Oanda - Die glückliche Insel - Laurids Bruun - E-Book

Oanda - Die glückliche Insel E-Book

Laurids Bruun

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Beschreibung

Sie ließ ihren Blick über das Riff schweifen, bis sie die Klippe fand, wo ihr Vater und ihre Mutter sich aus dem zerschmetterten Boot gerettet hatten. Wie eine ungeheure Schildkröte hob sie sich aus dem weißen Schaum. Die Brandung umtobte sie, erreichte aber nie ihre Spitze. Sie war häufig mit Toko draußen gewesen, er pflegte auf der Innenseite der Klippe anzulegen, wenn er auf Schildkrötenfang war. Dann hatte sie auf dem nassen Stein gestanden und zum Meer hinausgeblickt, das raste und schäumte, weil der Korallengrund ihm seine Kraft nahm. Zwischen diesen Klippen hatte ihr Vater mit der Brandung um das Leben ihrer Mutter und um sein eigenes gekämpft, bis er einen Halt an dem rauhen Stein fand und hinaufgelangte. Die Eingeborenen hatten das Boot draußen kentern sehen. Als Pieter und Toko als die ersten die Klippe erreichten, fanden sie eine Frau, die weinend über dem Mann lag, der sein Leben hingegeben hatte, um das ihre zu retten; sein Herz war beim Kampf gebrochen. Oanda schloß die Augen und dachte an ihren Vater. Sie sah ihn auf dem Stein liegen, bleich, mit zusammengepreßten Lippen, die Hand so fest um die ihrer Mutter gepreßt, daß man sie fast nicht hatte loslösen können. Das alles hatte Pieter ihr erzählt, als sie noch ein kleines Mädchen war. Sie hatte es so lebendig vor sich gesehen, als ob sie es miterlebt hätte. Für gewöhnlich dachte sie nicht daran, daß ihre Mutter blind war und ihr eigenes Kind noch nie gesehen hatte. Wenn sie aber an ihren Vater dachte und ihn vor sich liegen sah, die Hand so fest um die der geliebten Frau geschlossen, als wollte er sie mit sich in das Unbekannte hinüberziehen, dann begriff sie, was es hieß, blind zu sein: Denjenigen, dessen Stimme verstummt war, nicht einmal mehr mit dem Blick erreichen zu können! Wann immer sie daran dachte, mußte sie weinen. Einen Traum hatte sie, der immer wiederkehrte: Sie saß hoch oben auf einem Felsen ...

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Laurids Bruun

Oanda

Die glückliche Insel

idb

ISBN 9783961507351

I.

Sie hatte die Hände um die nackten Knie gefaltet und blickte in den Sonnenaufgang, Vom Meer kamen heiße Windstöße, die ihre flaumige Wange liebkosten und das glänzende Haar nach rückwärts strichen.

Das Licht wurde so stark, daß sie den Sommerhut vor die Augen ziehen mußte. Er war neu, groß und flach; sie war sehr froh darüber, ihre Mutter hatte ihn aus reinsten Kokosfasern geflochten.

Die Lagune war voll flimmernder Lichtstäubchen, die sich jagten und doch nie erreichten, weil die kleinen kristallgrünen Schattentäler dazwischen waren.

Sie fühlte ein Stechen an ihren Füßen; an den Strohsandalen waren von dem dichten Gebüsch, durch das sie hindurchgebrochen war, um auf die Spitze des Kalkfelsens zu gelangen, Dornen sitzen geblieben. Sie zupfte sie heraus und setzte sich dann bequem zurecht, um den Horizont gründlich abzusuchen.

Es zeigte sich nicht ein einziger dunkler Punkt, der Wilkins Barke vorstellen konnte.

Seit einer ganzen Woche wurde das Schiff nun schon erwartet. Jedes Vierteljahr, am ersten im Monat, verließ die »Arizona« den Hafen von Manila, legte in Zamboanga an, wo sie ein oder zwei Tage blieb, und gebrauchte dann acht Tage, um die Reise nach van Zantens Insel zu machen. Hier pflegte sie einige Tage zu liegen, bevor sie nach den Karolinen weiterfuhr.

Oanda erinnerte sich nicht, daß das Schiff jemals mehr als fünf Tage Verspätung gehabt hatte; damals war es an der Ostküste von Mindanaos vor Anker gegangen, aus Furcht vor dem Taifun.

Die Kopra war gepackt, die Bananenkörbe füllten den Speicher bis unters Dach, und Toko war ärgerlich, daß er seine dreimonatliche Reise durch die Insel nicht antreten konnte, bevor Wilkins mit den Waren da war.

Die jungen Mädchen gingen jeden Abend an den Strand und sangen das Zauberlied, um das Schiff herbeizulocken. Es war dasselbe Lied, sagte Pieter, das sie gesungen hatten, um den Fischzug heranzuziehen, als er zuerst zur Insel gekommen war.

So hatte sie sich noch nie nach dem Schiff gesehnt. Sie konnte das große Buch kaum erwarten, das Wilkins im Auftrage ihrer Mutter in Manila besorgen sollte – mit Bildern von allen Inseln und Städten der Welt, wo es Häuser gab, höher als die höchsten Kokospalmen, Wagen, die schneller fuhren als ein Schiff unter vollen Segeln, Boote, die auf großen künstlichen Flügeln durch die Luft flogen – und ein Bild vom Präsidenten, der in einem weißen Hause wohnte und über all das Wunderbare, das die Menschen geschaffen hatten, herrschte.

Oanda schloß die Augen und fühlte die ganze blendende Welt in ihrem Innern – die Welt, aus der ihre Eltern stammten, bevor sie auf der Insel strandeten, und auch Pieters, der sie freiwillig vor vielen Jahren verlassen hatte, weil er lieber auf seiner eigenen Insel leben wollte.

Sie ließ ihren Blick über das Riff schweifen, bis sie die Klippe fand, wo ihr Vater und ihre Mutter sich aus dem zerschmetterten Boot gerettet hatten. Wie eine ungeheure Schildkröte hob sie sich aus dem weißen Schaum. Die Brandung umtobte sie, erreichte aber nie ihre Spitze.

Sie war häufig mit Toko draußen gewesen, er pflegte auf der Innenseite der Klippe anzulegen, wenn er auf Schildkrötenfang war. Dann hatte sie auf dem nassen Stein gestanden und zum Meer hinausgeblickt, das raste und schäumte, weil der Korallengrund ihm seine Kraft nahm.

Zwischen diesen Klippen hatte ihr Vater mit der Brandung um das Leben ihrer Mutter und um sein eigenes gekämpft, bis er einen Halt an dem rauhen Stein fand und hinaufgelangte. Die Eingeborenen hatten das Boot draußen kentern sehen. Als Pieter und Toko als die ersten die Klippe erreichten, fanden sie eine Frau, die weinend über dem Mann lag, der sein Leben hingegeben hatte, um das ihre zu retten; sein Herz war beim Kampf gebrochen.

