Dich im Herzen - Susan Wiggs - E-Book
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Dich im Herzen E-Book

Susan Wiggs

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Beschreibung

Annie Harlows Glück scheint perfekt: Sie ist die Produzentin einer bekannten Kochshow, hat einen liebevollen Mann, eine wunderschöne Wohnung in Los Angeles - und jetzt ist sie auch noch schwanger! Doch dann hat Annie hat einen schweren Unfall. Als sie ein Jahr später aus dem Koma erwacht, ist ihr Leben ein Scherbenhaufen. Als gebrochene Frau kehrt sie in ihre Heimat zurück, auf die idyllische Ahornfarm ihrer Familie in Vermont. Kann hier, mit Hilfe ihres charmanten High-School-Freundes Fletcher, ihr Herz heilen?

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Seitenzahl: 563

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Zum Buch

Wenn man alles hat, was man sich wünscht, kann man auch alles verlieren. Das muss Annie schmerzhaft am eigenen Leib erfahren. Doch ein Neuanfang kann auch eine Chance sein – das erhofft sich Annie zumindest, als sie in ihre Heimat, nach Switchback, Vermont, zurückkehrt. Hier, auf der Ahornfarm ihrer Familie, umringt von ihrem unabhängigen Bruder, der geschiedenen Mutter, vier jungen Neffen und Nichten, schöpft Annie neue Kraft. Dabei hilft ihr nicht nur ihr Exfreund Fletcher, sondern auch das Kochbuch ihrer Großmutter, durch das sie einem uralten Geheimnis auf die Spur kommt … „Wiggs erzählt herzerwärmende, aber nicht kitschige Liebesgeschichten für Frauen jeden Alters.“Publisher’s Weekly

Zur Autorin:

Das Leben der #1 New York Times – Bestsellerautorin Susan Wiggs dreht sich um drei Dinge: Familie, Freunde … und Fiktion. Sie lebt mit ihrem Mann, ihrer Tochter und dem Hund auf einer Insel im nordwestlichen Pazifik und fährt bei gutem Wetter gerne mit ihrem Motorboot. Ihre Romane stehen regelmäßig auf den internationalen Bestsellerlisten und wurden weltweit millionenfach verkauft. Bereits drei Mal gewann Susan den begehrten RITA-Award, die höchste Auszeichnung im Liebesroman-Genre. Obwohl sie gerne wandert, fotografiert und Ski fährt, ist und bleibt ihr liebstes Sportprogramm, sich mit einem guten Buch auf der Couch zusammenzurollen.

Lieferbare Titel

Heimat meines Herzens Mit dir für immer

MIRA® TASCHENBUCH

Copyright © 2017 by MIRA Taschenbuch in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe: Family Tree Copyright © 2016 by Susan Wiggs erschienen bei: Harper, ein Imprint von HarperCollinsPublishers, London

Covergestaltung: büropecher, Köln Coverabbildung: Tee_Photolive, Thomas_Zsebok_Images, IakovKalinin / ThinkstockPhotos Redaktion: Maya Gause

ISBN E-Book 9783955766849

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E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

Widmung

In Erinnerung an meinen Dad Nick Klist – mit der tiefsten Dankbarkeit für all die Liebe, den Mut, das Lachen und das Wissen eines ganzen Lebens. Er lebt in den Herzen derjenigen weiter, die ihn geliebt haben.

1. Kapitel

Heute

„Ich kann nicht fassen, dass wir uns über einen Wasserbüffel streiten.“ Annie Rush richtete den Hemdkragen ihres Mannes.

„Dann lass uns damit aufhören“, sagte er. „Die Entscheidung ist gefallen.“

Er setzte sich und schob erst einen, danach den anderen Fuß in seine Cowboystiefel – diese unglaublich teuren Stiefel, die sie ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Weil sie an ihm so verdammt gut aussahen, hatte sie den Kauf jedoch nie bereut.

„Die Entscheidung ist noch nicht gefallen. Wir können das immer noch absagen. Das Budget für die Show ist bereits ausgeschöpft. Und ein Wasserbüffel? Das sind tausendfünfhundert Pfund reine Sturheit.“

„Komm schon, Babe.“ Martin stand auf. Seine blauen Augen glitzerten wie die Sonne auf dem Wasser eines Swimmingpools. „In der Sendung mit einem lebendigen Tier zu arbeiten wird ein echtes Abenteuer. Die Zuschauer werden es lieben.“

Sie atmete verärgert aus. Verheiratete Paare stritten sich über die dümmsten Dinge. Wer hat die Zahnpasta offen gelassen? War es schneller, den Ventura Freeway oder die Golden State zu nehmen. Die Anzahl der Silben im Wort Brokkoli. Die optimale Temperatureinstellung der Heizung. Warum spülte er nie seine Bartstoppeln im Waschbecken weg?

Und nun das. Ein Wasserbüffel.

„Wo in meiner Jobbeschreibung steht, dass ich ein Wasserbüffelcowboy bin?“, fragte sie.

„Der Büffel ist ein integraler Bestandteil der Sendung.“

Er sammelte seine Schlüssel und seine Aktentasche ein und ging nach unten. Seine Schritte hallten schwer auf dem Holzfußboden.

