Der Umzug - Georges Simenon - E-Book

Der Umzug E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Jeden Morgen fährt Émile Jovis vom Pariser Neubauviertel, in das er gerade mit seiner Familie gezogen ist, in die Innenstadt. Er allein hat entschieden, dass sie künftig in dieser Vorortsiedlung wohnen, hat sich für die Eigentumswohnung verschuldet, um seine Familie glücklich zu machen. Jetzt liegt er nachts wach neben seiner schlafenden Frau. Er liegt wach, weil die Wände dünn sind. Er liegt wach, weil er Nacht für Nacht seine neuen Nachbarn belauscht, zwei Menschen, die sich exzessiv lieben. Émile schnappt den Namen eines Nachtclubs auf und wird wie magisch dorthin gezogen. Und der Mann, der noch nie einen Strafzettel bekommen hat und dessen geordnetes Dasein ausgerechnet mit dem Umzug in die solide Neubausiedlung ins Wanken gerät, trinkt Champagner und folgt einer Stripteasetänzerin in ein Separee …

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Seitenzahl: 196

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Band 109

Georges Simenon

Der Umzug

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Mirjam Madlung

Kampa

Anstelle eines Vorwortes

Manche Kritiker, wenn auch nicht viele, und einige ausländische Verleger, die an dicke, umfangreiche Bücher gewöhnt sind, haben mir vorgeworfen, dass ich nur kurze Romane schreibe.

Das trifft auf den vorliegenden in besonderem Maße zu. Ich hätte ihn auswalzen können. Aber dann hätte ich das Gefühl gehabt, mich des Betrugs schuldig zu machen – meinen Lesern und mir selbst gegenüber.

 

Georges Simenon

Epalinges, 27. Juni 1967

1

Es war die zweite Nacht. Er war so lange, wie es ging, wach geblieben, hatte die Augen offen gehalten. Durch die Ritzen der metallenen Fensterläden sickerte ein wenig Licht von den beiden Laternen herein, die die Straße jenseits der Rasenfläche erhellten.

Blanche schlief. Sie konnte sofort einschlafen, kaum lag sie im Bett. Es schien manchmal, als baute sie sich eine Höhle wie ein Tier. Sie drehte sich ein paarmal hin und her, versank in der Matratze und vergrub den Kopf im Kissen.

»Gute Nacht, Émile …«

Er beugte sich über sie und küsste sie auf die Wange, wobei seine Lippen eine Haarsträhne streiften.

»Gute Nacht, Blanche …«

Manchmal flüsterte er fünf oder zehn Minuten später, wie in einer jähen Anwandlung von Zärtlichkeit und Gewissensbissen:

»Schlaf gut …«

Selten antwortete sie ihm darauf, und bald hörte er ihr charakteristisches Atmen. Am Anfang ihrer Ehe hatte er sie geneckt:

»Weißt du eigentlich, dass du schnarchst?«

Sie hatte so besorgt und verstört ausgesehen, dass er schnell hinzugefügt hatte:

»Es ist kein richtiges Schnarchen … Mehr ein Summen, wie eine Biene, die im Sonnenschein umherfliegt.«

»Stört es dich nicht?«

»Ganz und gar nicht. Im Gegenteil.«

Das war nicht gelogen. Meistens half ihm ihr gleichmäßiges Summen beim Einschlafen, und er ertappte sich dabei, dass er im gleichen Rhythmus atmete.

In dieser Nacht wollte er nicht einschlafen. Er wartete, den Kopf dicht an der Wand. Um elf Uhr hatte er gehört, wie die Frau auf der anderen Seite schlafen ging. Die Wand zwischen den beiden Wohnungen musste sehr dünn sein, oder es gab im Mauerwerk eine schadhafte Stelle, vielleicht war ein Ziegel gesprungen.

Blanche schlief gewiss, wie in der Nacht zuvor. Es sei denn, sie wartete wie er.

Von Zeit zu Zeit hörte er ein Auto vor einem der Häuser halten. Stimmen drangen zu ihm herauf; fast immer waren es Paare. Der Motor wurde abgestellt. Er malte sich aus, wie die Frau den Schlüssel in ihrer Handtasche suchte oder der Mann seinen in der Jackentasche. Kurz darauf würde eins der Fenster erleuchtet sein.

Er war unzufrieden. Er schämte sich. Ein paarmal schloss er die Augen, um sich dem Schlaf hinzugeben, aber im gleichen Moment verspürte er wie in der Nacht zuvor das unbändige Verlangen zu lauschen.