Oanda schloß die Augen und dachte an ihren Vater. Sie sah ihn auf dem Stein liegen, bleich, mit zusammengepreßten Lippen, die Hand so fest um die ihrer Mutter gepreßt, daß man sie fast nicht hatte loslösen können. Das alles hatte Pieter ihr erzählt, als sie noch ein kleines Mädchen war. Sie hatte es so lebendig vor sich gesehen, als ob sie es miterlebt hätte.

Für gewöhnlich dachte sie nicht daran, daß ihre Mutter blind war und ihr eigenes Kind noch nie gesehen hatte. Wenn sie aber an ihren Vater dachte und ihn vor sich liegen sah, die Hand so fest um die der geliebten Frau geschlossen, als wollte er sie mit sich in das Unbekannte hinüberziehen, dann begriff sie, was es hieß, blind zu sein: Denjenigen, dessen Stimme verstummt war, nicht einmal mehr mit dem Blick erreichen zu können! Wann immer sie daran dachte, mußte sie weinen.

Einen Traum hatte sie, der immer wiederkehrte: Sie saß hoch oben auf einem Felsen und blickte übers Meer, als sie plötzlich eines Schiffes ansichtig wurde, dessen Masten in die Sonne ragten. Die Segel leuchteten golden im Licht; langsam glitt es auf das Riff zu, aber es strandete nicht. Es steuerte sicher und geradeswegs durch den engen Kanal zwischen den Schären. Es wurde größer und größer, und indem es still über das hellgrüne Wasser der Lagune glitt, sah sie am Steuer einen jungen Mann stehen. Er war groß und hübsch, und sie dachte bei sich, daß so gewiß ihr Vater ausgesehen hätte. Seine Augen schweiften suchend umher. Und als sie sie gefunden hatten, breitete er die Arme aus und rief nach ihr. Ihr Herz war so voller Freude, daß es einen Augenblick zu schlagen aussetzte. Dann aber rief sie: »Warte, ich komme!« – erhob sich, um sich ins Meer zu stürzen, und beim Fall erwachte sie.

Wenn dieser Traum eines Tages Wirklichkeit würde! Wenn es nicht der dicke Wilkins von Manila mit seinen beiden kleinen Mädchen Clare und Elisa wäre, der heute oder morgen käme, sondern große, leuchtende, vollkommene Menschen unter goldenen Segeln!

Oanda erhob sich, blickte noch einmal über den ganzen Horizont und kletterte dann den Weg zurück, den sie gekommen war. Sie umging geschickt die Dornen, stemmte Füße und Hände in die runden Löcher, wo es von Ameisen wimmelte, erreichte das Gebüsch, ließ sich rückwärts hinabgleiten, faßte einige Lianen, die im Winde schwankten, und fierte sich an ihnen hinunter, bis sie die Steine des Strandes unter ihren Füßen fühlte.

Vor der Landzunge bog sie in eine kleine Bucht ein, die ringsherum mit Yams-Gebüsch bewachsen war. Sie entkleidete sich und lief über den Korallenstein so weit ins Meer hinaus, bis das Wasser ihr an die Hüfte reichte; dort stand sie in dem lauwarmen Wasser und reckte sich zum Licht hinauf, während ihr sonnenverbranntes glänzendes Haar die weißen Schultern frei umwogte.

Draußen beim Riff waren einige Fischer im Begriff, Reusen auszulegen. Sie standen achtern auf ihren schmalen Bambusflößen und ruderten, während die großen eiförmigen Reusen paarweise vor ihnen zusammengebunden lagen. Andere folgten in einem Kanu. Wenn die Reuse ausgelegt war, bogen sie sich über das Kanu, rückten die Reuse zurecht und befestigten sie an den Pfählen.

Sie stand im Licht und streckte ihre Hände der Sonne entgegen, wie die Eingeborenen es zu tun pflegten; und sie sprach das Gebet, das ihre Mutter sie gelehrt hatte, als sie ganz klein war, daß das Licht, das in allem ist, in ihr siegen möge und über sie und in allen Dingen der Welt.

Dann tauchte sie unter und schwamm unter Wasser, bis sie ein gutes Stück draußen war. Sie lachte und atmete laut, schüttelte sich das Wasser von den Haaren und schwamm mit hocherhobenem Kopf und langen, ruhigen Zügen wieder auf den Strand zu.

Mit den Händen strich sie sich das Wasser von den schlanken Gliedern, die bis über Knie und Ellbogen braun waren, und drehte sich eine Weile in der Sonne, bis ihre Haut wieder trocken war, kleidete sich darauf singend an und schlenderte weiter. Im Gebüsch fand sie einige herrlichrote Hibiscus, die sie sich ins Haar steckte.

Auf der andern Seite der Bucht erstreckte sich der Strand in gerader Linie bis zum Bootshause mit seinem niedrigen Pisangdach, wo Pieter seine Kanus zum Schutz gegen Sonnenbrand und Regen untergebracht hatte. Sie konnte ihr eigenes kleines Boot sehen, das mit Gurkemejed-Wurzel gelb gemalt war. Daneben lag der Speicher, hoch und solide und gelb gekalkt. Eingeborene waren damit beschäftigt, Koprakisten zur Mole hinauszurollen – die Mole war ein Werk von Toko, und bestand aus Korallenblöcken, die er behauen hatte. Dort draußen lagen einige Arbeitskanus wie schwarze Punkte in dem blanken Wasser und die große viereckige Bambusflotte, die die Waren zum Schiff hinausbringen sollte.

Sie beschattete die Augen mit der Hand, um zu sehen, ob sie Toko entdecken könnte; aber er war nicht da, Pieter, wußte sie, saß zu Hause und schrieb die Warenlisten, die Wilkins mithaben sollte.

Das Haus, in dem sie wohnte, konnte sie von hier aus nicht sehen. Der Kokoshain des Königs, wie er noch immer hieß, obgleich seit vielen Jahren kein König mehr auf der Insel gewesen war – kein anderer als Pieter – lag zwischen dem Strand und ihrem Hause und ging ganz bis zum Wasser hinunter.

Die höchsten Blätter der Kokoskronen schwankten träge in dem leisen Wind; die untersten waren bereits gelb und die Nüsse hingen in ihrem Schatten, dicht und grün. Sie kannte alle Bäume und hatte den größten Namen gegeben. Dort war ein alter Bambuszaun, der hier und da aus Altersschwäche zusammengebrochen war; durch ein Loch konnte sie in das kühle Dunkel unter die schlanken Stämme sehen, wo sich hin und wieder ein vereinzelter zitternder Sonnenstrahl Bahn brach. Die herabgefallenen Nüsse waren in Haufen gesammelt und fingen an, blaß und braun zu werden. Ein Eingeborener war damit beschäftigt, sie zu sortieren, doch konnte sie nicht erkennen, wer es war.

