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Ein namenloses Land, von fremden Trup- pen besetzt. Der Winter will kein Ende nehmen. Frank Friedmaier wächst als Sohneiner Prostituierten in einem Bordell auf. Der 18-Jährige ist ein Kind seiner Zeit, die geprägt ist von Täuschung und Verrat. Frank hungert nach Erfahrungen, doch nichts vermag ihn zu befriedigen. Aus reiner Langeweile wird er zum Mörder und verschachert das Mädchen, das ihn liebt. Als er schließlich begreift, was er getan hat, und mit sich selbst ins Gericht geht, ist es zu spät.Ein großer, unerbittlicher Roman über die Frage, wie das Böse in die Welt kommt. Meisterlich entwirft Simenon eine Welt, in der die Regeln des menschlichen Miteinanders außer Kraft gesetzt sind, Mitgefühl und Erbarmen nichts mehr gelten, und deutet zugleich vor diesem düster-unheilvollen Hintergrund eine Liebesgeschichte an, die so surreal wie überzeugend ist.
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Seitenzahl: 342
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Band 63
Georges Simenon
Der Schnee war schmutzig
Roman
Mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann
Aus dem Französischen von Kristian Wachinger
Kampa
Ohne jenes zufällige Zusammentreffen hätte Frank Friedmaiers Geste keine besondere Bedeutung gehabt. Natürlich hatte er nicht damit gerechnet, dass sein Nachbar Gerhardt Holst die Straße entlangkommen würde. Nun war alles anders, weil Holst vorbeigekommen war und ihn erkannt hatte. Frank aber nahm auch das hin, und alles, was sich daraus ergeben sollte.
Warum war, was sich in dieser Nacht an der Mauer der Gerberei abspielte, von solch grundlegend anderer Bedeutung für Gegenwart und Zukunft als beispielsweise eine Entjungferung?
Denn daran hatte Frank zuerst denken müssen, und der Vergleich belustigte und ärgerte ihn zugleich. Vorige Woche erst hatte sein Freund Fred Kromer – mit zweiundzwanzig! – einen Mann getötet, auch er war gerade aus dem Timo’s gekommen, wo Frank eben noch gewesen war, bevor er nach draußen ging und sich an die Mauer der Gerberei drückte.
Zählte der Tote von Kromer überhaupt? Kromer hatte seinen Pelzmantel zugeknöpft und war zur Tür gegangen, mit wichtiger Miene, wie gewohnt eine dicke Zigarre zwischen den dicken Lippen. Er glänzte. Kromer glänzte immer. Er hatte eine fettige, großporige Haut, wie manche Orangen, und diese Haut schwitzte sichtlich.
Jemand hatte ihn mal mit einem jungen Stier verglichen, der nicht weiß, wohin mit seinem Trieb. Jedenfalls erweckte sein dickes, glänzendes Gesicht mit den triefenden Augen und den geblähten Lippen eine irgendwie sexuelle Assoziation.
Ein kleiner Dünner, von der Sorte blass und hitzig, wie es so viele gibt – so wie er aussah, hätte man nicht gedacht, dass er sich überhaupt einen Drink im Timo’s leisten konnte –, hatte sich ihm dummdreist in den Weg gestellt, ihn am Pelzkragen gepackt und beschimpft.
Was mochte Kromer ihm angedreht haben, womit er nicht zufrieden war?
Kromer war würdevoll, an seiner Zigarre ziehend, weitergegangen. Vielleicht um die Frau an seiner Seite zu beeindrucken, war ihm der Hungerhaken bis auf die Straße gefolgt und hatte dort begonnen herumzubrüllen.
Die Nachbarn in der Straße vom Timo’s sind solches Geschrei gewohnt. Die Polizei meidet die Ecke so gut es geht, denn wenn ein Streifenwagen in der Nähe vorbeikäme, wären die Herren genötigt, ein bisschen genauer hinzusehen.
»Geh schlafen!«, hatte Kromer zu dem Zwerg mit dem feuerroten Haarschopf gesagt, dessen Kopf zu groß war für seinen Körper.
»Erst wenn du mich ausreden lässt …«
Wenn man immer alle ausreden ließe, würde es nicht lang dauern, und man landete im Kittchen.
»Geh schlafen!«
Hatte der Rothaarige zu viel getrunken? Eigentlich wirkte er eher wie ein Drogensüchtiger. Vielleicht bezog er den Stoff von Kromer, und vielleicht war die letzte Lieferung gepanscht gewesen? Was soll’s.
Kromer stand mitten auf der Fahrbahn, die schwarz zwischen zwei Schneewällen lag. Mit der linken Hand nahm er die Zigarre aus dem Mund, mit der rechten Faust schlug er zu, nur einmal. Und schon ragten zwei Beine und zwei Arme in die Luft, geradezu wie bei einer Marionette; dann sackte eine dunkle Gestalt in den Schneehaufen am Rand des Bürgersteigs. Besonders eigenartig war, dass neben dem Kopf eine Orangenschale lag. So etwas war vermutlich in der ganzen Stadt nicht zu finden, außer vor dem Timo’s.
Timo kam raus, ohne Jacke, ohne Mütze, so wie er auch hinter dem Tresen stand. Er betastete die Marionette und schob die Unterlippe ein wenig vor.
»Der hat ausgelitten«, brummelte er, »in einer Stunde ist er kalt.«
Hatte Kromer den Rotschopf wirklich mit einem einzigen Faustschlag getötet? Ihm ist recht, wenn man das glaubt. Der jedenfalls wird nicht widersprechen, denn auf Timos Rat hin, der gern Nägel mit Köpfen macht, hat man ihn zweihundert Meter von hier ins Alte Hafenbecken geschmissen, wo die Kanalisation hineinläuft und das Wasser am Zufrieren hindert.
Kromer kann sich also damit brüsten, seinen Mann getötet zu haben. Selbst wenn Timo die Hand im Spiel hat, selbst wenn die Marionette, die man noch einmal in die Luft hatte werfen müssen, um sie über eine kleine Ziegelmauer zu befördern, da noch nicht vollkommen tot gewesen sein sollte.
Der Beweis dafür, dass der Tote für Kromer gar nicht zählt, ist, dass er weiterhin die Geschichte von dem erwürgten Mädchen erzählt. Allerdings ist das nicht in der Stadt passiert und auch nicht an einem anderen Ort, den die anderen gekannt hätten. Es gibt keine Beweise. Da kann sich jeder mit irgendetwas schmücken.
»Sie hatte große Brüste, fast keine Nase und helle Augen …«, sagte er.
