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Michael Köhlmeier erzählt in seiner Novelle, die in den fünfziger Jahren spielt und auf wahren Begebenheiten beruht, die Geschichte des Emilio Zanetti. Scheinbar ohne Grund beginnt dieser eine Schlägerei und wird daraufhin verhaftet. Bei der Überstellung gelingt ihm die Flucht: Als es kein Vor und Zurück mehr gibt, klettert er auf einen Hochleitungsmast. Während sich eine schaulustige Menge versammelt, steigt der zehnjährige Ich-Erzähler zu Emilio hinauf und versucht zu vermitteln. Die Situation spitzt sich zu: Wird Zanetti springen, oder wird er sich ergeben ...
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Seitenzahl: 94
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Deuticke E-Book
Michael Köhlmeier
Der Tag, an dem
Emilio Zanetti
berühmt war
Deuticke
© 2002/2016 Franz Deuticke Verlagsgesellschaft m. b. H.
Wien–Frankfurt/Main
Alle Rechte vorbehalten.
www.deuticke.at
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Sowie Speicherung auf Ton- oder Datenträger, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags.
Gestaltung: typic®/wolf
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Umschlagfoto: Privatarchiv
ISBN 978-3-552-06316-7
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Daß des alls erscht moan wär
Daß hüt min Weag döt anegot
Wo im Summr im Riad
Da goldene
Da goldene
Da goldene Türgga stobt
1
Am Abend davor hatte er Herrn Vinzenz Manal niedergeschlagen. Vor dessen Haus. Hatte ihn am Genick und an der Schläfe und wahrscheinlich auch an einem Auge verletzt und ihm überall schwere Blutergüsse beigebracht. Niemand wußte, warum er das getan hatte. Man fand hundert Antworten. Nichts Sicheres blieb am Ende.
Herr Vinzenz Manal war Steuerberater oder etwas ähnliches. Vielleicht war er auch Vertreter, man kannte ihn nicht gut. Ein massiger Mann. Wohnte mit seiner Frau an der Hauptstraße im oberen Stock des Hauses, in dem Dr. Beer seine Praxis hatte. Was dann ein Glück war. Seit einem Jahr lebten die Manals in Hohenems. So interessant waren sie nicht, daß sich einer erkundigt hätte, woher sie gekommen waren und warum. Arrogante Leute, die nirgends dabei sein wollten. Er grüßte einen nicht. Jedenfalls mich nicht. Ein wuchtiger, rosig bleicher Mann. Sie kannte ich nur vom halben Sehen. Damit meine ich, ich wußte, wer sie war, aber ich wußte es nicht genug, um mir ihr Gesicht zu merken. Es war niedlich, alles ziemlich dicht beieinander und viel Kopf, das heißt, viel Haar, mehr über sie konnte ich aus dem Gedächtnis nicht zusammenbringen. Er sei saridonsüchtig. Mein Vater sagte das. Ich fragte meine Mutter zum Fenster hinaus, was das heiße. Sie gab eine ihrer lässigen Antworten: Der Mann leide unter Kopfschmerzen, so könne man es auch ausdrücken. Die Leute waren ihr egal. Die meisten Leute waren ihr egal, schienen ihr unbedeutend. Sie meinte, es sich leisten zu können, sie außer acht zu lassen.
Emilio hatte vor dem Haus gewartet. Die Sonne ging gerade unter, und ein Wind kam vom Westen auf. Den Kopf im Licht, so spazierte er entlang der Buchenhecke, streckte seinen Adamsapfel vor, der mehr Kante hatte als sein Kinn. Um diese Zeit kam nichts Gescheites mehr im Radio. Aus den Fenstern roch es nach Aufgewärmtem. Die Hauptstraße war gerade wie ein Lineal bis ans Ende von Hohenems. Man sah jeden schon von weitem. Links die Berge im Laub, rechts der Abendhimmel bis über die Schweiz. Kein Lachen, keine Motoren. Eine Stunde lang wartete Emilio. Sicher war er gesehen worden. Aber warum hätte sich einer darüber den Kopf zerbrechen sollen? Emilio Zanetti hatte überall seine Kundschaft. Es war Mittwoch und Friede, kein Radau wie am Samstag.
Vinzenz Manal besaß ein Auto. Ob es wirklich seines war oder ein Firmenwagen, und wenn, von was für einer Firma, man wußte es nicht. Er fuhr an den Randstein, stieg aus. Da stand Emilio vor ihm, Gürtelschnalle vorgeschoben, Hände in den Jackentaschen. Versperrte ihm den Weg. Er war sogar größer als Herr Manal, aber dünn, und darum sah er neben ihm klein aus, auf jeden Fall geringer. Emilio trug Anzug und Krawatte und ein weißes Hemd. An diesem gewöhnlichen Werktag.