Als sie noch ein Stück gegangen war, kroch sie durch ein Loch im Zaun, es war der Richtweg, den die Mädchen einschlugen, wenn sie baden wollten.

Nun ging sie durch den Hain, der sanft auf dem Strand anstieg, bis sie seinen Saum erreichte, wo die Wärme vom offenen Land ihr entgegenschlug. Der schmale Pfad, den sie verfolgte, führte quer über das Tarofeld, Die großen, dunklen, blanken Taroblätter schlugen über dem Weg zusammen und reichten ihr bis an die Hüfte.

Sie blieb stehen und erfreute sich an der strahlenden Fruchtbarkeit, die in der Morgensonne gebadet lag. Die Taroplantagen erstreckten sich von dem Grabhügel ihres Vaters am Ende des Kokoshains, ganz bis zu den Kalkfelsen am Strande.

Der Pfad führte zu den Hütten der Eingeborenen, die im Schatten verstreuter Palmen, Pisangs und Bananen lagen. Hier und dort erhob ein Brotfruchtbaum seine dichte dunkle Krone über die niedrigen Bäume.

Sie konnte die Hühner drüben gackern hören. Sonst lag alles still. Zu dieser Zeit waren nur die Alten und die kleinen Kinder zu Hause. Aus der Hütte der alten Muwa stieg ein leichter weißer Rauch durch die dünne Luft.

Wahrscheinlich kocht sie Wasser, um Umschläge für ihr krankes Bein zu machen, dachte Oanda. Wie Mutter es sie gestern gelehrt hat.

Vor den äußersten Hütten spielte eine Schar nackter Kinder im Schatten mächtiger Pisangblätter. Oanda rief ihnen etwas zu, und die Kinder erhoben beim Laut ihrer Stimme die Köpfe. Als sie ihres weißen Kleides ansichtig wurden, erhoben sie ein lautes Geschrei und stürmten auf sie zu. Jedes wollte zuerst bei ihr sein. Sie griffen nach ihren Händen, klammerten sich an ihre Arme und Beine und zerrten an ihrem Kleid, während sie alle durcheinander schwatzten und mit ihren schimmernden weißen Zähnen lachten.

Einige von den Kleinsten nahm sie auf den Rücken, und so lief sie mit der ganzen Schar zu den leeren Hütten, so daß der weiße Staub aufgewirbelt wurde und die Hühner erschrocken aus den Löchern, die sie sich in den losen, weißen Sand gemacht hatten, davonstoben.

Hütte lag neben Hütte, das niedrige, sonnenverbrannte Blätterdach hing über die geflochtene Wand und das dunkle Türloch. Vor einer Hütte saß eine alte Frau und wärmte sich in der brennenden Sonne, mit nacktem Oberkörper und hochgezogenen Knien. Sie verzog ihr runzliges Gesicht zu einem Lächeln und streckte Oanda ihren mageren Arm grüßend entgegen.

Je weiter sie lief, desto größer wurde die Kinderschar. Alle wollten mit, die aber, die zuerst von ihren Händen und ihrem Kleid Besitz ergriffen hatten, wollten nicht gutwillig von ihrem Platz weichen, und es gab Geschrei und Prügelei, bis sie den offenen Platz vor dem großen Versammlungshaus erreicht hatten, dessen Holzwände und hoher Giebel mit bunten Mustern von Ringen und Stäben geschmückt waren. Zur Zeit des alten Königs war dies »Das Haus der jungen Männer« gewesen.

Vor einer Hütte stand ein alter, bärtiger Mann und brach Reisigholz über seinem Knie für ein Feuer. Im Vorbeirennen rief Oanda ihm zu, daß noch kein Schiff zu sehen sei. Der Alte hielt in seiner Arbeit inne, um zu antworten. Bevor er aber etwas gesagt hatte, war die wilde Jagd schon vorbei.

Eine Schar schwarzer Ferkel mit langen, weißen Ohren riß sich um eine Taroknolle, die fast ebenso groß wie sie selbst war. Sie hatten kaum Zeit aus dem Wege zu gehen, nachdem sie sich aber besonnen hatten, rannten sie hinterher, bis Kinder und Ferkel durcheinander kollerten.

Jetzt hielt Oanda im Lauf inne. Die Kinder balgten sich mit den Ferkeln und jagten sie zwischen den Hütten. Ein altes Weib kam aus ihrem Türloch und schimpfte, bis sie Oandas ansichtig wurde; da verwandelte sich ihr Zorn in ein Lächeln. Sie kam auf Oanda zugewackelt und zeigte ihr eine Wunde, die sie am Arm hatte. Oanda hörte ihrem Bericht geduldig zu und erteilte gute Ratschläge, wie ihre Mutter es getan haben würde.

Nachdem Oanda bei der alten Muwa gewesen war und ihr mit den Umschlägen geholfen hatte, ging sie durch das Dorf, bis sie das Tarofeld erreichte, wo die Mädchen heute die Knollen ausgruben.

Das Licht schimmerte in weißen Flächen auf ihren schweißblanken Rücken, wie sie dort in einer langen beweglichen Reihe zwischen den dunklen Büschen lagen und zur Arbeit sangen. Während sie übers Feld ging, sang Oanda mit:

»Ich stand am Strand und winkte, Bis meine Hand ermüdete. Das Segel gen Süden gesetzt, Zog er fort in seinem Boot. O, komm, mein geliebter Mann, Bevor mein Auge dich verliert. O, mein Geliebter, Die Nacht ist lang, Und der Morgen uns beiden verborgen.«

Da hörte eines von den Mädchen Oandas Stimme. Sie drehte den Kopf um, und im selben Augenblick hatten alle anderen sie auch erblickt. Sie sprangen auf und liefen ihr entgegen.

»Das Schiff? – Das Schiff?«

Oanda schüttelte den Kopf und schlug die Augen nieder. Die Mädchen taten wie sie und machten dann ihrer Enttäuschung Luft. Wina sprach von dem Spiegel, den sie haben sollte, Ava von dem roten Band für ihr Haar. Jede hatte etwas auf Pieters Liste, wovon sie träumte. Während sie schwatzten, berechnete Oanda, wie weit sie mit der Arbeit waren, sie brach einige Knollen durch, um zu sehen, ob sie reif und weiß wären. Sonst pflegte sie selbst bei der Arbeit voranzugehen.

Die Mädchen lachten und lärmten und stießen sich, um ihr nahe zu sein. Ava entdeckte eine bunte Blume und unterbrach sich mitten in der Rede, um sie zum Schmuck für ihr schwarzes krauses Haar zu pflücken. Zwischen den Büschen wuchsen wilde, rote Hibiscus und Coleos mit brandgelben Blättern.