Bis dahin hat er es immer genau gleich geschildert. Aber jedes Mal fügt er neue Details hinzu.
»Es war in einer Scheune …«
Gut. Aber was machte Kromer, der nie Soldat gewesen war und der das Landleben verabscheute, in einer Scheune?
»Wir haben im Stroh miteinander geschlafen, und das dauernde Piksen der Halme brachte mich auf die Palme …«
Wenn Kromer diese Geschichte erzählt, knabbert er an seiner Zigarre und stiert geistesabwesend vor sich hin, mit gespielter Zurückhaltung. Es gibt da noch eine Einzelheit, von der er nicht abweicht. Eine Äußerung der Frau.
»Ich hoffe, du machst mir gerade ein Kind.«
Er behauptet, dass diese Äußerung alles in Gang gesetzt hat und dass ihm die Vorstellung, von diesem dummen, schmutzigen Mädchen, das er wie ein Stück Teig bearbeitete, ein Kind zu bekommen, grotesk, ja geradezu unerträglich vorkam.
»Ganz und gar un-er-träg-lich.«
Und dass sie immer zärtlicher und zudringlicher wurde.
Dass er schließlich die Augen gar nicht mehr zu schließen brauchte, um das blonde, bleiche, konturlose Gesicht eines Ungeheuers vor sich zu sehen, sein Kind mit diesem Mädchen.
Liegt es daran, dass Kromer der dunkle Typ ist und stark wie ein Baum?
»Das hat mich angewidert«, sagt er abschließend und klopft die Asche von seiner Zigarre.
Ein ganz Gerissener. Er weiß, welche Gesten ankommen. Er hat Tics, die ihn interessant wirken lassen.
»Ich fand es sicherer, die Mutter zu erwürgen. Es war mein erstes Mal. Also … ganz einfach! Nichts Besonderes.«
Kromer ist nicht der Einzige. Wer von den Gästen im Timo’s hat nicht mindestens einen Menschen umgebracht? Im Krieg oder sonstwie. Oder durch Denunziation, das geht am einfachsten. Man muss nicht einmal seinen eigenen Namen druntersetzen.
Timo brüstet sich nicht damit, aber er hat sicher viele umgebracht, sonst würden die Besatzer nicht zulassen, dass seine Kneipe die ganze Nacht offen ist, ohne nachzusehen, was dort vor sich geht. Auch wenn die Läden immer geschlossen sind, auch wenn man durch die Einfahrt kommen und sich an der Tür draußen zu erkennen geben muss, sie sind nicht so naiv, dass sie nicht Bescheid wüssten.
Was also? Für Frank hatte die Entjungferung, die echte, keine große Bedeutung gehabt. Denn er befand sich schon im richtigen Umfeld. Für andere ist das eine große Geschichte, die sie noch Jahre später erzählen und immer weiter ausschmücken, wie Kromer die Sache mit dem in der Scheune erwürgten Mädchen.
Dass Frank mit neunzehn seinen ersten Menschen tötet, ist für ihn eine kaum beeindruckendere Entjungferung als die erste, die echte. Und wie bei der ersten ist es ohne Vorsatz geschehen. Es ist ganz von selbst gekommen. Als wäre irgendwann der Augenblick da, wo es unvermeidlich und natürlich ist, eine Entscheidung zu treffen, die in Wahrheit längst gefallen ist.
Niemand hat ihn dazu genötigt. Keiner hat sich über ihn lustig gemacht. Typen, die sich von anderen aufstacheln lassen, sind ohnehin Trottel!
Seit Wochen, wenn nicht Monaten, denkt er, weil er eine Art Minderwertigkeitsgefühl empfindet:
»Ich muss es versuchen …«
Nicht in einer Rauferei. Das ist nicht seine Art. Damit es vor ihm selber wirklich zählt, muss es kaltblütig geschehen.
Vorhin bot sich die Gelegenheit. Lag es an seiner Erwartungshaltung, dass es sich ihm als Gelegenheit darstellte?
Sie waren im Timo’s, an ihrem Stammtisch nah am Tresen. Kromer war da, mit seinem Pelz, den er selbst an überheizten Orten anbehält. Und natürlich mit seiner Zigarre. Und seiner glänzenden Haut. Und seinen großen Augen, die wirklich etwas Kuhäugiges haben. Kromer scheint sich als etwas Besseres zu fühlen gegenüber dem Rest der Welt, denn er macht sich nicht die Mühe, die großen Scheine in einer Brieftasche unterzubringen, sondern stopft sie sich bündelweise und zerknüllt in die Taschen.
Bei Kromer saß ein Kerl, den Frank nicht kennt, ein Kerl aus anderen Kreisen, der sofort statt einer Vorstellung nur sagt:
»Sagen Sie Berg zu mir.«
Er dürfte etwas über vierzig sein. Kühl, wortkarg. Jemand Wichtiges. Der Beweis: Sogar Kromer benimmt sich ihm gegenüber geradezu devot.
Er erzählte ihm die Geschichte vom erwürgten Mädchen ohne großes Aufhebens, eher in dem Ton, als wäre das nichts Besonderes, ein kleiner Scherz im Vorbeigehen.
»Schau, Frank, das Messer, das mein Freund mir gerade gegeben hat.«
Und das Messer, wie ein Edelstein, der noch schöner funkelt, wenn man ihn einem edlen Etui entnimmt, strahlte nur umso mehr, als es, aus dem warmen Pelz hervorgezogen, auf dem karierten Tischtuch lag.
»Fühl die Schneide.«
»Ja.«
»Kannst du den Stempel lesen?«
Es war ein schwedisches Fabrikat, ein Springmesser, von so klarer Linienführung, so »leichtgängig«, dass man den Eindruck gewann, es habe eine intelligente Klinge, die sich den Weg durchs Fleisch selbst sucht.
Warum hatte Frank, wobei er sich für den kindlichen Ton genierte, den er, unwillkürlich, angeschlagen hatte, gesagt:
»Leih’s mir.«
»Was willst du damit?«
»Nur so.«
»Solches Spielzeug ist nicht gemacht für ›nur so‹.«
Der andere musste lächeln, er lächelte nachsichtig, als hörte er den Prahlereien zweier Knirpse zu.
»Leih’s mir.«
Sicher nicht »nur so«. Doch er war noch unentschlossen. Und genau jetzt sah er, wie am Tisch in der Ecke, unter der Lampe mit dem bläulichen Seidenschirm, der dicke Unteroffizier, schon ganz rot im Gesicht – violett wegen der Beleuchtung –, das Koppel abschnallte und zwischen die Gläser legte.
