Der Zug aus Venedig - Georges Simenon - E-Book

Der Zug aus Venedig E-Book

Georges Simenon

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

ZEIT FÜR MICH – ZEIT FÜR SIMENON Ein paar Tage früher als seine Familie beendet Justin Calmar den Sommerurlaub in Venedig, um nach Paris zu seiner Arbeit zurückzukehren. Auf der langen Zugfahrt sucht ein Mitreisender auffällig seine Nähe, und Calmar lässt sich, ohne es recht zu wollen, in ein Gespräch verwickeln. Schließlich willigt er sogar in die Bitte des Fremden ein, bei seinem längeren Umstieg in Lausanne einer Frau einen Koffer zu überbringen. Doch als Calmar bei deren Wohnung ankommt, fängt der Schrecken an: Er findet Arlette Staub tot vor, erschlagen. Überstürzt flieht Calmar, ohne die Polizei zu verständigen – denn wer soll ihm schon glauben, dass er nur zufällig in die Geschichte hineingeraten ist und mit dem Mord nichts zu tun hat? Als Calmar, zurück in Paris, feststellt, dass der Koffer ein Vermögen in Dollar und Pfund enthält, wird seine Lage umso brisanter …

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Seitenzahl: 196

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Georges Simenon

Der Zug aus Venedig

Roman

Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig

Mit einem Nachwort von Marcus Müntefering

Atlantik

Erster Teil

1

Warum stand seine Tochter im Mittelpunkt des Bildes? Das brachte ihn ein wenig aus der Fassung, oder besser gesagt dachte er vor allem hinterher darüber nach, als der Zug schließlich fuhr. Und dennoch war es in Wirklichkeit nur ein flüchtiger Eindruck, der der Fahrtgeschwindigkeit entsprang und sogleich aufgesogen wurde von der Landschaft.

Warum Josée und nicht seine Frau oder sein kleiner Sohn, obwohl sie doch alle drei zusammenstanden in der feuchten Hitze?

Vielleicht weil die Gestalt seiner Tochter, die im Bahnhof vor einem abfahrbereiten Zug stand, unpassender erschien? Sie war zwölf Jahre alt. Sie war groß und schlank, Beine und Arme noch dürr, und das Baden im Meer, die Sonne am Strand hatten ihrem blonden Haar einen silbrigen Glanz verliehen.

Als sie die Pension verließen, hatte Dominique gesagt:

»Du wirst deinen Vater doch wohl nicht im Badeanzug zum Bahnhof bringen?«

»Warum nicht? Man sieht haufenweise Leute, die im Badeanzug ins Motoscafo steigen. Und das Motoscafo hält genau vor dem Bahnhof. Gleich danach gehen wir doch baden, oder?«

Dominique trug kurze Hosen, und man konnte sehen, wie sich ihr BH unter der gestreiften kurzärmeligen Bluse abzeichnete, die sie in einer schmalen, sehr belebten Straße gekauft hatte, deren Namen er vergessen hatte, in der Nähe eines Kanals.

War es die Beobachtung, dass seine Tochter Brüste bekam, die ihn aus der Fassung brachte?

All das war verschwommen, wie das Licht am Morgen, wie der glitzernde und heiße, beinahe greifbare Dampf, zwischen Wasser und Himmel.

In seinen Gliedern, seinem Kopf spürte er noch immer das Vibrieren des Schiffes, das sie vom Lido hergebracht hatte, die gleichmäßige Bewegung auf den langen, flachen Wellen, den abrupten Satz nach oben jedes Mal, wenn sie einem anderen Schiff begegneten.

Plötzlich der Blick auf Venedig, wo es schon am frühen Morgen warm war, die Türme, die Kuppeln, die Paläste, der Markusdom und der Canal Grande, die Gondeln und, weil es Sonntag war, die Glocken, die von allen Kirchen, allen Türmen läuteten.

»Darf ich ein Eis kaufen, Papa?«

»Um acht Uhr morgens?«

»Ich auch«, fragte der Kleine, der erst sechs Jahre alt war.