Als Oanda sich zum Gehen wandte, hingen sie sich an sie und maulten. Wina mit der lauten Stimme sagte, daß kleine Schwestern nicht arbeiten könnten, wenn die große Schwester nicht voranginge; wessen Spur sollten sie folgen, wenn sie nicht da wäre? Sie sei es, die die Knollen weiß und reif mache.

Oanda lachte. Ihr Lachen war von solch sprudelnder Fülle, daß niemand ihm wiederstehen konnte. Wina lachte auf ihre laute Art, während sie den Kopf in den Nacken warf und mit den Beinen trampelte. Da stimmte Oanda den Arbeitsgesang an, und kurz darauf knieten wieder alle Mädchen zwischen den Büschen und sangen wie vorher.

Oanda fuhr fort zu singen, während sie sich entfernte. Sie folgten ihr mit den Augen wie treue Hunde. Oanda blickte zurück und winkte; und es glänzte von blanken, nackten Armen, die sich hinter ihr herstreckten, mit einer Taroknolle in jeder Hand.

II.

Helen saß auf der Veranda und webte.

Das Licht fiel auf den Webrahmen, der zwischen den beiden Kokospfählen, die das Dach trugen, ausgespannt war. Sie selbst saß in ihrem großen Korbstuhl im Schatten. Wenn sie die Hand nach den feinen, gelben Blattfasern, die vom Rahmen herabhingen, ausstreckte, fühlte sie die Sonne auf ihren Fingern. So merkte sie, wie der Tag vorwärts schritt.

Sie strammte die glatten Fasern, führte sie mit dem Schiffchen ein und aus, schmale und breite durcheinander. Das Muster entstand unter ihren Fingern, während ihre Gedanken von Erinnerung zur Hoffnung, von der Vergangenheit zur Zukunft schweiften. Aufrecht wie das Schicksal saß sie da, die Lider über die blinden Augen gesenkt, den Kopf lauschend zur Dunkelheit geneigt, in der ihre Finger tätig wirkten.

Ihr Ohr fing das leise Gemurmel des Baches auf, der sich zwischen den großen Steinen unter der Brücke, die Toko gebaut hatte, einen Weg suchte. Wenn ein stärkerer Windstoß kam, konnte sie das ferne Brausen aus der Tiefe des Gehölzes hören, wo das Wasser sich von den Kalkfelsen zum Blumental, wie Oanda es getauft hatte, hinabstürzte. Sie konnte den Arbeitsgesang der Frauen auf der andern Seite des Kokoshains hören und das Gackern der Hühner zwischen den Hütten.

Der errötende Bougainville über dem runden Tisch, der blanke Hibiscus mit den feuerrot leuchtenden Blumen längs des Bambuszaunes, das Beet mit den hellgrünen Kaneelbüschen, die einsame Kokospalme, die sich mitten auf dem großen Rasen mit ihrem Stamm hoch über die übrigen Büsche und Bäume des Gartens erhob, die Rabatten mit den bunten Crotonblättern, die den Gartenweg einrahmten, das Beet mit den hochstämmigen, spanischen Rosen, die Wilkins von Manila mitgebracht hatte – alles was draußen in der Sonne atmete und was ihre Finger liebkosend hatten wachsen fühlen, entsandte linde Düfte zu ihrer zarten Wange, zu ihrer weißen Stirn – Botschaft, die aus der Welt, die für sie im Dunkel lag, zu dem Licht in ihrem Herzen kam.

Die Tür zur Stube hinter ihr stand geöffnet. Sie konnte drinnen eine Fliege summen hören. Jetzt taumelte sie gegen den Schrank, jetzt flog sie summend um die Oellampe unter der Decke.

Vom Meere kam ein plötzlicher Luftzug. Er sauste durch die Brotfruchtbäume auf der anderen Seite der Brücke, wurde ein Weilchen von dem dichten Laub des Bougainville aufgehalten, raschelte munter durch die untersten halbwelken Blätter des Pisangs, erreichte die Veranda, erfaßte ihre Fäden, kühlte ihr Gesicht und klapperte hinter ihr mit den halb herabgelassenen Fenstermatten.

In Pieters Zimmer, das auch zur Veranda hinausging, riß der Luftzug die Tür auf und bemächtigte sich der Papiere auf seinem Arbeitstisch. Sie hörte Pieter brummend danach greifen. Gleichzeitig erhob er sich, schob den Stuhl zurück und trat mit den Blättern in der Hand zu ihr hinaus.

Er ging über die Veranda in den Garten hinaus, wandte sein sonnenverbranntes Gesicht nach rechts und links, indem er mit seinen kleinen, vergnügten Augen ins Licht blinzelte. Das rötliche Haar war dünn, die runde Stirn sehr hoch geworden; im Nacken war das Haar kurz geschnitten und an den Schläfen waren die krausen Haarbüschel, ebenso wie die dichten Brauen, verblichen und weißlich; es sah aus, als wären sie verstaubt.

»Du sollst sehen, ein Wind kommt auf.«

Sie lächelte. Was Pieter sich wünschte, daran glaubte er auch.

»Voriges Jahr kam Wilkins schon am neunten, weißt du noch, wir waren noch gar nicht auf sein Kommen gefaßt.«

»Ja, ja. Wir waren noch nicht fertig mit backen.«

»Und die Kopra war noch nicht gepackt,«

»Wie zeitig der Monsun in diesem Jahr vorbei ist. Wir haben schon seit fast vierzehn Tagen Windstille.«

»Darum kann es bei den Philippinen doch noch wehen.«

»Er hat ja einen Motor an Bord.«

»Allerdings, was er aber an Petroleum spart, das wandert in seine eigene Tasche. Wilkins ist ein Geizkragen.«

»Weißt du nicht mehr damals, als er eine ganze Woche zu spät kam, weil er wegen des Taifuns bei Mindanao vor Anker gehen mußte?«

»Geduld – Geduld!« sagte Pieter und ging ungeduldig auf der Verandamatte hin und her. »Ich habe seit Tagesgrauen einen Ausguck auf der Königspalme postiert.«

»Wen?«

»Muwas Jüngsten.«

Helen wandte sich zu ihm um, während ihre rastlosen Finger einen Augenblick innehielten.

»Hast du an das Verbandzeug für Muwas Bein gedacht? Die arme Alte kann jetzt nicht mal mehr aus ihrer Hütte heraus.«

»Vergesse ich je etwas? Sie steht auf der Apothekerliste.«

»Du hattest es doch das letzte Mal vergessen,« sagte Helen und lächelte.

»Keineswegs. Ich hatte nur noch keine Entscheidung getroffen.«

»Hattest du nicht bestimmte Befehle erhalten?«

Pieter lachte.

