Eingang. »Luther war hier!« steht dort. Schon im November gab es Minusgrade. Jetzt hat der Weinstock, dessen Reben an der Wand hochklettern, keine Blätter mehr. Deshalb erkennt man schneller das kleine Wörtchen unter dem dicken Text es Schildes: »Nie«. Luther war hier – nie.

Jens Jahnke dagegen war schon hier, wenn auch nur kurz. Ihm widmet allerdings niemand ein Schild. Ich drücke den runden Klingelknopf an der hölzernen Haustür. Hoffentlich ist jemand da.

Durch die Scheiben der Tür sehe ich eine junge Frau aus einem Raum in den Flur und dann zur Haustür kommen. Sie ist schlank, hat lange dunkle Haare und trägt eine Brille mit braunem Rand.

»Hallo, mein Name ist Jens Jahnke. Ich bin mit Ihrem Chef verabredet, mit Theo Beyer.«

»Kommen Sie herein. Ich heiße Anna Lena und gehöre zur HG. Ich vermute, wir haben schon miteinander telefoniert.«

Richtig, ich erkenne ihre Stimme. Sie öffnet die Eingangstür und ich folge ihr. Gut, dass ich inzwischen weiß, was »HG« bedeutet. Mir scheint, die Leute in diesem Tagungshaus verfallen der Versuchung vieler Gemeinschaften, sich über Abkürzungen und Insidersprache zu verständigen. Nichts dagegen – aber sobald jemand von außerhalb kommt, versteht man sich nicht mehr. Und ich komme von weit draußen! Jetzt wörtlich und was die christliche Szene angeht auch im übertragenen Sinn. Na, ich bin gespannt, was ich hier überhaupt verstehe ...

Anna Lena bringt mich in eine Art Büro mit Esstisch. Dort sitzen mindestens zehn Personen. Vor dem Tisch auf dem Fußboden ist eine dicke Decke ausgebreitet. Dort liegt ein Baby auf dem Bauch und spielt mit einem bunten Clown. Eine junge Frau hockt daneben und hält das Kind bei Laune. Familienfreundlich, denke ich.

Ein schlanker, dunkelhaariger Mann am Kopfende des Tisches steht auf und kommt mit ausgestreckter Hand auf mich zu. »Herr Jahnke, danke für Ihr Interesse! Ich bin Theo Beyer, der Leiter dieser Einrichtung.«

Der Mann ist mir auf Anhieb sympathisch. Er ist schlicht in Jeans und Polohemd gekleidet, trägt einen kleinen Kinnbart und seine grüngrauen Augen leuchten im Licht der Deckenlampe. Er wendet sich nach unserer Begrüßung wieder der Runde am Tisch zu.

»Herr Jahnke ist Journalist vom Kreisblatt. Er hat Interesse daran, unsere Arbeit einer größeren Öffentlichkeit vorzustellen. Besonders interessiert ihn, was uns an Weihnachten wichtig ist.« Er wendet sich wieder an mich. »Und wir sind daran interessiert, Sie zu unterstützen und danken gleichzeitig, dass wir so die Chance bekommen, ein bisschen mehr von unserer ›Insel der Seligen‹ bekannt zu machen.«

Allgemeines Schmunzeln und Nicken.

»Wir sitzen gerade in unserer wöchentlichen DB, also der Dienstbesprechung«, informiert mich Theo Beyer, »aber ich bin jetzt entbehrlich und kann mit Ihnen nach nebenan gehen. Die Aufgabenverteilung kriegt ihr allein hin. Andy, übernimmst du die Leitung?«

Der zuletzt angesprochene Andy, ein Mann mit Dreitagebart, der mir irgendwie bekannt vorkommt, und alle anderen nicken. Typisch Teamsitzung, denke ich. Papiere, zwei oder drei Smartphones, Kaffeetassen, O-Saft, Wasser und wichtige bis gelangweilte Minen. Das bedeutet Redaktionssitzung. Hier nennen sie es also DB. Gut, dass wenigstens der Chef gemerkt hat, dass er die Abkürzungen zumindest zu Beginn einem Nicht-Insulaner erklären muss.