Wie spät war es gewesen, als der Mann nach Hause gekommen war? Er konnte es nicht sagen. Er hatte sich nicht getraut, Licht zu machen und auf den Wecker zu sehen. Geräusche, Stimmen, Gelächter und all das Übrige hatten ihn aus dem Schlaf schrecken lassen. Er hatte sich noch nicht an das Leben in diesem Haus gewöhnt, in dem sie zum ersten Mal schliefen, und dieses Leben war natürlich ganz anders als das in der Rue des Francs-Bourgeois.

Über eine Stunde lang hatte er das Ohr an die Wand gepresst, um besser hören zu können, und als es drüben still geworden war, war er nicht mehr derselbe.

Dass er, der sonst gerne schlief, sich jetzt zwang, wach zu bleiben, war der Beweis. Wiederholte es sich jede Nacht? Waren seine Nachbarn verheiratet? Oder kam der Mann nur hin und wieder zu Besuch?

Er hatte beide noch nie gesehen. Er wusste praktisch nichts über die Mieter im Haus, nicht einmal, wie viele es waren. In jedem der acht Stockwerke gab es mindestens zwei Wohnungen. Oder noch mehr, denn auf dem Schild wurden Fünf-, Vier- und Dreizimmerwohnungen angeboten, dazu kamen noch die Einzimmerappartements.

Es gab hier nicht nur ein solches Haus, sondern mindestens zwanzig identische, geometrisch angeordnet, hinter jedem die gleich große Rasenfläche und die gleichen Bäume, erst vor Kurzem angepflanzt.

Er bereute seine Entscheidung nicht. Im Übrigen hatten sie sie gemeinsam gefällt, Blanche und er. Seit ungefähr zwei Jahren las er in den Zeitungen die Anzeigen für moderne Wohnstädte, die rings um Paris immer zahlreicher aus dem Boden schossen.

»Hast du keine Angst, dass wir uns dort ein wenig verloren fühlen könnten?«

Blanche äußerte nie eine klare Meinung, allenfalls einen Einwand in Form einer Frage. Er war der Mann, der Gatte, das Familienoberhaupt.

Alain hingegen hatte rebelliert.

»Was soll ich denn in einer solchen Siedlung? Ganz abgesehen davon, dass ich dann auf eine andere Schule muss.«

»Dein Vater hat das zu entscheiden, Alain.«

»Mein Vater ist aber nicht dreizehn. Er geht nie aus, höchstens einmal im Monat mit dir ins Kino, er hat nicht mal Freunde. Aber ich habe welche!«

»Du wirst dort neue Freunde finden …«

»Weißt du denn, was für Leute in Clairevie wohnen? Was ist das überhaupt für ein Name … Den haben irgendwelche Werbeleute erfunden.«

Alain beschwerte sich auch wie jedes Jahr über ihre Urlaubspläne.

»Schon wieder nach Dieppe. Da regnet es jeden zweiten Tag, und meistens ist es zu kalt zum Baden. Warum fahren wir nicht stattdessen mal nach Spanien wie alle meine Freunde?«

»Weil dein Vater im Sommer keinen Urlaub bekommt und nur an den Wochenenden zu uns stoßen kann.«

»Wir beide könnten doch allein nach Spanien fahren.«

»Und ihn sonntags hier sich selbst überlassen?«

Es war erst Juni. Noch war nichts entschieden. Erst einmal gab es genug mit dem Umzug zu tun.

Émile Jovis kämpfte gegen den Schlaf. Er wollte weiter lauschen, aber seine Gedanken schweiften ab. Plötzlich störte ihn das Schnarchen seiner Frau, das allmählich sein eigenes Atmen beeinflusste. Er würde einschlafen, ohne sich sicher sein zu können, dass er wie in der Nacht zuvor aufwachen würde.

Blanche wachte nachts nicht auf. Sie brauchte keinen Wecker. Um zwei oder drei Minuten vor sechs schlug sie die Augen auf, stieg leise aus dem Bett und ging mit Morgenrock und Pantoffeln in der Hand in die Küche.

Selbst in der Rue des Francs-Bourgeois war es ihr gelungen, die Tür völlig geräuschlos zu schließen, obwohl sie verzogen war.

