Der zweite Wind - Telse Maria Kähler - E-Book

Der zweite Wind E-Book

Telse Maria Kähler

4,9

Beschreibung

Das Leben ist voller Überraschungen. Tatsachentreffen, Edle Häuptlinge, Das Leben ist ein Strom oder Die Sandwichfrau, dies sind nur einige der Kurzgeschichten, in denen die Autorin Telse Maria Kähler ihre Leserinnen eintauchen lässt in die Momente des Lebens, die dem Alltag wie ein erfrischender Wind neue Impulse geben. In diesem Band mit Kurzgeschichten beschreibt die Autorin humorvoll, mal fantastisch, dann wieder gefühlvoll und nachdenklich Themen der zweiten Lebenshälfte.

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Inhalt

Der Sprung ins kalte Wasser

Raumleere

Zauber eines Neuanfangs

Edle Häuptlinge

Das Leben ist ein Strom

Brücken bauen

Die Sandwichfrau

Flugzeuge im Bett

Kommunikation mit dem Frühstücksei

Versunken im Meer des Selbstmitleids

Tatsachentreffen

Der zweite Wind

Weihnachten darf so sein

Der Beschwerdebrief

Das eiserne Gesetz

Gleicher Art

Das Buch mit sieben Siegeln

Schwarze Tulpen

Gib jedem Tag eine Chance

Über die Autorin

Weitere Bücher

Der Sprung ins kalte Wasser

Jeder Weg, so heißt es, beginnt mit dem ersten Schritt, und Veränderungen im Alltag werden sichtbar, wenn wir beginnen, selbst aktiv zu werden. Tinas Veränderungen begannen mit einem Sprung ins kalte Wasser.

Es war Frühling. Die Sonnenstrahlen des Märztages hatten den Schnee zum Schmelzen gebracht. Das erste zarte Grün eroberte die Wälder und Wiesen. Es war schon später Nachmittag, als Tina sich aufmachte, um ihren Hund Titus an die frische Luft zu führen. Sie kannte den Weg. Jeden Tag ging sie diesen Weg – einmal – zweimal –, manchmal auch noch öfter. Mechanisch setzte sie einen Fuß vor den anderen und ließ ihren Gedanken freien Lauf.

Tina dachte an ihre Kindheit und erinnerte sich, wie sehr sie es als Kind geliebt hatte, über die Felder und Wiesen zu streifen – ganz allein, mit dem Mut sich auszuprobieren. Als Kind, wenn die Länge der Beine jedes Jahr zunimmt und die körperlichen Veränderungen die eigene Geschicklichkeit immer aufs Neue auf die Probe stellen, ist alles stets neu. Deshalb wollen die Hindernisse des vergangenen Jahres nach einem langen Winter erneut erobert und erprobt werden. Kurz, man will einfach wissen: Gelingt es mir oder klappt es immer noch nicht?

Die Hindernisse, die Tina bei ihren Streifzügen durch die Natur zu überwinden hatte, bestanden aus Gräben, Bächen und Zäunen.

Sie liebte es, zu klettern und zu springen. Wie ein junges Fohlen, das zum ersten Mal die Freiheit einer Weide erlebt und voller Übermut hin und her galoppiert, so befiel die kleine Tina jedes Mal im Frühling die unbändige Abenteuerlust eines Kindes vom Lande. Mutig baute sie sich Brücken aus Zweigen, probierte aus, wie breit ein Bach sein durfte, um ohne nasse Füße ans andere Ufer zu gelangen, und sang lauthals Kinder- und Weihnachtslieder, denn sie war ja allein. Niemand beobachtete sie – niemand hörte zu.

In diesen Stunden, in denen sie ganz allein durch die Wiesen und Wälder streifte, lebte Tina ihre andere Seite, eine Seite, die sie in ihrer Familie und der Schule nicht zeigen durfte, denn sie war ja ein Mädchen und „Mädchen machen so etwas nicht“, hieß es – jedenfalls damals.

An diese schönen Stunden dachte die große Tina, als sie sich mit ihrem schwarzen Hund dem Waldrand näherte. Titus, ein Mischlingshund, an dessen Vorfahrenmix unübersehbar ein Labrador beteiligt gewesen war, entpuppte sich als unbändiges Energiebündel. Zuhause jedoch, wenn er unter ihrem Schreibtisch liegen durfte, war er lammfromm. Genau wie Tina liebte er die Streifzüge durch die Natur. Titus war jung, voller Lebenslust und Neugier und vor allem, er war ein guter Springer. Kein Gartenzaun war ihm zu hoch.