»Vielleicht ist es gut, wenn ich Ihnen unser Team vorstelle. Später sprechen Sie ja noch mit den Einzelnen.«

Ich bin mehr als einverstanden. Genauso habe ich es mir gedacht: Zuerst ein Gespräch mit dem Leiter, dann sehen, was hier so läuft, einzelne Interviews, Fotos, vielleicht auch Interviews mit Gästen und ... mal sehn. Wahrscheinlich muss ich noch ein- bis zweimal wiederkommen.

»Fangen wir mit dem Nachwuchs an. Das da unten ist unser aller Jeschu!« Beyer zeigt mit einem gewissen Stolz auf das Baby und schmunzelt. »Manchmal quakt er auch, aber wir freuen uns, dass seine Mutter jetzt bei uns ist.«

Wer von den jungen Frauen hier die Mutter des Kleinen ist, sagt er leider nicht. Vielleicht ist es das Mädchen, das gerade mit Jeschu spielt. Jeschu? Ist das ein jüdischer Name?

Das Team, das sich mir nun vorstellt, ist eine bunte Mischung aus jung und alt – Tendenz jung.

Bereits dies ist in meiner bescheidenen Reporterpraxis untypisch für Kirche. Die kirchlichen Veranstaltungen, über die ich bisher berichtet habe, wurden vor allem von älteren Leuten besucht. Kam man von hinten in einen Raum und sah die Köpfe der Besucher, schaute man auf ein graues Einheitsmuster. Hier jedoch sah man nur bei Andy, Petra und Irmtraud graue Schläfen. Andy ist als Geschäftsführer für die Belegung mit Gruppen zuständig, Petra leitet die Hauswirtschaft und Irmtraud ist Küchenchefin. Sie bilden zusammen mit dem Leiter und dem Pastor der Gemeinde sozusagen das Stammteam des Hauses. Andy ist schon sehr lange dabei. Er grinst mich an.

»Hey, Jens Jahnke! Wir sind uns schon mal begegnet.«

Es stimmt. Ich habe ihn einmal auf einer Lebensmittel-Messe interviewt. Damals war er noch für den Einkauf von Nahrungsmitteln zuständig.

Die Freiwilligen machen einen aufgeschlossenen Eindruck. Anna Lena, Andreas, Christian und Jakob sitzen am Tisch. Yvonne spielt mit dem Baby und Magda hat gerade ihren FT (freien Tag). Sie schütteln mir brav die Hand. Einige haben einen festen, zwei einen laschen Händedruck. Wie in allen Teams dieser Welt wird es auch in diesem hier »solche und jene« geben. Also – alles ganz normal.

Bereits wenn ich eine christliche Gemeinschaft als »normal« bezeichne, würde mein geliebter Florian Heitmann zusammenzucken. Aus seiner Sicht sind sie allesamt entweder religiöse Spinner, Verführte oder Scharlatane. Schade, dass Florian jetzt nicht hier ist, denke ich. Diese jungen Menschen wirken engagiert, offen und modern. Auch die Kleidung entspricht dem, was man heute so trägt. Handys scheinen hier allerdings während der Besprechung tabu zu sein. Wie bei uns in der Redaktion.

Andy übernimmt die Moderation der Besprechung und ich gehe mit Theo Beyer in einen Raum nach nebenan. Das Büro ist ansprechend eingerichtet. An der Wand hängen Originale einer befreundeten Künstlerin. Schreibtisch, Stühle und Schrank sind aus hellem Holz hochwertig gefertigt. Auf dem Schreibtisch steht ein Flachbildschirm und davor zwei Stühle.

»Hier empfängt Andy die Leiter der Gästegruppen«, erklärt Beyer mir. »Er macht die Buchungen und hält Kontakt zu den Gästen. Viele der Gruppen kommen regelmäßig zu uns.«

Ich erfahre, dass es je zur Hälfte Jugendliche und Erwachsene sind, die das Tagungshaus nutzen. Im Moment ist keine Gruppe da. Nun verstehe ich, warum ich auf dem Gelände niemanden gesehen habe. Sonst bevölkern Konfirmanden, Jugendgruppen, Chöre, Kirchenvorsteher, Mitarbeiter und diverse andere kirchliche Gruppen das Gelände und die Häuser.

