Der unbekannte Gott - Laurids Bruun - E-Book

Der unbekannte Gott E-Book

Laurids Bruun

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Beschreibung

Ein religiöser Entwicklungsroman aus dem Indien zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Erzählt wird die Geschichte des amerikanischen Ingenieurs Ralph Cunning der zwar reich aber innerlich müde ist und auf einer Reise nach Indien tiefgehende Erlebnisse hat.

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Der unbekannte Gott

Laurids Bruun

Inhalt:

Laurids Bruun – Biografie und Bibliografie

Der unbekannte Gott

Erster Band

Zweiter Band

Aus dem Geschlecht der Byge, L. Bruun

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849606442

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Laurids Bruun – Biografie und Bibliografie

Dänischer Schriftsteller, geboren am 25. Juni 1864 in Odense, verstorben am 6. November 1935 in Kopenhagen. Begann 1881 ein Studium der Politik, das er 1887 abschloss. Bereits 1884 erscheint eine erste Novelle in der Zeitung "Morgenbladet", 1886 das Buch "Historier".  Später zieht Bruun nach Jakarta (damals Batavia) in Indonesien, wo er für seinen Onkel als Einkäufer arbeitet. Seine vielen Reisen durch die ganze Welt waren die Grundlage für seine vielen erfolgreichen Abenteuer- und Reiseromane wie z.B. die Van Zanten-Reihe.

Wichtige Werke:

Die Krone, 1904

Der König aller Sünder, 1904

Die Mitternachtssonne, 1908

Erster Band

Er war am vorhergehenden Abend spät mit dem Orientexpreß angekommen und gleich zu Bett gegangen. Eine Gesellschaft aber hatte unter seinen Zimmern Neujahr gefeiert, so daß er nicht einschlafen konnte. Er wollte gerade klingeln und sich ein anderes Zimmer geben lassen, als der Schlaf ihn plötzlich übermannte, und er schlief fest, bis ein paar Truthähne unter seinem offenen Fenster beim Morgengrauen zu krähen anfingen.

Ralph reckte sich im Automobil an dem strahlenden Neujahrsmorgen und dachte, es sei gut, daß er sich endlich hier an der Grenze von Europa befände.

Dort hinten in der Sonne die graue Wellenlinie – das also waren die Höhenzüge von Asien.

Er richtete sich höher auf, kniff die Augen zusammen und maß die Entfernung.

Warum war hier keine Brücke?

Wäre es in den Vereinigten Staaten, wo er zu Hause war, dann würde man schon längst mit Automobilen über die Wasserstraße fahren.

Räder begannen in seinem Gehirn zu schnurren. Formeln marschierten auf, Skelette, Profile. Sein Mund wurde schmal, gerade, hart, und das glattrasierte Kinn strammte sich unter dem Faltennetz, das während der zwanzig Tage, die seit seiner Abreise von Neuyork vergangen waren, bereits angefangen hatte zu erschlaffen.

Dann aber nahm er sich mit einem Ruck zusammen, strich sich über Stirn und Augen und verwischte all das, was für lange Zeit nicht mehr da sein sollte.

»Prost Neujahr, old chap!« sagte er laut zu sich selbst, so daß der Chauffeur den Kopf nach ihm umdrehte.

Ralph achtete seiner nicht, lehnte sich in den Wagen zurück, riß die Augen auf und dachte an nichts.

Nach einer langen Fahrt zu den nördlichen Höhen, die von dem Morgennebel unter der Sonne dampften, kehrte er durch die Galatastraße zurück, wo das Leben bereits sein Lied begonnen hatte.

Das Auto hielt vorm Café Genio, auf dem kleinen Platz vor der Galatabrücke, mitten in der bunten Menge, die sich aus allen Himmelsrichtungen auf der Schwelle zum Paradies Europa drängt.

Er stieg aus und trank einen Snapshot, während der Chauffeur sich bemühte, das große Ding in dem Gedränge von lebendigem, beseeltem Fleisch, das nur gezwungen zur Seite wich, zu drehen.

Dann ging er in das dunstige, verräucherte Café und frühstückte.

Der Kellner, ein behender Italiener mit gemütlich zwinkernden Augen, tänzelte hin und her und gab jedem, was ihm zukam. Die meisten waren Stammgäste. Jungtürken, gelb, mager, mit bekümmerter Stirn über dem Kneifer, den Fes auf der struppigen Muselmannperücke tief in den Nacken geschoben, blickten ihn verstohlen an, mit Augen, die wie Feuer unter Asche glühten. Sie spielten auf der schmutzigen Marmorplatte Domino, während sie an ihren Kaffeetassen nippten, die so klein wie Walnußschalen waren. Ein gelber, fetter Grieche lehnte in einer Ecke gegen die lederbezogene Wand, sein Bauch hing ihm bis über die Knie, während er die Kursliste in einer Wiener Zeitung studierte. Zwei ganz junge Militäreleven saßen über »Le Rire« gebeugt, mit schamlosem Lächeln und glühenden Backen.

»Je vous salue, mon seigneur!« sagte der Kellner, die Hand am Fes, als er das Trinkgeld sah. Ralph hatte nach Neuyorker Sitte gegeben.

Der Platz lag jetzt im vollen Sonnenschein. Eine weiße Fassade gegenüber blendete. Er las »Crédit Lyonnais« und merkte es sich; es war seine Kreditivbank. Auf der obersten Stufe stand vor der offenen Tür ein grauhaariger Türke mit buntem Turban und roten und grünen Streifen längs der weiten Djubbe. Er stand in tiefen Gedanken, den Blick auf Ralphs helle, scharfe klugen und glattrasierte Backen unter der weichen Reisemütze gerichtet.

Als Ralph seinen Blick fühlte, schlug er die Augen nieder und stieg mit raschen Schritten die Treppe hinunter.

Auf dem schmalen Fußsteig vor dem Café ging ein hochgewachsener Greis in der Sonne auf und ab. Er trug einen großen italienischen Schlapphut und einen Stock mit silbernem Knopf. Die Gestalt war einst elegant gewesen, jetzt war sie in den Gelenken erschlafft; aber der Rock saß gut, und der krapprote Schlips war neu und tadellos. Er atmete tief und ließ sich die Brust zwischen dem offenstehenden Rock, in dessen breitem Aufschlag ein Veilchenbukett saß, von der Sonne bescheinen. Ein kleiner kränklicher Junge, halb Krüppel, kam aus einem schmalen Gang hinterm Café auf ihn zugehinkt. Der Kleine griff nach seiner ausgestreckten Hand, bekam eine Mandarine, die der Alte in der Tasche hatte, und wanderte dann mit ihm auf und ab, soweit der Sonnenschein reichte.

Ein Leben auf dem Gipfel hingewelkt, und ein Leben, das an der Wurzel gezeichnet war – so gingen sie Hand in Hand und trösteten sich mit der Sonne.

Ralph dachte an seine eigenen fünfunddreißig Jahre. Ja, er hatte richtig gehandelt; es war die höchste Zeit gewesen, daß er sich losgerissen hatte.

Er hatte erreicht, was er seit seinen Knabenjahren erstrebte. Als er aber auf dem Gipfel war, der Meister »der Himmelsbrücke«, wie ein smarter Journalist seinen letzten großen Arbeitstriumph genannt hatte – als er Macht und Reichtum wie ein Steuer in der Hand hielt, so daß er die Lebensachse nach Belieben drehen konnte, da geschah es eines Tages, daß er sich selbst fragte, ob er nicht zu teuer gekauft und mit dem bezahlt habe, was nie wiederkehrt – mit dem Leben und seinen Launen und Spielen, dem Leben in der Sonne.

Die Kette ungezählter Stunden, das ununterbrochene Grübeln Tag und Nacht unterm Zwang des Glockenschlages und der Termine – der ewige Griff in Kontakte, damit Ströme geschlossen, Ströme ausgewechselt und das Ganze von einem mächtigen Willen in scharfbegrenzte Wege geleitet werden konnte – wog das alles Sonne und Leben auf?

Ganz plötzlich war es über ihn gekommen, als er an einem schönen Sommermorgen die Augen von seinem Pult hob und hinter den Wolkenkratzern die grünen Bäume von Broux in der Ferne sah. Da fühlte er sich an seine Arbeit geschmiedet wie ein Sklave, der nie an einem Sommertag Wasser an der Quelle holen darf.

Es war gerade vor der Ablieferung der Himmelsbrücke gewesen, wie ein Aufrührergeist war es über ihn gekommen. Zuerst hatte er es niedergekämpft; aber es verfolgte ihn den ganzen Tag, lag auf der Lauer in seinen wenigen freien Stunden, wenn er essen wollte oder im Begriff war, seine Augen zu schließen, um in den Schlaf hinüberzuschlüpfen. Er fürchtete sich davor, wagte sich kaum die Ruhe des Sonntags zu gönnen und überwand es erst, als er ein Surrogat fand.

Er kaufte sich ein wenig Sonne und Glück bei einer Frau, die er eines Abends getroffen hatte, als sein Gehirn streikte und ihn in das Licht der Nacht hinaustrieb. Sie hatte es verstanden, ihm wohlzutun, darum kaufte er sie; und nachdem sie ihre Schuldigkeit getan hatte, trennte er sich von ihr, wie es einem Manne geziemt, der sowohl Kavalier wie Millionär ist.