Der Rückweg ihres ausgedehnten Spaziergangs führte die beiden an der Riede entlang, einem Bach, der den Ort mit seinen Häusern von den angrenzenden Ländereien trennte. Die Schneeschmelze im Harz hatte bereits eingesetzt. Das Frühjahrshochwasser hatte den Bach anschwellen lassen. Fast sah er aus wie ein kleiner Fluss, denn die Strömung war stark und das sonst kleine, still vor sich hin plätschernde Rinnsal war durch das Hochwasser ziemlich breit geworden.

Tina blieb stehen. Immer noch die Bilder ihrer Kindheit vor Augen, blitzte plötzlich der unbändige Wunsch in ihr auf, über diesen Bach zu springen.

„Tina, du bist fünfundvierzig, nicht zwölf!“, rief sie sich zur Ordnung. Doch der ermahnende Monolog verhallte ohne Wirkung. Es half nichts. Eine prickelnde Welle Abenteuerlust machte sich in ihrem Bauch breit. Ein Kribbeln, so als würden tausend Schmetterlinge darauf warten, freigelassen zu werden.

„Schaffe ich es? So breit ist der Bach doch gar nicht, schließlich habe ich lange Beine. Nein – er ist zu breit! Mit einem kleinen Anlauf – das schaffe ich doch spielend!“

Von einem Moment zum anderen war aus der vernünftigen erwachsenen Frau und Mutter die kleine Tina geworden – die Tina, der der Schalk im Nacken saß. Wie lange hatte sie sich nicht mehr so ausprobiert? Etwas vollkommen Sinnloses gemacht? Einfach nur so – nur, weil es Spaß macht? Ihr kam es vor, als wären diese Zeiten der Unbefangenheit und Lebenslust schon ewig her.

Tinas Augen nahmen Maß. Dann nahm sie Anlauf, rief „Hopp“, um Titus zum Springen zu motivieren, und sprang.

Ein Ruck, ein Platsch und schon saß Tina mitten im eiskalten Wasser. Titus stand am Ufer. Neugierig beobachtete er Tina.

Titus war ein guter Springer. Stundenlang hatte Tina mit ihm in der Hundeschule das Springen über Hindernisse geübt und beide hatten viel Spaß dabei gehabt.

Doch jetzt stand er seelenruhig da und wartete. Die Hundeleine hatte Tinas Schwung abgebremst und schwupps, schon war sie mitten im Bach gelandet und hatte sich vor lauter Schreck gleich hingesetzt.

Da saß sie nun in den eiskalten Fluten. Voller Entsetzen sah sie zu Titus hinüber. Das war das Zeichen. Titus nahm Anlauf und sprang zu ihr ins kalte Wasser. Freudestrahlend paddelte er um sie herum, als würde er rufen: „Na, habe ich das nicht fein gemacht?“

Mitten in diesem Malheur wurde sich Tina der Komik dieser Situation bewusst. Erst zaghaft, dann immer lauter begann sie zu lachen. Das kalte Wasser prickelte auf ihrer Haut und die mit Wasser vollgesogene Winterkleidung machte ihre Bewegungen schwerfällig. Etwas mühsam zog sie sich an Land. Nun schüttelten sich beide – Hund und Frauchen.

Immer noch lachte Tina. „Was mögen wohl die Nachbarn denken, wenn sie mich so sehen?“, fragte sie sich. Egal – so viel Spaß hatte sie lange nicht mehr gehabt!

Quietschfidel und tropfend zogen beide nach Hause – Tina und Titus.

Noch heute erzählen Tinas Kinder die Geschichte von dem Sprung in die Riede, und wie sie ihrer Mutter die Tür öffneten und Tina vollkommen durchnässt und vollkommen albern vor ihnen stand. Noch heute freuen sich die inzwischen erwachsenen Kinder, wenn sie von dem „Sprung ins kalte Wasser“ berichten. Ob sie wohl ahnen, dass Tinas Sprung so viel mehr war als ein kleiner Unfall?

Mit diesem Sprung ins kalte Wasser an einem Frühlingstag Anfang März sprang Tina ins Leben zurück – in ein Leben voller Lebensfreude und Abenteuerlust.

Raumleere

Nicht dass sie sich beklagt hätte. Und doch, sie vermisste ihre Kinder. So anders war ihr Leben geworden, seitdem Nadja und Leon ausgezogen waren.