Theo Beyer vertritt seine Sache ausgesprochen gut. Ich tippe ein paar Notizen in mein iPad. Vor allem Namen vergesse ich schnell, also besser aufschreiben! Er erzählt mir vom Leben der Hausgemeinde. Sie sei das »Herz des Hauses«, ihretwegen kämen die meisten Gruppen. Die jungen Leute laden zur Abendandacht in die Kirche ein und stehen als Mitarbeiter für Gruppen zur Verfügung. Das sei vor allem bei Konfirmandenfreizeiten eine riesige Entlastung der Pastoren.

Das kann ich mir denken. Zu meiner Zeit gab es noch keine Freizeiten für Konfirmanden! Wir mussten vor allem lernen, lernen ... um dann alles wieder zu vergessen.

»Sie sollten morgen wiederkommen. Am Abend wird eine Gruppe hier sein und die Hausgemeinde ihre Andacht feiern. Da hören Sie dann unser Herz schlagen ...«.

Theo Beyer lacht, als er das sagt.

Während der nächsten Dreiviertelstunde führt er mich durch die Häuser, die zum Tagungshaus gehören. Das Haupthaus war einmal die Dorfschule. Durch einen Anbau wurde der Speiseraum vergrößert. Hier können jetzt locker bis hundert Personen verpflegt werden. Aus den Klassenräumen sind ein Clubraum mit Kamin und ein Tagungsraum geworden. Letzterer hat noch am meisten Ähnlichkeit mit einem Klassenzimmer, ist er doch ausgestattet mit Whiteboard, Flipchart und was man sonst so bei Seminaren braucht ... Alles ist sehr stilvoll eingerichtet. Die Möbel sind teilweise neu. Bilder des Künstlers Werner Steinbrecher hängen in vielen Räumen.

»Und hier, schauen Sie sich diese Fotos an!«

Beyer zeigt mir einen Bilderrahmen im Treppenaufgang. Darin sind mehrere Farbfotos als Collage zusammengestellt, Fotos aus Indien. Allerdings ist es ein sehr schlichtes, primitives Indien. Menschen in Hütten, ein großer Fluss, Kinder.

»Dies sind Fotos von 1981. Es sind die ältesten Fotos, die wir von unserer Partnerkirche im indischen Stammesgebiet haben.«

Jugendgruppen werden in Mehrbettzimmern untergebracht. Es erinnert mich an die Jugendherbergen von früher, nur dass hier modernisiert wurde. Trotzdem, in einem Zimmer mit fünf anderen möchte ich nicht mehr schlafen! Auch den Sanitärbereich mit anderen zu teilen, wäre mir unangenehm. Theo Beyer hat meine Gedanken vermutlich erraten.

»Wir werden umbauen!«, sagt er. »Für Erwachsene haben wir ja längst einen anderen Standard in den neuen Häusern. Nun sind die Jugendlichen dran. Die sind heutzutage häufig Besseres gewöhnt.«

Seinem Tonfall entnehme ich ehr »verwöhnt«. Immerhin scheinen sie hier mit der Zeit zu gehen, oder es zumindest zu versuchen.

Der Leiter zeigt mir noch die anderen Häuser. Dort sind Zimmer für Erwachsene mit Hotelstandard. Helles Holz, originale Kunst an den Wänden, gemütliche Clubräume und funktionale Tagungsräume. Die Einrichtung kann sich sehen lassen. Die Bewertungen bei Google und in verschiedenen Gästehausportalen sind also keine Fakes.

»Wie haben Sie das alles finanziert?«

Beyer lacht. Vermutlich hat er auf diese Frage gewartet.

»Teils Zuschüsse der Landeskirche, teils Spenden unserer Freundinnen und Freunde – und die zweite Hälfte hat Gustav bezahlt.«

Wer ist nun schon wieder Gustav? Beyer klärt mich auf.

»Das ist ein Bauunternehmer, der sich hier bei uns, aber auch in anderen Einrichtungen sehr engagiert. Uns ist er von Beginn an verbunden. Ohne Gustav hätten wir all das nicht durchziehen und aufbauen können.«

»Und was hat dieser Gustav davon?« Die Frage kann ich mir nicht verkneifen. Derart große Spenden machen – da steckt meistens etwas dahinter.

