Der Speer der Vergeltung - Jörg Kastner - E-Book

Der Speer der Vergeltung E-Book

Jörg Kastner

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Beschreibung

In der 15. Folge von Jörg Kastners spannender »Amerika«-Saga zieht der Treck der Verdammten weiter und bringt Tod und Zerstörung. Die friedliche Siedlung Molalla Springs, in der missionierte Indianer leben, soll das nur zu bald erfahren. Bei den hasserfüllten Menschen des Trecks befindet sich Irene Sommer, die gute Miene zum hässlichen Spiel machen muss, weil man ihr sonst den kleinen Jamie wegzunehmen droht. Da sie Jacob Adler für tot hält, hat sie nicht die geringste Hoffnung. Das ändert sich, als zwei alte Freunde in Molalla Springs erscheinen. Aber die Hoffnung ist verfrüht, denn die wahnsinnigen Indianerhasser vom Treck der Verdammten haben ihr blutiges Werk bereits begonnen. Jörg Kastners große »Amerika«-Saga begleitet die beiden Auswanderer Jacob Adler und Irene Sommer in die Neue Welt. Mit ihnen suchen zahllose Menschen – Verarmte, Verbitterte, Verfemte – eine neue Heimat jenseits des Atlantiks. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten warten auf die Auswanderer viele unbekannte Gefahren: Naturkatastrophen, wilde Tiere, Banditen und Indianer. Zudem tobt in Amerika ein erbarmungslos geführter Bürgerkrieg. Doch trotz aller Bedrohungen durchqueren Jacob und Irene den riesigen Kontinent und begegnen dabei so manch berühmter Persönlichkeit. Jede Mühsal und jedes Abenteuer nehmen die beiden auf sich für ihre neue Heimat – Amerika.

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Jörg Kastner

Der Speer der Vergeltung

Folge 15 der großen SagaAmerika – Abenteuer in der Neuen Welt

Roman

Was davor geschah

Als der junge Zimmermann Jacob Adler nach dreijähriger Wanderschaft in seinen Heimatort Elbstedt zurückkehrt, ist dort nichts mehr wie vorher. Seine Mutter ist tot, der Vater und die Geschwister sind angeblich nach Amerika ausgewandert, und seine Verlobte ist mit dem Bierbrauersohn Bertram Arning verheiratet. Von Arning fälschlicherweise des Mordversuchs beschuldigt, verlässt Jacob seine Heimat und schifft sich nach Amerika ein, um nach seiner Familie zu suchen. Aber auch in der Neuen Welt lauern Gefahren auf Jacob und seine Reisebekanntschaft Irene Sommer, die dort den Vater ihres kleinen Sohns Jamie zu finden hofft. Jacob, der Irene insgeheim liebt, begleitet sie. Dabei stoßen sie auf einen Wagenzug mit Menschen, die ein schreckliches Geheimnis hüten. Dieser Treck der Verdammten hat es sich zur Aufgabe gemacht, jeden Indianer, auf den er trifft, zu ermorden.

Kapitel 1Frazer Braddens Wahn

Oregon, in den Cascade Mountains, im Februar 1864.

Die schlanke blonde Frau schloss mit ihrem Leben ab, als die lange Klinge des Bowiemessers dicht vor ihren Augen aufblitzte.

Ihr schönes Gesicht war vor Angst verzerrt. Die Angst vor dem Tod und noch mehr die Angst darum, was mit ihrem kleinen Sohn geschehen würde.

In ihren ausdrucksstarken grünblauen Augen stand unendliche Trauer geschrieben. Die Trauer darüber, nicht mehr erleben zu dürfen, wie der noch nicht mal ein Jahr alte Jamie heranwuchs.

Falls er heranwachsen durfte!

Vielleicht ließ der Mann, der mit festem, schmerzhaftem Griff Irenes Haar gepackt hielt, um ihr den Skalp zu nehmen und sie dann zu töten, seinen wahnsinnigen Hass auch an dem kleinen Kind aus, das ohne seine Mutter völlig schutzlos sein würde. Dieser Gedanke war für die junge deutsche Auswanderin Irene Sommer der schrecklichste von allen.