Es war lächerlich, auf etwas zu warten, was vielleicht nie eintrat. Er war nicht gerade stolz auf sich. Was würde er zu seiner Entschuldigung vorbringen, wenn man ihn dabei erwischte, wie er das Ohr an die Wand presste?

Vor Blanche hatte er keine Angst. Sie war seine Frau. In den fünfzehn Jahren ihrer Ehe hatte sie ihm nie Vorwürfe gemacht. Sie machte sich auch nie über ihn lustig, nicht mal andeutungsweise, wie es die meisten Frauen taten.

Und doch fürchtete er ihr Urteil, das kurze Blitzen in den Augen, ihren fragenden, durchdringenden Blick.

In der Nacht zuvor hatte er geschlafen und kein Auto gehört. Erst die Stimmen hatten ihn geweckt. Es war anzunehmen, dass der Mann mit dem Auto gekommen war. Am Morgen stand ein kirschrotes Sportcabrio an der Straße, das aus der Eintönigkeit der Umgebung herausstach.

Ihr Auto …

Aber dann verschwamm alles, und als er die Augen öffnete, war es nicht mehr das Licht der Laternen, das durch die Läden schien, sondern die Morgensonne. Er tastete im Bett neben sich. Blanche war schon aufgestanden, und er glaubte, Kaffeeduft zu riechen.

Er war verstimmt und unzufrieden. Sowohl weil er eingeschlafen war als auch, weil er versucht hatte, wach zu bleiben.

Dabei gab es Grund zur Freude. Die Wände waren weiß, kein grelles Weiß, eher ein elfenbeinfarbenes, ohne einen Fleck oder Riss. Es waren weder die düsteren Blümchentapeten aus der Rue des Francs-Bourgeois, die sich an manchen Stellen schon lösten, noch die aus dem kleinen Haus seines Vaters in Kremlin-Bicêtre.

Seit Jahren, sein ganzes Leben lang, hasste er Blümchentapeten. Sie waren der Inbegriff einer bestimmten Geisteshaltung und Mentalität.

Er erinnerte sich an einen Sommer, als er sieben oder acht Jahre alt gewesen war. Leute aus bescheidenen Verhältnissen reisten damals noch nicht ans Meer oder ins Ausland. Manche fuhren überhaupt nicht in den Urlaub, andere vielleicht in ein Dorf, wo sie Verwandte hatten und die meiste Zeit damit verbrachten, in den Tümpeln Frösche zu fangen. Überall roch es nach Mist, auch in den Zimmern, und schon am frühen Morgen wurde man vom Muhen der Kühe geweckt.

Noch immer fuhr er einmal in der Woche nach Kremlin-Bicêtre, um seinen Vater zu besuchen, der Witwer war und pensioniert, nachdem er vierzig Jahre lang als Lehrer gearbeitet hatte. Zwischen den Mietshäusern standen noch drei kleine Kalksteinhäuser, und man hörte das Ticktack der kupfernen Pendeluhr im Esszimmer, kaum hatte man das Haus betreten.

Jetzt waren die Wände um ihn herum hell. Keine Spur eines Lebens früherer Bewohner.

Hier waren sie die Ersten. Eins der Häuser im Osten der Wohnsiedlung war noch nicht fertig, und ein gigantischer Kran streckte seinen Arm schräg in den Himmel.

Außer der Kommode, dem Nachttisch, einem ovalen Tischchen und einem niedrigen Lehnsessel stand nur das Bett in dem Zimmer. Den riesigen Kleiderschrank aus Nussbaum, der in der Rue des Francs-Bourgeois so viel Platz eingenommen hatte, brauchten sie nicht mehr.

Er hatte nichts gesagt, als vorgestern das Bett längs an die Wand gerückt worden war. Er hatte die Kommode betrachtet, ein Hochzeitsgeschenk von Blanches Tante, den Nachttisch und den mit dunklem Plüsch bezogenen Sessel.

Sie hatten sich vor dem Umzug mit Bedauern von einigen Möbeln getrennt, die sie nicht mehr gebrauchen konnten oder für die kein Platz mehr war.

Jetzt betrachtete er verdrießlich die, die sie mitgenommen hatten. Er hatte noch nicht mit Blanche darüber gesprochen. Das würde er später tun, in einigen Wochen vielleicht. Sie war konservativer als er und sentimentaler, und er rechnete damit, dass sie sich von ihrem Bett zum Beispiel nur sehr ungern trennen würde.