Als aber die Brücke abgeliefert war, überkam es ihn von neuem.

Die Zeitungen flossen von seinem Ruhm über. Die Milliardäre nahmen ihn in ihr heimliches Syndikat auf, in den »Klub der Verantwortungslosen« – obgleich es gegen ihre Statuten war, denn Milliardär war er nicht. Jedenfalls noch nicht.

Das alles machte nur wenig Eindruck auf ihn, kitzelte einen kurzen Augenblick sein Machtgefühl, war aber nicht von langer Dauer. Er fühlte sich leer und mißmutig, war stehengeblieben wie ein Uhrwerk, das geschmiert werden muß.

Er begann seine eigene berühmte Brücke als Passagier zu studieren, befuhr sie mit Auto, Luxuszug und elektrischen Bahnen – mit allen Beförderungsmitteln, mit denen man in gerader Linie und einer sanften Steigung von dreißig Grad den Berg hinauf und auf der anderen Seite wieder herunterkommen konnte, ohne mit Zickzacklinien Zeit und Kraft zu verschwenden. Während alle anderen über diesen letzten Riesenschritt der Kultur begeistert waren, konnte er, der diesen Schritt gemacht hatte, mit dem besten Willen nicht einsehen, daß er der Menschheit dadurch einen besonderen Dienst geleistet hatte. Gewiß, er hatte einen Rekord erlangt an Arbeit, Erfindungskunst, Präzision – und in seinem Bankkonto; – das war alles – ja, und außerdem hatten eine Menge Menschen von der Arbeit gelebt, während die Brücke im Bau war. Jetzt aber, wo sie fertig dalag, war und blieb sie eine tote Masse, deren Dasein zum mindesten gleichgültig war.

In seinem Gemüt war ein saugender Abgrund von Leere. Er versuchte, sich durch Philosophieren davon loszumachen: es sei ganz klar und auch natürlich, daß nach einer so riesenhaften Arbeit eine Reaktion kommen müsse; war ihm nicht ein ungeheurer Weisheitszahn aus dem Kopf gezogen und konnte das ohne Schmerzen vor sich gehen? Aber es half nichts: die Bedenken meldeten sich wieder und wieder. Die Brücke und alles, was vorangegangen und Voraussetzung dafür gewesen war, daß er es soweit bringen konnte, das alles hatte er mit dem bezahlt, was eigentlich unbezahlbar ist, weil es, einmal ausgeleert, sich nie wieder füllt. Und dieses ewig kostbare Lebendige hatte er für ein totes Ding von Eisen und Zement hingegeben. Wenn eine neue »Himmelsbrücke« auch durch den ganzen Himmelsraum geradesweg wegs zur Sonne führte, was hatte er davon, wenn er jede Million Kilogramm ihres toten Gewichts mit einer Unze seines Lebens bezahlen mußte?

Er konnte sich nicht davon freimachen. Es war ja sein Beruf, Schlüsse zu ziehen und darauf weiter zu bauen; dazu war er wie kein anderer trainiert.

Und so kam es, daß er sich nach einem Weg ins Freie umzusehen begann. Kaum war der Gedanke, fortzureisen und alles hinter sich zu lassen, in ihm geboren, als er auch schon fühlte, wie neue Kraft und neue Sehnsucht durch sein Gemüt zu strömen begannen.

Was verloren war, war verloren; noch aber war er jung und wollte leben.

Er entließ seine Ingenieure, schloß seine Bureaus, wickelte alle laufenden Geschäfte ab. Die Presse, die ihn seit seinem letzten Triumph überall verfolgte, schlug sofort Alarm. Warum ging er fort? War es wirklich wahr, daß Europa die Staaten überboten und ihn seinem Vaterland abspenstig gemacht hatte? Was hatte er im Sinn?

Well, er wollte Paris kennen lernen, nach einundzwanzigjähriger, ununterbrochener Arbeit ausruhen, war das nicht all right?

Eines schönen Morgens war er auf und davon. »New York Herald« folgte ihm auch nach der Seinestadt. Was aber kann ein Ferienbummler auf dem Boulevard Interessantes bieten, ein Hotelgast zwischen tausend anderen? Darum ließ man ihn bald in Frieden. Ralph ergötzte sich beim Gedanken daran, daß es in diesem Augenblick in den Staaten keine einzige Seele gab – Verwandte besaß er nicht – die ahnte, daß er an diesem strahlenden Neujahrsmorgen hier stand, mit dem einen Bein in Europa, mit dem anderen in Asien.

Er bahnte sich mit den Ellbogen einen Weg über den Platz und bereute, daß er seinen Ulster nicht im Auto gelassen hatte. So warm war es geworden.

Dort führte der enge, ausgetretene Völkerpfad quer über das Horn, gab und nahm und vermischte. Mitten auf dem Fahrweg stand ein dickleibiger Cerberus und streckte jedem seine Blechdose für das Brückengeld entgegen. Keiner entschlüpfte ihm.

Ralph bezahlte und ging auf den Fußsteig.

Möwen schwangen sich in regelmäßigen Rundbögen spähend und schreiend über das blaue Wasser, das hell glitzerte, als ob die Sonne Millionen von elektrischen Funken aus seiner Oberfläche zöge. Boote fuhren von Küste zu Küste mit spitzen, weißen Lateinersegeln, deren gekreuzte Flügel Schatten aufs Wasser warfen. Motoren töfften emsig mit ihrem giftigen Atem, durch den Wasserspiegel brodelnd. Weiter draußen, hinter der nächsten Brücke, ragten die Schornsteine und Masten der dunklen Kriegsschiffe durch die Luft. Ganz hinten verschlossen Eyubs Berge die Aussicht mit ihren ehrwürdigen Kirchhofszypressen. Geradevor und nach links, in einer großen Zunge nach Asien hinüber, breitete Stambul sich im Licht, sich mit seinen Minaretts im Wasser spiegelnd, stumm zur weißen Himmelswölbung hinausragend, die sieht und weiß und schweigt.

Die Holzbrücke knackte und zitterte. Ein Autobus arbeitete sich schwer und häßlich mitten durch den Strom. Ralph war kein Aesthetiker, aber dieses Stück Neuyork mitten in der Völkerwanderung stieß ihn wie einen Mißklang ab.

Er ertappte sich selbst auf einem plötzlichen Unwillen gegen die Kultur, die ihn erzeugt hatte, und von der er lebte. Betrachte ich das Leben schon wie ein Türke? dachte er und lächelte.

Ein Polizeioffizier – im grauen Mantelkragen, der mit einer Silberspange zusammengehalten wurde, und einem Astrachanfes mit dem Halbmond über der Stirn – kam in kurzem Galopp angesprengt, die Knie hochgezogen, wie Kosaken zu reiten pflegen. Ein schwitzender Neger, der sich unter einem mächtigen Bündel von buntem Baumwollzeug vorwärtsarbeitete, wäre fast von den Pferdehufen getroffen worden. Er blieb stehen und sah dem Reiter mit seinem großen, leidenden Tierblick lange nach, während seine dicken, geduldigen Lippen Worte murmelten.

Ralph ging langsam weiter und sah sich mit offenen Augen um.

Zwei lehmfarbige Perser mit hohen Hüten kamen würdig Hand und Hand dahergeschritten. Ein Tscherkesse trabte auf einem Rappen, die roten Schaftstiefel fest um die Flanken des Pferdes gepreßt, seine pelzverbrämte, weißgestickte Mütze schief auf dem blanken Haar.

Zwei riesengroße, gebeugte Eunuchen kamen ihm mit langen, schwankenden Schritten entgegen, weiche Frauenwangen, kleine ausdruckslose Augen, die in großen Höhlen schwammen, und weiße Zähne hinter schlaffen Lippen. Sie sprachen mit heiser flüsternden Stimmen und achteten nicht auf ihre Umgebung.

Eine Schar Griechen kam singend Arm in Arm mitten auf dem Fahrweg daher, sonnenverbrannt und brünett, berauscht von ungegärtem Wein, ausgelassen wie Ferienkinder.

Straßenverkäufer schrien mit den singenden Griechen um die Wette. Auf einem rumänischen Passagierdampfer, links vom Zollamt, rasselte das Gangspill beim Laden. Küstendampfer flöteten bei Ankunft und Abfahrt. Stimmen summten in allen Sprachen, eifrig, bedächtig, froh und düster durcheinander. Das Leben brach sich in einem Schaumwirbel von Lauten, die zu einer seltsam dumpfen Melodie verschmolzen – der ewige, immer wiederkehrende Aufgesang der Völkerwanderung auf dem Wettlauf nach einer höheren Kultur, einem größeren Glück.

Eine alte Karosse mit zwei feurigen Schwarzen kam in scharfem Galopp über die Brücke gedonnert, indem sie alles beiseite fegte. Neben dem Kutscher saß ein zwei Meter langer Kerl, mit einer roten Mütze über gestutzten Whiskers, in einer goldgestickten Salta mit weißem Rock und roten Gamaschen, ein Götzenbild, das einen Krummsäbel zwischen den Knien hielt. Es war ein Gesandtschaftskavaß. Aus der Dunkelheit des Wagens, hinter geschlossenen Fenstern schimmerte ein goldübersäter Frack, ein breites Ordensband unter einem weißen Bart und ein dreieckiger Hut. Auf dem Rücksitz saß ein weniger belasteter Sekretär.