Er hieß Louis, aber seit er ganz klein war, hatten sie sich, wegen des Fläschchens, das er mit diesem Wort eingefordert hatte, angewöhnt, ihn Bib zu nennen.

Auch Bib hatte Badesachen an, darüber ein kariertes Hemd. Beide Kinder trugen Strohhüte wie die Gondolieri, Oberseite und Krempe flach, mit einem roten Band für Josée und einem blauen für ihren Bruder.

Vielleicht mochte Calmar im Grunde das Gefühl des Fremdseins gar nicht, und schon seit zwei Wochen fühlte er sich fremd, entwurzelt, hatte nichts, woran er sich festhalten konnte. Nicht er war es gewesen, sondern seine Frau, die die Ferien in Venedig hatte verbringen wollen, und die Kinder hatten, selbstverständlich, beigestimmt.

Er hasste auch Abreisen, Abschiede. Er stand da, am heruntergeschobenen Fenster eines Abteils, das noch nicht einmal sauber war, weil dies der einzige Waggon des Zuges war, der von weiter her kam, aus Triest und noch ferner, ein Waggon in einer anderen Farbe als die übrigen, der fremd aussah, anders roch.

Ein Mann, der so nah saß, dass er ihn beinahe berührte, musterte ihn von oben bis unten. Wahrscheinlich war er bereits im Waggon gewesen, als man diesen an den Zug aus Venedig angekoppelt hatte.

Tatsächlich stellte Calmar sich keine bestimmten Fragen. Er nahm, ein wenig ungeduldig, den in helles Licht getauchten Bahnsteig wahr, den Zeitungskiosk in der linken Ecke des Bildes, links und rechts weitere Personen, die, wie seine Frau und seine Kinder, warteten, den Blick auf ein Elternteil oder einen Freund gerichtet.

Alles war normal verlaufen. Der Zug sollte um sieben Uhr vierundfünfzig abfahren. Um sieben Uhr zweiundfünfzig war ein Mann in Uniform in den Zug gestiegen, um die Türen zu schließen, während ein Maschinist von Waggon zu Waggon ging und hier und da mit seinem Hammer klopfte. Jedes Mal, wenn er mit dem Zug gefahren war, hatte er dasselbe Spiel beobachtet und sich jedes Mal gefragt, worauf der Mann derart klopfte, anschließend aber immer vergessen, sich danach zu erkundigen.

Der Stationsvorsteher kam aus seinem Büro, eine Pfeife zwischen den Lippen und eine rote Fahne in der Hand, zusammengerollt wie ein Regenschirm. Dampf strömte von irgendwoher. Es war kein Dampf vom Zug, denn der fuhr elektrisch, aber irgendwie wurden die Bremsen entlüftet, wobei es spritzte und ruckelte wie in allen Zügen.

Mehrfaches Pfeifen, endlich. Josée, die an ihrem Eis leckte, ihrem gelato, wie sie jetzt sagte, hob eine Hand zum Abschied. Dominique riet ihm:

»Achte vor allem auf deine Gesundheit und geh zum Essen zu Étienne.«

Ein Restaurant, das sie kannten, am Boulevard des Batignolles, nur einen Katzensprung von ihrer Wohnung, und wo Dominique zufolge die Küche sauber und das Essen gesund war.

Die rote Fahne war entfaltet. Der Stationsvorsteher hob den Arm, ebenso wie Josée und wie nun auch Bib, der ihn nachahmte.

Der Zug hätte bereits abgefahren sein sollen. Die Uhr zeigte sieben Uhr fünfundfünfzig.

Doch statt seine Geste zu beenden, senkte der Stationsvorsteher, der den Zug in ganzer Länge im Blick hatte, den Arm, während er mehrere kurze eindringliche Pfiffe ausstieß.

Der Zug fuhr nicht los. Die Leute auf dem Bahnsteig schauten nach vorn. Calmar beugte sich hinaus, ohne etwas anderes zu sehen als lauter Köpfe, die ebenso wie sein eigener hinausgebeugt waren.

»Was ist los?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Dominique, »ich sehe nichts Ungewöhnliches.«

Sie war schlank, allerdings nicht ganz so dünn wie ihre Tochter, und sah selbst in kurzen Hosen noch immer stilvoll aus. Da sie, anders als die Kinder, nicht braun wurde, hatte sie sonnengerötete Haut, und die Brille verdeckte ihre blauen Augen.