Für sie war es das Symbol ihres gemeinsamen Lebens, ihrer Ehe, ihrer Liebe, Alains Geburt, ihrer Freuden und kleinen Leiden der letzten fünfzehn Jahre.

Er öffnete die Tür zum Badezimmer. Alain stand nackt in der Badewanne und duschte.

»Wie spät ist es?«, fragte der Junge.

»Halb sieben.«

»Ist das Frühstück fertig?«

»Ich war noch nicht in der Küche.«

»Hast du Maman schon gesehen?«

»Nein.«

»Es wäre gut, wenn wir heute zehn Minuten früher losfahren. Gestern bin ich fast zu spät zur Schule gekommen und konnte mich kaum noch hinten in die Reihe stellen.«

»Ein Lastwagen hat uns aufgehalten.«

»Lastwagen fahren jeden Tag.«

Warum stand in den Plänen Nasszelle statt Badezimmer? Dabei war es ein richtiges Badezimmer mit dunkelblauen Fliesen, die Wände hellblau gekachelt, und man brauchte nicht darauf zu warten, dass ein alter Gasbadeofen gnädigerweise funktionierte, wenn man baden wollte.

Das Badezimmer in der Rue des Francs-Bourgeois, das den Namen nicht verdiente, hatte ihm zu schaffen gemacht. Man hatte es eher schlecht als recht ausgebaut, die Fensterscheiben waren aus Milchglas und versperrten den Blick in den Hof, der kaum größer war als ein Luftschacht.

All das lag hinter ihnen, ebenso wie das ordinäre Getöse auf der Straße, das immer schon frühmorgens angefangen hatte.

»Für uns beginnt ein neues Leben«, hatte er gerufen, nachdem er den Vertrag für die neue Wohnung unterschrieben hatte.

Ein neues Leben! Beginnt jemals ein neues Leben?

Aber er war nicht enttäuscht. Es gab keinen Grund, sich zu beklagen oder zu denken, er hätte eine falsche Entscheidung getroffen.

»Wenn man wenigstens die Sonne länger als eine Viertelstunde am Tag sehen könnte …«, hatte er fast fünfzehn Jahre lang gejammert.

Hier sah er sie. Sobald er die Läden öffnete, flutete sie ins Schlafzimmer. Er machte das Fenster auf und sah gegenüber, mindestens dreißig Meter entfernt, ein weißes Haus, das genauso aussah wie ihres. Auch dort hatte jede Wohnung einen Betonbalkon, auf einigen trocknete Wäsche.

Die Rue des Francs-Bourgeois war dort, wo sie bis vor wenigen Tagen gewohnt hatten, kaum fünf Meter breit, und man musste auf die Straße ausweichen, wenn einem auf dem Gehsteig jemand entgegenkam.

Zwei Flugzeuge dröhnten am Himmel, wurden hin und wieder vom Morgennebel verschluckt. Bis zum Flughafen Orly waren es nur acht Kilometer.

»Sie wohnen nicht in Richtung der Start- und Landebahnen«, hatte der Vermieter ihnen versichert. »Sie werden nur ein schwaches Brummen hören und sich schnell daran gewöhnen. Alle Mieter hatten Bedenken, aber es gab keinerlei Beschwerden.«

Er hatte seinen blauen Morgenmantel angezogen und ging durch das, was in dem Plan als Wohnbereich bezeichnet war. Auch dieses Wort mochte er nicht. Nasszelle, Wohnbereich. Es war sowohl Ess- als auch Wohnzimmer, nur ein Mäuerchen, etwa einen Meter hoch, trennte die Bereiche.

Darauf hatten sie fürs Erste eine Fettpflanze in einem Kupfertopf gestellt, die schon in der Rue des Francs-Bourgeois im Esszimmer gestanden hatte.

»Guten Morgen, Blanche.«

Sie hielt ihm die Stirn hin, in der Hand eine Pfanne.

»Guten Morgen, Émile. Hast du gut geschlafen? Ich wollte dich gerade wecken, da habe ich dich mit Alain sprechen hören. Ist er fertig? Können wir frühstücken?«

Alain aß morgens zwei Spiegeleier, während sein Vater sich mit schwarzem Kaffee begnügte, manchmal aß er dazu ein Croissant. Blanche war bereits beim Bäcker gewesen und hatte mit ihm besprochen, was er liefern sollte, sodass schon um halb sieben frisches Brot und Croissants vor der Tür lagen.