Diesen Unteroffizier kannten sie alle. Er gehörte zum Inventar, wie ein Haustier, das man an seinem Stammplatz vorfindet. Er war der einzige von den Besatzern, der regelmäßig ins Timo’s kam, ohne sich zu verstecken, ohne Vorsichtsmaßnahmen, ohne Diskretion zu erwarten.
Irgendwie musste er heißen. Hier nannte man ihn den Eunuchen. Weil er dick war, so dick, dass die Uniform über seiner Leibesfülle spannte und Wülste an der Taille und unter den Armen bildete. Es drängte sich der Gedanke an eine Matrone auf, die sich entkleidet hat und in deren weichem Fleisch noch der Abdruck des Korsetts zu sehen ist. Noch mehr Wülste hatte er am Nacken und unterm Kinn, und auf seinem Kopf flatterte wirr sein blässliches, weiches Haar.
Er nahm immer in derselben Ecke Platz, und immer mit zwei Frauen, egal welchen, Hauptsache, dunkel und schlank. Es hieß, er bevorzuge behaarte.
Wenn hereinkommende Gäste beim Anblick seiner Uniform – der Uniform der Besatzerpolizei – erschraken, beruhigte Timo sie mit kaum zurückgenommener Stimme:
»Keine Angst. Der ist nicht gefährlich.«
Ob der Eunuch das hörte? Ob er es verstand? Er bestellte alkoholische Getränke karaffenweise. Eine Frau auf dem Schoß, die andere auf der Sitzbank neben ihm, erzählte er ihnen seine Geschichten, ganz leise, ins Ohr, und lachte dabei. Er trank, er erzählte und gab ihnen zu trinken und schob ihnen seine Hände unter den Rock.
Irgendwo daheim mochte er Familie haben. Nouchi, die mit seiner Brieftasche gespielt hatte, behauptete, die sei voller Fotos von Kindern jeden Alters gewesen. Er nannte die Mädchen nicht bei ihren richtigen Namen. Das machte ihm Spaß. Zum Essen lud er sie ein. Er sah ihnen gern beim Essen zu, teure Gerichte, die man nur im Timo’s bekommt und in einigen noch schwerer zugänglichen Häusern, die de facto den höheren Offizieren vorbehalten sind.
Er nötigte sie geradezu zum Essen. Er aß mit ihnen. Er betatschte sie in aller Öffentlichkeit. Er betrachtete ihre verschmierten Hände und lachte. Dann kam regelmäßig der Augenblick, wo er das Koppel abschnallte und auf den Tisch legte.
An diesem Koppel befand sich in einem Holster ein Revolver.
Für sich gesehen war das bedeutungslos. Der Unteroffizier, der Eunuch, war ein dicker geiler Sack, und man sprach nur spöttisch von ihm. Selbst Lotte, Franks Mutter.
Auch sie kannte ihn. Alle im Viertel kannten ihn, denn zweimal am Tag überquerte er die Straße, in der die Trambahn fährt, und ging hinunter bis zur Alten Brücke in die Stadt, wo wohl seine Dienststelle war.
Er wohnte nicht in der Kaserne, sondern war Pensionsgast bei Madame Mohr, der Witwe eines Architekten, zwei Häuser oberhalb der Straße mit der Trambahn.
Er war also ein Nachbar. Man sah ihn zu regelmäßigen Zeiten, immer rosig und aus dem Ei gepellt, trotz der Abende im Timo’s. Er trug stets ein Lächeln auf den Lippen, das manchen boshaft vorkam, das aber vielleicht nur ein Babylächeln war.
Er drehte sich nach kleinen Mädchen um, tat ihnen schön und zog manchmal Bonbons aus der Tasche, die er ihnen schenkte.
»Ich wette, wir werden ihn dieser Tage mal nach oben kommen sehen«, hatte Franks Mutter Lotte gesagt.
Ihr Gewerbe war illegal. Allerdings hatte sie die Lizenz für ein Nagelstudio im Alten Hafenviertel, auch wenn ganz offenkundig niemand auf die Idee kommen würde, drei Stockwerke in einem mit Mietern vollgestopften Haus hinaufzusteigen, um sich die Nägel pflegen zu lassen.
Nicht nur die Straße, sondern gewissermaßen die ganze Stadt wusste, dass es dort Hinterzimmer gab.
Dem Eunuchen, der bei der Besatzerpolizei war, konnte es auch nicht entgangen sein.
»Du wirst sehen, eines Tages kommt er!«
Lotte brauchte die Männer nur vom Fenster im dritten Stock aus zu beobachten, um sagen zu können, wer letztlich nach oben kommen würde und wer nicht. Sie konnte sogar vorhersagen, wie lange er brauchen würde, um sich zu entscheiden, und sie täuschte sich selten.
Und wirklich: Eines Sonntagvormittags – der Dienstzeiten wegen – kam der Eunuch an, befangen, verlegen. Frank war gerade nicht da, was er nachher bedauerte, wegen des Oberlichts, durch das er etwas sehen konnte, wenn er auf den Küchentisch kletterte.
Man hat es ihm später erzählt. An dem Tag war nur Steffi da, eine lange Bohnenstange mit glanzloser Haut, die gerade mal dazu taugt, sich hinzulegen, die Beine breitzumachen und an die Decke zu starren.
Der Unteroffizier war enttäuscht gewesen, wohl weil mit Steffi nicht viel anzufangen war, wenn man nicht gleich zum Ende kommen wollte. Sie hatte nicht einmal genug Gespür, angemessen zuzuhören, wenn ihr jemand seine Geschichten erzählte.
»Du bist nur ein Loch, Mädchen«, sagte ihr Lotte immer wieder.
Der Eunuch hatte sich wohl vorgestellt, dass das anders ablief. Vielleicht war er wirklich impotent? Jedenfalls hatte er das Timo’s nie zusammen mit einer Frau verlassen.
Oder befriedigte er sich selbst, während er die Mädchen betatschte, ohne dass man das merkte? Schon möglich. Alles ist möglich bei Männern, Frank wusste das, seit er sich, auf dem Küchentisch stehend, durchs Oberlicht spionierend aufgeklärt hatte.
War es da nicht ganz normal, dass ihm, da er früher oder später jemanden töten musste, der Gedanke kam, sich am Eunuchen zu versuchen?
Vor allem musste er einmal das Messer benutzen, das er in die Hand gedrückt bekommen hatte, wirklich eine schöne Waffe. Man hatte unwillkürlich das Verlangen, es auszuprobieren und zu spüren, wie es sich anfühlte, wenn man damit ins Fleisch eindrang und es zwischen die Knochen glitt.