»Ja, unsere Kleine versteht's,« sagte er bewundernd, »wo ist sie übrigens?«

»Sie ist zur Klippe hinausgegangen, um nach dem Schiff auszuschauen,« sagte Helen und begann wieder zu weben.

»Die Papiere sind in Ordnung,« sagte er und blätterte mit Befriedigung darin, »hier ist die Haushaltungsliste, die Wäscheliste.«

»Sieh mal nach, ob Oanda an Stecknadeln gedacht hat?«

»Hier stehen sie,«

»Und an die Gläser zum Einkochen?«

»Hier!«

»Die Apothekerliste, die Werkzeugliste, die Gartenliste, Ich habe Hyazinthenzwiebeln aufgeschrieben. Das duftende, blühende Haarlemerland ist das einzige, was ich aus meiner Kindheit entbehre.«

»Schreibe auch Maiglöckchen auf; das waren meine Lieblingsblumen. Glaubst du nicht, daß sie im Schatten unter den Bananen gedeihen können?«

»Vielleicht, wenn man sie in Manila bekommen kann. Ich erinnere mich ihrer noch genau,« er legte den Zettel gegen den Pfahl und schrieb sie auf die Liste, »es sind kleine Glockenblumen, weiß wie Schnee.«

Helen senkte den Kopf; ihre Hände glitten in den Schoß. Schnee – sie sah ihn fallen, still und weich im fernen, fernen Lande, vor mehr als zwanzig Jahren. Es zuckte in der feinen Schmerzensfalte um ihren Mund. Sie trauerte nicht um ihre Jugendzeit, nicht um ihre Heimat, sondern um die ganze schöne, bunte Welt, die nur noch in ihrer Erinnerung lebte, seit das Licht in ihren Augen erloschen war.

»Er war so weich und leicht und kalt, wenn ich ihn vom Fenstergesims strich, um den Spatzen Brot zu streuen.«

Pieter wendete den Kopf und lauschte.

»Jetzt kommen die Mädchen von der Arbeit.«

Er sah rechts über den Zaun und die sonnigen Felder, die sich von den Kokospalmen und dem Hüttendorf bis zu dem dichten, dunklen Gehölz längs des Baches erstreckten. Jetzt konnte man deutlich die langgezogenen Töne des Gesanges hören.

Kurz darauf tauchten die ersten Mädchen an der Waldecke auf. Langsam, im Takt zum Gesang schritten sie über den schmalen Pfad zwischen den Tarobüschen, die ihnen bis an die Schenkel reichten. Wenn ein Blatt einen von den hellen, bunten, geflochtenen Röcken ergriff, kam das nackte Bein zum Vorschein und leuchtete in der Sonne; dann blieb der ganze Schwarm stehen, bis das junge Mädchen ihren Rock befreit hatte.

Sie schritten vornübergebeugt, die langen Taroknollen auf dem Rücken, die von einem breiten Bastband zusammengebunden waren. Das Band, das das Bund zusammenhielt, ging ihnen über die Stirn, so daß Kopf, Hände und Rücken die Bürde gleichmäßig trugen.

Pieter freute sich beim Anblick der frohen Jugend, die zum Stapelplatz auf der anderen Seite des Zaunes ging. Als sie seiner ansichtig wurden, winkten sie ihm zu und stellten ihren Gesang ein,

»Wo ist Oanda?« rief er.

»Sie ist in den Wald gegangen, um Blumen für das Schiff zu pflücken!« antwortete Wina.

Im selben Augenblick geriet der ganze Zug in Unordnung, sie warfen ihre Bündel auf die Erde und riefen durcheinander.

»Ich kann es euch nicht sagen!« rief er zurück, »aber in der Kokospalme sitzt den ganzen Tag ein Ausguckmann; sobald das Schiff in Sicht ist, schlagen wir die Trommel, wie ihr wohl wißt.«

Da sie fortfuhren Lärm zu machen, drehte er sich um und zeigte auf Helen, die hochaufgerichtet und blaß dasaß, die Hände über ihre Webearbeit ausgestreckt, als ob sie die Häupter der Menschen segnete.

Wina machte denen, die hinter ihr kamen, ein Zeichen zu, und sie wurden, still. Darauf löste jede ihr Tarobündel, warf die Knollen in den Speicher, einen kreisrunden Behälter aus lotrechten Bambusstämmen, die in die Erde eingerammt und durch fingerdicke Lianen zusammengebunden waren.

»Das Feld ist noch nie so ergiebig gewesen, wie in diesem Jahr,« sagte Pieter und wandte sich zu Helen um, »heute ist erst der fünfte Erntetag und schon ist der Behälter halb voll.«

Nachdem die Arbeit beendet war, richteten die Mädchen sich auf, strichen die Haare von Stirn und Ohren zurück, bürsteten sich Erde und Staub von den Röcken, winkten Pieter zu und setzten den Weg längs des Pfades fort, um zu baden.

Der Pfad führte an dem Grabhügel vorbei, von dessen Höhe ein viereckiger Korallenblock weit über Insel und Lagune leuchtete. Der Ort war heilig; denn hier lag derjenige begraben, der sein Leben den bösen Geistern des Meeres gegeben hatte, damit sie die blinde Frau schonten, die die Sonne zur Insel gesandt hatte, um Oanda, der Leuchtenden, das Leben zu geben.

Wina ging auf den Hügel hinauf, und die anderen folgten ihr, eine nach der anderen.

»Sie legen die Blumen, die sie in Gürtel und Haar tragen, auf das Grab, damit das Schiff bald kommt.«

Helen richtete ihre leeren Augen auf das Grab; um ihren Mund zitterte das Lächeln, das Pieter so gut kannte und das ihm immer ins Herz schnitt.

»Nun soll man also mal wieder etwas aus dem alten Tollhaus erfahren,« sagte er und trat zu Helen. »Ich bin neugierig, worüber die Leutchen sich seit dem letzten Vierteljahr in den Haaren gelegen haben. Hast du Sehnsucht nach der ›Times weekly?‹«

»Nein.« Sie drehte den Kopf zu ihm um, »ich nicht, aber Oanda. Hast du nicht gemerkt, wieviel sie fragte, als sie uns das letzte Mal daraus vorlas?«

»Sie kann sich das alles nicht recht zusammenreimen.«

»Ihre Fragen waren nicht immer leicht zu beantworten.«

»Ich merkte es wohl!« Pieter lachte.

Helen wandte ihm ihr Gesicht zu; ihr Mund war bekümmert.

»War es auch recht von uns?«

»Was?«

»Hätten wir ihr die Welt nicht schildern sollen, wie sie wirklich ist?«

»Wäre sie dadurch glücklicher geworden?«

»Und wenn sie nun selbst in diese Welt käme?«

Pieter forschte erstaunt in dem blassen Gesicht und wartete auf eine Erklärung.