»Es wird schön heute …«

»Aber heiß«, wandte er ein.

Und ohne es selbst zu glauben, fügte er hinzu:

»Am Nachmittag gibt es bestimmt ein Gewitter.«

Das stimmte vermutlich nicht, und er ärgerte sich über sich selbst, weil er diesen strahlenden Morgen geradezu böswillig trübte.

Clairevie! Was für ein idiotischer Name, er klang künstlich, wie Reklame, billige Bauernfängerei. Er stellte sich den Mann vor, der damit beauftragt worden war, einen Namen für die neue Siedlung zu finden, und sich lange den Kopf zerbrochen hatte.

Man hatte ihm bestimmt gesagt:

»Der Name muss heiter und sonnig klingen. Er soll Lebensfreude wecken …«

Es gab bereits ein Clairefontaine, wenn auch nirgends einen Brunnen. Sogar eine Siedlung Plein-Soleil existierte irgendwo. Er konnte sich nicht vorstellen, jemandem sagen zu müssen, er wohne in Plein-Soleil.

Und in Clairevie?

Die Küche war zwar nicht groß, aber sie war so perfekt geschnitten wie in den Ausstellungen.

»Hast du schon eine Metzgerei entdeckt?«

»Es kommt jeden Morgen ein Metzger aus Rungis. Man kann telefonisch bei ihm bestellen. Und in wenigen Monaten eröffnet im Supermarkt eine Fleisch- und Fischabteilung.«

Alain erschien fertig angezogen, das Haar noch feucht.

»Ist das Frühstück fertig?«

»Ich muss nur noch die Eier braten.«

Er setzte sich an den lackierten Tisch und legte sein Englischbuch vor sich hin. Émile ging mit der Tasse Kaffee, die seine Frau ihm eingegossen hatte, durch das Wohnzimmer ins Bad und blieb mehrmals stehen, um einen Schluck zu trinken.

Waren der Mann und die Frau auf der anderen Seite der Wand schon aufgestanden? Unwahrscheinlich. In der vorletzten Nacht hatten sie nicht vor drei Uhr morgens, wenn nicht noch später, geschlafen.

Er lächelte vor sich hin, machte sich über sich selbst lustig. Wenn sie erst in den frühen Morgenstunden schliefen und gegen Mittag aufstanden, war es dann nicht wahrscheinlich, dass er ihnen nie begegnete?

So würde er nie erfahren, wie die beiden aussahen. Er würde über ihr Liebesleben viel mehr wissen, als man sonst von seinen besten Freunden, seiner Familie, ja sogar von seiner Frau weiß, aber er könnte ihnen auf der Straße begegnen, ohne sie zu erkennen.

Die Badewanne war nass, ein Handtuch lag auf dem Boden. Er ärgerte sich über seinen Sohn und war froh, dass er nach den Ferien aufs Gymnasium in Villejuif gehen würde. Dann brauchte er ihn nicht mehr morgens vor acht nach Paris zu fahren. Alain würde den Bus nehmen, und Émile musste nicht eine Stunde lang die Zeit totschlagen, bis er ins Büro konnte.

Es war unmöglich, den Jungen während der Prüfungszeit die Schule wechseln zu lassen. Probleme dieser Art gab es viele. Einige hatten sie im Vorfeld bedacht, sie aber für harmlos und leicht lösbar gehalten. Warum machte er sich plötzlich Sorgen?

Es waren eigentlich keine wirklichen Sorgen. Es war auch keine Enttäuschung. Es erinnerte ihn nur an manche Sonntage seiner Kindheit. Seine Eltern machten große Pläne. Man würde zum Beispiel mittags am Seineufer essen, aus Kostengründen natürlich picknicken. Sie besaßen kein Auto. Man ging zu Fuß, durchquerte die Sandgruben.

»Pass auf die Wasserlöcher auf, Émile!«

Dabei hätte er so gern wie alle anderen in einem Ausflugslokal gebratenen Fisch gegessen.

Das Gras, auf dem sie sich niederließen, war staubig und roch unangenehm.

Warum gerieten sie fast immer in Streit? Manchmal schon bevor sie losfuhren, manchmal im Laufe des Nachmittags. Seine Mutter war nervös. Man hätte denken können, sie habe, wie Blanche, Angst vor ihrem Mann, dabei tat in Wirklichkeit er, was sie wollte.