„Vernünftig sein! Ja, meine Liebe, du weißt, Abschiede gehören zum Leben. Eines Tages sind die Kinder groß und dann müssen sie ihr eigenes Nest bauen. Ihr eigenes Leben gestalten!“ Wie oft hatte Lena diesen Satz schon vor sich hin gesagt. Die erhoffte Wirkung ließ auf sich warten – immer noch.

„Was ist nur los mit mir?“, fragte sie sich, denn gerade heute vermisste sie ihre beiden Lieblinge besonders arg.

„Eigentlich war ich doch froh, dass sie endlich auszogen. Diese ewige Hinterherräumerei. Und dann immer dieses Genörgel, nur weil sie wieder einmal nicht damit einverstanden waren, was ich gekocht hatte. Und doch – sie fehlen mir so!“, seufzte sie. Sie dachte an die endlosen Diskussionen am Esstisch, die sich um Gott und die Welt drehten und zuweilen sehr hitzig verliefen. Ihr fehlten die Erlebnisberichte der Kinder. Jeden Tag brachten sie neue Geschichten mit nach Hause. Wie oft kamen sie voller Wut und Frust aus der Schule, weil etwas schiefgelaufen war, dann wieder voller Glück und Freude. Sie vermisste ihr Lachen, ihre Stimmen.

Es ist erstaunlich, wie leer ein Haus sein kann, wenn der Nachwuchs ausgeflogen ist. Alles fühlte sich so anders an, seitdem sie nicht mehr hier wohnten. Bisher war Lena nie bewusst geworden, wie viel Raum ein Mensch ausfüllen kann. Jetzt spürte sie diese Leere fast körperlich.

Ihr Mann hatte an diesem Tag Termine, so war sie allein, wieder einmal allein. So allein.

„Wie ruhig es doch ist und leer – so leer!“, dachte sie traurig. Nachdenklich zündete sie sich eine Kerze an. Dann setzte sie sich in ihren Lieblingssessel und lauschte in die Stille.

„Jetzt habe ich die Ruhe, die ich mir immer so sehnlichst gewünscht habe.“ Dieses Gefühl war neu für Lena. Unwillkürlich dachte sie an die vielen Menschen, die alleine lebten.

„Ich habe nie alleine gelebt“, stellte sie fest. Ihr Leben verlief immer eingebettet in eine große Familie. „Wie wird es mir wohl ergehen, wenn ich einmal ganz alleine leben muss?“, fragte sie sich. „Ich fühle mich heute schon so einsam!“ Ein sehr unerquicklicher Gedanke.

Ihr Blick glitt über die Wohnzimmereinrichtung und blieb an den einzelnen Möbelstücken hängen. Alte Geschichten tauchten in ihrem Kopf auf. Erinnerungen an Zeiten, in denen die Kinder klein waren. Sie hatten das Sofa nie wirklich als Sitzmöbel genutzt, eher als Trampolin oder Kuschelecke. Manchmal auch als Ablage für Spiele oder Schulhefte. Dieses Wohnverhalten hatte Spuren hinterlassen. Seltsamerweise störten Tina diese Gebrauchsspuren heute kaum, sie hatten eher etwas Tröstliches.

„Wie schnell die Jahre vergehen, merkt man erst, wenn man zurückblickt“, dachte sie. „Der ganze zwischenmenschliche Reichtum, das liebevolle Miteinander trotz Auseinandersetzung und Reibungsverluste wird einem plötzlich bewusst. Und man stellt fest, wie schön diese Zeit war. Steckt man mitten drin, registriert man diese Lebendigkeit und Freude kaum – man lebt einfach so vor sich hin.“ Lena seufzte.

„Lebe ich wirklich? Oder bin ich viel zu oberflächlich? Immer nur auf das Morgen bedacht?“, fragte sie sich. Dieser Gedanke hatte etwas Erschreckendes.

Leben schreitet nur in eine Richtung voran – vorwärts. Stunden, die gewesen sind, sind vergangen. Kaum ist der Moment gekommen, schon ist er wieder vorbei, ist Vergangenheit – nur noch eine Erinnerung. Was kommt, ist erst Zukunft, dann das Jetzt und schon vorüber. Festhalten lassen sich diese Momente nicht, nur in unseren Erinnerungen existieren sie weiter. Doch Erinnerungen sind trügerisch. Sie verändern, schönen, mildern ab oder betonen über. Erinnerungen sind Bilder, die immer neu entstehen, immer ein wenig anders, weil wir heute anders fühlen, anders denken. Erinnerungen sind nie gleich.