Herr Manal fragte Emilio, ob er etwas von ihm wolle. Und fragte, was er von ihm wolle. Er stöhnte, wenn er sich ins Auto setzte, und stöhnte, wenn er ausstieg, und dann noch eine Weile lang, so viel Masse hatte er. Er sagte, falls Emilio nichts von ihm wolle, gäbe es wohl auch keinen Grund, warum er nicht einen Schritt zur Seite mache und ihn zu seiner Wohnung lasse. Glotzte ihn an. Sein Mund ein breiter, dunkler Spalt. Dann begann Emilio, auf ihn einzuschlagen.
Emilio hätte bis ans Ende seiner Kräfte auf Herrn Manal eingeschlagen, wenn nicht die Nachbarn dazwischengegangen wären. Leider gingen sie erst dazwischen, als der Mann schon auf der Straße lag. Was wegen der Größe und der Fülle des Körpers, und wie er dalag, und auch wegen des feinen Anzugs im Staub ein furchtbarer Anblick gewesen sei. Hemd und Jacke waren ihm über die weiße, fette Seite gerutscht, und er bewegte sich nicht.
Er hatte nicht geschrieen. Stumm empfing er Emilios Fäuste in seinem Gesicht und an seinem Hals und den anderen Stellen und am Schluß Emilios Fußtritte in die Rippen und in die Nieren. Er hat nicht geschrieen und hat sich nicht gewehrt. Darüber war später viel spekuliert worden. Und weil ich an diesem Tag eine gewisse Rolle gespielt hatte, erkundigte man sich auch nach meiner Meinung. Wie ich Emilio einschätzte, und ich konnte ihn einschätzen, hatte er so rasend und trotzdem so gezielt zugeschlagen, daß sich während der Schlagzeit – diesen Begriff habe ich mir erfunden – im Kopf von Herrn Manal kein fertiger Gedanke bilden konnte. Normalerweise hört man nicht auf zu denken, wenn man geschlagen wird. Nur wenn man gar nicht damit gerechnet hat und wenn der Schmerz zu groß ist und die Schläge zu schnell aufeinanderfolgen, kann es passieren, daß der Geist langsamer ist als die Tatsache. Das war meine Meinung. Herr Manal hat wahrscheinlich nicht richtig mitgekriegt, daß er geschlagen wurde. Ich versuchte, mich zu erinnern, wann und wie ich in meinem Leben geschrieen hatte. Ich hatte vor Schmerz, aus Wut, im Schrecken geschrieen, aber immer war ich mir bewußt gewesen, daß dies eine Situation war, in der es dem Menschen zusteht zu schreien, also habe ich geschrieen. So viel Geistesgegenwart war mir in jedem Fall geblieben. Sie hatte Herrn Vinzenz Manal gefehlt. Deshalb hat er sich weder gewehrt, noch hat er geschrieen. So sah ich das.
Und deshalb hat es leider auch so lange gedauert, bis die Nachbarn mitbekommen haben, was auf der Straße los war. Da liefen sie endlich zusammen und packten Emilio an den Armen und an den Beinen und rangen ihn nieder, bis am Ende auch er mit den Lippen den Gehsteig berührte. So hielten sie ihn unten und riefen Dr. Beer, der gerade hinter dem Haus im Garten war, und riefen die Gendarmerie.
Warum Emilio einen Anzug getragen hatte? Auch das wurde besprochen. Ich sagte es nicht, aber ich nahm an, es war etwas Feierliches für Emilio gewesen, diesem Mann etwas anzutun. Deshalb Anzug und Krawatte.
Man sperrte Emilio in den Kotter. Das war ein Raum im Keller des Altersheimes, unten an der Kaiserin-Elisabeth-Straße. Der Raum hatte nur ein kleines Fenster, das mit Gittern noch kleiner gemacht war. Ein Holztisch, ein Stuhl und eine Liege standen dort und eine Waschschüssel und ein Kübel für die Notdurft. Dorthin brachten ihn der Gendarm Kinz und einer seiner Gehilfen. Emilio soll zum Kinz gesagt haben, als der ihm die Arme hinten zusammendrückte: Ich weiß, daß du das nicht gern tust. Aber der Gendarm Kinz soll nicht geantwortet haben, nein, er tue das wirklich nicht gern. Er tat es einfach.
Geplant war, daß Emilio am nächsten Tag in Feldkirch beim Gericht einem Untersuchungsrichter vorgeführt würde.
Emilio Zanetti war sechsundzwanzig Jahre alt.