Es gibt da einen Trick, den ihm jemand verraten hatte: Wenn die Klinge zwischen die Rippen eingedrungen ist, leicht drehen, wie einen Schlüssel im Schloss.
Das Koppel lag auf dem Tisch, der schwere und blanke Revolver im Holster. Was kann man nicht alles mit einem Revolver tun! Und zu was für einem Menschen wird man dadurch ganz von selbst!
Und schließlich war da noch dieser Vierzigjährige, dieser Berg, ein Kumpel von Kromer, also jemand Zuverlässiges, ein guter Mann wohl, mit dem sie über ihn geredet hatten wie über ein Milchgesicht.
»Leih es mir für eine Stunde, und ich weihe es dir ein. Wetten, dass ich mit einem Revolver wiederkomme!«
Bis zu diesem Moment also war alles noch völlig normal. Frank wusste, wo er sich auf die Lauer zu legen hatte. In der Rue Verte, wo der Eunuch vorbeikommen musste, um vom Hafenbecken zur Straße mit der Trambahn zu gelangen, stand ein altes fensterloses Haus, das noch immer Gerberei hieß, obwohl dort seit fünfzehn Jahren nicht mehr gegerbt wurde. Frank hatte die Gerberei nie in Betrieb gesehen; es hieß, sie habe zu Zeiten, als sie fürs Militär tätig war, bis zu sechshundert Arbeiter beschäftigt.
Nur hohe nackte Mauern aus schwarzen Klinkern, mit schmalen Fenstern, wie Kirchenfenster, die erst auf sechs Metern Höhe begannen und deren Scheiben alle zerbrochen waren.
Eine dunkle Sackgasse, kaum einen Meter breit, trennte die Gerberei von den anderen Häusern der Straße.
Die nächste Gaslaterne, die leuchtete – die Stadt war voller verbogener oder zerbrochener Laternen –, war weit weg, bei der Straßenbahnhaltestelle.
Es war also ganz einfach, kein bisschen aufregend. Er stand in der Sackgasse, mit dem Rücken zur Ziegelmauer der Gerberei, und außer dem kreischenden Quietschen der Züge am anderen Ufer war es ringsum still. Kein erleuchtetes Fenster. Die Leute schliefen.
Zwischen den beiden Mauern sah er ein Stück Straße, die winterliche Straße, so wie er sie schon immer kannte: auf den Bürgersteigen zwei graue Schneewälle, einer entlang den Häusern, der andere zur Fahrbahn hin; dazwischen ein schmaler schwärzlicher Pfad, den die Leute frei hielten, indem sie Sand, Salz oder Asche streuten. Vor jeder Tür kreuzte diesen Pfad ein zweiter, der zur Straße führte mit je nach Gelände tieferen oder weniger tiefen Spurrillen.
Ganz einfach.
Den Eunuchen töten …
Männer in Uniform wurden tagtäglich getötet, patriotischen Organisationen wurde nachgestellt, Geiseln, Berater, Honoratioren wurden erschossen oder weiß Gott wohin gebracht! Und nie wieder war von ihnen die Rede.
Frank ging es darum, seinen ersten Menschen zu töten und Kromers schwedisches Messer einzuweihen.
Sonst nichts.
Das einzig Unangenehme war, dass er bis zu den Knien im hartgefrorenen Schnee steckte – denn keiner war auf die Idee gekommen, in der Sackgasse zu räumen – und dass die Finger seiner rechten Hand allmählich steif wurden; aber er hatte den Handschuh ausgezogen und blieb dabei.
Es ließ ihn ungerührt, als er Schritte hörte. Ihm war sowieso klar, dass das nicht sein Unteroffizier war. Unter dessen schweren Stiefeln hätte der Schnee viel mehr geknirscht.
Es machte ihn einfach nur neugierig. Eine Frau konnte es nicht sein, dafür waren die Schritte zu groß. Die Sperrstunde war längst vorüber. Leute wie er, wie Kromer, wie die Gäste vom Timo’s scherten sich aus den verschiedensten Gründen nicht darum, aber die Leute aus dem Viertel hatten nicht die Angewohnheit, nachts spazieren zu gehen.
Der Mann näherte sich der Sackgasse, und noch bevor Frank ihn sehen konnte, hatte er verstanden oder vielmehr geahnt – und dass er es geahnt hatte, verschaffte ihm eine gewisse Befriedigung.
Ein blasser gelblicher Schein irrlichterte nämlich über den Schnee. Er kam von einer elektrischen Taschenlampe, die der Mann beim Gehen schwenkte.
Dieser große, fast lautlose Schritt, dieser zugleich weiche und erstaunlich rasche Schritt erinnerte Frank ganz unwillkürlich an die Gestalt seines Nachbarn Gerhardt Holst.
Die Begegnung bekam etwas ganz Alltägliches. Holst wohnte im selben Haus wie Lotte, auf demselben Stockwerk. Seine Wohnungstür lag der ihren genau gegenüber. Er war Straßenbahnfahrer, und sein Dienstplan war jede Woche anders; manchmal verließ er das Haus sehr früh, vor Tagesanbruch; manchmal ging er am späteren Nachmittag die Treppe hinunter, stets mit seiner Blechdose unterm Arm.
Er war sehr groß. Sein Schritt war lautlos, denn er trug selbstgebastelte Stiefel aus Filz und Lumpen. Jemand, der viele Stunden auf der Plattform einer Straßenbahn verbringt, versucht natürlich, warme Füße zu behalten, und doch bereitete der Anblick dieser unförmigen Stiefel aus grauem Löschpapier – sie wirkten wie aus Löschpapier – Frank stets ein unerklärliches Unbehagen.
Von oben bis unten war der Mann von demselben Grau, ja aus demselben Stoff. Er schien niemanden anzusehen, sich für nichts zu interessieren außer für die Blechdose mit seinem Essen, die er unter dem Arm trug.
Meistens wandte sich Frank ab, um seinem Blick auszuweichen, manchmal aber schaute er ihm mit Absicht angriffslustig in die Augen.
Holst würde also gleich vorbeikommen. Na und?
Aller Wahrscheinlichkeit nach würde er unbeirrt seiner Wege gehen, den Lichtkegel seiner Taschenlampe vor sich. Frank hatte keinen Grund, ein Geräusch zu machen. Und so gegen die Mauer gelehnt war er praktisch unsichtbar.
Warum also hustete er genau in dem Augenblick, als der Mann die Sackgasse erreichte? Er war nicht erkältet. Er hatte keinen trockenen Mund, und den ganzen Abend hatte er kaum geraucht.