Der Stationsvorsteher, auf den sich alle Blicke richteten, schien es nicht mehr eilig zu haben. Die Fahne unter dem Arm, schaute er immer noch in Richtung Lokomotive, geduldig wartend auf Gott weiß was, und überall auf dem Bahnhof war es ein wenig so, als würde ein Film unvermittelt anhalten und ein Standbild zeigen, eine schlichte Farbfotografie.

Hände wussten nicht mehr, was zu tun war mit den bereits ausgebreiteten Taschentüchern. Abschiedslächeln blieben in der Schwebe und wurden zu Grimassen.

»Kommt jemand zu spät?«, fragte eine Stimme neben Calmar.

»Ich weiß nicht. Ich sehe niemanden rennen.«

Der Mann, eine gedrungene Gestalt, stand auf, wobei er seine Zeitung auf der Bank liegen ließ.

»Sie erlauben?«

Im Fensterrahmen traten sein Gesicht und seine Schultern einen Augenblick lang an die Stelle von Justins.

»Bei den Italienern weiß man nie …«

Er hatte Zeit gehabt, Dominique und die beiden Kinder zu sehen. Calmar nahm seinen Platz wieder ein, ein gezwungenes Lächeln auf den Lippen. Er spürte sehr wohl, dass Josée und Bib ungeduldig darauf warteten, aufzubrechen, aus dem überhitzten Bahnhof herauszustürzen, ins Vaporetto zu springen, das sie an den Strand fahren würde. Dominique hingegen hatte einen sorgenvollen, melancholischen Gesichtsausdruck.

»Achte vor allem auf deine Gesundheit, Justin.«

»Ich verspreche es dir.«

»Ich glaube, jetzt fährt der Zug ab.«

Es dauerte noch zwei unendlich lange Minuten, in denen alle den gleichgültigen Stationsvorsteher beobachteten.

Endlich kam ein Stationsbeamter durch die Glastür seines Büros, gab ein Zeichen, und der Stationsvorsteher pfiff, wartete noch ein paar Augenblicke und schwenkte seine Fahne. Der Zug fuhr ruckartig an. Der Bahnsteig glitt vorüber, darauf die aufgereihten Gestalten. Justin beugte sich noch weiter hinaus, während die Gestalt seiner Tochter immer kleiner wurde, ihr roter Badeanzug sich nach und nach mit all den anderen Farben des Bahnhofs mischte.

Die Sonne erfasste sie, drang ungehemmt in das Abteil zusammen mit einem Schwall heißer Luft, und mit einem Seufzer zog Calmar das blaue Stoffrollo herunter, das sich wie ein Segel aufblies und zwei- oder dreimal wieder nach oben schlug, bevor es an der richtigen Stelle blieb.

Sie fuhren.

Obwohl er keine Lust dazu hatte, konnte er sich von seinem Platz aus jetzt in aller Ruhe seinen Reisegefährten genau ansehen, der seine Zeitung zusammengeknüllt und unter die Bank geschoben hatte.

Eine ganze Weile gaben die beiden Männer vor, sich nicht gegenseitig zu beobachten, mit dem Unterschied vielleicht, dass der Unbekannte weniger eilig den Blick abwandte als sein Begleiter.

Er war schon etwas älter, vielleicht fünfundfünfzig Jahre, vielleicht sechzig, und seine Schultern waren sehr breit, sein Oberkörper kräftig, seine Gesichtszüge hart.

Calmar hatte genügend Zeit gehabt, um zu bemerken, dass seine Zeitung in kyrillischer Schrift gedruckt war. Russisch? Slowenisch?

Das bläuliche Rollo schnellte mit einem Schlag zurück nach oben und ließ die Sonne erneut herein, und dieses Mal war der Mann derjenige, der aufstand und es wieder richtete, als kenne er sich damit aus.

»Franzose?«, fragte er, als er sich wieder setzte.