Frazer Bradden war ohne Zweifel wahnsinnig. Die Trauer um den Verlust seiner Frau und seiner Kinder hatte ihn um den Verstand gebracht.

*

Frazer Braddens Familie war über Weihnachten an einem Fieber gestorben wie die meisten Siedler des Städtchens Greenbush am Osthang der Cascade Mountains.

Dieses mächtige Gebirge zog sich in Nord-Süd-Richtung durch den ganzen Staat Oregon, als hätte der Schöpfer das Land dadurch vom Meer trennen wollen. Eine natürliche Grenze für die Menschen, die das Land besiedelten und immer weiter nach Westen vordrangen.

Aber längst hatten die Menschen die Cascade Range überwunden, und längst gab es Siedlungen und Städte an der Westküste Oregons, die gleichzeitig die Westküste der Vereinigten Staaten von Amerika war.

Eine der Küstenstädte war das Ziel gewesen, das Irene zusammen mit Jacob Adler, ihrem Freund und Beschützer, ansteuerte, als sie bei der ersten Schneeschmelze mit ihrem Planwagen in die zerklüftete Welt der Berge eintauchten.

Der Frühling erwachte im Gelobten Land, wie Oregon von den Siedlern, die sich hier eine neue Existenz aufbauen wollten, verheißungsvoll und ehrfürchtig genannt wurde. Und mit ihm erstarkte in Irene und Jacob der Wunsch, weiterzureisen.

Irene wollte nach Kalifornien zu Carl Dilger, Jamies Vater. Und Jacob wollte danach weiter nach Texas, wo er seinen Vater und seine Geschwister zu finden hoffte. Deshalb hatten sie ihre Freunde in der jungen Siedlung Abners Hope verlassen, wenn auch schweren Herzens.

Aber alles war ganz anders gekommen. Plötzlich schien Oregon die Endstation ihrer langen Reise zu werden. Gestern waren sie den letzten Überlebenden von Greenbush begegnet – dem Treck der Verdammten.

Jacob und Irene hatte ihnen beim Kampf gegen angreifende Krieger vom Stamm der Nez Percé beigestanden, ohne zu ahnen, dass die Indianer einen guten Grund für ihren Hass auf die Weißen hatten. Denn während die Krieger auf der Jagd waren, hatten die Weißen das Indianerlager überfallen und alle getötet: Alte, Frauen und Kinder. Ihre Skalps lagen in den Planwagen, und die Skalps der gestern getöteten Krieger hingen zum Trocknen am Kasten von Fred Myers’ Conestoga.

Der Grund für den Überfall auf das Nez-Percé-Dorf war wahnwitzig. Die Leute aus Greenbush schoben den Indianern die Schuld an dem großen Sterben zu, das über die Stadt der Weißen gekommen war. Nur weil auch die Nez Percé vom Fieber heimgesucht wurden und Hilfe von dem Missionar und Arzt Simon Mercer erhielten. Der Bote der Nez Percé war kurz vor dem Boten aus Greenbush in der Missionsstation Molalla Springs eingetroffen. Also ritt Mercer erst zu den Nez Percé und wollte von da aus weiter nach Greenbush. Doch ein für diesen Landstrich ungewohnt heftiger Schneefall hatte das verhindert. Mercer kam nicht nach Greenbush durch, und die meisten Siedler starben.

Als die beiden deutschen Auswanderer von den Leuten aus Greenbush die Wahrheit erfuhren, waren sie natürlich schockiert gewesen. Jacob machte den zu Mördern gewordenen Siedlern Vorwürfe. Es kam zu einem Kampf zwischen dem jungen Zimmermann und dem Treck-Captain John Bradden.

Jacob besiegte Bradden, woraufhin dessen Bruder Frazer auf den Deutschen schoss. Jacob stürzte bei dem Versuch, der Kugel auszuweichen, in einen steilen Canyon. Dort hatten sie ihn zurückgelassen, reglos, vielleicht leblos.