»Weiß nicht. Ich vermute, er sieht es als Geburtstagsgeschenk für Jesus – wo Sie schon mal zum Thema ›Jesus aktuell‹ und ›Weihnachten‹ recherchieren.«

Ich bin beeindruckt. Vielleicht sollte ich diesen Bauunternehmer mal interviewen. Beyer lacht.

»Sorry, der ist bei seinem Chef angekommen, im Himmel. Aber Sie können ja mal seinen Sohn oder seine Enkel fragen. Die machen weiter, was Gustav begonnen hat. Aber Themenwechsel: Bleiben Sie noch zum Mittagessen?«

Gerne sage ich zu. Für mich als Junggesellen gehören solche Einladungen zu den Sternstunden des Daseins. Zwar hatte ich mich schon auf den Griechen im Nachbardorf eingestellt, aber so kann ich noch ein paar Eindrücke mehr gewinnen.

Das Essen ist heute angeblich schlicht. Reis, frischer grüner Salat, Hühnerbein, zum Nachtisch Joghurt. Abgesehen vom Joghurt, den ich bereits als Kind nicht mochte, ist es aus meiner Sicht ein Festessen.

»Wir haben nur Reste aufgewärmt«, meint Irmtraud, »weil wir ja nur unter uns sind.«

Christian, ein kräftiger blonder Mann mit rundem Gesicht, rennt in den Keller und holt für mich ein Vanilleeis aus dem Gefrierraum. Beyer hat mir erzählt, dass »Gastfreundschaft« eines ihrer Leitbilder ist. Zumindest diese Truppe hier scheint es auch mit Leben zu füllen.

Ich frage meine Tischnachbarn, wie sie Weihnachten feiern. Ich erfahre, dass sie über die Weihnachtstage gar nicht hier sind. Sie werden in ihren Familien feiern.

»Am dritten Adventwochenende wird das Haus noch einmal voll,« erzählt Christian, »da ist FKT.«

»Freundeskreistreffen der Ehemaligen aus der Hausgemeinde!«, erklärt Anna Lena. »Christian, du musst deutsch reden und ohne Abkürzungen, wenn jemand Fremdes da ist!«

Na, das gefällt mir. Man erzieht sich hier gegenseitig.

»Wir ziehen dann unser Weihnachtsfest ein bisschen vor. Zwar gibt es keine Geschenke, aber extrem viel Spaß und einen tollen Gottesdienst. Immerhin feiern wir ja den größten Geburtstag aller Zeiten! Na ja, zum Schluss wird noch einmal alles geputzt und dann fahren wir in die Weihnachtsferien!«

Nun muss ich rechnen. Das bedeutet, ich habe für meine Recherchen nur zwei Wochen Zeit. Danach ist dieses Haus geschlossen. Okay, dann fange ich gleich an. Christian hat mir ja gerade eine Vorlage geliefert.

»Was meinst du mit größtem Geburtstag aller Zeiten?«

»Na, ich meine den von Jesus.«

Er tut so, als sei das selbstverständlich. Für unsere Leser ist das alles andere als klar.

»Christian, wenn du unseren Lesern in zwei Sätzen sagen sollst, was dieser Geburtstag für dich bedeutet – was sagst du?«

Nun ist mein junger Gesprächspartner etwas verunsichert. Anna Lena springt ein. »Ich sage: Weil Jesus geboren ist, haben wir eine Vorstellung von Gott und wissen, wie er ist.«

»Aber dann musst du auch sagen, wie.«

Andreas mischt sich ein. Er ist ein schlanker, smarter Typ mit dem Versuch eines Dreitagebartes. Vermutlich mögen ihn die Mädels.

»Klar. Durch Jesus weiß ich, dass Gott eine Person ist, unser Vater. Jesus hat gezeigt, was Gott wichtig ist und wie wir zusammen leben sollen und können.«

Selbst durch die Brille hindurch erkenne ich das Funkeln ihrer Augen, als Anna Lena von Jesus schwärmt. Oder funkelt sie Andreas an? Könnte auch sein. Immerhin leben hier ja Jungs und Mädchen zusammen, und das in genau jenem Alter, wo man sich gegenseitig sucht und findet.