»Ja.«

»Paris?«

»Ja.«

»Ich habe bemerkt, dass Ihre Frau mit Pariser Akzent spricht.«

Calmar hatte nichts dagegen, sich zu unterhalten, aber der Einstieg war immer unangenehm. Der Zug hielt bereits in Venezia Mestre, dem anderen Bahnhof von Venedig, und Einheimische liefen den Flur entlang auf der Suche nach der zweiten Klasse.

»Müssen Sie wegen der Arbeit früher als Ihre Familie zurückfahren?«

»Eigentlich wären wir alle heute zurückgefahren. Aber leider gab es nicht einen freien Platz mehr für den Schnellzug um zehn Uhr zweiunddreißig. Statt meiner Familie den Umstieg in Lausanne und die Nacht im Zug zuzumuten, bin ich allein gefahren und lasse sie noch ein paar zusätzliche Tage dort, zumal die Kinder Lust dazu hatten.«

Ihm kam es vor, als würde sein Begleiter eindringlich seinen Anzug aus leichtem kreppartigem Stoff mit Seide betrachten. Nie zuvor in seinem Leben hatte er ein so helles Kleidungsstück getragen, in gelblichem Weiß, aber seine Frau hatte darauf bestanden, dass er es kaufte, in derselben schmalen Straße, in der sie ihre Bluse gekauft hatte.

»Du bist fast der Einzige, Justin, der dunkle Sachen trägt.«

Er hätte lieber etwas anderes auf der Reise angehabt. In Venedig oder in ihrer Familienpension war das noch hinnehmbar. Aber hier fühlte er sich verkleidet. Es passte nicht zu seinem Äußeren, seinem dicklichen Körper.

»Hatten Sie schöne Ferien? Gutes Wetter?«

»Abgesehen von zwei, drei Gewittern.«

»Mögen Sie die italienische Küche?«

»Die Kinder sind verrückt danach, außer nach Meeresfrüchten, die mein Sohn nicht anrührt …«

»Aber wenn Sie in einer Pension waren, wird man Ihnen doch jeden Tag Meeresfrüchte serviert haben.«

Er zuckte zusammen. Wie konnte dieser Unbekannte, der ihn vor wenigen Minuten zum ersten Mal gesehen hatte, ahnen, dass sie in einer Familienpension abgestiegen waren und nicht in einem der großen Hotels am Lido?

Er schämte sich ein wenig und bereute es umso mehr, seinen Anzug aus Leinen und Seide angezogen zu haben, dessen italienischer Schnitt überhaupt nicht an ihm saß.

Dieser ruhige Mann ihm gegenüber begann ihm auf die Nerven zu gehen und gleichzeitig seine Neugier zu wecken. Er hatte wahrscheinlich, ohne dass es den Anschein hatte, bereits seine beiden Koffer begutachtet, die extra für die Reise angeschafft worden und nicht von ausgesuchter Qualität waren. Calmar war zu Ohren gekommen, dass die Portiers von Luxushotels die Gäste nach ihrem Gepäck einordneten, so wie manche Männer die Frauen nicht aufgrund ihrer Kleider oder Pelzmäntel, sondern ihrer Schuhe beurteilten.

»Sind Sie Geschäftsmann?«

»Eher in der Industrie, in der Kleinindustrie, aber nicht selbstständig.«

Er konnte nicht anders. Obwohl der andere keinerlei Recht hatte, ihn auszufragen, antwortete er ihm mit beinahe bedingungsloser Offenherzigkeit.

»Sie erlauben?«

Er zog sein Sakko aus, weil ihm der Schweiß aus allen Poren lief, trotz des Luftzugs, der noch immer am Rollo rüttelte und es unablässig ein weiteres Mal loszureißen drohte.

Er hatte große feuchte Flecken unter den Armen, und er schämte sich dafür wie für eine persönliche Schwäche. Auch im Büro war ihm das peinlich, vor allem vor den Schreibkräften.

»Ihre Tochter wird mal eine schöne Frau …«

Der Mann hatte sie doch nur flüchtig sehen können!