Die verbohrten Indianerhasser zwangen Irene, sie zu begleiten. Irenes Flehen, Jacob zu helfen, war von den Männern und Frauen ignoriert worden. Sie wollten keine Zeit verschwenden, weil sie die Rache der Nez-Percé-Krieger fürchteten. Und wahrscheinlich wollten sie dem ›Indianerfreund‹, wie sie Jacob verächtlich nannten, auch gar nicht helfen. Zu groß war ihr Hass auf die Indianer.

Der Hass, der in Frazer Braddens Gesicht geschrieben stand, war Ausdruck des Wahns, der die Leute aus Greenbush befallen hatte wie eine Nachwirkung des schlimmen Fiebers. Der unrasierte Mann, der mit gezücktem Bowiemesser auf Irene hockte, um ihr den Skalp zu nehmen, schien besonders stark von dem Wahn befallen zu sein. Vielleicht war das der Grund, dass er nach dem Kampf zwischen Jacob und John Bradden auf den Deutschen geschossen hatte. Vielleicht konnte er nicht verwinden, dass sein Bruder von einem Indianerfreund zu Boden gestreckt worden war.

Als der Treck sein Nachtlager, einen kleinen Pinyonwald in einem lang gestreckten Tal, erreichte, hielt Frazer Bradden Irene an, Äste und Zweige zu sammeln, um die Planwagen vor den Blicken möglicher Verfolger zu verstecken. Aber Bradden ging Irene heimlich nach und fiel über sie her.

*

Braddens unrasiertes Gesicht war dicht über dem von Irene. Sein heftiger, stoßweiser Atem roch faulig, war ekelerregend. Gier war in das von Hass verzerrte Gesicht geschrieben – die Gier nach Blut. Er wollte Irenes Tod offenbar genauso in sich aufsaugen, wie er es jetzt mit ihrer Angst und ihrer Verzweiflung tat. Das schien der Grund zu sein, weshalb er den Schnitt in ihre Kopfhaut so lange hinauszögerte. Je länger die Frau litt, desto mehr befriedigte es den Mann.

Es war schon recht dunkel in dem Pinyonhain. Die Sonne sank, und die Bäume hielten den größten Teil des schwächer werdenden Lichts zurück. Trotzdem bemerkte Irene den großen Schatten, der plötzlich über ihr Gesicht fiel. Der Schatten eines massigen Mannes, der aus dem Unterholz stürzte. Es war der vollbärtige Ebenezer Owen, um dessen vom Wundfieber befallene Frau sich Irene gekümmert hatte.

Kräftige Fäuste krachten gegen Braddens Kopf und schleuderten ihn zurück, weg von Irene.

Sie atmete erleichtert auf, als die scharfe Klinge nicht mehr vor ihren Augen schwebte.

»Bist du verrückt geworden, Frazer?«, brüllte Owen.

Breitbeinig und mit geballten Fäusten stand er zwischen Irene und dem Mann, der fast ihren Skalp genommen hätte.

Bradden lag am Boden, aber seine Rechte umklammerte weiterhin den Bügelgriff des großen Messers, das an einen Säbel erinnerte.

»Wieso?«, keuchte er. »Was mischst du dich ein, Ebenezer? Das hier geht dich nichts an!«

»Es geht mich nichts an, wenn du eine Frau ermordest?« Owens Stimme überschlug sich fast vor Fassungslosigkeit.

»Sie ist doch nur die Hure eines Indianerfreunds, kaum besser als eine Nez-Percé-Squaw!«

Bradden spuckte verächtlich aus. Sein Speichel war mit Blut gemischt. Owens Fäuste hatten anscheinend gut getroffen.