Eigentlich hustete er, um auf sich aufmerksam zu machen. Nicht einmal als Provokation! Was hätte ihm auch daran gelegen sein können, einen armen Kerl zu provozieren, der Straßenbahnen steuert?
Gewiss, Holst war kein normaler Straßenbahnfahrer. Ganz offensichtlich kam er woandersher, und seine Tochter und er hatten einmal ein anderes Leben geführt. Die Straßen sind voll von solchen Leuten, man sieht sie vor den Bäckereien Schlange stehen. Man dreht sich nicht einmal mehr nach ihnen um. Sie selber schämen sich, dass sie sich nicht ganz wie die anderen fühlen dürfen, und bekommen etwas Geducktes.
Kein Grund also für Frank, nicht absichtlich zu husten.
Oder etwa wegen Holsts Tochter Sissy? Das wäre unsinnig gewesen. Er ist nicht in Sissy verliebt. Ihm gefällt die Sechzehnjährige gar nicht besonders. Umgekehrt ist es: Er gefällt ihr.
Immer wieder kommt es doch vor, dass sie die Tür einen Spaltbreit öffnet, wenn sie ihn pfeifend die Treppe heraufkommen hört. Immer wieder läuft sie ans Fenster, wenn er aus dem Haus geht, und er kann sehen, wie sich der Vorhang bewegt.
Wenn ihm danach zumute wäre, könnte er sie haben. Vielleicht würde sie sich ein wenig zieren, aber mit etwas Geduld wäre es nicht schwer.
Das Erstaunliche dabei ist, dass Sissy ohne jeden Zweifel Bescheid weiß, wer er ist und welchem Gewerbe seine Mutter nachgeht. Alle im Haus verachten ihn und seine Mutter. Kaum einer grüßt sie!
Auch Holst grüßt ihn nicht, aber der grüßt niemanden. Nicht aus Hochmut. Eher aus Bescheidenheit, oder weil ihm die Leute egal sind, denn er lebt mit seiner Tochter in einer überschaubaren Welt und hat kein Bedürfnis, auszugehen. Solche Leute gibt es!
Das ist kein bisschen verwunderlich.
Vielleicht hat Frank einfach aus Übermut gehustet. Weil es zu einfach, zu banal war.
Holst erschrak nicht. Er verlangsamte seinen Schritt nicht. Er kam gar nicht auf die Idee, dass ihm jemand auflauern konnte. Auch das ist recht sonderbar, denn schließlich drückt sich niemand ohne Grund mitten in der Nacht bei zwanzig Grad unter null an eine Mauer!
Als er an der Sackgasse vorbeikam, änderte er nur für einen winzigen Augenblick die Richtung des Lichtkegels seiner elektrischen Lampe, gerade lang genug, um Franks Gesicht anzustrahlen.
Der machte sich nicht die Mühe, den Mantelkragen hochzuschlagen oder den Kopf abzuwenden. So stand er ohne Deckung da, mit dem überlegten und entschlossenen Gesichtsausdruck, den er immer hat, selbst wenn er nur an Belanglosigkeiten denkt.
Holst hat ihn gesehen und erkannt. Bis zu ihm nach Hause sind es nur noch hundert Meter. Er wird den Schlüssel aus der Hosentasche holen – wegen seiner Nachtdienste ist er der einzige Hausbewohner, der einen Schlüssel bei sich trägt.
Morgen wird er in der Zeitung lesen – oder schlicht in der Warteschlange vor irgendeinem Geschäft hören –, dass der Unteroffizier an der Ecke der Sackgasse getötet worden ist.
Er wird also Bescheid wissen.
Wie wird er sich dann verhalten? Die Besatzer werden eine Belohnung aussetzen, wie immer, wenn es einen von ihnen erwischt hat, und erst recht, wenn es ein Höherer war. Holst und seine Tochter sind arm, sie dürften kaum öfter als alle zwei Wochen ein Stück Fleisch im Topf haben, und auch das sind dann nur mit Steckrüben zusammen gekochte Fleischabfälle. Durch die Gerüche, die aus den Türen dringen, erfährt man, was die Leute in jeder Wohnung essen.
Was also wird Holst tun?
Das Kommen und Gehen bei Lotte wird ihm nicht besonders angenehm sein, noch dazu genau gegenüber seiner Wohnung, wo Sissy ihre Tage verbringt.
Ist das nicht die Gelegenheit, sie loszuwerden?
Und doch hat Frank gehustet und denkt gar nicht daran, seinen Plan fallenzulassen. Ganz im Gegenteil! Er tut eine Art Stoßgebet, der Unteroffizier möge doch um die Ecke kommen, bevor Holst im Haus verschwunden ist.
Holst würde ihn dann hören, sehen. Vielleicht würde er einen Augenblick innehalten, den Schlüssel in der Hand, und so zum Gelingen beitragen?
Doch das geschieht nicht. Wie schade! Frank war ganz aufgeregt bei dieser Vorstellung. Fast kommt es ihm so vor, als bestände eine geheime Verbindung zwischen ihm und dem Mann, der jetzt im dunklen Hausflur die Treppe hinaufsteigt.
Natürlich wird er den Eunuchen nicht wegen Holst töten, er war ja schon vorher dazu entschlossen.
Nur hatte diese Handlung da noch keinerlei Sinn. Es war eher ein Scherz, ein Bubenstreich. Wie hatte er es noch genannt? Eine Entjungferung.
Jetzt aber wünscht er sich etwas anderes, lässt sich darauf ein, in voller Kenntnis der Lage.
Da sind Holst, Sissy und er; der Unteroffizier tritt in den Hintergrund, Kromer und sein Kumpel Berg haben keinen Stellenwert mehr.
Da sind Holst und er.
Und nun ist es wirklich so, als hätte er gerade Holst ausgewählt, als hätte er die ganze Zeit schon gewusst, dass Holst zum richtigen Zeitpunkt kommt – denn er hätte das für niemand anderen als den Straßenbahnfahrer gemacht.
Eine halbe Stunde später klopfte er mit dem verabredeten Signal beim Timo’s an die Hintertür am Ende der Seitengasse. Timo selbst machte auf. Es war kaum noch jemand da, und eines der Mädchen, das eben noch mit dem Eunuchen getrunken hatte, kotzte ins Küchenspülbecken.
»Ist Kromer gegangen?«
»Ach ja … er hat gesagt, ich soll’s dir ausrichten … Er hatte eine Verabredung in der Oberstadt …«
Das Messer, säuberlich abgewischt, steckte in Franks Hosentasche. Timo spülte Gläser und schaute nicht zu ihm hinüber.