Andreas geht auf Anna Lena ein: »Das sehe ich genauso. Allerdings ist Weihnachten für mich noch mehr. Gott wird Mensch. Gott ist an meiner und unserer Seite. Das finde ich echt cool. Nicht irgendwo oben im Himmel, sondern hier unten ist er zu finden!«

Christian lacht. »Genau, Gott bleibt nicht im Himmel, sondern er geht ins Tal. Ins Himmelstal eben!«

Sein Wortspiel finden alle gut. Wir lachen. Ich spüre, hier sind Leute, für die Weihnachten nicht ein Konsumfest ist, sondern die sich mit der wahren Bedeutung auseinandersetzen.

»Hoffentlich. Schön wär’s ja«.

Das kommt von Magda. Sie ist eine hübsche, schlanke Frau, ein Model-Typ. Allerdings versteckt sie das unter eher lässigen Klamotten. Ihre langen dunklen Haare hat sie hochgebunden. Ein Ökoschal verdeckt Hals und Schultern. Ihren freien Tag verbringt sie offensichtlich hier im Tagungshaus.

»Magda. Schon wieder Zweifel?« Es klingt ein bisschen ironisch, so als ob Anna Lena ihre Kollegin bereits gut kennt.

»Ja. Was vor zweitausend Jahren passiert sein soll – wieso sollen wir das heute feiern? Ein Kind wird geboren. Gut. Das passiert jeden Tag. Aber die Geschichten darum herum, wer kann denn so etwas glauben!«

»Meinst du die Jungfrauengeburt? Da steht doch einfach ›junge Frau‹ in der Bibel. Vermutlich wurde die Jungfräulichkeit Marias später von der Kirche als angeblicher Beweis der Bedeutung Jesu verbreitet. Meinungsmache damals!«

Anna Lena schaut mich an. So als wäre ich für die Meinungsmache heute zuständig – was ja irgendwie auch stimmt.

»Ja, ich meine aber auch das ganze Drumherum. Die Hirten, die Engel, die Typen aus dem Morgenland mit ihren Geschenken, der hinterhältige König Herodes, der Stall, die Krippe als Kinderbett, der Stern über Bethlehem ... das riecht doch alles nach Legendenbildung und Märchenbuch.«

Eben noch dachte ich, vor mir sitzt eine einheitlich fromme und gläubige Gruppe junger Leute, engagiert für ihren Glauben und ihren Gott – jetzt merke ich, dass es in dieser recht intensiven christlichen Gemeinschaft große Unterschiede gibt. Was ich gut finde: Sie reden drüber. Sie haben selbst hier am Tisch vor einem Journalisten keine Angst, ihre Zweifel zu artikulieren. Alle Achtung.

Das Gespräch geht weiter. Auch Andy mischt noch mit. Theo Beyer sitzt am Nachbartisch. Als er mitkriegt, worum es geht, bietet er an, das Thema Weihnachten im nächsten Bibeltreffen mit der Hausgemeinde mal biblisch-theologisch zu bearbeiten. Ich frage, ob ich da mal mitmachen kann. Er schaut in die Runde. Als kein Widerspruch kommt, meint er:

»Normalerweise ist das vierzehntägige Treffen intern. Da das Team jedoch einverstanden ist, habe auch ich nichts dagegen. Allerdings mit einer Auflage: Sie berichten nichts davon in Ihrer Zeitung, jedenfalls nichts von dem was wir persönlich von uns preisgeben.«

Ich bin einverstanden.

*

Als ich satt und ein bisschen mittagsmüde in meinem Golf sitze, überlege ich, ob ich Maren Bender besuchen soll. Ich beschließe, es jetzt nicht zu tun. Vermutlich ist sie ohnehin in Lüneburg. Dort arbeitet sie im Krankenhaus. Vielleicht fahre ich morgen Abend mal vorbei, bevor ich die Andacht in Himmelstal besuche ... wenn ich mich traue.

Den Nachmittag verbringe ich am Schreibtisch in der Redaktion. Jeder von uns hat mehrere Aufgaben. So kann auch ich mich in diesen intensiven Dezemberwochen nicht nur dem Thema »Jesu Geburtstag« widmen, sondern muss auch zur Jahresversammlung des Kleingartenvereins, zu zwei Märchenaufführungen ins Theater, in einen Schützenverein und als Vertreter eines kranken Kollegen zu zwei Gerichtsverhandlungen.