Als sie mit dem Auto in Clairevie angekommen waren, hinter ihnen der Möbelwagen, war er in Hochstimmung gewesen.

»Das Leben beginnt jetzt, du wirst es sehen!«

»Warst du denn bisher nicht glücklich?«

»Doch natürlich, aber …«

Sie würden endlich etwas Eigenes haben, ganz neu und sauber, eine Wohnung, die noch nie bewohnt gewesen war und in der keiner die Wände und Fußböden mit seinen Enttäuschungen, seinen Sorgen, seinem Elend, seinen Krankheiten durchtränkt hatte.

»Sieh doch, wie schön es ist!«

Er hatte den Kopf gehoben und an einem Fenster unter ihrer Wohnung einen alten Mann mit Glatze und roten Augen gesehen, einen Greis, fast leblos, dem eine kurze Pfeife im Mund steckte.

 

Am schnellsten erreichte man die Autobahn über die noch unfertige Straße, die unter der Eisenbahn hindurchführte. Man durchquerte eine Wohnsiedlung, die sich noch im Bau befand und deren Straßen sich nur erraten ließen. Rechter Hand lag der Flughafen Orly.

Alain saß vorn neben seinem Vater im Peugeot 404 und betrachtete die Umgebung ohne Begeisterung.

»Worüber denkst du nach?«

»Darüber, dass ich mir neue Freunde suchen muss. Nach dem, was ich gesehen habe, wird das nicht einfach.«

»Bist du nicht froh, nicht mehr in der Rue des Francs-Bourgeois zu wohnen?«

»Warum sollte ich darüber froh sein?«

»Jetzt hast du ein großes Zimmer. Du kannst jeden Morgen baden oder duschen und musst nicht warten, bis der Boiler anspringt. Und im nächsten Jahr ist das Schwimmbad fertig.«

»Bei den vielen Mietern muss man wahrscheinlich jeden Kopfsprung vorher anmelden.«

»Zu deinem nächsten Geburtstag kaufe ich dir ein Moped. Dann musst du nicht mit dem Bus zur Schule fahren.«

»Ich möchte wissen, was das wohl für ein Gymnasium ist in Villejuif.«

Jovis fühlte sich schuldig. Auch bei seiner Frau hatte er keine Begeisterung erkennen können. Er war überzeugt gewesen, dass der Umzug für sie alle das Beste war und sie glücklich machen würde.

Vielleicht ging es Blanche und Alain ebenso wie ihm? Er bereute nichts. Dafür war es noch zu früh. Ihre Erfahrung war schließlich kaum achtundvierzig Stunden alt.

Was fehlte, jedenfalls ihm, waren erste Kontakte. Er hatte sich vorgestellt, dass sie ohne Umschweife ihr neues Leben beginnen würden, dass alles um sie herum sofort funktionierte und sie sich gemeinsam darüber freuen würden, eine staubige Vergangenheit hinter sich zu lassen.

»Was Maman wohl den ganzen Tag machen wird?«

Er musterte seinen Sohn von der Seite. Die Frage überraschte ihn.

»Wie meinst du das? Sie wird tun, was sie immer getan hat.«

»Glaubst du?«

Plötzlich glaubte er es selbst nicht mehr, trotzdem antwortete er:

»Was hat sie denn in Paris gemacht? Den Haushalt, eingekauft, gekocht …«

»Wir kommen mittags nicht mehr nach Hause. In Clairevie gibt es nur einen einzigen Laden. Drum herum ist nur ödes Bauland. Da hat man keine Lust, spazieren zu gehen.«

Er hatte sich immer um Alains Zustimmung bemüht, und es tat ihm weh, sie dieses Mal nicht zu finden.

»Gefällt dir die neue Wohnung nicht?«

»Ich habe nichts gegen das Haus.«

»Wenn dein Zimmer erst fertig eingerichtet ist …«

»Ich verbringe so wenig Zeit in meinem Zimmer!«

»Heute wird der Fernseher angeschlossen.«

»Ich weiß.«

»Und?«

»Nichts.«

Er murrte über das neue Leben, noch bevor er es ausprobiert hatte. Selbst wenn Émile sich getäuscht haben sollte … Es ließ sich nicht rückgängig machen, sie hatten die Wohnung gekauft, der Kaufpreis war in fünfzehn Jahresraten zu zahlen.