»Willst du was trinken?«
Fast hätte er Ja gesagt. Aber er zog es vor, sich zu beweisen, dass ihm die Sache nicht naheging und dass er jetzt nichts Alkoholisches brauchte. Immerhin hatte er zwei neue Anläufe nehmen müssen wegen der Speckschicht, die am Rücken des Unteroffiziers herunterhing. Die andere Hosentasche blähte der Revolver.
Sollte er ihn Timo zeigen? Das war ungefährlich. Timo würde den Mund halten. Aber es war auch allzu leicht. Jeder hätte das getan.
»Gute Nacht!«
»Schläfst du bei deiner Mutter?«
Er schlief immer mal hier oder dort, manchmal im Schuppen hinter dem Timo’s, wo Mädchen unterkamen, manchmal bei Kromer, der ein schönes Schlafzimmer hatte und ein Sofa, manchmal bei anderen, wie es der Zufall wollte. Aber in Lottes Küche gab es immer ein Feldbett für ihn.
»Ich gehe nach Hause …«
Das war nicht ungefährlich, wegen der Leiche, die quer über den Bürgersteig lag. Noch gefährlicher aber war, den Umweg über die Hauptstraße zu gehen, um von dort zur Brücke zu gelangen, denn dort konnte er leicht einer Polizeistreife begegnen.
Die dunkle Masse lag noch auf dem Bürgersteig, halb auf dem schwärzlichen Pfad, halb auf dem Schneehaufen, und Frank machte einen großen Schritt darüber. Es war der einzige Augenblick, wo Frank sich fürchtete, nicht nur davor, Schritte hinter sich zu hören, sondern auch davor, den Eunuchen etwa auferstehen zu sehen.
Er klingelte und musste eine ganze Weile warten, bis der Pförtner die Tür öffnete, indem er auf einen Knopf am Kopfende seines Bettes drückte. Die ersten Stufen nahm Frank ziemlich rasch, dann verlangsamte er seinen Schritt, und schließlich, als er an Holsts Tür vorbeikam, stieß er einen Pfiff aus, um sich zu erkennen zu geben.
Er ging nicht ins Zimmer seiner Mutter, die einen festen Schlaf hatte. Er machte in der Küche Licht und zog sich aus. Er legte sich hin. Es roch nach Brühe und Lauch, und dieser Geruch war so stark, dass er ihn am Einschlafen hinderte.
So stand er wieder auf, öffnete einen Spaltbreit die Tür nach hinten und zuckte mit den Achseln.
Heute lag Bertha in dem Bett. Ihr dicker reizloser Leib war ganz heiß. Er schubste ihn mit dem Rücken zur Seite, sie grunzte und streckte einen Arm von sich, den er weglegen musste, um selber Platz zu haben.
Wenig später hätte er sie fast genommen, denn er konnte nicht einschlafen; aber dann musste er an Sissy denken, die sicher noch Jungfrau war.
Ob ihr Vater ihr erzählen würde, was Frank in dieser Nacht getan hatte?
Als Bertha aufstand, wurde er halb wach und machte die Augen auf, weit genug, um die großen Eisblumen an den Fensterscheiben zu sehen.
Barfuß ging das dicke Mädchen in die Küche und drehte dort das Licht an; die Tür ließ sie angelehnt, sodass das Schlafzimmer nur indirekt etwas Licht bekam. Auf der anderen Seite des Zimmers hörte er, wie sie Unterwäsche und Strümpfe anzog, in ihr Kleid schlüpfte, hinausging und die Tür hinter sich schloss. Gleich würde er nebenan das Scharren des Schürhakens auf dem Ofenrost hören.
Seine Mutter hatte die Mädchen im Griff. Sie achtete immer darauf, dass jede Nacht mindestens eine dablieb. Nicht wegen der Kundschaft, denn nach acht, wenn unten die Tür abgeschlossen war, kam niemand mehr nach oben. Aber Lotte brauchte Gesellschaft. Vor allem brauchte sie es, bedient zu werden.
»Als ich jung und dumm war, habe ich genug gehungert, um es mir jetzt gut gehen zu lassen. Jetzt bin ich dran.«
Es war immer die gutmütigste oder die ärmste, die sie dabehielt, mit dem Argument, sie wohne zu weit weg, hier sei geheizt, oder sie habe ein schönes Abendessen vorbereitet.
Für alle gab es denselben Bademantel aus violettem Flanell, der den meisten bis zum Boden ging. Sie waren allesamt zwischen sechzehn und achtzehn. Ältere wollte Lotte nicht haben. Und von wenigen Ausnahmen abgesehen, behielt sie sie nie länger als einen Monat.
Die Kunden lieben Abwechslung. Man musste das den Mädchen ja nicht vorher sagen. Sie fühlten sich ganz zu Hause – vor allem die vom Land, und fast immer waren sie es, die über Nacht blieben.
Lotte machte es wohl wie Frank, der nur halb schlief und immer wusste, wie spät es war und wo er sich befand, der die Geräusche von Wohnung und Straße wahrnahm. So registrierte er automatisch das Rattern der ersten Straßenbahn, die man von weither durch die gefrorene Leere der Straßen kommen hörte und deren mächtigen gelben Scheinwerfer er zu erkennen glaubte.
Unmittelbar darauf rumpelten zwei Kohleneimer. Das war morgens das Schwerste für das Mädchen, das geblieben war. Eine war sogar, obwohl sie kräftig war, mit starken Muskeln, wegen dieser Schinderei gegangen. Man musste mit den beiden schwarzen Blecheimern die drei Stockwerke hinuntersteigen und noch bis in den Keller, und dann die gefüllten Eimer hochschleppen.
Alle im Haus standen früh auf; es war wie ein Geisterhaus, denn wegen der Rationierungen und Stromsperren benutzten die Menschen zu schwache Glühbirnen. Außerdem hatten sie kein Feuer im Herd; allenfalls nutzten sie das Gas, falls mal welches kam, zum Erwärmen ihres Eichelkaffees.
Wenn die Kohleneimer hinuntergetragen wurden, spitzte Frank die Ohren, und Lotte in ihrem Bett tat wohl das Gleiche.
Jeder Hausbewohner hatte sein Kellerabteil mit Vorhängeschloss. Aber wer außer ihnen besaß Kohlen und Holz?