Owen schüttelte traurig den Kopf und erwiderte: »Wir haben vielleicht einen Fehler gemacht, als wir die Nez Percé überfielen. Je länger ich darüber nachdenke, desto unsinniger erscheint mir, was wir getan haben.«

»Wie kannst du das sagen, Ebenezer? Auch deine Kinder sind am Fieber gestorben!«

»Yeah.« Offenbar war Owen sich seines Standpunkts nicht mehr ganz so sicher. Überlegend schwankte sein Kopf hin und her. »Aber was können die Nez Percé dafür? Sie haben uns das Fieber nicht gebracht.«

»Wer weiß«, brummte Bradden vieldeutig.

Owen zog die buschigen Brauen hoch. »Was meinst du damit, Frazer?«

»Erinnerst du dich, dass die Stacton-Brüder kurz vor Weihnachten im Lager der Nez Percé waren, um Getreide gegen Felle einzutauschen?«

»Ja«, antwortete der vollbärtige Mann gedehnt, während er in seiner Erinnerung kramte. »Und?«

»Kurz nachdem Avery und Everett Stacton zurückkehrten, brach das Fieber bei uns aus. Die Stactons gehörten zu den Ersten, die es erwischt hat. Beide sind gestorben, mitsamt ihren Familien. Gibt dir das nicht zu denken, Ebenezer?«

Owens Rechte kraulte seinen struppigen Bart. Ein Zeichen, dass er angestrengt überlegte. »Willst du damit sagen, die Stactons haben sich das Fieber bei den Nez Percé geholt und es in Greenbush eingeschleppt?«

Bradden nickte. »Ist doch auffällig, dass das Fieber fast zur gleichen Zeit bei den Rothäuten ausbrach.« Er legte den Kopf schief und sah Owen abwartend, fast lauernd an. »Fällt dir eine andere Erklärung ein, Ebenezer?«

»Nein«, antwortete Owen langsam.

»Aber mir!«, schrie Irene, die sich auf die Knie erhoben hatte. »Vielleicht haben die Stactons das Fieber zu den Nez Percé gebracht.«

Die beiden Männer sahen sie an. In Owens Augen las Irene Übereinstimmung.

Aber Bradden rief heiser: »Das ist doch Blödsinn! Niemand in Greenbush war krank, bevor Avery und Everett von den Roten zurückkehrten.«

»Wissen Sie denn, ob es bei den Nez Percé Kranke gab, bevor die Männer aus Ihrer Stadt zu ihnen kamen?«, fragte Irene.

»Davon wissen wir nichts«, gab Owen zu.

»Müssen wir auch nicht!«, fauchte Bradden. »In Greenbush waren alle gesund, bis Avery und Everett die Felle der Rothäute anschleppten. Das zu wissen reicht doch!«

Der wankelmütige Owen fuhr erneut durch seinen dichten Bart und nickte dann zustimmend. Er war schwer damit beschäftigt, die unterschiedlichen Argumente zu verdauen. Jedes neue Vorbringen schien ihm einleuchtend und machte es ihm ein Stück schwerer, sich zu entscheiden.

»Sieht ganz so aus, als hättest du recht, Frazer«, verkündete er schließlich. In seiner Stimme schwang die Erleichterung mit, zu einer Entscheidung gekommen zu sein. »Es muss so sein, wie du sagst. Das Fieber kommt von den verfluchten Rothäuten!«

Bradden stand auf und lächelte. »Endlich wirst du vernünftig, Ebenezer. Lass dir bloß nicht von dieser Dutch-Hure den Kopf verdrehen. Am besten machen wir mit ihr Schluss. Vielleicht hat sie es nicht nur mit diesem Adler getrieben, sondern auch mit den Rothäuten!«

»Wie kommst du darauf?«, erkundigte sich Owen zweifelnd, während sein Blick unsicher zwischen Irene und Bradden hin und her pendelte.

»Hast du dir noch nicht überlegt, warum es deiner Frau so schlecht geht?«, fragte Bradden. In seiner Stimme und in seinem Blick lag etwas Verschlagenes.