Ralph spähte nach der Kokarde des Kutschers, um zu erraten, welche von den Großmächten bei der Goldenen Pforte Besuch gemacht hatte.

Einige Droschken kamen mit hinfällig klirrenden Fensterscheiben angewackelt, Gepäck auf dem Deck und einem Dragoman mit Cooks Schild am Hut auf dem Bock. Es waren neue Gäste aus Europa. Im selben Augenblick kam von der anderen Seite ein Koppel junger kaukasischer Pferde, die mit langen, faserigen Hanfstricken zusammengebunden waren. Zwei Bulgaren mit hitzigen Augen und blutroten Lippen drängten sie zusammen, schlagend und fluchend. Die erschreckten Pferde reckten die Hälse mit fliegenden Mähnen und bebenden Nüstern; die mittleren sprangen unter dem Druck in die Höhe, und im nächsten Augenblick entstand wilder Tumult. Da trat ein ruhiger türkischer Offizier dazwischen und veranlaßte die Bulgaren, ihren strammen Griff zu lockern, so daß die Tiere sich besinnen und ihrer friedlichen Natur folgen konnten.

Die Droschkenreihe mußte halten, bis das Koppel gesammelt war und unter munterem Geklapper auf dem Steinpflaster weitertrieb, was wie eine emsig arbeitende Schreibmaschine klang.

Ralph hatte reichlich Zeit, die Neuangekommenen zu betrachten.

Da waren Landsleute von ihm, mit flachen Reisemützen und kräftigem Teint, und ein deutscher Professor, der das Neue in seinem Baedeker statt auf der lebendigen Straße suchte.

In dem dritten Wagen saß eine junge Dame ganz allein. Sie trug einen weiten, grauen Staubmantel und einen indigofarbigen Automobilschleier, dessen Enden in einer dunklen Wolke hinter ihrem Rücken herflatterten. Ihr dunkelbraunes Haar fiel locker von der Stirn über die weißen Schläfen. Die starken Brauen waren eigenwillig geschwungen, mit einer kleinen Falte in der Mitte, tiefsinnig oder wehmütig. Die Nase war fein gebogen, etwas in ihrer Form erinnerte an nahe oder entfernte Verwandtschaft mit Judenblut; der Teint war weiß und gesättigt. Aber das alles war es nicht, was ihn anzog, es waren die Augen, die großen dunklen Pupillen, der starke und warme Blick, in Einsamkeit gereift, der sich dem Leben verwundert öffnete. Das war nicht der Blick einer Großstädterin. Er hatte solche Augen in den Bergen gesehen, aber nie in Neuyork.

Ralph interessierte sich besonders für Hände; er sammelte sie, studierte sie und ließ sich von ihnen in seinem Urteil beeinflussen. Schon als Knabe hatte er viel auf Hände gegeben.

Aergerlich, daß er ihre Hände nicht sehen konnte. Nach Stirn und Schultern zu urteilen, mußten sie kurz, weich, etwas zu breit sein, aber mit hübsch gerundeten Fingern, die unter klaren, weißen Nägeln spitz zuliefen.

Die Büste war kräftig, mit einer gespannten, aber hoch atmenden Brust. Sie saß aufgerichtet da, ein wenig vornübergebeugt und nahm das Leben mit kleinen empfindsam lauschenden Bewegungen entgegen, während die Eindrücke über ihr Gesicht huschten, wie der Wind über ein Weizenfeld; sie runzelte die Brauen, verzog den kleinen, empfindsamen Mund und krauste das Kinn, das ebenso wie die Stirn fein gerundet war. Von diesem ganzen Schattenspiel ging ein so warmer Atem aus, solch Duft von etwas Gutem, daß es ihn packte.

Solange die Wagen hielten, verwandte er keinen Blick von ihr, und schließlich erreichte der Strom seines Interesses sie und veranlaßte sie, den Kopf nach ihm umzudrehen: Ihre Blicke begegneten sich, und obgleich er seinen Blick sofort abwandte, fühlte er sich wie auf einer Indiskretion ertappt, sie beugte den Kopf über ihre Reisetasche, während der Kutscher schrie, die Pferde vorbeiklapperten und der Wagen weiterfuhr.

Was mochte sie für eine Landsmännin sein? Seine Erfahrung reichte hier nicht aus. Dann aber entschwand der Eindruck seinem Bewußtsein.

Als Ralph die Brücke passiert hatte, klingelte gerade eine elektrische Straßenbahn zur Abfahrt, mitten in dem Gewimmel von bunten Turbanen und roten Fes, die in allen Richtungen über den schmutzigen Markt eilten.

Eine Mißgeburt von einer Straßenbahn war es, klein und plump. Er zwängte sich auf die hintere Plattform zwischen zwei Jungtürken in europäischen Röcken, mit Kneifern und Bartstoppeln. Der Wagen war in zwei Teile getrennt, mit einer hölzernen Scheidewand, die der Schaffner hin und her schieben konnte, je nachdem sich viele oder wenige in dem vorderen Raum befanden, der für Frauen bestimmt war.

Sie saßen abgesperrt hinter einem Vorhang, der den Durchgang verdeckte, in langen, einfarbigen, grünen, roten oder blauen Kleidern, mit gleichfarbigen Kopftüchern. Das Gesicht vom Schleier verdeckt, saßen sie wie materialisierte Geister in einem Spiritistenkabinett.

Der Wagen kämpfte sich mit halber Kraft durch die dichtbevölkerte Straße vorwärts, unaufhörlich bimmelnd. Weiterhin wurde die Straße ruhiger, führte an verrosteten Eisengittern auf Marmorsockeln vorbei, hinter denen verwitterte Grabsteine standen, lange und flache, schiefe und gerade, die vornehmsten mit Kuppeln. Im Hintergrunde lag eine Moschee, weiß und geschlossen, die blinden Fensterbogen waren zur Sonnenseite gekehrt, die Minaretts saßen wie Schildwachen auf allen vier Ecken des Kuppelhimmels, der sich weiß und rein zu seinem hohen Genossen emporwölbte.

An einer Straßenecke stand ein ehrwürdiger Platanenbaum, dessen Rinde wie ein verblichenes Pantherfell aussah. Das Rascheln des dürren Laubes im Wind klang wie silbernes Schellengeläute.

Auf dem breiten Platz am Fuße der Sophie-Moschee saßen gutgekleidete Alttürken vor einem kleinen Café auf niedrigen Diwans, mit hochgezogenen Beinen, tranken Kaffee und rauchten ihren Tschibuk, während ein hochaufgeschossener Bengel herumging und Zeitungen verkaufte.

Wer tat die Arbeit in ihren Bureaus? Wer verkaufte, was verkauft werden mußte? Es war ja mitten in der Arbeitszeit!

Hatte Zeit keinen Wert für sie?

Die Straße wurde breiter, luftiger und heller. Zwischen Zypressen und Apfelsinenbäumen lagen Puppenhäuser aus Holzfiligran; dort stand eine einzelne abgehärtete Palme. Die Vorstadt gab sich durch die Kleidung und Manieren der Menschen kund.

Es war, als ob das Leben stehen bliebe, dann plötzlich wieder mit einem kleinen Ruck erwachte, wieder stehen bliebe und sich auf einem sonnigen Fleck vor einem Laden niedergelassen hätte, von dessen Decke eingeschrumpfte Würste herabhingen, und auf dessen schmutziger Ladenbank staubige Flachbrote und klebrige Kuchen lagen. Hühner liefen mitten auf dem Weg. Ein scheuer, räudiger Hund durchschnüffelte den Abfallhaufen unter einer verfallenen Gartenmauer. Arme Kinder spielten Ball mit verfaulten Mandarinen, in Lumpen gekleidete Männer saßen mit gekreuzten Beinen im Schatten der Häuser und rauchten ihre Pfeife, ohne ein Wort und ohne Sorgen.

Der Uebergang von der lärmenden Stadt zu der ländlichen Oede war so plötzlich und überwältigend, daß es wie eine Offenbarung auf Ralph wirkte. Er wunderte sich über diesen ziellosen Stillstand, der ihm fremd war. Sein ganzes Leben hatte er in emsigen Städten mit zielbewußten Menschen zugebracht. Es zog ihn an, ärgerte und fesselte ihn zugleich.

Sah das Leben vielleicht so aus, wenn man die Kultur abkratzte?

Er selbst war in kleinen Verhältnissen groß geworden. Er hatte Arbeiter in Kälte und Not gesehen und hatte sie verachtet, weil es seine Pflicht war, die Verkommenen zu verachten. Er hatte ihre Frauen und Kinder bei dem Generalstreik, der das Gelingen seiner Brücke beinah zuschanden gemacht, den er aber mit geballter Faust unterdrückt hatte, hungern sehen. Er hatte es ohne viel Mitgefühl getan, du lieber Gott, das Leben ist ja für uns alle schwer. Sie waren Stiefkinder, Sklaven der Kultur, aber andererseits auch hilflos ohne diese. Die meisten ahnten ja nicht einmal, daß das Leben auch für sie anders sein konnte.