»Wie sollte das zugehen?« fragte er.

Sie beugte ihren Kopf über die Webarbeit; eine schwache Röte breitete sich über ihre Wangen und Schläfen.

»Sie ist neunzehn Jahre alt. Soll sie nie heiraten, soll sie nie Mutter werden?«

Pieter lachte. Aber während er noch lachte, wurde es ihm klar, daß Helen mit ihren blinden Augen mehr gesehen hatte, als er. Er war ein alter Knabe, der vergessen hatte, welche Anforderungen das Leben stellt, wenn man jung war; sie aber war selbst Mutter. Ja, ja, es mußte kommen und rückte mit jeder Woche näher. Wenn man nicht beizeiten Augen und Ohren offen hielt, würde Oanda eines schönen Tages um ihr halbes Leben betrogen sein.

Er fuhr sich durchs Haar, strich sich über die buschigen Brauen, während er überlegte, und darauf sagte er:

»Wollen wir Wilkins nicht bitten, daß er sich in Manila nach einem jungen Mann erkundigt? Vielleicht kennt Wilkins selbst einen, er kennt ja so viele Leute. Einer, der versuchsweise zu uns auf die Insel kommen könnte – als mein Hilfsarbeiter, meine ich, mit der Aussicht Kompagnon zu werden – das wäre ein gutes Geschäft für einen jungen Mann, wie Wilkins auch wohl weiß.«

Er hielt inne, um zu erforschen, was sie dazu meinte.

Helen saß mit gebeugtem Kopf und hörte zu. Da sie nichts sagte, fuhr er fort:

»Man könnte sie ja auch eine zeitlang nach Manila schicken. Sie könnte bei Wilkins Frau wohnen und sich zwischen den jungen Leuten umsehen.«

Plötzlich aber machte der Gedanke, daß er Oanda entbehren sollte, ihn ganz mutlos, und er fügte mit einem Seufzer hinzu:

»Aber das eilt ja noch gar nicht, kommt Zeit, kommt Rat.«

Helen merkte seinen Kummer über das Neue, das so unerwartet auf ihn eindrang, die Angst, die zu verlieren, die seine tägliche Freude, der Inhalt seines Lebens geworden war: Sie empfand es selbst, und er tat ihr leid.

»Sieh nur,« sagte sie munter und richtete sich auf, »sieh, jetzt fehlt nur noch der Rand!«

Sie strich die Matte glatt und fuhr wie liebkosend über das Muster. Ihre Fingerspitzen fühlten die Fasern, während sie gesenkten Hauptes, wie in Betrachtung dasaß.

Pieter hatte die Hand auf ihren Stuhlrücken gelegt und betrachtete das Werk. Er hatte es von Anfang an gesehen, jetzt aber wurde es ihm erst klar, wie hübsch und eigenartig es war.

»Das ist dein Meisterwerk. Wir wollen es selbst behalten. Ich kaufe es.«

»Du hast ja keine Verwendung dafür.«

»Was sollen Menschen in Manila, die du gar nicht kennst, damit? Wenn sie dir deine Arbeit wenigstens ordentlich bezahlen würden.«

»Nicht aufs Geld kommt es mir an,« – und sie fuhr fort, als ob sie mit sich selbst spräche: »Ich flechte meine Gedanken und Träume in diese Arbeit hinein, alles das, was ich für die Menschen getan hätte, wenn ich zwischen ihnen leben würde und sehen könnte. Wenn ich ein Künstler wäre, würde ich das, was ich sagen möchte, in Tönen oder Farben ausdrücken. Mir aber bleiben nur meine Hände.«

Pieter verstand sie nicht recht, aber was sie bewegte, das bewegte auch ihn. So war es seit vielen Jahren gewesen und war weder mehr noch weniger geworden: Eine mitleidsvolle, beschützende Zärtlichkeit, die niemals die Ehrfurcht ganz überwandt. Gern hätte er seine Hand tröstend über ihr feines dunkles Haar, das an den Schläfen ergraut war, gleiten lassen – so daß sie fühlen konnte, was er nicht in Worte zu kleiden vermochte: Wie unentbehrlich sie ihm geworden war – aber er wagte es nicht. Darum sagte er nur, was ihm gerade einfiel, und er sagte es mit Nachdruck und Wärme:

»Die Matte ist so schön, daß sie in dem Weißen Hause des Präsidenten hängen müßte!«

Pieter sah, daß sie in Gedanken versunken war, und er wollte sie nicht stören. Die Sonnenuhr auf dem Rasen zeigte, daß nur noch anderthalb Stunden bis Mittag waren. Er hatte keine Zeit zu verlieren, wenn er seine Tauben noch rechtzeitig schießen wollte. Pieter glaubte bestimmt, daß das Schiff noch vor Mittag in Sicht kommen würde, und seine Ahnungen täuschten ihn selten. Es war eine hergebrachte Sitte, daß Wilkins gebratene Tauben und Schildkrötensuppe bekam – das waren seine Leibgerichte. Sakala mußte Zeit haben die Tauben zu rupfen und auszunehmen. Nein, er hatte keine Zeit zu verlieren.

Pieter ging in sein Zimmer und machte sich zur Jagd bereit, während er die Melodien flötete, die vor einem Menschenalter in Batavia Mode gewesen waren, andere kannte er nicht – und trat darauf mit seinem großen flachen Riesenhut, Büchse und Jagdnetz über der Schulter, auf die Veranda hinaus.

»Vergiß nicht, daß wir mehr Tauben als gewöhnlich haben müssen,« sagte Helen, die gehört hatte, wie er seine Büchse nahm – sie kannte jeden Laut. »Wilkins bringt ja seine Frau und seine kleinen Mädchen mit.«

»Du sollst ein ganzes Dutzend bekommen.«

»Es wäre schön, wenn wir zahme Tauben hätten!« Sie streckte ihre Hände aus, als ob sie sie auf dem Dach gurren hörte und mit Korn locken wollte.

»Dadurch würde ich um das Vergnügen kommen, sie zu schießen. Und auch der Wildgeschmack ginge flöten. Auf Wiedersehen!«

Er ging durch den Garten, wandte sich unter der Kokospalme noch einmal um und rief ihr zu:

»Ich gehe zum Wasserfall im Wäldchen, wo die Tauben zum Trinken kommen. Sobald das Schiff gemeldet wird, schicke mir bitte Bescheid.«

III.

Oanda kam aus dem Wald gelaufen, die Bambustür schlug hinter ihr zu. Gleich darauf stand sie auf der Veranda, beide Arme voll Blumen.