„Heute erinnere ich mich gerne, blende alle Dinge aus, die mich damals belastet haben. Ich will nur das Schöne sehen, das, woran mein Herz hängt“, flüsterte sie.

Leise Tränen liefen ihr über das Gesicht. „Will ich die vergangene Zeit zurückholen, sie noch einmal erleben?“, fragte sie sich. Stumm schüttelte sie den Kopf: „Nein!“

Nein, nicht weil Lena diese Zeiten nicht geliebt hätte oder weil sie ihre Kinder nicht lieben würde, sondern nein, weil es für sie selbst keinen Sinn ergeben würde. Eine neue Lebensphase hatte begonnen und in diese Phase passten keine kleinen Kinder, höchstens Enkelkinder, aber nicht mehr diese Dauerbereitschaft, dieses permanente Verfügbarsein, wie es kleine Kinder nun einmal benötigen, um gesund groß werden zu können.

„Ich war glücklich, Mutter sein zu dürfen. Nun bin ich Mutter zweier erwachsener Kinder. Ich liebe meine Freiräume einfach zu sehr, als dass ich sie wieder aufgeben möchte!“, stellte sie fest.

Ihr jetziges Leben eintauschen gegen etwas Gewesenes, gegen abgelebte Zeiten? Nein, danach stand ihr nicht der Sinn. Etwas in Lena begann sich zu verändern. Eigenartig.

„Eigenartig, wenn ich an mein jetziges Leben denke, fühlt sich der Raum um mich herum nicht mehr so leer an“, stellte sie fest. Vorsichtig spürte sie in ihr Inneres. Je mehr sie sich mit ihrer jetzigen Lebenssituation und ihren Plänen beschäftigte, desto mehr schien sich der leere Raum zu füllen.

Stille, Ruhe, Harmonie. Wie durch ein Wunder gelang es ihr, für einen Moment ein Gefühl des Friedens und der Besinnlichkeit zu genießen, sich ihm voll hinzugeben. Was für ein kostbarer Augenblick in einem sonst so turbulenten Leben.

„Ich kann mich den Erinnerungen hingeben, ohne mich selbst zu verlieren!“, stellte Lena fest.

Ihre Kinder gingen ihr nicht verloren, so wie es ihr Herz oft fürchtete, wenn der Gedanke „Nun bin ich überflüssig“ wieder einmal die Oberhand in ihrem Denken gewann. Nein, die Beziehung zwischen ihnen würde sich lediglich verändern! Und das war gut so, denn nun würde sich etwas Selbstbestimmteres, auf Augenhöhe Funktionierendes entwickeln.

„Die Liebe zu meinen Kindern bleibt immer gleich, egal ob sie hier im Raum sitzen oder sich gerade in Timbuktu aufhalten“, flüsterte sie. Ein weiches Gefühl schlich sich in ihr Herz.

Unwillkürlich dachte Lena daran, wie mühsam sie das Muttersein geübt hatte und wie schwer es war, sich in die Rolle der Verantwortlichen einzufinden. Ein Baby zu versorgen und später ein Kleinkind über den Tag zu begleiten, stellte für Lena Tag für Tag eine neue Herausforderung dar. Ihr Kind sicher über den Tag zu bringen, während ihre Tochter und später ihr Sohn laufen lernten, auf dem Klettergerüst herumturnten, schwimmen übten und sich jeden Tag neu ausprobierten, ohne die Gefahren zu kennen oder auf ihre Warnungen zu hören, brachte sie oft an ihre persönlichen Grenzen. In solchen Zeiten trainiert man seinen Beschützerinstinkt, entwickelt ein ausgeklügeltes Kontrollsystem und muss seine Augen überall haben. Lagen die Kinder dann abends endlich im Bett, rieben sich ihre müden Augen und lauschten der Gute-Nacht-Geschichte, war wieder ein Tag geschafft.

Ja, für Lena war das Muttersein eine Aufgabe, die sie mühsam erlernen musste. Nie im Leben hatte es ihr so viel Freude bereitet Kummerkasten, Krankenpflegerin und Anwältin der Kleinigkeiten zu sein wie in dieser Zeit, und doch hatte es Zeit gebraucht, um dieses mütterliche Verhalten zu erlernen. Inzwischen hatte sie sich in ihre Rolle eingefunden und nun? Schon wieder veränderten sich ihre Aufgaben.