»Carol hat das Wundfieber. Es kommt von dieser verfluchten Pfeilwunde.«

»Aber es geht ihr erst so schlecht, seit sie Kontakt zu der Dutch-Hure hatte.« Bradden hob das Messer und stieß die Spitze in Irenes Richtung. »Vielleicht hat sich Carol bei ihr das Fieber geholt!«

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht«, sagte Owen, überrascht und verwirrt.

»Besser, wir machen Schluss mit der Hure!«, knurrte Bradden. »Bevor sie uns allen den Tod bringt.«

Er kam mit erhobenem Messer auf Irene zu, und Owen ließ ihn passieren.

*

Zwölf Meilen östlich, etwa zur selben Zeit.

Als der Pfeil von der Sehne sirrte, schloss Jacob Adler mit seinem Leben ab. Er sah sich bereits, von der dreieckigen Eisenblechspitze durchbohrt, in den dreihundert Fuß tiefen Canyon stürzen. Alles war vergebens gewesen, sein ganzer mühevoller Aufstieg von der Felsplatte auf halber Höhe des Steilhangs bis hierher.

Fast hatte er es geschafft. Er schob die zerschundenen Hände schon über den Canyonrand, als er plötzlich in das dunkle Gesicht des Nez-Percé-Kriegers starrte – und auf die Spitze des Pfeils, der auf seinen Kopf gerichtet war.

Deshalb also hatte sich Jacob schon eine ganze Weile unwohl gefühlt, beobachtet. Der Indianer hatte hier auf ihn gelauert und abgewartet, ob der Weiße von allein abstürzte oder ob er nachhelfen musste.

Das Schlimmste für den jungen Deutschen war, dass er Irene und Jamie jetzt nicht mehr beistehen konnte.

Der erwartete Schmerz blieb aus. Der Pfeil flog dicht an Jacobs Ohr vorbei und verschwand in der Dunkelheit der zerklüfteten Schlucht, deren Sohle vom rötlichen Licht der erlöschenden Sonne schon nicht mehr erreicht wurde.

*

Als Riding Bear spürte, wie ihn die Kräfte verließen, überschlugen sich die Bilder in seinem Kopf.

Er sah die goldhaarige weiße Frau, die er angegriffen hatte und die auf ihn schoss. Ihre Kugel saß in seiner Brust und raubte ihm jetzt die Kraft.

Aber als sie ein zweites Mal abdrückte, tötete sie den Kaminu nicht, sondern machte nur sein Pferd scheu, um ihn zu vertreiben. Sie hatte sein Leben geschont – mit Absicht.

Er sah den sandhaarigen Weißen, der vor ihm am Steilhang kauerte. Wie er am Morgen gegen einen anderen Weißen kämpfte und ihn zu Boden schlug. Wie dann ein weiterer Weißer auf den Sieger schoss und dieser, der Begleiter oder Mann der goldhaarigen Squaw, in die Schlucht stürzte.

Wenn Sandhaar, wie Riding Bear ihn getauft hatte, ein Feind der anderen Weißen war, war er dann ein Freund der Kaminu? War er es wert, dass man sein Leben schonte?

Riding Bear wusste darauf keine sichere Antwort. Und doch musste er eine finden, denn die Kraft seiner Arme versagte, und der Pfeil glitt von der Sehne. Im letzten Augenblick verriss der Krieger absichtlich den Bogen, und der Schuss ging fehl.

Er sah, wie der Pfeil in den dunklen Canyon schoss. Diese Dunkelheit! Sie sprang förmlich auf Riding Bear zu, hüllte ihn ein und riss ihn in einen unfreiwilligen Schlaf.

*

Kaum hatte sich Jacob von der freudigen Überraschung erholt, dass der Pfeil ihn verfehlt hatte, da sah er auch schon, wie der Indianer zusammensank. Ungläubig starrte er auf den Nez Percé. Die Rechte des Kriegers umklammerte noch den Bogen, aber der große Mann in dem fransenbesetzten gelben Lederhemd rührte sich nicht mehr.

Jacob überwand die Überraschung, griff nach einem nahen Grasbüschel und zog sich nach oben. Als er mit dem Oberkörper auf festem Boden lag, durchströmte ihn ein Glücksgefühl. Er genoss es für ein paar Sekunden und zog dann die Beine nach.