Und war es ihm selbst nicht ebenso ergangen? Die Freude am Leben, ohne Rücksicht auf die kommende Stunde, das Glück, das in wunschlosem Verweilen liegt, das alles kannte er nur aus Büchern, an die er nicht einmal glaubte. Aber jetzt wollte er es kennen lernen. Er wollte das ursprüngliche, eigentliche Gesicht des Lebens sehen. Wenn er hier schon, auf der Schwelle zum Osten, einen Schimmer davon sah, wie vollständig würde es sich ihm dann erst dort hinter den grauen Höhen, in der uralten Welt entschleiern, wo alles, auch was jetzt lebt, seinen Ursprung hat.

Die Bahn hielt an der Endstation.

Vor ihnen lag die alte Stadtmauer mit den verwitterten Riesensteinen, Erderhöhungen, dem breiten Mauergang und den viereckigen Schießtürmen. Gerade vor der Endstation lag ein Wirtshaus mit gewölbten Torräumen, wo dunkle Muselmänner in der Hucke saßen und mit unbeweglichen, bärtigen Gesichtern hinter ihm herblickten.

Er folgte dem Weg längs der Mauer in nördlicher Richtung. Dornbüsche und Brombeersträuche wuchsen wild zwischen den Ruinen. Junge, anmutige Akazien klammerten sich zwischen den Ritzen an die Steine und hingen über den Weg.

Nachdem er eine halbe Stunde gegangen war, ohne einem Menschen zu begegnen, erweiterte der Weg sich plötzlich zu einem offenen Feld.

Dort drüben lagen schmutzige Zelte und dahinter, im Schutz der breiten Stadtmauer, einige Lehmhütten.

Ein Hund witterte ihn und bellte wie rasend. Vor dem nächstgelegenen Zelt richtete sich ein Mann von der Erde auf und starrte den Friedensstörer an. Ein weiblicher Kopf tauchte aus der Dunkelheit des Zeltgiebels auf.

Die elende Zuflucht armer Leute, im warmen, goldenen Licht des Nachmittags gebadet. Ralph sah auf der Karte nach. »Zigeunerviertel« stand da.

Mit Appetit machte er sich an das Abenteuer. Seinen Browning-Revolver hatte er in der Tasche, falls jemand ihm zu Leibe wollte.

Als er in die Nähe der Hütte gekommen war, saß der Mann wieder über seine Arbeit gebeugt. Er formte aus einem Stück Holz mit seiner Axt einen Handgriff.

Zwei stechende Augen blickten aus einem mageren, gelben Gesicht fragend zu Ralph auf. Darauf verzog sein Mund sich zu einem Lächeln: er grüßte auf Türkenart, indem er die Hand von der Erde zu Mund und Stirn führte.

Ein junges Weib und ein kleines Mädchen kamen aus dem Zelt und musterten Ralph mit ihren schwarzen Augen, während sie grüßten. Als er sie auf englisch anredete, schüttelte die Frau den Kopf und warf einen hastigen Blick auf den sitzenden Mann, als ob sie ihn um Rat befragen wollte.

Ralph studierte sie mit Muße.

Sie stand auf gespreizten Beinen, mit nackten Füßen, klein und untersetzt. Das staubige, lange Haar hing in Strähnen um die niedrige Stirn. Sie hatte blanke, leuchtende Augen; der Mund öffnete und schloß sich unter seinem Blick, als wüßte er nicht, ob er betteln oder verführen wollte.

Da streckte sie plötzlich ihre Hand aus und sagte: »Backshiis«.

Im selben Augenblick zupfte die Kleine von hinten an seinem Ulster. »Backshiis« sagte sie, und streckte ihm die schwarzen Händchen entgegen, mit großen Augen, die schon inständig bitten gelernt hatten. Und der Mann legte den Kopf auf die Seite, führte die Hand zum Munde und sagte »Backshiis«.

Mit einem plötzlichen Einfall stemmte Ralph die Hände in die Seite, wiegte sich in den Hüften und bedeutete der Frau, daß sie tanzen solle.

Sie verstanden ihn sofort. Auf einen Wink des Mannes sprang die Kleine ins Zelt und kam mit einem schmutzigen Tamburin zurück. Sie hob ihr Röckchen und wischte den Staub damit von dem Ding. Die Frau riß ihr Kopftuch ab, löste mit einem Ruck die aufgesteckten Flechten, warf den Kopf in den Nacken, heftete die langen geteilten Beinkleider bis an den Gürtel hinauf, streckte Ralph ihre festen, runden Arme mit offenen Handflächen entgegen und nickte der Kleinen zu, die das Tamburin mit der einen Hand schlug, während sie es mit der anderen durch die Luft rasseln ließ.

Die Frau sprang in die Höhe, zog die Arme ein und streckte sie ihm wieder entgegen, drehte den Kopf hin und her, beugte ihn vor und legte ihn in den Nacken. Die Zähne blitzten durch die weitgeöffneten Lippen, ihre Augen ließen ihn keinen Augenblick los. Sie drehte sich, beugte sich in den Knien, saß in der Hucke, sprang auf, schwang sich herum, aber drehte sich sofort wieder um und fing ihn wieder mit ihrem Blick ein. Schneller und schneller bewegte sie den Kopf, schwang und drehte sich, daß ihre Flechten wie Schlangen durch die Luft wirbelten. Ihre Backen glühten und ihre Augen brannten bei der rasenden Schnelligkeit. Der Mann erhob sich und begleitete sie mit singenden, erhitzenden Zurufen, schließlich entriß er der Kleinen das Tamburin, um es schneller zu schlagen, als sie es vermocht hatte.

Staub wirbelte um sie herum, feiner, weißer Staub in der glühenden Sonne, der sich mit dem Dampf ihres schweißtriefenden Körpers vermischte. Plötzlich flog das Tamburin ins Zelt, die Frau hielt mit einem Schlage inne und stand auf gespreizten Beinen vor Ralph, mit krampfhaft wogender Brust, glühenden Wangen, die Arme ihm entgegengestreckt wie zu Anfang. Ihre schwarzen, blitzenden Augen hingen wie gebannt an ihm, während die roten Lippen über weißen Zähnen schimmerten.

Ralph erwachte plötzlich wie aus einem Traum, Er hätte dieses Leben dort vor ihm, das wie ein langer, leidenschaftlicher Ton bebte, in seine Arme reißen mögen; aber er beherrschte sich, tat einen tiefen Atemzug, griff in die Tasche und warf einige Goldstücke in die Luft, die in der Sonne blitzten; sie fing sie mit ihrer offenen Hand auf. Dann machte sie eine heftige Bewegung, als ob sie sich auf ihn stürzen wollte, gab aber nur einen heiseren Kehllaut von sich. Darauf preßte sie die Münzen gegen ihre Lippen und nahm sie zwischen ihre weißen Zähne. Den Blick unverwandt auf seine festen, grauen Augen gerichtet, riß sie sich eine Kette vom Hals, griff nach seiner Hand und hängte sie ihm ums Handgelenk. Und jetzt fand sie auch das Wort, das sie suchte, das englische Wort, das sie kannte:

»Sweetheart! Sweetheart!«

Er lachte laut auf, mit seinem kurzen, kräftigen Lachen. Er verstand, was sie meinte; und ihre Augen, die jetzt ruhig geworden waren, bestätigten, daß er sie richtig verstanden habe: »Diese Kette sollst du deiner Braut geben.«

Es war eine silberne Kette mit vielen kleinen Amuletts: eine Hand, ein Fisch, ein Kreuz, ein Anker, ein Gesicht und eine Schlange. Indem er sie nach und nach durch seine Finger gleiten ließ, nickte sie und erklärte ihm mit einem Griff an Herz oder Auge, was sie zu bedeuten hätten.

Das war Ralph Cunnings erstes Abenteuer in der alten Welt.

Er kehrte zur Stadt zurück.

Ueber den Kuppeln im Westen wurden jetzt weiße Federwölkchen von der untergehenden Sonne entzündet, die breite, rote Feuerschwerter über den Himmel schickte, bis sie schließlich zu einem Himmelsbrand zusammenschlugen, der Stambuls Kuppeln zum Glühen brachte. Im selben Augenblick war es, als ob Warnungsrufe vom Himmel erklängen. Er blickte sich erstaunt um, und sein Auge fiel auf den Muezzin, der von der Galerie des Minaretts zum Gebet aufforderte.

Dort oben stand er, mit der Himmelsglut auf seinem weißen Turban, und verkündete mit hocherhobenen Händen, vor Einbruch der Nacht, daß es nur einen Gott gäbe.

Die Gläubigen hasteten über den Marktplatz zum Brunnen und wuschen Hände, Gesicht und Füße, um rein vor des Herrn Angesicht zu treten.

Auf der Galatabrücke hatte der Verkehr jetzt abgenommen. Nur Geschäftsleute gingen dort noch, die von Pera nach Stambul, von Europa nach Asien heimkehrten. Ihr Mund war stumm, ihre Hände waren still, wie es sich für Orientalen in der Stadt des Sonnenuntergangs geziemt.

Er kam beim Café Genio vorbei, wo das elektrische Licht bereits mit dem schwindenden Tag kämpfte, und ging über die enge Straße zum Funiculaire, der durch einen steilen Tunnel zu Peras Gipfel hinaufführt.