»Fühl' Mutter! Riech' Mutter! Wie sie nach dem Regen heute Nacht duften!«

Die Blinde beugte ihr Gesicht über die Blumen und küßte sie. Sie badete Augen und Wangen in der frischen, kühlen Fülle, während sie den Duft einatmete. Darauf blickte sie lächelnd auf:

»Was willst du mit all' den Blumen? – Du hast ja beide Arme voll.«

»Ich will die Veranda schmücken.« – Oanda sah sich prüfend um und bekam im selben Augenblick eine Idee. »O, ich weiß, was ich tun will – ich will einen Blumenbogen über der Gartentür machen – wie auf dem Bild, weißt du, als der Präsident erwartet wurde. Ich will eine – wie heißt es doch noch?«

»Eine Ehrenpforte –«

»Ja, ja – eine Ehrenpforte will ich machen.«

»Warum freust du dich diesmal so sehr auf Wilkins Kommen?«

»Ich freue mich auf seine Frau und auf die kleinen Mädchen, die noch nie hier waren.«

»Wenn deine Ehrenpforte nur nicht welk wird, bevor das Schiff da ist.«

»Es kommt heute noch, das weiß ich bestimmt.«

Pieter hatte unten im Garten die Gartenpforte klappen hören, als er sah, daß es Oanda war, kehrte er noch einmal um.

»Guten Morgen, Oanda!«

Sie lief ihm entgegen.

»Ach, Pieter, ich freu mich so sehr! – Sieh nur!« Sie hielt ihm die Blumen hin.

Er merkte kaum die bunte Pracht, spürte kaum den kräutrigen Duft, der ihm entgegenschlug, er sah nur sie, wie sie dort im Licht stand, den Sonnenhut wie einen Rahmen um ihr lachendes Gesicht. Ihr flammendes Haar klebte mit kleinen Schweißperlen an der klaren Stirn und hing ihr in widerspenstigen Locken um Ohren und Wangen; die blauen Augen waren dunkel und funkelten von Lebenslust; und hinter den Lippen, die noch vom hastigen Lauf zitterten, schimmerten die weißen Zähne.

Oanda erwachsen – dachte er, und sein Blick schweifte von ihrem runden Halse zu ihrer Brust. Ja, es war die Brust eines jungen Mädchens. Fest und gewölbt hob und senkte sie sich beim atmen, im Takt mit dem Beben der Lippen. Weiß der Kuckuck, auch Hüften hatte sie bekommen. Seltsam, daß ihm das noch nicht aufgefallen war. Aber so war es stets: die Blinde sah mehr als er mit seinen beiden gesunden Augen.

Wie sie dort stand und ihn anlachte, wußte er nicht recht, ob er sich über die Verwandlung freuen oder betrübt sein sollte. Das Kind würde nie wiederkehren, das war sicher, und würde das, was an seine Stelle getreten war, ihm das Kind ersetzen? Unsinn, tröstete er sich selbst, sie ist und bleibt Oanda, mag sie auch heiraten und Kinder bekommen. Daß sie aber fortreisen, daß er sie nicht jeden Tag vor Augen sehen und ihr helles Lachen hören sollte, das schnitt ihm so ins Herz, daß er laut aufseufzte, ohne es selbst zu wissen.

»Warum siehst du mich so an?«

»Habe ich dich angesehen?«

Er wurde ganz verwirrt und merkte jetzt selbst, wie ganz anders alles schon geworden war.

»Ich dachte nur, was du mit all' den Blumen machen willst, denen du das Leben genommen hast.«

Sie zog ihn mit sich zur Gartentür, und da sie keinen Arm frei hatte, mit dem sie zeigen konnte, reckte sie sich auf den Zehen und beschrieb einen Bogen mit dem Kopf, um ihm begreiflich zu machen, was sie beabsichtigte.

»Ich will eine Ehrenpforte bauen, zum Empfang für Frau Wilkins und die kleinen Mädchen.«

Sie begab sich zu dem kleinen Hof hinter dem Hause, wo eine Scheune mit einem Strohdach lag. Dort hatte Toko zwischen dem Hühner- und Schweinestall seine Werkstatt, und etwas weiter unten, am Bach, der Garten und Wald trennte, war sein Bassin für die Schildkröten.

»To–ko!« rief sie.

»Er ist mit dem Kanu unterwegs.«

»Dann mußt du mir helfen, Pieter! Ich muß zwei Bambusstäbe haben, einen für jede Seite der Gittertür, um die ich Lianen schlingen« – sie machte eine bezeichnende Bewegung mit dem Kopfe – »und Blumen einflechten will. Du sollst sehen, es wird wunderhübsch!«

Jetzt trat Sakala auf die Veranda, wo Helen sich erhoben hatte und im Begriff war, die Matte zusammenzurollen; die Tagesarbeit war beendet.

Sakala war eine Waise, die Helen zu sich genommen hatte. Schwarzes krauses Haar umrahmte das runde Gesicht mit den sanften, traurigen Augen. Sie war treu und anhänglich wie ein Hund, und da sie anstellig war, konnte sie Helen und Oanda bei der häuslichen Arbeit helfen.

Sakala kam mit dem Teig in einer großen, flachen Holzschüssel. Helen probierte ihn und ging mit ihr in die Küche, um ihr beim Backen zu helfen.

Während Pieter die Bambusstangen in der Scheune holte, ging Oanda über den Rasen zu dem runden Tisch unter dem großen Bougainville, der in purpurrotem Flor stand. Dort wollte sie die Blumen binden.

Sie stutzte – auf dem Tisch lagen die Papierlaternen, die Wilkins voriges Jahr mitgebracht hatte. Pieter hatte sie für das Fest seiner fünfundzwanzigjährigen Rückkehr zur Insel bestellt. Das Fest war eine Ueberraschung und wurde zu einem großen Gedenktage, so schön war es gewesen. Überall in den Bäumen hatten die Laternen mit kleinen Oelflammen gehangen, und zum erstenmal hatte sie Raketen gesehen. Herrlich, herrlich! – Für alle Bewohner der Insel war es ein wunderbares Erlebnis gewesen.

Oanda konnte Pieters Rückkehr nicht mehr erwarten. Sie legte die Blumen auf den Tisch und eilte hinter ihm her. Im selben Augenblick bog er um die Ecke des Hauses, mit den Bambusstangen in der Hand.

»Warum hast du die Laternen geholt?« rief sie, »willst du für die kleinen Mädchen ein Fest machen?«

»Du mußt deine Nase auch in alles stecken,« sagte er ärgerlich.

Oanda lachte und schwenkte ihn herum.

»Wenn es eine Ueberraschung sein soll, hättest du die Lampen nicht mitten im Garten hinlegen dürfen!«

»Ich suchte sie heute morgen hervor, während du fort warst, und habe sie dann ganz vergessen, weil mir etwas einfiel, was ich noch auf die Listen schreiben wollte.«

Er machte sich frei und wurde ernst.