All das will vorbereitet sein. Wie gut, dass wir das Internet haben! So bekomme ich die meisten, früher mühsam erfragten Informationen schon vorab und kann gezielt Fragen stellen. Auch die Fehlerquote bei Zusammenhängen, Namen und Hintergründen verringert sich spürbar. Jedenfalls, wenn man seinen Job als Journalist ernst nimmt. Selbstverständlich ist das leider nicht.

Mittwoch, 4.12.

Im Sitzungssaal II wird gegen einen Kleinkriminellen verhandelt, der in der Kreisstadt mehrfach Einbrüche verübt und als nächtlicher Störenfried mit Gewaltpotenzial in und vor einschlägigen Lokalen aufgefallen ist. Dem Richter platzt angesichts der belastenden Vorwürfe gegen Werner S. der Kragen:

»Es reicht! Sammeln Sie in den nächsten Monaten statt der Anzeigen gegen Sie erst einmal zwei bis drei Gedanken darüber, wie Sie Ihr Leben in den Griff bekommen. Ich gebe Ihnen dafür ein kleines Zimmer und vier Wochen in der JVA bei freier Verpflegung. Damit derweil die Bürger unserer Stadt ein ruhiges Weihnachtsfest verbringen können, treten Sie Ihre Auszeit gleich von hier aus an. Die vier Tage in Polizeigewahrsam werden ihnen angerechnet.«

Ein Richter greift durch. Ich bin gewiss, dass sich während der Partys und Trinkgelage der Adventswochenenden andere Chaoten finden, die Werner S. würdig vertreten. Unserem KB wird der Stoff jedenfalls nicht ausgehen. Der Kollege, den ich vertrete, wird nach seiner Genesung die Gerichtsberichte allerdings wieder selbst schreiben müssen.

Am Ausgang stoße ich beim Öffnen der Glastür fast mit einem Mann meines Alters zusammen.

»Schorse!«

»Jens! Was machst du denn hier?«

Schorse, mit richtigem Namen Georg Martens, kenne ich noch aus meiner Zeit bei den Pfadfindern in der Nähe von Bremen. Wir waren damals dicke Freunde. Dann haben wir uns aus den Augen verloren. Er ging zur Polizei, ich zur Zeitung. Vor einigen Jahren haben wir wieder Kontakt bekommen und uns seitdem gelegentlich getroffen. Er ist in Lüneburg bei der Kripo gelandet.

»Na, das muss ich dich ja wohl erst recht fragen. Du hast dein schönes Lüneburg verlassen und kommst in meine Provinzmetropole.«

»Dienstlich, nur dienstlich!« Schorse lacht. »Ich muss als Zeuge zu einer Verhandlung wegen mehrerer Autodiebstähle. Wir haben einen Typen aus eurer schönen Stadt bei uns erwischt, als er einen BMW klauen wollte.«

Schorse muss sich beeilen. Wir verabreden uns zum Mittagessen in der Innenstadt. Ich schwinge mich auf mein Stevens-Crossrad und düse in die Redaktion.

*

Den Artikel über Werner S. zu schreiben ist ein Kinderspiel. Meinem geschätzten Kollegen gestehe ich gerne zu, mal krank zu sein – aber das wird er nicht durch Arbeitsüberlastung. Er hört sich im trockenen Gerichtssaal die kleinen oder auch größeren Geschichten an, setzt sich hin und schreibt seine Artikel. Kein Gerenne, keine weiteren Recherchen, keine zusätzlichen Interviews, wetterunabhängig. Welch ein ruhiges Reporterleben!

Allerdings nichts für mich! Ich brauche Abwechslung, Herausforderungen, Geheimnisse und manchmal auch Action.