2
Am nächsten Morgen – es war der 9. September – sollte Emilio aus dem Kotter abgeholt werden. Der Gendarm Kinz war allein. Er war der Meinung, daß heute nichts zu befürchten sei. Auch er war ein Kunde von Emilio, ich selbst hatte ihm keine drei Wochen zuvor auf dem Handwagen einen Elektroherd nach Hause gebracht, der von Emilio und mir tipptopp überholt worden war, und er hatte mir ein Trinkgeld gegeben, das ich mit Emilio abgerechnet habe. Vor dem Altersheim auf der Straße stand der Dienstwagen vom Kinz, ein grauer VW mit dem Kennzeichen der Gendarmerie, nur einen davon gab es in Hohenems.
Der Kinz legte Emilio keine Handschellen an, das wäre ihm peinlich gewesen. Dafür mußte er sich später verantworten. Als sie nämlich aus dem Altersheim traten, der Kinz nicht einmal am Arm vom Emilio, sondern wie zwei vernünftige Männer, die im Prinzip das Gleiche wollten, da sah Emilio an der Mauer des Altersheims, gleich neben dem Dienstwagen, ein Fahrrad lehnen, man wußte nicht, wem das Rad gehörte, ein Herrenrad, und er lief los, flankte über die kleine Mauer, sprang auf das Rad und war davon.
Das Altersheim lag zweihundert Meter oberhalb der Bahnlinie. Emilio fuhr direkt auf die Schienen zu, sprang ab, trug das Rad im Laufschritt zwischen den Kohlenhaufen vom Kohlenhändler Amann hindurch, stieg über die Geleise und ließ sich auf der anderen Seite durch die Brennesseln über den Damm hinunter auf die Straße rollen. Dann war er außer Sicht.
Der Gendarm Kinz mit seinem VW war im Nachteil. Er mußte einen Umweg nehmen, mußte erst ein Stück weiter südlich die Bahnschranke passieren, und weil er ja nicht wissen konnte, was Emilio vorhatte, fuhr er auf der anderen Seite am Damm entlang bis zu der Stelle, an der Emilio die Schienen übersetzt hatte, da war Emilio aber schon längst weiter. Nun fuhr der Gendarm Kinz auf gut Glück nach Westen in Richtung Schweizer Grenze, und er hatte richtig geraten. Auf der Nibelungenstraße sah er ihn wieder, wie er einen halben Kilometer vor ihm in die Pedale trat, Rücken krumm, Beine abgespreizt, die arbeiteten so schnell wie die Bügel einer Nähmaschine, das Fahrrad hatte eine niedrige Übersetzung – was sicher ein Grund dafür war, daß alles so wurde, wie es am Ende geworden ist.
Die Nibelungenstraße hinunter, über die Lustenauerstraße, erst Emilio, gleich der Kinz, nun schon näher beieinander, und dann waren sie im Ried. Auf dem Schotterweg mit der Grasnarbe in der Mitte konnte Emilio nicht so schnell fahren, sonst wäre er womöglich gestürzt. Das Fahrrad gehörte bestimmt einem kleinen Mann, der Sattel saß auf dem Rahmen, und Emilio stieß sich bei jedem Tritt die langen Beine an die Ellbogen, das war ein weiteres Handicap. Dem Kinz war egal, ob der Weg dem Auto schadete oder nicht. Erstens war nicht er der Besitzer, sondern die Republik, zweitens war der VW unter anderem genau für solche Jagden da. Er gab Gas, eine Staubfahne zog sich über das Ried. Emilio blickte immer wieder zurück, das nahm ihm obendrein Tempo, und der Staub kratzte in seinen Augen, es war nämlich ein Föhntag, und der Wind hatte mehr Geschwindigkeit als der Kinz, was bewirkte, daß der Staub den VW überholte. Seit den Unwettern im Juli hatte es nicht mehr geregnet.
Was Emilio wirklich vorgehabt hatte, wußte keiner. Ob er zum Beispiel über die Grenze hatte fahren wollen, in die Schweiz. Ein österreichischer Gendarm darf nicht so ohne weiteres mit einem Staatsauto in die Schweiz einreisen. Wahrscheinlich hatte er so gedacht. Ich habe vergessen, ihn zu fragen. Gleich, was es war, es ging sich nicht aus. Als er schon fast beim Alten Rhein war, nämlich dort, wo der große Bauernhof stand, der der Gemeinde gehörte, also uns allen, war ihm der Kinz so nah, daß er mit seiner Stoßstange das Schutzblech berührte, und da sprang Emilio vom Rad, mitten in der Fahrt, das Rad überschlug sich, der Kinz mußte scharf bremsen, und Emilio rannte in die Wiese hinein.