Wenn das Mädchen mit seinen Eimern hinaufstieg, die Arme überdehnt, das Gesicht gerötet, war da fast immer die eine oder andere Tür, die sich einen Spaltbreit öffnete, wenn sie vorbeikam. Bittere Blicke hefteten sich auf sie und ihre Eimer. Frauen gaben lautstarke Kommentare ab. Einmal hatte ein Bewohner aus dem zweiten Stock – er wurde inzwischen erschossen, aber nicht deshalb – die beiden Eimer ausgeleert und dazu geflucht:
»Hure!«
Alle, von oben bis unten, in dieser Kaserne – denn das Haus sah aus wie eine Kaserne – waren eingemummelt in ihre Mäntel, trugen zwei oder drei Jacken darunter, und die meisten auch Handschuhe. Und es gab Kinder, die in die Schule mussten.
Bertha war hinuntergegangen. Bertha hatte keine Angst. Sie war eine der wenigen, vielleicht weil sie so kräftig und gelassen war, die mehr als sechs Wochen durchgehalten hatte.
Aber fürs Liebemachen taugte sie nicht. Manchmal stieß sie ein so sonderbares Gebrüll aus, dass dem Mann die Lust verging.
»Eine Kuh!«, dachte Frank dann.
So wie er bei Kromer dachte: »Ein junger Stier!«
Man hätte sie zusammenbringen sollen.
Bertha heizte die Öfen, auch im Schlafzimmer, wobei sie wieder die Küchentür angelehnt ließ. Vier Feuer brannten in der Wohnung, mehr als im ganzen Haus zusammengenommen, vier Feuer für sie allein. Vielleicht würden eines Tages die Leute vorbeikommen und etwas Wärme stibitzen, indem sie sich im Flur gegen die Wand lehnten.
War eigentlich bei Sissy Holst geheizt?
Er wusste, wie das vor sich ging; er kannte die kleine blaue Flamme, die aus dem Gasöfchen kam, und das nur zwischen sieben und acht Uhr morgens.
Die Leute wärmten sich die Hände am Teekessel. Manche legten ihre Füße oder den Bauch auf das Öfchen. Und alle waren in Lumpen gekleidet, trugen alles, was sie übereinander anziehen konnten, egal wie.
Sissy?
Warum hatte er an Sissy denken müssen?
Im Haus gegenüber, noch ärmer als ihres, weil noch älter und ziemlich heruntergekommen, hatten die Menschen Packpapier vor die Fensterscheiben geklebt, um der Kälte zu trotzen; ein paar kleine Löcher ließen ein wenig Licht herein, und man konnte hinaussehen.
Sahen sie den Eunuchen? War die Leiche schon entdeckt worden?
Es würde ganz leise geschehen. So etwas machte nie viel Lärm. Viele waren schon zur Arbeit aufgebrochen, und die Frauen gingen nun aus dem Haus, um sich in den Warteschlangen anzustellen.
Falls nicht eine Streife – was unwahrscheinlich ist in der Rue Verte, die praktisch nirgendwohin führt – vorbeigekommen ist, haben die ersten Frühaufsteher die dunkle Masse im Schnee liegen sehen und sich beeilt, zur Straßenbahnhaltestelle zu gelangen.
Die Nächsten hatten nach Tagesanbruch die Farbe der Uniform erkennen müssen. Sie hatten es deshalb nur noch eiliger damit weiterzukommen.
Die Meldung würde von einem der Pförtner kommen. Diese Leute sind eine Art Beamte. Sie können nicht behaupten, sie hätten nichts gesehen. Und sie haben Zugang zum Telefon im Hausflur.
Aus der Küche kam der Geruch von Anmachholz, das Feuer gefangen hatte. Dann Schwaden kalter Asche aus den anderen Öfen, und endlich der Klang der Kaffeemühle – Musik in seinen Ohren.
Armes dickes Bertha-Tier! Vorhin stand sie barfuß auf dem Bettvorleger und rieb sich am ganzen Leib ab, um das Muster loszuwerden, das die Laken ihr in die Haut gedrückt hatten. Sie hatte keine Hose an. Sie schwitzte. Sie führte offenbar Selbstgespräche. Vor zwei Monaten hatte sie um diese Tageszeit noch Hühner gefüttert, und bestimmt hat sie mit ihnen geredet, in einer Sprache, die sie verstanden.
Und wieder die Straßenbahn, ihr abrupter Halt an der Straßenecke, wo sie zum Bremsen Sand auf die Schienen spuckte. Nichts Ungewöhnliches, und doch stellte sich eine gewisse Spannung ein, weil man darauf wartete, dass sie sich mit ihrem metallenen Geräusch wieder in Gang setzte.
Welcher von den Pförtnern hatte Angst genug, um die Behörden anzurufen? Alle Pförtner sind ängstlich. Das gehört zu ihrem Beruf. Man kann es sich vorstellen, wie einer vor zwei oder drei Autos voller Besatzer gestikuliert.
Es gab Zeiten, da hätte man das Viertel abgesperrt und ein Haus nach dem anderen durchsucht. Das ist lange vorbei. Geiselnahmen auch. Auf beiden Seiten der Schranke sind die Menschen zu Philosophen geworden. Gibt es überhaupt noch eine Schranke?
Man tut so, als ob.
Ein fetter geiler Sack ist tot. Was schadet ihnen das? Sie dürften gewusst haben, was er für ein Kaliber war. Mehr beunruhigen wird sie, dass der Revolver verschwunden ist, denn wer immer ihn an sich genommen hat, könnte ihn gegen sie richten.
Auch sie haben Angst, ohne jeden Zweifel. Alle haben Angst.
Zwei, drei Autos fahren hin und her. Ein anderes fährt von einem Haus zum nächsten.
Als Machtdemonstration. Weiter wird nichts passieren.
Außer natürlich, wenn Holst Anstalten machte, zu reden. Aber er wird nichts sagen. Frank hat ihm vertraut.
Da! Jetzt hat er die Erklärung. Vielleicht ist das nicht ganz der richtige Ausdruck, aber es geht in die Richtung dessen, was er am Abend davor in etwa dachte: Er hat ihm vertraut.
Holst schläft wohl noch. Nein. Um diese Zeit ist er schon auf, er wird gleich hinuntergehen, denn wenn er nicht Dienst hat, übernimmt er es, sich in den Schlangen anzustellen.
Für manche Waren stellt sich auch Lotte an; das heißt, sie schickt eins der Mädchen. Für andere nicht. Es gibt Produkte, für die es sich lohnt, selbst für sie.
Alle Türen in der Wohnung stehen offen. Der Küchenofen strahlt seine Wärme so üppig in alle Zimmer ab, dass er notfalls allein reichen würde; und dann breitet sich der Duft von echtem Kaffee aus.
Auf der anderen Seite der Küche, zum Treppenabsatz hin, gleich links neben der Stiege ist das Nagelstudio, wo ein Dauerbrandofen steht.