Einen geliebten Menschen aus der sorgsam erbauten Schutzzone zu entlassen, ihm den Freiraum zu geben, den er für seine Entwicklung braucht, ihm die Verantwortung für das eigene Erwachsensein selbst zu überlassen, kollidierte nicht selten mit den eigenen eingeübten Verhaltensweisen und einem Kontrollbedürfnis, das irgendwann einmal seine Berechtigung hatte.

Lena stutzte. „Vielleicht bedeutet die erwachsenen Kinder loslassen einfach nur, eigene, nicht mehr benötigte Verhaltensmuster loszulassen“, dachte sie.

Kontrolle ersetzen durch Vertrauen. Vertrauen darauf, dass die Saat, die man im Leben der Kinder gelegt hatte, aufgegangen ist und jetzt ihre Kraft entfaltet. Eine Kraft, die sie in die Lage versetzt, ein eigenverantwortliches Leben zu führen.

Ab und zu würden sie zurückkehren ins elterliche Nest. Sie würden sich Kraft holen, vielleicht auch einmal ausruhen von ihrer Alltagslast. Sicher würden sie versuchen, für wenige Momente noch einmal Kind zu sein, um in ein Leben zu schlüpfen, in dem Verantwortung und Arbeitsalltag noch fern lagen und alles noch nicht so schwer war. Zu gewähren, die Nestwärme für wenige Momente zu genießen, hieß jedoch nicht, ihnen ihre Eigenverantwortung abzunehmen.

„Für ihr eigenes Leben sind erwachsene Kinder selbst verantwortlich.“ Diesen einfachen Satz ließ Lena sich noch einmal auf der Zunge zergehen.

„Ihn als Mutter zu leben ist schwer!“, stellte sie fest. „Versteckt sich hierin vielleicht das Geheimnis hinter dem so einfach erscheinenden Wörtchen ‚loslassen‘?“

„Sich wieder dem Eigenen zuwenden, der Partnerschaft neue Aufmerksamkeit schenken, niemand behauptet, dass das Abnabeln erwachsener Kinder für mich als Frau nicht auch neue Chancen bringen kann“, sinnierte sie.

Frau sein, wie oft hatte sie sich dieses Gefühl vor lauter Mutter sein versagt?

„Vielleicht steht einfach nur ein Prioritätenwechsel an!“, dachte sie, während sie aus dem Fenster sah und die vorbeifahrenden Autos beobachtete.

„Der Gedanke, abgeschrieben zu sein, sobald die Kinder das Elternhaus verlassen, könnte dann eingetauscht werden gegen ein einfaches Dasein, wenn man gebraucht wird. In der Zwischenzeit könnte man sich freuen, dass es ihnen gut geht und ich könnte dafür sorgen, dass es mir selbst gut geht!“ Dieser Gedanke war neu. Er gefiel ihr.

„Aber warum bin ich dann so traurig?“, fragte sie sich.

„Abschiede machen traurig“, stellte sie fest.

„Wenn es normal ist, dass Abschiede traurig machen und das Ende einer Lebensphase auch ein Abschied darstellt, darf ich traurig sein“, sagte sie sich.

Veränderungen haben viele Seiten. Das, was man verlässt, ist das Bekannte, das Gewohnte, das Leben, in dem man es sich bequem gemacht hat. Das, was nun kommt, ist neu, unbekannt – doch warum nicht auch voller Chancen? Genauso, wie es guttut, diese Chancen zu sehen und sich darauf zu freuen, dass etwas Neues kommt, ist es heilsam, vom Vergangenen Abschied zu nehmen. Tränen dürfen sein. Melancholie, Trauer, Wehmut, all das sind Gefühle, die diesen Prozess begleiten können und die, werden sie wahr- und ernstgenommen und gelebt, zur Lebensfülle und persönlichen Reife beitragen. Alles Themen, über die Lena sich noch nie Gedanken gemacht hatte.

„Gilt das auch für mich?“, fragte sie sich.

„Ich lasse meine Verhaltensweisen als Mutter von kleinen Kindern los und tausche sie ein gegen die Liebe einer Mutter zu ihren erwachsenen Kindern“, dachte sie. Sie lächelte, denn ihr wurde ganz warm ums Herz.

„Abschied nehmen kann also reich machen!“, schmunzelte sie. Folglich hatte dieses Gefühl der Leere in diesem Erlebnisprozess einen Sinn. Wie sonst sollten Freiräume entstehen für Neues?