»Sie kommt ganz nach ihrer Mutter, nur lebhafter …«

Das stimmte. Was Dominique fehlte, war Schwung, Spontanität, der gewisse Reiz. Mit ihren zweiunddreißig Jahren war sie noch immer schlank, hatte ein hübsches Gesicht, sehr sanfte blaue Augen, einen anmutigen Gang, aber es umgab sie immer etwas Unscheinbares, als fürchtete sie, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, mehr Raum einzunehmen, als ihr zustand.

»Ihre Frau hat eine sehr schöne Altstimme.«

Justin lächelte ein nervöses Lächeln. Wie hatte der Mann all das bemerkt? Es stimmte, dass Dominiques Stimme, tief und gedämpft, im Gegensatz zu ihrer scheinbaren Zerbrechlichkeit stand und einen anrührte.

Schon wieder der nächste Bahnhof, Padua, ein Gewimmel auf dem Bahnsteig, Hunderte Menschen, so schien es, eroberten den Zug, Familien, viele Kinder, Babys auf dem Arm ihrer Mutter und sogar eine dicke Bäuerin, die Hühner in einer Kiste transportierte.

Sie kamen durch alle Türen herein, und man sah sie durch den Flur laufen, drängelnd versuchen, weiter in Richtung Spitze des Zuges zu gelangen, um freie Plätze zu erobern.

»Sie werden sehen, gleich gibt es auf den Fluren kein Durchkommen mehr.«

»Sind Sie schon mal mit diesem Zug gefahren?«

»Nicht mit exakt diesem, aber mit anderen Zügen dieser Art. Man fragt sich manchmal, wo die Italiener alle so versessen hinwollen, an manchen Tagen könnte man meinen, ganz Italien sei auf der Suche nach einem neuen Ort, um sich niederzulassen.«

Er hatte einen Akzent, den Calmar nicht genau zuordnen konnte.

»Ingenieur?«

Die Frage ließ ihn ein weiteres Mal zusammenzucken. Zumindest hatte er dieses Mal die Genugtuung, dass sein Gefährte sich täuschte.

»Nein. Ich bin absolut kein Techniker. Ich arbeite im kaufmännischen Bereich und bin, weil in unserem Unternehmen jeder eine Berufsbezeichnung hat, kaufmännischer Leiter der Auslandsabteilung.«

»You speak English?«

Er antwortete, ebenfalls auf Englisch:

»Ich war Englischlehrer am Lycée Carnot.«

»Sprechen Sie auch Deutsch?«

»Ja, auch Deutsch.«

»Italienisch?«

»Nein. Es reicht nur, um die Speisekarte zu lesen.«

Wegen einer Kurve auf den Gleisen schlug das blaue Stoffrollo noch stärker gegen das Fenster und schnellte unerwartet wieder hoch. Der Kontrolleur, der ins Abteil trat, brauchte mehrere Minuten, um es erneut zu befestigen, und ließ im Anschluss die Fahrkarten vorzeigen.

Die von Calmar war ein einfaches rechteckiges Stück Karton, die des Unbekannten bestand aus mehreren gelben Blättern, die von einer Heftklammer zusammengehalten wurden. Der Beamte riss eine Seite heraus und ließ sie in seine Tasche gleiten.

 

Wenn man ihn im Zug nach seinen Eindrücken gefragt hätte, wäre er nicht in der Lage gewesen, Genaueres zu sagen, und er hätte wahrscheinlich nur schlecht gelaunt erwidert, dass er es kaum erwarten könnte, endlich anzukommen.

Genauso wäre es in etwa gewesen, wenn man ihn nach seinen Ferien gefragt hätte. Er hatte mehr als genug von der Sonne, ebenso von dem Gewimmel der Badegäste am Strand, vom Geräusch der Vaporetti und Motoscafi, vom Markusplatz mit den Tauben, von den Geschäften, in denen alles so günstig erschien und wo man nutzlose Dinge kaufte, nur weil man sie nicht kannte, er hatte mehr als genug von all dem Lärm, er ging ihm auf die Nerven, am Tag ebenso wie in der Nacht, Gesang und Musikkapellen, Kinderstimmen und Schritte auf der Treppe.