Dort wimmelte es von Europäern: Kontoristen, Journalisten, Börsianern, die im Stehen die Zeitung lasen.

Er fand, daß er wieder zu Hause sei. Der Stempelschlag der Arbeit klapperte um ihn herum mit seinem rastlosen Takt. Er war mitten drin und dennoch ganz außerhalb; es war ein merkwürdiges Gefühl, halb Leere und Sehnsucht nach dem Gewohnten, halb Befreiung und unruhige Freude. Eine heftige Neugierde nach dem Kommenden wurde aus dieser Gemütsstimmung geboren; und er merkte plötzlich mit knabenhaftem Erstaunen, wie weit er sich in diesen zwanzig Tagen bereits von sich selbst entfernt hatte.

Er eilte zum Hotel zurück, durch dunkle Seitenstraßen, wo alles Leben des Tages bereits erloschen war. Kein Licht war hinter den geschlossenen Fensterläden zu sehen, nur gedämpftes Sprechen erklang hier und dort, und die wehmütigen Töne einer türkischen Laute.

Er kleidete sich zum Diner um, ohne Licht zu machen. Der Schein der Nacht fiel durch die offenstehenden Balkontüren auf weißlackierte Möbel und dunkle, schwere Teppiche.

Hinter den Zypressen und Ruinen auf der Höhe lag das Goldene Horn, mit zitternden Sternen in seinem Schoß.

Von beiden Brücken streckten die Lichtstreifen der Laternen ihre langen Fühlfasern durch das dunkle Wasser. Die roten und grünen Lichter der Motorboote huschten wie Irrlichter von Kai zu Kai. Leises Summen, wie der ferne Gesang eines Meeres, stieg durch die kalte, reine Luft zu dem glitzernden Kristall des Himmels auf. Fledermäuse schwirrten wie ruhelose Geister an seiner Tür vorbei.

Im Speisesaal waren nur wenige Gäste. Die meisten hatten schon gegessen. Das Essen war gut und der Wein, den er, ganz gegen seine Gewohnheit, zwischen den besten Marken ausgesucht hatte, noch besser. Gewöhnlich war er schnell fertig mit seiner Mahlzeit, heute aber blieb er lange sitzen und sann über den Tag nach.

Das leise Rascheln eines Kleides weckte ihn. Eine Dame erhob sich von einem Ecktisch und ging an seinem Tisch vorbei. Ein großer Aufsatz von weißen Syringen hatte ihr Gesicht bisher vor ihm verdeckt.

Jetzt sah er es. Im selben Augenblick trafen ihre Blicke sich, und ein Wiedererkennungsstrom blitzte zwischen ihnen auf. Ihre Augen konnten es nicht verbergen, es zuckte in der Falte zwischen ihren Brauen, als ob ein Windhauch darüber hingegangen sei.

Er folgte ihr mit den Augen, während sie aus dem Saal ging.

Ihr Nacken war fest und weiß hinter dem hochgekämmten Haar, das sich an den Schläfen wellte. Die Schultern fielen sanft gerundet zu den Armen ab. Der Gang war leicht und frei, schneller, als er ihn bei Neuyorker Damen gewöhnt war. Sie war einfach gekleidet, in schwarzer Seide mit einem Kragen von feinen alten Spitzen. Den Kopf trug sie hoch, als recke sie sich, um über ein Gitter zu sehen. Die zartgeformten Arme waren bis an die Ellbogen entblößt und ohne Schmuck.

Wohlhabend, aber nicht reich, dachte er, aus guter Familie und in Trauer. Er irrte sich sicher nicht, wenn er annahm, daß sie an Arbeit gewöhnt sei. Aber welche Art Arbeit? Und aus welchem Lande mochte sie sein?

Französin war sie ebensowenig wie Amerikanerin, auch keine Engländerin. Eine Süddeutsche? Er war selbst von deutscher Herkunft; sein Urgroßvater hieß Kunz und war nach den napoleonischen Kriegen aus Heilbronn ausgewandert. Er, Ralph, hatte kurze Zeit am Polytechnikum in Hannover studiert, hatte später mit vielen deutschen Ingenieuren zusammen gearbeitet und gelegentlich in ihren Familien verkehrt. Er kannte den Typ; nein, eine Deutsche war sie auch nicht.

Er stand auf und ging in den Salon hinauf, aber sie war nicht da. Dann zündete er sich eine Zigarre an und schlenderte in die Halle, wo das Fremdenbuch auf einer Drehscheibe beim Pförtner aufgeschlagen lag.

Zwischen den Neuangekommenen stand mit großer, fester Schrift und steilen, runden Buchstaben:

»Helen Herz – Copenhague.«

Als er sich umdrehte, fiel sein Blick auf den Dragoman, der ihn bei seiner Ankunft vom Bahnhof abgeholt hatte und sich jetzt tief verbeugte, mit einem resignierten Blick in seinen schwarzen Hundeaugen. Ralph erinnerte sich seines enttäuschten: »Mylord wollen allein fahren?« als er ihn am Morgen von dem Sitz neben dem Chauffeur heruntergewinkt, wo er bereits Platz genommen hatte.

Ralph war nach dem Mittagessen in guter Laune und winkte ihn freundlich zu sich heran.

»Na, Dragoman, was können Sie mir denn zeigen?«

»Alles, was Mylord wünschen.«

»Gut. Treten Sie morgen um acht Uhr an und zeigen Sie mir etwas, was kein anderer zu sehen bekommt. Aber kein Europa.«

»Ich werde Mylord offenbaren, was allen anderen verborgen bleibt.«

Er rollte bedeutungsvoll mit den Augen und schlug mit den Armen aus, als brauche er sich die Sehenswürdigkeiten nur aus dem Aermel zu schütteln.

######

Punkt acht Uhr hielt ein großes, rotlackiertes Auto vor der Hoteltür. Ralph nahm mit dem Dragoman hinter dem Chauffeur Platz. Es ging am Theaterpark vorbei durch die Perastraße, deren Pariser Läden noch geschlossen waren, längs der weißen Fassade der Artilleriekaserne und dem großen, öden Feld davor, dem Marsfeld, wo Reitübungen abgehalten werden. Beim armenischen Kirchhof verstärkten sie das Tempo und waren bald außerhalb der Stadt auf einem Wege, der in Zickzacklinien zu dem Rücken der westlichen Höhen des Bosporus anstieg.

Zwischen dunklen Zypressen leuchteten weiße, türkische Pavillons und die europäischen Landsitze der Gesandtschaften.

Die schlanken Zinnen der Sultanschlösser Dolman-Bagtschés und Tschiragans blinkten in der Sonne am Fuße der Höhen; dahinter kam ein Streifen des veilchenblauen Bosporus zum Vorschein. Lateinersegel schwammen darauf wie Federn, die die Möwen verloren hatten. Ein langer, schmaler Passagierdampfer schnitt einen dunklen Streifen durchs Wasser, indem er auf die Küste zusteuerte. Drüben auf den Höhen von Kleinasien konnte man die alten Küstenforts erkennen und verstreute Dörfer, wie rote Flecke in einem grauen Fell.

Eine Mauer schlängelte sich zwischen Zypressen auf sie zu. Dahinter lag ein mächtiger Park mit weißen Pavillons.

»Das ist der Nildiz-Kiosk,« sagte der Dragoman auf Ralphs fragenden Blick – »dort drüben liegt Abdul Hamids Harem, und das ist eine Moschee.«

Er berichtete mit großen Gesten von der Absetzung des Sultans und der Auflösung des Harems.

»Wohin fahren wir?« unterbrach Ralph ihn. »Mylord,« der Dragoman zog feierlich die Augenbrauen in die Höhe, »ich führe sie irgendwo hin, wo ich noch keinen Christen hingeführt habe, obgleich ich schon siebenundzwanzig Jahre Dragoman für Herrschaften gewesen bin.«

Da Ralph nicht genügend imponiert zu sein schien, fügte er hinzu:

»Mylord, ich tue es auf die Gefahr hin, meinen Posten zu verlieren.«

Ralph verzog den Mund.

»Wohin?« fragte er.

»Zur Waschmühle des Sultans.«

Ralph sah ihn fragend an.

»Wo die Wäsche des Hofes und Harems gewaschen wird. Warten Sie es ab, Mylord, warten Sie es ab!«

Er nickte verheißungsvoll und zeigte über die Höhen hinweg auf ein niedriges, viereckiges, weißes Gebäude, das wie der Flügel eines Gutshofes aussah.

»Dort liegt sie.«

Der Weg hatte sich wieder gesenkt. Links blinkte ein Bach in einer Kluft. Das kristallklare Wasser rieselte wie klirrendes Metall über die Steine.

»Das ist der Mühlenbach.«

Weiter fort floß das Wasser in einem ruhig laufenden, breiten Strom zwischen Zypressen und verschwand unter der weißen Mauer.

Das Auto bog in einen Seitenweg ein, zwischen hohen Mauern, schwankte über Steine und wirbelte den Staub zu einer dichten, trägen Wolke auf, die wie Kalkpuder auf Ralphs Ulster fiel. Der Weg war so schmal, daß sie die Mauer mit der Hand erreichen konnten. Plötzlich erweiterte er sich zu einem runden Platz vor einem hohen Portal mit einer alten, verzierten Bronzetür.