Und jeder Ofen, jedes Feuer hat seinen eigenen Geruch, sein Eigenleben, seine Atmung, seine mehr oder weniger unpassenden Geräusche. Der Ofen im Salon riecht nach Linoleum und passt zu einem Zimmer mit polierten Möbeln, Klavier, Stickereien und Häkeldeckchen auf den Tischchen und auf den Armlehnen der Polstersessel.
»Die Spießer sind die geilsten Säcke«, behauptet Lotte, »und Spießer treiben ihre kleinen Ferkeleien am liebsten in einer Umgebung, die sie an ihr Zuhause erinnert.«
Deshalb sind die Maniküretischchen so winzig, sozusagen unsichtbar. Lieber bringt Lotte den Mädels bei, mit einem Finger Klavier zu spielen.
»Wie ihre Töchter, verstehst du?«
Das Schlafzimmer – er nennt es das große Schlafzimmer –, in dem Lotte gerade schläft, ist ganz und gar mit Teppichen und Baldachinen und zierlichen Handarbeiten ausstaffiert. Lotte meint dazu:
»Wenn ich dort die Porträts ihres Vaters, ihrer Mutter oder ihrer Kinder unterbringen könnte, ich wäre Millionärin!«
Haben sie den Eunuchen endlich weggeschafft? Wahrscheinlich. Das Hin und Her der Autos hat aufgehört.
Gerhardt Holst, seine lange Nase ganz blaugefroren, dürfte ungerührt und würdig irgendwo im Viertel in einer Schlange stehen. Manche Leute nehmen das auf sich, andere nicht. Frank hat es nicht auf sich genommen. Für nichts auf der Welt würde er sich irgendwo anstellen.
»Andere in deinem Alter …«, hat seine Mutter, die das arrogant findet, einmal zu ihm gesagt.
Kann man sich Kromer in einer Schlange vorstellen? Oder Timo? Und diesen, und jenen?
Hat Lotte genug Kohlen? Gilt ihre erste Sorge am Morgen, wenn sie gleich aufsteht, nicht der Küchenplanung?
»Bei mir gibt es was zu essen!«, hat sie einem Mädchen geantwortet, das noch nie auf den Strich gegangen war und fragte, wie viel man hier so verdient.
Ja, man kriegt was zu essen. Man isst nicht, man futtert. Man futtert von morgens bis abends. Immer steht etwas Essbares auf dem Küchentisch, und mit den Resten könnte man eine ganze Familie ernähren.
Es ist ein Spiel daraus geworden, sich Gerichte auszusuchen, die besonders schwierig zu machen sind, Gerichte, die besonders viel Fett oder schwer erhältliche Lebensmittel enthalten. Eine Art Sport.
»Du brauchst Speck? Geh zu Kopotzki und sag ihm einen schönen Gruß von mir. Ich habe Zucker für ihn.«
»Und wenn man noch ein paar Pilze dazugeben würde?«
»Nimm die Straßenbahn und steig bei Blang aus. Sag ihm …«
Jede Mahlzeit ist eine Herausforderung. Eine Herausforderung und eine Kampfansage, denn das ganze Haus bekommt etwas von den Küchendünsten ab, die durch Schlüssellöcher und Türspalte dringen. Fast so, als stünden sie offen. In diesen Zeiten haben die Holsts nicht mehr als einen mit Steckrüben ausgekochten Knochen.
Was ist nur mit ihm los, dass er immer wieder an die Holsts denken muss? Er steht auf. Er hat genug vom Liegen. Er geht in die Küche, reibt sich die müden Augen. Es ist elf. Ein neues Mädchen ist gekommen, das er nicht kennt. Brav wirkt sie, geradezu bieder, hat ihren Hut noch nicht abgenommen und trägt die weiße Bluse einer höheren Tochter.
»Hier ist Zucker, greifen Sie zu«, sagt Lotte, die im Morgenrock am Tisch sitzt, die Ellenbogen aufgestützt, und in kleinen Schlucken ihren Milchkaffee trinkt.
So spielt sich das jedes Mal ab. Man muss ihr Zutrauen gewinnen. Am Anfang sind sie scheu. Sie schauen die Zuckerwürfel an wie kostbare Edelsteine. Mit der Milch und allem anderen genau das Gleiche. Und nach einer Weile muss man sie rausschmeißen, weil sie die Schränke plündern. Aber auch sonst würde man sie an die Luft setzen.
Sittsam sind sie. Halten die Knie zusammen beim Hinsetzen. Die meisten tragen ein knappes Kostüm, wie Sissy, dunkler Rock und helle Bluse.
»Wenn sie bloß dabei blieben!«
Denn das mag die Kundschaft.
Nicht dagegen die nachlässige Morgenkleidung. Obwohl, wer weiß? Alle sind sie da, ungewaschen, speckig, trinken Kaffee, knabbern, rauchen, hängen herum.
»Bügelst du mir meine Hose?«, fragt Frank seine Mutter.
Und weil die Steckdose im Salon ist, legt Lotte ein Brett über zwei Sessel.
Der Eunuch?
Nachbarn werden sich wohl Sorgen um ihn gemacht haben, und alle, die heute Morgen an der Leiche im Schnee vorbeigegangen sind, werden den ganzen Tag über kein gutes Gewissen haben.
Frank allerdings ist einzig wegen des Revolvers beunruhigt. Gegen neun war er kurz auf, weil er ihn aus der Manteltasche nehmen und irgendwo verstecken wollte.
Aber wo? Und vor wem?
Bertha ist zu weich, zu unentschlossen, um irgendetwas zu verraten, es sei denn aus Dummheit.
Die andere, die Kleine im Kostüm, deren Namen er noch nicht weiß, wird den Mund halten, denn sie ist neu im Haus, und sie hat Hunger.
Und was seine Mutter angeht, die kümmert ihn nicht. Er ist hier der Chef. Sie macht ihren Kram, sie lehnt sich wohl auch manchmal auf, aber sie weiß, dass sie nichts zu sagen hat und letzten Endes immer das tut, was Frank will.
Er ist nicht besonders groß. Eher klein. Manchmal – aber das ist lange her – trug er hohe Absätze, fast Damenabsätze, um sich größer zu machen. Er ist auch nicht dick, aber kräftig gebaut, mit breiten Schultern.
Er hat Lottes helle Haut, blondes Haar, stahlblaue Augen.
Warum aber, wo er gerade mal achtzehn ist, haben die Mädchen Angst vor ihm? Manchmal wirkt er fast wie ein Kind! Er könnte sicher zärtlich sein, wenn er wollte. Er macht sich nicht die Mühe.