Dass ich seit über dreißig Jahren beim Kreisblatt hängengeblieben bin, lässt das Gegenteil vermuten. Okay, das mag auch an meiner notorischen Trägheit liegen, oder an meiner gescheiterten Ehe, oder weil sich ein paar Gelegenheiten zerschlagen haben. Es liegt jedenfalls nicht daran, dass sie mich zum Ressortleiter oder sonst wohin in besser bezahlte und dafür arbeitssparende Regionen befördert hätten. Im Gegenteil. Mindestens dreimal bin ich übersprungen worden. Die meisten Chefs in unserem Verlagshaus sind inzwischen viel jünger als ich, mal abgesehen von Chefredakteur Florian Heitmann. Kaum jemand glaubt es mir, weil fast alle auf der Karriereleiter nach oben klettern wollen. Trotzdem stimmt es: Die Arbeit als normaler Journalist an der Basis macht mir einfach unglaublich viel Spaß. Es stimmt natürlich, dass sich vieles wiederholt. Feuerwehr, Schützen, Kreis- und Rathauspolitik, Autobahn A39, der böse Wolf, Veranstaltungen, Vereine – und so weiter! »Immer dasselbe« sagen viele. Eben Käseblatt-Niveau. Mag sein. Aber es macht Spaß, den vielen verschiedenen Leuten zu begegnen, in unzählige Milieus und Lebensräume hineinzukommen und Denkweisen und Überzeugungen aller Art kennenzulernen. Ich liebe das. Genau deshalb ist mir auch die aktuelle Recherche um Weihnachten ein besonderer Genuss.

Hinzu kommt meine Freiheit. Die Redaktionssitzung – sonst habe ich keine regelmäßigen Verpflichtungen. Gleitende, selbst bestimmte Arbeitszeit, keine Residenzpflicht, Spesenabrechnungen gemäß der Belege – fertig! Klar, wenn ich Termine ausmache, sollte ich die einhalten, will ich nicht alle Sympathien verscherzen. Aber wann und wo ich einen Termin mache, entscheide ich selbst. Das nenne ich Freiheit!

*

Besonders frei fühle ich mich, wenn ich auf meinem Fahrrad sitze. Ich spüre den Luftzug, komme voran und kann auch schmale Gassen und Fahrspuren nutzen. Meinen Golf lasse ich folglich so oft es geht vor dem Haus stehen. Energiesparen? Sicher, aber ein echter Klimafanatiker ist aus mir nie geworden, weder 2019 Jahre nach Christus noch 1 Jahr nach Greta Thunberg.

Jetzt stelle ich mein Rad vor dem »Einstein« am Rande der kleinen Fußgängerzone ab und schließe es an eine Laterne. Stühle, Tische und Sonnenschirme sind längst weggeräumt. Im November gab es bereits Nachtfrost und auch der Dezember hat kühl und trübe begonnen. Nicht nur in den Dörfern, auch in der Stadt halten sich die Leute jetzt vor allem drinnen auf.

Entsprechend voll ist der Gastraum des Bistros. Die rustikalen Tische sind vor allem mit Angestellten der umliegenden Büros besetzt. Sie genießen den günstig angebotenen Mittagstisch.

Schorse sitzt an einem Zweiertisch direkt an der Wand.

»Jens, hier!«, er winkt mir zu. »Bei mir ging es doch schneller als gedacht.«

Wir bestellen beide das Gleiche, Schweineschnitzel mit geschmorten Zwiebeln, Champignons, Pommes und einem großen Alster.

Es ist schön, einen so alten Kumpel wiederzusehen. Wir albern herum.

»Schweineschnitzel! Da fällt mir unser Spanferkel ein!«

Wir lachen beide, erinnern wir uns doch ausgesprochen gut an jene wilde Zeit bei den Pfadfindern. Jemand hatte uns ein Spanferkel gespendet. Beim Herbstmarkt hatten wir es portionsweise verkauft und über hundert Mark eingenommen. Und was haben wir damit gemacht? Wir sind hungrig und durstig in unseren Stammimbiss gegangen und haben Kotelett, Pommes und Bier für die gesamte Summe verzehrt. Auf Deutsch: Alles wieder versoffen und verprasst.

Es ist wirklich schön, die alten Zeiten noch einmal aufleben zu lassen. Schorse und Jens in Kluft mit grauem Hemd und blauem Halstuch, Stammeslager, Wimpel, Nachtmarsch, Lagerbau, Knotenkunde, Feuermachen – ach, das waren wirklich tolle Zeiten.

»Was macht wohl der kleine Schissie heute?«