Der Dragoman sprang ab und klopfte ans Tor. Schleppende Schritte ertönten, das Tor wurde einen Spalt breit geöffnet, und ein alter Torwächter mit weißem Turban, wattiertem Schlafrock und großen Binsenschuhen steckte sein rundbärtiges Gesicht durch die Oeffnung.

Der Dragaman führte eine flüsternde Unterhaltung mit ihm. Der Alte machte mit trocken knarrender Stimme Einwendungen, musterte Ralph, kratzte sich den Bart und sagte »Allah«. Darauf zog er seinen Kopf zurück, und das Tor ging ganz auf.

Sie fuhren durch einen viereckigen, kiesbestreuten Hof und hielten auf der anderen Seite, die in Sonne gebadet lag. Vor einer Tür in der Mauer stand ein niedriger Wagen mit einer langhaarigen Ziege davor, deren Euter fast den Boden berührten. Ein junger Bursche erschien in der dunklen Türöffnung und schob einen Karren mit schimmernd weißem Zeug vor sich her. Beim Anblick des großen roten Wagens blieb er verwundert stehen. Während der Dragoman, von Ralph gefolgt, zu einem Torbogen im linken Flügel schritt, beeilte der Junge sich, das Zeug auf dem kleinen Wagen abzuladen, gab der Ziege einen Schlag, und das Fuhrwerk rollte hastig über den Kies auf das Tor zu, während der Junge mit merkwürdig schlotterndem Gang nebenher ging, als könne er vor Müdigkeit seine Glieder nicht beherrschen. Er war schmalschultrig, die Augen groß und stumpf, die Lippen standen halboffen in dem weißen Gesicht.

»Was fehlt ihm?«

»Nichts, so sind alle Eunuchenknaben.«

In der offenen Torwölbung stand ein großer Mann mit weißem Anzug und rotem Fes. Er drehte sich beim Geräusch der knirschenden Schritte auf dem Kies um.

Der Dragoman grüßte ehrerbietig, eilte auf ihn zu und hielt eine lange, flüsternde Rede. Der Weißgekleidete blickte verstohlen auf Ralph, führte seine Hand grüßend an Mund und Stirn, lächelte verdrießlich mit seinen schlaffen Lippen und gab Ralph mit einem Achselzucken zu verstehen, daß er nur türkisch spräche. Darauf füllte er einen Erlaubnisschein aus, den er dem Dragoman gab, und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

Ralph musterte ihn, während sie an ihm vorbeigingen. Ueber der hohen Erscheinung lag ein merkwürdiges Gepräge von edlem Negerblut mit abendländischem Schliff vermischt. Die Augen waren klein und ausdruckslos, die Nasenflügel sehr breit, aber fein gemeißelt, die Ohren wohlgeformt und klein. Die glatte Haut war zart wie bei einer Frau; an der leise quäkenden Stimme und den langen, feisten Gliedern erkannte Ralph gleich, was er für ein Mann war.

»Das ist der Obereunuch,« flüsterte der Dragoman mit Ehrfurcht, »er leitet die Mühle.«

Die Arbeit ging ihren Gang, der Junge kam mit seinem Ziegenwagen, sagte etwas, was der Obereunuch notierte, und trieb dann das Fahrzeug mit der Ziege durch den großen Scheunenraum und aus einem offenen Tor auf der anderen Seite wieder hinaus; dort war ein großer Abhang, auf dem Wäsche zum Bleichen lag; sie blendete so, daß es einem in die Augen schnitt.

Dort draußen waren mehrere weißgekleidete Jungen, von derselben Art wie der Ziegenwagen-Junge, damit beschäftigt, die Wäsche in langen Reihen auszubreiten.

Der Wagen lieferte den Jungen auf der Bleiche seinen Inhalt ab und kehrte leer zum Obereunuchen zurück, der schmutzige Wäsche aus einem ungeheuren Haufen neben sich abzählte und von dem Jungen auf den Wagen laden ließ.

»Wo wird die Wäsche gewaschen?«

»Geduld, Mylord, Geduld!«

Sie folgten dem Ziegenwagen, bis er vor der Tür hielt. Sie sahen, wie der Junge das schmutzige Zeug auf die Schubkarre lud, und folgten ihm, bis sie zu einem Raum kamen, der nur aus einer Türöffnung von der entgegengesetzten Seite Licht erhielt. Unter ihren Füßen erklang ein summendes Geräusch.

»Das ist der Mühlenbach,« sagte der Dragoman.

Durch eine Loggia kamen sie in einen Saal, in dem zu beiden Seiten kleine abgeteilte Räume waren. Auch hier war es halbdunkel; aber Ralph, der gute Augen hatte, konnte doch in jedem Raum einen niedrigen Diwan und einen kleinen Tisch unterscheiden. Auf dem Diwan lag Wäsche, an einzelnen Stellen meinte er eine Frauengestalt zu erkennen, die im Begriff war, sich an- oder auszukleiden. Es war wie in einer Badeanstalt, wo die Besucher ihre Kabinen verlassen haben, um ins Wasser zu gehen.

Der Bach floß in einem breiten Strom unter dem Fußboden; Ralph konnte das klare, grüne Wasser zwischen den Brettern blinken sehen.

Von dem Saal kamen sie in eine breite Vorhalle, die wie eine Veranda an drei Seiten geschlossen war.

Wo der Boden der Halle aufhörte, strömte das kristallklare Wasser in einem breiten, ruhigen Bogen hervor und stürzte sich dann von einer meterhohen Kante auf ein Plateau herab, über dem ein Gangbrett lag. Unter dem Brett floß das Wasser weiter und fiel etwas weiterhin wieder einen Meter tief auf eine Terrasse herab, auf der ebenfalls ein Gangbrett lag. Wieder floß das Wasser weiter und fiel noch einen Meter zu der tiefsten Terrasse herab, die von keinem Brett überdeckt war. Von hier aus lief das Wasser in einem ruhigen Strom zu einem kleinen Teich, über den auf Pfählen ein hohes, weißes Gitter errichtet war, das die Aussicht verschloß. Von dem Dach der Vorhalle war zwischen Pfeilern ein Baldachin aus Segeltuch über alle Terrassen ausgespannt, während der kleine Bach in blendendem Sonnenschein dalag.

Die Gesichter zur Halle gekehrt, stand eine Reihe Frauen auf dem obersten Gangbrett, die alle ein Stück Wäsche über die Kante des Bretts hielten, so daß das Wasser darüber hinspülte. Nach der Spülung falteten sie es zusammen und legten es auf den Boden der Halle. Darauf beugten sie sich auf das Gangbrett herab und nahmen aus dem Haufen neben sich ein anderes Stück, das von der Terrasse unter ihnen für sie dort bereit gelegt wurde. Die Frauen, die auf der unteren Stufe standen, rieben die Wäsche mit ihren Händen in dem herabfallenden Wasser, so daß es hoch um sie aufspritzte. Jedes Stück, das ihnen von der Terrasse, die wieder unter ihnen war, hinaufgereicht wurde, legten sie, nachdem sie es gewaschen, den Frauen auf die obere Terrasse hinauf.

Die Frauen auf der dritten und niedrigsten Stufe standen hoch aufgeschürzt mit den Füßen in dem kalten Wasser, das bis an die Knie reichte, so daß bald diese, bald jene fröstelnd die Beine aus dem Wasser hob. Diese Frauen verrichteten die gröbste Arbeit. Der Junge, der mit dem schmutzigen Zeug kam, schob den Karren über eine schräge Flache an der Seite des Bassins, bis zur untersten Reihe hinunter und reichte dort der Frau, die ihm am nächsten stand, die Wäsche stückweise; diese reichte sie ihrer Nachbarin und so immer weiter, bis jede ihre bestimmte Anzahl bekommen hatte.

Mit Seife oder Lauge, die in einer Tasche an ihrem Gürtel hing, rieben sie die Wäsche ein, wuschen sie in dem fallenden Wasser, so daß der Schaum über ihre nackten Arme ganz bis an die Schultern spritzte, und reichten sie nach einer hastigen Spülung den Frauen auf der oberen Terrasse.

Von der Halle aus beaufsichtigten zwei Rieseneunuchen diese Arbeit. Sie paßten auf, daß keine der Frauen träge bei der Arbeit war; sie betrachteten die Wäsche, daß sie reingewaschen war, wenn nicht, reichten sie sie hinunter, damit sie noch einmal gewaschen wurde.

Sie paßten auf, daß Zänkereien nicht überhandnahmen, so daß die Arbeit darunter litt; im übrigen aber konnten die Frauen nach Herzenslust singen, plaudern, lachen und sich zanken.

Der eine Eunuch nahm Ralph und dem Dragoman an der Tür den Erlaubnisschein ab und ließ sie mit einer Handbewegung vorbeigehen, indem er Ralph ehrerbietig grüßte.

Der Dragoman hatte offenbar wahr gesprochen; hier pflegten nur Rechtgläubige zu kommen. Der Anblick eines Mannes in Rock und Hosen, ohne Fes, weckte große Verwunderung zwischen den Frauen.