Er hatte sich schnell gezwungen gesehen, Josée und ihrem Bruder bei jeder Mahlzeit die aufgelisteten Gerichte zu übersetzen und mit ihnen zu besprechen, was sie sich aussuchen durften.

Ganz abgesehen von der Demütigung, die er im Grunde darüber empfand, dass sie sich für eine Familienpension entschieden hatten, die noch nicht einmal Meerblick bot.

Und dennoch, das wusste er, würde er in ein paar Wochen, in ein paar Monaten, in einem Jahr die Tage am Lido zu den außergewöhnlichsten und angenehmsten seines Lebens zählen, überzeugt davon, nie wieder etwas Vergleichbares zu erleben.

So war es jedes Jahr. Es war immer das vergangene Jahr, das schön war, sogar der Herbst und der Winter, wenn die Grippe umging und die Kinder kränkelten, um die er sich in dem Moment solche Sorgen machte.

War das seiner Unfähigkeit geschuldet, anders als nur im Nachhinein glücklich zu sein, oder war dies das Schicksal der meisten Menschen? Er wusste es nicht, da er sich nicht traute, irgendwen danach zu fragen, erst recht nicht seine Arbeitskollegen, die sich über ihn lustig machen würden.

Im Moment zum Beispiel zählte er, weil er sich unwohl in seiner Haut fühlte, die Stunden bis nach Lausanne, dann bis Paris. Über allem lag die Hitze, die immer drückender wurde, je später der Vormittag war. Für einen Augenblick war er aufgestanden und hatte die Tür zum Flur geöffnet. Aber weil dort alle Fenster offen standen, zog es unerträglich.

Das Rollo löste sich schon wieder, und dieses Mal ließ sich die verbogene Stange nur noch schief befestigen, sodass ihm ein breiter Lichtstrahl auf dem Gesicht brannte.

Er hätte sich umsetzen können. Im Abteil waren noch vier Plätze frei, trotz der Reservierungsschilder, die über den anderen Sitzen angebracht waren. Die Reisenden würden wahrscheinlich an einem der nächsten Bahnhöfe zusteigen.

Und Bahnhöfe gab es alle zwanzig Minuten: Lonigo, San Bonifacio, Verona …

Überall dasselbe Gedränge, derselbe Sturm auf den Zug und dieselbe aufgeregte Massenwanderung im Flur. Bald würde es übrigens keine Wanderung mehr geben, weil die Reisenden der zweiten Klasse den Platz außerhalb der Abteile vollkommen verstopften. Bunt zusammengewürfelte Gepäckstücke nahmen ebenso viel Platz ein wie die Menschen, mit Riemen oder Seilen verschnürte Koffer, Körbe, Pappschachteln, unförmige Ballen.

All das türmte sich höher als die Fenster, und die Kinder saßen auf dem Fußboden. Man musste mit großen Schritten über sie hinwegsteigen und sich dabei zwischen den Eltern hindurchzwängen, um zu den Toiletten zu gelangen. Ein paar Bahnhöfe später war es gänzlich unmöglich, dorthin zu kommen.

Dennoch versuchte niemand, sich auf die vier freien, gepolsterten, bequemen, verlockenden Plätze zu stürzen. Frauen blieben stehen, während sie einem Baby die Flasche oder die Brust gaben, wobei sie vom Ruckeln des Zuges hin und her geschüttelt wurden, ohne überhaupt in Erwägung zu ziehen, sich hinzusetzen. Es lag keinerlei Missgunst in ihrem Blick, weder Groll noch Traurigkeit.

»Verbringen Sie die Wochenenden auf dem Land?«

»Bei Poissy, ja. Kennen Sie das?«

»Das liegt zwischen Paris und Mantes-la-Jolie, nicht wahr?«

Im Grunde stellte der Mann keine Fragen, sondern behauptete etwas. Er vermittelte den Eindruck, die Antworten immer schon zu kennen und die Fragen lediglich zu stellen, um eine Bestätigung zu erhalten.