»Es handelt sich übrigens gar nicht um die kleinen Mädchen, sondern um etwas viel Wichtigeres.«

Er wartete, bis auch sie ernst geworden war, und flüsterte, indem er zur Veranda hinübersah:

»Uebermorgen sind es zwanzig Jahre her, seit wir deine Mutter draußen auf dem Riff fanden – Toko und ich. Ich habe eine Ueberraschung für deine Mutter, aber du darfst es ihr nicht sagen.«

»Nein, nein!«

»Wilkins bringt es mit. Verflucht, daß er gerade diesmal so spät kommt!«

»Sag, was es ist!« Sie trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.

»Ein großes, weißes Marmorkreuz für das Grab, das übers Meer leuchten soll.«

»Ein Kreuz – ?«

»Mit goldener Schrift: ›Gelobt sei der, der sein Leben läßt für einen anderen!‹«

»O, Pieter!« Ihre Augen wurden dunkel, und das Blut schoß ihr in die Wangen.

»Das Kreuz ist für den Toten, die Laternen und das Fest aber sind für die Lebenden. Denn es ist doch ein Freudentag, nicht wahr?«

»Ja – ja.«

»Und Champagner bringt er mit.« Pieters Augen wurden groß und rund.

»Was ist das?«

»Das ist Wein, der schäumt und siedet, wenn man ihn einschenkt – wie das Wasser beim Riff.«

Oanda sah ihn mit großen Augen erwartungsvoll an.

»Man trinkt ihn in der Welt bei großen Festen.«

Da fiel ihm ein, daß sie ja erwachsen sei, und er fügte hinzu:

»Diese Welt wirst du auch einst zu sehen bekommen.«

»Ich?«

»Möchtest du sie sehen?«

Das kam so nachdenklich, daß auch sie nachdenklich wurde. Sie blickte zu der Klippe hinaus, wo sie heute morgen gesessen und ihren alten Traum von dem Schiff, das kommen würde, geträumt hatte. Nicht Wilkins Schiff, sondern das Schiff mit den vollkommenen Menschen unter goldenen Segeln.

»Ich weiß nicht recht,« – ihre Augen wurden träumend – »ich möchte wohl die Menschen sehen, die all' die großen wunderbaren Dinge in der Welt erfunden haben – und die jungen, stolzen Männer, denen die Frauen ihre Herzen schenken, wie in den Büchern steht.«

Pieter sah sie an – sah das Kind vor seinen Augen schwinden. Darauf atmete er tief, rückte sich den Büchsenriemen zurecht und sagte: »Ich muß jetzt gehen, Oanda, ich will Tauben schießen.«

Er reichte ihr die Bambusstangen und lief durch den Garten, ohne sich noch einmal umzusehen.

Oanda sah ihm verwundert nach. Fehlte ihm etwas? – Da fiel ihr ein, wieviel sie noch zu tun hatte, und sie begab sich eilig an die Arbeit.

Erst hielt sie die Stangen gegen die Gittertür, dann band sie sie mit den Lianen fest, und während sie so beschäftigt war, dachte sie an all' das, was Pieter in Aussicht gestellt hatte – das Kreuz und das Fest – und die Ehrenpforte – und die Welt – ob sie sie wirklich jemals zu sehen bekommen würde?

Sie holte sich einen Stuhl von der Veranda, um die Querstange festzubinden, die den Bogen tragen sollte. Es war eine mühsame Arbeit, in die sie sich ganz vertiefte.

Als sie schließlich fertig war, lief sie zu dem runden Gartentisch, um die Blumen zu holen. Im selben Augenblick aber hörte sie Ruder plätschern, und ging statt dessen zum Bach hinunter, der am Garten vorbeifloß, von dunklem Laub beschattet; nur mitten im Lauf spiegelte sich ein blauer Himmelsstreifen.

Ja, es war der zurückkehrende Toko. Die Lippen in seinem dichten, dunklen Bart bewegten sich, er sprach mit sich selbst, während seine Augen auf einen halbverfaulten Baumstamm achtgaben, der mit der Strömung auf sein Boot zutrieb; er schien einen guten Fang getan zu haben.

Jetzt drehte er das Kanu mit einem kräftigen Ruderschlag herum, so daß der Baumstamm vorbeitrieb und das Boot auf das Ufer zuglitt, wo neben dem Schildkrötenbassin eine Landungsstelle war.

Als er aufblickte, sah er Oandas hellen Hut zwischen den Büschen.

»Hallo!« Er winkte mit dem Ruder. »Eine große Schildkröte und fünf kleine!«

Oanda brach sich durch die Büsche Bahn und eilte längs des Ufers auf ihn zu.

Er sprang an Land, wobei das Wasser hoch aufspritzte, und zog das Kanu noch näher ans Bassin heran, während er sang:

»Schildkröten – Schildkröten – groß und klein – Toko kriegt sie alle!«

Er reichte ihr die kleinen Schildkröten Stück für Stück; sie strich über ihre blanke Schale, bevor sie sie ins Bassin warf. Die große mußte sie mit beiden Händen heben. Sie schlug mit Kopf und Füßen um sich, aber es half ihr nichts, sie plumpste ins Wasser mit lautem Aufklatschen. Oanda schüttelte die Wassertropfen von sich ab, hielt aber plötzlich inne.

Stimmen erklangen – rasche Fußtritte – Unruhe auf dem Felde auf der anderen Seite des Hauses. Man rief und sprach, Mädchen und Männer durcheinander.

Toko richtete sich auf und sah sie an. Im selben Augenblick wußten sie beide, daß das Schiff gekommen sei.

Sie eilten in den Garten. Mädchen und Männer kamen aus dem Kokoshain angelaufen und scharten sich um den Grabhügel. Einige liefen hinauf, reckten sich und blickten übers Meer, während sie sprachen und den anderen Zeichen zumachten,

Toko ging voran. Als er merkte, daß Oanda ihm nicht folgte, drehte er sich um:

»Kommst du nicht mit?« fragte er erstaunt.

»Ich muß erst die Ehrenpforte fertig machen!« rief sie ihm zu.

Er sah sie mit offenem Munde an.

»Geh' nur. Ich will erst die Blumen festbinden.«

Er eilte hinter den anderen her. Als er sie beim Grabhügel erreichte, drängten sich die Eingeborenen um ihn. Er überlegte einen Augenblick, dann rannte er auf den Kokoshain zu, und alle anderen hinter ihm her, so schnell die Beine sie tragen konnten. Hier war kein Irrtum möglich – das Boot mußte bereits am Strande sein. Wie aber ging es zu, daß keiner das Schiff draußen auf der Lagune gesehen hatte?

Oanda kam mit den Blumen im Arm angelaufen; ihr Herz klopfte vor Erwartung. Wenn sie nur rechtzeitig fertig würde!