Der Dragoman erzählte, daß die Waschmühle des Sultans eine Strafanstalt für Odalisken sei. Die Frauen in der untersten Reihe hatten sich am schwersten vergangen. Darum standen sie in dem kalten Wasser, mußten die schwerste Arbeit verrichten und am längsten arbeiten. Ihre Füße wurden grob, ihre Hände verloren die Weichheit und schöne Form. Für Frauen, die keinen anderen Maßstab für ihren Menschenwert kennen, als ihr Aeußeres, war es eine sehr schlimme Strafe. Es kam vor, daß eine Odaliske Selbstmord beging, um ihr zu entgehen.

Die Arbeit auf der zweiten Terrasse war die zweitschlimmste Strafe. Dort wurden ihre Hände von Seife und Lauge, ihre Beine von dem kalten Wasser verschont, ihre Arbeitszeit aber war dieselbe.

Auf der obersten Stufe aber arbeiteten die Frauen nur einen halben Tag, bekamen weder nasse Füße, noch Seife an die Hände, und ihre Arbeit war so leicht wie möglich.

Da waren alle Grade von Odalisken, aber keine Kadinen, keine Sultansfrauen. Es kam auch vor, daß Favoritinnen zwischen den Frauen der obersten Stufe waren, – Ikbals, die dem Sultan schon persönlich gedient hatten. Bisweilen intrigierte die Hasnadar Usta, die Oberhofmeisterin, gegen eine Ikbal, die Aussicht gehabt hatte, zur Kadine befördert zu werden. Dann tat die hohe Dame alles was sie konnte, um die Betreffende zu reizen, bis sie die Oberhofmeisterin beleidigte oder ihr sogar den Gehorsam verweigerte. Dann konnte sie bestraft werden und hatte damit ihre Chance verloren.

Da waren auch Gösdes, auf die das Auge des Sultans gefallen war und die Hoffnung hatten, daß er ihnen das seidene Taschentuch vor die Füße werfen würde, das heißt, daß sie Favoritinnen werden konnten, wenn der Sultan im Ramadánmonat seine jährliche Revue im Harem abhielt.

Sie gehörten meistens den beiden niedrigsten Rangklassen an: den Kalfas, Kammermädchen, die frei im Harem herumgingen und darauf hofften, daß das Auge des Sultans eines Tages auf sie fallen möge, so daß sie Gösdes werden konnten, und den Halaiks, die es nicht weiter gebracht hatten, als in Scharen zu singen, zu spielen und zu tanzen. Zwischen diesen Jüngsten pflegten die gröbsten Sünderinnen zu sein, weil sie noch nicht lange die Schule durchgemacht und sich zu schicken gelernt hatten.

Während Ralph die Frauen betrachtete, musterte der Dragoman ihn von der Seite, um zu erraten, was in ihm vorginge.

Alle waren gleich gekleidet, in langen, lose hängenden Kitteln, die von einem Gürtel zusammengehalten wurden. Die Frauen in der ersten Reihe hatten nur unbedeckte Unterarme; auf der zweiten Stufe waren ihnen die Aermel bis an die Schultern hinaufgeheftet, und denen auf der letzten Stufe waren auch die faltigen Beinkleider bis übers Knie gerafft. Der Hals war bei allen frei, und wenn sie sich über die Wäsche beugten, war die Rundung der Brust zu sehen.

Anfangs genierte es Ralph, daß alle diese Augenkugeln auf ihn gerichtet waren, indessen Gesang und Gezwitscher verstummten. Er bekam einen roten Kopf und konnte sich nicht ruhig verhalten; aber er gewann seine Ueberlegenheit wieder, indem er sie kritisch betrachtete. Er ging sie Reihe für Reihe, Stück für Stück durch.

Da waren tannenschlanke Tscherkessinnen mit hübschgeformten Armen, strahlenden Augen unter scharfgezeichneten Brauen, die ihren ovalen Kopf stolz unter dem weißen Kopftuch trugen. Ihre flaumige, weißgüldene Haut bekam bei der Arbeit einen Rosenschimmer, während die Lippen bei dem hastigen Atemholen bebten. Sie standen wie weiße Blumen im Wasser, deren Becher und Blätter vom Wind nach vorn geweht werden.

In der ersten Reihe strahlte eine Schönheit mit einer Haltung wie eine Königin und einem Blick wie der einer reinen Jungfrau, die zum erstenmal in die Welt tritt.

»Das ist eine Georgierin,« sagte der Dragoman.

Sie sah, daß er von ihr sprach und senkte langsam ihre hohen Lider, um sich von der Welt abzuschließen.

Da waren rundliche Albanierinnen mit behenden Bewegungen und hastigem Lächeln in den blanken Eichhörnchenaugen.

Da war ein vierschrötiges Kurdenmädchen mit wilden Augen wie ein gefangener Vogel. Sie arbeitete mit heimlichem Aufruhr im Gemüt; wenn sie das Zeug mit ihren plumpen Armen hob, sah es aus, als schlüge sie mit Flügeln gegen einen Käfig.

Da war eine schlanke, geschmeidige Armenierin mit listigen Augen hinter schmalen Spalten und starrem Lächeln um die feingekräuselten Lippen. Sie hatte den Kopf auf die Seite gelegt, während sie arbeitete, und verwandte keinen Blick von dem Fremden.

Während Ralph die Frauen musterte und hin und wieder eine Frage an den Dragoman richtete, waren die Frauen auch nicht faul, ihn zu kritisieren. Sie prüften ihn Zoll um Zoll, mit Lächeln, Kopfbewegungen und hastigen Blicken. Besonders die Jüngsten in der untersten Reihe hatten ihren Spaß und peitschten das Wasser hoch auf, um sich vor den aufmerksamen Blicken der Eunuchen zu decken.

Eine Albanierin witzelte. Mit unschuldiger Miene und fast ohne die Lippen zu bewegen, flüsterte sie kurze Sätze, die die nächsten aufschnappten, und die darauf von Mund zu Mund gingen. Gelächter und Prusten knisterten wie elektrische Funken durch die Reihen, während die Köpfe sich über die Wäsche beugten.

Eine erkühnte sich, einen gewagten Liedervers zu summen, was eine andere zum Lächeln brachte, halb lüstern, halb verlegen.

Bald fing er einen Blick auf, der an seinem Mund, bald einen, der an seiner Stirn hing. Bald mußte seine flache Reisemütze, bald sein Rock herhalten.

Er wollte eine Momentaufnahme machen, der Dragoman aber bat ihn, es zu unterlassen, mit einem scheuen Blick auf den Eunuchen.

Eine volle Armenierin mit großem, sinnlichem Mund schleuderte auf französisch einen Satz durch die Luft, den er aufgreifen konnte, wenn er wollte.

Der Dragoman hörte ihn und lächelte.

»Sie bittet Mylord, sie loszukaufen und mit auf Eure Yacht zu nehmen.«

Ralph nickte ihr zu. Sie schlug die Augen nieder, über ihre eigene Kühnheit erschrocken. Eine Tscherkessin sandte ihr einen verächtlichen Blick, während der Eunuch seine Augen auf sie richtete.

»Kann man die Mädchen kaufen?« fragte Ralph.

Der Dragoman flüsterte ihm zu, daß der Obereunuch, der alles unter sich habe, sich bisweilen eine kleine Nebeneinnahme mache, indem er die Mädchen an reiche Landsleute, die zur Besichtigung der Wäscherei kamen, verkaufte. Hasnada Usta bekäme dann ein Geschenk, und es hieße, daß das Mädchen die Arbeit in dem kalten Wasser nicht vertragen habe und gestorben sei.

Ralph lachte. Ihm fiel ein, was von den Inspektoren der großen Zigarrenfabriken in Südamerika erzählt wurde, die Tausende von jungen Frauen beschäftigten, und wo häufig »Touristen« aus den Vereinigten Staaten kamen, um die Fabrik zu besuchen. Menschen gleichen sich unter allen Himmelsstrichen, dachte er; unsere Kultur aber ist humaner, weil das Mädchen selbst wenigstens einen Anteil an der Kaufsumme bekommt. Ein plötzlicher Ekel stieg in ihm auf, und er wandte sich zum Gehen, als englische Worte, von einer melodischen Frauenstimme gesungen, sein Ohr erreichten.

In der zweiten Reihe, am weitesten nach links, stand eine zarte Frauengestalt, den schmalen Kopf über die Wäsche gebeugt, die sie mit schmächtigen Armen hob und mit feinen Fingern rieb, die, allzu schwach, unter der Arbeit zu leiden schienen. Sie sang ihre Klage in einer Melodie ihrer Heimat, ohne daß die anderen es beachteten, die ihre Spräche nicht verstanden. Sie allein schien die Anwesenheit des Fremden nicht zu bemerken und setzte ihren Gesang ruhig fort.

Indem sie das Stück hob, um zu sehen, ob es rein sei, sah er ihr Gesicht im Widerschein der weißen Wäsche. Es war lang und schmal. Ueber den dunklen Pupillen in den opalblauen Augäpfeln schimmerte es wie eine glasartige, dünne Haut; als er ihren Blick auffing, war es, als wenn hinter dieser Haut ein bodenloser Abgrund von Trauer seine Leere auf ihn richtete. Das Gesicht hatte die Farbe einer matten Perle, als sei alles Blut aus ihrem Körper gewichen. Die schönen, etwas hervorstehenden Lippen lagen unsagbar weich aufeinander, wie von beständigem Schmerz geformt.