An der Porte d’Italie fuhren sie von der Autobahn, weiter Richtung Seine und dann über den Pont d’Austerlitz. Wenig später stieg Alain in der Nähe der Metrostation Saint-Paul aus, gegenüber dem Lycée Charlemagne. Es war fünf vor acht.

»Hast du dein Geld?«

Der Junge überprüfte, ob er es in der Tasche hatte. Es war für sein Mittagessen. So tauchten immer wieder Probleme wie dieses auf, das am Tag zuvor hatte gelöst werden müssen.

Émile konnte nicht mit Alain zusammen zu Mittag essen, denn er wusste nie im Voraus, wann er das Büro verlassen konnte. So musste jeder selbst zurechtkommen.

Als sie noch in der Rue des Francs-Bourgeois gewohnt hatten, war es einfacher gewesen, denn sie hatten es nur ein paar Hundert Meter weit an den gedeckten Tisch.

Den Tag zuvor hatte Blanche damit verbracht, Wäsche und Kleidungsstücke einzuräumen. Zwischen dem Bad und Alains Zimmer gab es eine Kammer mit Schränken an drei Seiten.

»Du glaubst nicht, wie praktisch das ist!«, hatte Émile gerufen, als sie vor drei Monaten die noch nicht fertige Wohnung besichtigt hatten.

Installateure und Maler waren noch am Werk gewesen. Man konnte sich die Größe der leeren Zimmer, in denen die Stimmen seltsam hallten, nur schwer vorstellen.

»Wie gefällt es dir?«

»Es ist sehr schön«, sagte Blanche fügsam.

Sie sah sich um, als wollte sie ihren Platz in dieser neuen Welt finden.

»Du wirst nur noch halb so viel zu putzen haben, weil sich alles spielend leicht sauber halten lässt. Außerdem sind überall Einbauschränke.«

»Ich muss mich hier erst zurechtfinden.«

Am Tag zuvor, als die Möbel gebracht worden waren, hatte sie die Tür eines Einbauschranks mit der Tür zum Wohnzimmer verwechselt. Es war nur eine Frage der Gewohnheit.

Die Wohnung in der Rue des Francs-Bourgeois hatte an ihnen gehaftet wie ein altes Kleidungsstück. Die Gerüche, die sich im Lauf der Jahre angesammelt hatten, und über allem eine Patina, die nicht von ihnen selbst stammte, sondern von Generationen unbekannter Vormieter.

Nichts hatte richtig funktioniert, weder die Fenster, durch die es zog, noch die Läden, an denen Haken fehlten, oder der Riegel der Wohnungstür, der sich nur zurückschieben ließ, wenn man die Tür anhob.

Die Malards über ihnen sahen jeden Abend bis halb zwölf fern, und es war so laut, als wäre man bei ihnen in der Wohnung.

In den Geschäften der Umgebung hatte Blanche anstehen und das Geschwätz der alten Frauen mit anhören müssen, die sich jeden Morgen die neuesten Geheimnisse verrieten.

Jovis musste eine Stunde totschlagen. Er konnte erst ab neun Uhr ins Büro. Er fuhr zur Place des Vosges und parkte den Wagen unweit der Rue de Turenne.

Am Tag zuvor hatte er einen Kaffee auf der Terrasse des Bistros an der Ecke getrunken. Es gab nur vier oder fünf Tischchen und ein paar Stühle auf dem Gehsteig. Die Markise war heruntergelassen, denn die Sonne war schon warm und schien direkt auf die Fassade.

Er hatte die Zeitung von der ersten bis zur letzten Seite lesen können. Das würde er heute Morgen und in den kommenden Tagen wieder tun, bis das Schuljahr zu Ende war und er Alain nicht mehr zum Lycée Charlemagne fahren musste.

Der Kellner stand schon vor ihm.

»Bringen Sie mir …«

Er zögerte. Auf der Scheibe stand mit Kreide geschrieben Pouilly eingetroffen.

»… einen Pouilly.«

Er trank wenig. Nur manchmal einen Aperitif, wenn er mit Kollegen unterwegs war, oder am Sonntagabend, wenn er mit Blanche und Alain ausging. Bei Tisch begnügte er sich mit einem oder zwei Gläsern Rotwein.

Er ging hinein, um sich von einem der Tische eine Zeitung zu holen. Er hatte das Bistro schon gekannt, als es noch ein dunkles Loch mit einer alten Zinntheke und Sägespänen auf dem Boden gewesen war. Damals hatte es einem einarmigen Mann aus der Auvergne gehört.