Der Freudentaumel verschwand schnell. Die Nähe des Indianers machte Jacob bewusst, dass er sich nicht außerhalb jeder Gefahr befand.

Wo ein Nez Percé war, konnten noch mehr stecken. Der Treck aus Greenbush war gestern von einer ganzen Kriegerhorde angegriffen worden.

Aufmerksam sah er sich auf dem von einer natürlichen Felsbarriere umgebenen Plateau um, auf dem der Wagentreck übernachtet hatte. Außer dem zusammengebrochenen Nez Percé sah er weit und breit keinen Menschen.

Natürlich wäre es sinnvoll gewesen, auch die nähere Umgebung abzusuchen. Aber erst musste er sich um den Krieger kümmern.

Jacob kniete sich neben ihn und drehte ihn vorsichtig auf den Rücken.

Der große dunkle Fleck, der das gelbe Lederhemd über der Brust bedeckte, zeigte Jacob den Grund für den Zusammenbruch. Er schob das Hemd so weit hoch, bis er den Verband sah, der heilende Kräuter auf die Wunde drückte.

Natürlich kannte der Deutsche die wenigsten der Kräuter, und von noch wenigeren kannte er die Wirkung. Aber es mussten Heilkräuter sein, das war die einzige Erklärung.

Sie schienen zu helfen – brachten die Blutung zum Stillstand und verhinderten den gefürchteten Wundbrand. Aber sie konnten nicht die Kugel aus der Brust des Nez Percé holen.

Jacob hielt sein Ohr gegen die linke Seite des Kriegers, dort, wo das Herz saß. Es schlug, gleichmäßig, aber sehr schwach. Genauso schwach war der Pulsschlag, den Jacob erfühlte.

Kein Zweifel, das Blei in seiner Brust presste das Leben aus dem Nez Percé. Der Zusammenbruch des Kriegers war der Anfang vom Ende. Er würde innerhalb weniger Stunden sterben, wenn ihm niemand half. Aber wer konnte ihm helfen?

Molalla Springs, wo der Missionar und Arzt Simon Mercer wohnte, lag viele Meilen im Westen, drei oder vier Tagesreisen.

Und die eigenen Leute des verwundeten Kriegers? Jacob wusste nichts über sie. Er wusste nicht einmal, ob es nach dem Massaker im Dorf der Nez Percé und nach der gestrigen Schlacht noch Leute gab, zu denen der Bewusstlose gehörte.

Es gab nur einen Menschen, der dem Indianer helfen konnte: Jacob.

Traurig blickte der junge Deutsche nach Westen, wo die Sonne gerade hinter eine scharf gezackte Felsenreihe wegtauchte.

Er spürte, dass Irene seine Hilfe brauchte. Doch Irene war weit weg. Und dieser Indianer vor ihm würde sterben, wenn Jacob nichts für ihn tat. Es war eine schwierige Entscheidung, vielleicht die schwierigste seines Lebens.

*

»Nein, lass das!«, schrie Ebenezer Owen, packte Frazer Bradden am Kragen und riss ihn zurück.

Der Mann mit dem Bowiemesser stolperte, geriet ins Taumeln und musste mit den Armen heftig in der Luft herumrudern, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Rasch stand Irene, die noch am Boden kniete, auf. Ihre Glieder zitterten, ihre Beine waren wie Pudding. Sie hielt sich an einem Baumstamm fest und hoffte, dass Owen sie vor dem Schicksal bewahrte, das der wahnsinnige Bradden ihr zugedacht hatte.

»Was ist denn?«, fauchte Bradden den anderen Mann ungehalten an. »Warum lässt du mich die Schlampe nicht erledigen?«

»Weil das Mord wäre!«, erwiderte der vollbärtige Owen entschlossen. »Du kannst doch nicht einen Menschen deshalb umbringen, weil er zu den Rothäuten eine andere Einstellung hat als wir!«