Das Lied, das keine ihrer Leidensgefährtinnen verstand und darum nicht beachtete, war englisch.

Ralph beobachtete sie scharf und versuchte die Worte zu verstehen. Obgleich ihre Augen niedergeschlagen waren, merkte sie doch gleich seinen Blick. Es war, als richtete sie das Lied an seine Ohren allein und formte die Worte, damit er sie verstehen sollte. Durch den Lärm des platschenden Wassers, des zwitschernden Geflüsters, des Kicherns und Prustens, das ihm galt, erzwang dieses stille Lied sich einen Weg zu seinem Ohr; und plötzlich verstand er die Worte. Es waren weder Reime noch Versfüße; es war ein Lied, das auf den Lippen eines Herzens geboren wurde, das seine Not verdolmetschte und um Hilfe flehte.

»Fremder, hilf mir!« so sang sie, »wenn du ein Mensch bist wie ich, dann hilf mir in meiner Not! – Wenn du eine Mutter oder eine Schwester hast, oder eine Frau, die dir teuer ist, oh, Fremder, dann hilf mir! – Ich bin aus meinem Heim in Indien geraubt, von einem Pferdehändler aus Bendhi Basar nach Damaskus entführt und dem Harem des Sultans verkauft worden, weil ich anders bin als die anderen. Ich bin ein Parsenmädchen aus Navsari; mein Vater ist Mobed, ich habe mit Kindern deines Volkes gespielt und deine Sprache gelernt, als ich klein war. Sieh, man hat mich hier eingesperrt, weil ich nicht tun wollte, was man von mir verlangte, und was ich nicht sagen kann. Hilf mir, hilf mir, Fremder, bevor mein Leib gekränkt wird, und meine Seele in Ahriman vergeht. Kauf mich los und schicke mich zurück zu meines Vaters Haus in Navsari!«

Wie fein und klug sie die Gelegenheit ergreift, dachte er. Er wandte sich hastig zum Dragoman um, der bereits auf der Fährte war, obgleich er nichts von dem Notruf in dem einförmigen Lied verstanden hatte.

»Ich will kaufen!«

Der Dragoman bekam einen roten Kopf vor Freude. Hier gab's mehr zu verdienen als an den elenden Prozenten in den Basaren von Stambul.

Er rollte bedenklich mit den Augen und sagte:

»Mylord, ich weiß nicht, ob an Christen verkauft werden kann.«

»Wieviel verlangen Sie, um die Sache in Ordnung zu bringen?«

»Mylord, das ist eine sehr gewagte Geschichte. Hätte ich daran gedacht, dann hätte ich Mylord einen Fes aufgesetzt. Wenn Mylord wenigstens Muselmann wären.«

»Woher wissen Sie, was ich bin und nicht bin?« Ralph lächelte. »Sie können gern sagen, daß ich rechtgläubig bin. Also, wieviel verlangen Sie?«

»Mylord dürfen nicht glauben, daß es mir ums Geld zu tun ist. Sie müssen selbst bestimmen, was ich für meine Mühe und fürs Risiko haben soll. Wenn Mylord rechtgläubig sind, will ich einen Versuch machen. Wie viele wollen Mylord kaufen?«

»Eine.«

»Welche?«

»Die äußerste dort, links, in der zweiten Reihe.«

Der Dragoman kniff die Augen zusammen und musterte sie mit Kennermiene.

»Sie ist weder von der Levante, noch vom Kaukasus; sie ist eine Seltenheit und wird teuer.«

»Gleichviel.«

»Lassen Sie sich nichts anmerken, Mylord, die Eunuchen haben scharfe Augen; ahnen sie, um welche es sich handelt, dann kann sie verschwunden sein, bevor der Befehl kommt. Mylord müssen ihnen fünfzig Frank geben, damit sie nichts gesehen haben; das ist die Taxe. Ich habe nicht so viel bei mir.«

Ralph gab ihm, was er brauchte.

Während der Dragoman ihn zuerst durch die Tür gehen ließ, sah Ralph, wie er mit den Eunuchen flüsterte, die sich um ihn drängten und mit den Rücken eine Wand gegen die Frauen bildeten, damit keine sehen sollte, was vorging. Der Dragoman ließ einen Schein in ihre Hand gleiten, als er sie ihnen zum Abschied schüttelte.

Als sie in den Hof hinauskamen, forderte er Ralph auf, im Automobil zu warten, während er einen Versuch beim Obereunuchen machen wollte.

Ralph nahm im Wagen Platz. Ich bin gespannt, was so etwas kostet, dachte er. Wenn es nur nicht zu lange dauert; er verlangte ungeduldig danach, das Mädchen in der Nähe zu sehen und ihre Dankbarkeit zu erleben. Was würde das Hotel sagen, wenn er ein Parsenmädchen mitbrachte, das auf seine Kosten einquartiert werden sollte? – Es war ein gelungener Spaß, ein gutangewandter Vormittag, ja, noch mehr – eine gute Tat.

Ralph machte es sich in der Ecke des Wagens bequem und wartete zehn Minuten.

Er wollte gerade den Chauffeur hinschicken, um zu erfahren, was aus der Sache würde, als er den Dragoman mit dem Obereunuchen aus der Torwölbung des Flügels kommen sah.

Der Eunuch, der um zwei Köpfe größer war als der Dragoman, trug seinen Riesenkörper wie ein schweres Bündel mit langen, schwankenden Schritten über den kiesbestreuten Platz, wo der Sonnengürtel jetzt schon breiter geworden war.

Als er das Auto erreichte, beugte er sich zur Erde, als ob er mit seiner rechten Hand Kies von der Erde aufnehmen wollte, worauf er sie an Mund und Stirn führte, während er die Linke flach gegen die Brust drückte. Ralph war sich bei dem übertriebenen Gruß gleich klar darüber, daß der Preis sehr hoch sein würde.

Der Dragoman bat Ralph, ihnen zum Torbogen zu folgen, damit der Chauffeur nichts von der Sache erführe.

Ralph folgte ihnen. Wie er dort ging, fiel ihm ein, daß er einem Generalagenten für den weißen Sklavenhandel, der sich auf einer jährlichen Einkaufsreise befand, nicht unähnlich sei. Der Gedanke belustigte ihn. Dies war ein wirkliches Abenteuer, wie er es sich bei seiner Abreise von Neuyork vor zwanzig Tagen nicht hatte träumen lassen.

»Mylord,« sagte der Dragoman, als sie bei geschlossenem Tor vor dem Pult des Eunuchen standen, »ich habe mein möglichstes getan, aber der Obereunuch wagt hier nicht ohne einen Befehl des Kislar-Aga zu handeln.«

Ralph sah zu dem Riesen auf, der die Achseln zuckte und mit den langen Affenarmen eine bedauernde Bewegung machte.

»Wo wohnt er und wann ist er zu treffen?«

»Mylord müssen eine Einführung haben und auf eine Audienz warten.«

Ralph zog ein Scheckbuch heraus.

»Wieviel?« fragte er und blickte von einem zum andern.

Die dicken Lippen des Obereunuchen bewegten sich schmatzend, und in seinen stumpfen Augen kam und ging ein gieriger Schein. Er strich sich über seine klare Mädchenhaut und sagte etwas zum Dragoman, der unruhig wurde und nach Luft schnappte.

»Zehntausend Frank!« brachte er schließlich leise und heiser heraus. Er blies die Backen auf, um seine Bewegung zu verbergen; Ralph aber sah, daß seine Hände zitterten.

»Gut – und fünfhundert für Sie. Das ist eine ganz hübsche Provision für Sie als Anteil an der Kaufsumme.«

Der Dragaman wollte gegen den Verdacht einer Gemeinschaft protestieren; ein Blick auf Ralph aber zeigte ihm, daß er lieber seinen Mund halten müsse. Darum nickte er nur und trocknete sich den Schweiß von der Stirn.

Ralph füllte einen Scheck aus.

»Hier, bitte!« Er reichte ihn dem Obereunuchen, der ihn an den Dragoman weitergab, damit er ihn begutachten sollte. »Das ist die Hälfte des Betrages, den Rest bekommen Sie, wenn das Mädchen im Hotel abgeliefert ist.«

»Im Hotel?«

»Ja, im Hotel.«

Der Dragoman verhandelte mit dem Eunuchen, der bedenklich aussah und neue Schwierigkeiten machte.

»Der Obereunuch stellt die Bedingung, daß das Mädchen in Knabenkleidern abgeliefert wird, daß sie sie nicht ablegt, solange sie in Stambul bleibt, und daß sie sich nie vor Anbruch der Dunkelheit und allein auf der Straße zeigt.«

»Schön! – verkleiden Sie sie und bringen Sie sie zum Auto.«

»Mylord, das geht nicht an. Bedenken Sie den Chauffeur! Mylord haben mich ja gebeten, einen eingeborenen Diener für die Reise zu verschaffen. Ich werde ihn heute abend nach dem Mittagessen im Hotel abliefern.«

»Gut! Kommen Sie.«