»Auto?«

»Ja. Einen Renault 4CV. Ich brauche ihn in Paris, vor allem, um vom Büro zur Fabrik zu kommen.«

»Und Sie haben lieber den Zug genommen wegen der überfüllten Straßen. Das verstehe ich, vor allem mit den Kindern.«

Wobei sie beinahe mit dem Auto nach Venedig gefahren wären. Es war, wohlgemerkt, Josée gewesen, die das gewollt hatte, obwohl sie sonst bereits nach zwanzig Kilometern anfing auszurechnen, wie lange sie noch bräuchten.

Auch er hätte es reizvoll gefunden.

»Dann können wir nur ganz wenig Gepäck mitnehmen. Nicht einmal die Hälfte von dem, was jeder dachte.«

Die besonnene Stimme von Dominique.

»Ein Haus auf dem Land?«

Der Mann verspürte nicht das Bedürfnis, sich abzutupfen, und auf seiner Stirn waren keinerlei Schweißspuren. Hin und wieder, wenn der Zug nicht zu weit von einem Wagen mit Getränken und Proviant hielt – meist war er am anderen Ende des Zuges –, bestellte er sich eine kleine Flasche Campari-Soda, und schließlich tat Calmar es ihm nach.

»Es gibt auch einen Wagen im Zug, aber der wird nicht vor Mailand bis zu uns durchkommen.«

Im Grunde nahm Calmar sich seine Gefügigkeit selbst übel. Er antwortete vorbehaltlos auf alle Fragen, die ihm gestellt wurden, und traute sich seinerseits nicht, auch nur eine einzige von denen zu stellen, die ihm durch den Kopf gingen.

Zum Beispiel war ihm aufgefallen, dass von seinem Begleiter keinerlei Gepäck im Netz lag. Befanden sich seine Koffer im Gepäckwagen, oder reiste er ohne Gepäck?

Der Waggon war via Triest aus Belgrad gekommen. Unter dem Sitz lag eine Zeitung aus einem slawischen Land. Hätte er nicht ganz selbstverständlich fragen müssen:

»Kommen Sie aus Belgrad?«

Oder gar:

»Sind Sie Jugoslawe?«

Das war unwahrscheinlich. Der Unbekannte wirkte anders. Er sprach ebenso fließend Französisch wie Englisch und Deutsch und unterhielt sich in gutem Italienisch mit den Bahnbeamten.

Aber er trug einen gewöhnlichen Anzug aus dunklem, fast schwarzem Wollstoff, der nicht besonders gut geschnitten war. Seine Krawatte, deren Knoten er nicht zu lockern den Drang verspürte, um den Hemdkragen zu öffnen, war ebenfalls alltäglich.

Warum also fühlte Calmar sich ihm gegenüber wie ein kleiner Junge? Und warum fühlte er sich, wenn das Schweigen zu lange anhielt, verpflichtet zu reden, während sein Gefährte sich mit den langen Gesprächspausen zufriedengab, ohne auch nur vorzutäuschen, dass er döste?

»Mein Schwiegervater hatte die Idee, am Ortsausgang von Poissy, auf einem Hügel über der Seine, eine Art Bauernhaus mit Gaststätte zu eröffnen. Es ist ein eher kleines Bauernhaus, und die Tiere spielen nur eine Nebenrolle: zwei Kühe, ein altes Pferd, eine Ziege, drei Schafe, ein paar Gänse, ein paar Enten und Hühner. Die Gäste essen im Gemeinschaftsraum mit freiliegenden Holzbalken. Dafür schwärmen sie.«

»Sind Sie jeden Sonntag dort?«

»Meistens, ja. Meine Frau hängt sehr an ihren Eltern. Die Kinder sind verrückt nach den Tieren, und meine Tochter verbringt die Nachmittage damit, durch die Wiesen zu reiten.«

Fast hörte er sich schon fragen:

»Und Sie?«

Er selbst legte sich fast immer voll bekleidet im erstbesten Zimmer schlafen.

Dann endlich ein kleiner Bahnhof, den sie passierten, ohne anzuhalten: Sommacampagna. Anschließend kamen Castelnuovo di Verona, Peschiera del Garda, Desenzano, Lonato …

»Ich werde nicht in Lausanne aussteigen können, wie gehofft, weil ich in Genf einen Flug bekommen muss, und mit diesem Zug komme ich gerade rechtzeitig dort an …«