„Das ist ein verrückter Missbrauch des Produktionsbudgets.“ Sie folgte ihm. „Das hier ist eine Kochsendung, nicht Wildes Tierreich.“

„Er ist The Key Ingredient“, beharrte Martin. „Und wenn die Hauptzutat der Woche Mozzarella ist, brauchen wir einen Büffel.“

Annie biss die Zähne zusammen, um sich davon abzuhalten, die Diskussion weiterzuführen. Sie erinnerte sich daran, dass dieser Streit auf einer tieferen Ebene ihre Ehe berührte. Im Vergleich damit war selbst ein fünfzehnhundert Pfund schwerer Büffel eine Kleinigkeit. Es waren die großen Dinge, die zählten – Martins mühelose Art, Knoblauch und Schnittlauch zu schneiden, wenn er für sie kochte. Seine Hingabe an die Sendung, die sie gemeinsam erschaffen hatten. Der heiße Sex unter der Dusche, den sie am vergangenen Abend gehabt hatten.

„Das wird super“, sagte er. „Vertrau mir.“ Er legte einen Arm um ihre Taille und gab ihr einen kurzen Kuss.

Annie streckte eine Hand aus und berührte seine frisch rasierte Wange. Das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte, war ein Disput mit Martin. Er hatte keine Ahnung, wie seltsam seine Idee war. Er hatte schon immer geglaubt, dass die Attraktivität der Sendung in ihrer Fremdartigkeit lag. Sie hingegen war überzeugt, dass die Sendung ihren Erfolg ihrer Authentizität verdankte. Und dem talentierten Koch, dessen Aussehen und Charisma jede Woche eine Stunde lang die Zuschauer vor dem Bildschirm fesselte.

„Ich vertraue dir“, flüsterte sie und stellte sich für einen weiteren Kuss auf die Zehenspitzen. Martin war immerhin der Star der Show. Seine Meinung zählte beim ausführenden Produzenten, und er war es gewohnt, seinen Willen durchzusetzen. Die Details überließ er ihr, Annie – seiner Frau, seiner Partnerin, seiner Produzentin. Es war an ihr, dafür zu sorgen, dass alles so lief, wie er es gerne hätte.

Der Streit hallte noch in ihrem Kopf nach, als sie ihre Hände auf die Fensterbank des Fensters stützte, das auf den Garten ihres Stadthauses hinausging. Sie hatte an diesem Tag eine Million Dinge zu erledigen, angefangen bei einem Interview für das People-Magazin – ein Blick hinter die Kulissen der Sendung.

Ein Fensterputzer war dabei, ein Gerüst zu erklimmen und sich an die Arbeit zu machen. Martin kam auf dem Weg zum Parkhaus an ihm vorbei und blieb kurz stehen, um etwas zu dem Mann zu sagen. Der grinste daraufhin und nickte. Martin, der Charmeur.

Einen Augenblick später schoss der silberfarbene BMW Roadster aus der Garage. Annie wusste nicht, wieso Martin so in Eile war. Der montägliche Berufsverkehr war seit Stunden vorüber.

Sie seufzte und wandte sich ab, wobei sie versuchte, die emotionalen Nachwirkungen des Streits abzuschütteln. Gran hatte stets gesagt, dass es bei einem Streit nie um die Sache ging, über die man sich stritt. Der Wasserbüffel war nicht der Punkt. Bei all ihren Auseinandersetzungen ging es im Kern um Macht. Wer sie hatte. Wer sie wollte. Wer sich geschlagen geben würde. Wer sich durchsetzen konnte.

Bei ihnen gab es da keine Frage. Sie gab nach. Martin gewann. So war es immer. Weil sie es zuließ? Oder weil sie eine Teamplayerin war? Ja, sie waren ein Team. Ein erfolgreiches Team mit einer eigenen Sendung in einem aufstrebenden Sender. Die Kompromisse, die sie eingingen, waren für sie beide gut. Und für ihre Ehe.

Ein weiterer Spruch von Gran hatte sich ihr ins Herz geprägt: Erinnere dich an die Liebe.

Wenn die Zeiten hart waren und man sich fragte, warum man überhaupt geheiratet hatte, sollte man sich an die Liebe erinnern.

Zum Glück fiel ihr das nicht schwer. Martin war ein echter Fang. Er war so attraktiv, dass die Frauen stehen blieben und ihn anstarrten. Sein lässiger Charme beschränkte sich nicht auf die Sendung. Martin wusste, wie er sie zum Lachen bringen konnte. Wenn sie gemeinsam eine Idee entwickelten, zog er sie in seine Arme und tanzte mit ihr durch die Küche. Wenn sie über die Familie sprachen, die sie einst haben würden, die Babys, schmolz sie vor Sehnsucht dahin. Er war ihr Ehemann, ihr Partner, ein unersetzbares Element in ihrem Leben. Okay, dachte sie. Okay gut. Was auch immer.

Annie sah auf die Uhr und widmete sich dann ihren beruflichen E-Mails – alle ihre E-Mails waren beruflich. Sie erfuhr, dass die Hebebühne, die sie gemietet hatten, um die neue Beleuchtung am Set ihrer Sendung zu installieren, mit mechanischen Problemen zu kämpfen hatte.

Super. Noch etwas, worüber sie sich Gedanken machen musste.

Das Telefon klingelte, und auf dem Display erschien das Bild einer Katze. „Melissa“, sagte Annie und stellte den Lautsprecher des Apparats an. „Was ist los?“

„Ich wollte nur mal hören, wie es so geht“, erwiderte Melissa. Das schien sie in letzter Zeit ziemlich häufig zu tun. „Hast du die E-Mail bezüglich der Kuh gesehen?“

„Des Büffels“, korrigierte Annie sie. „Und ja. Außerdem habe ich eine Nachricht über eine Hebebühne, die nicht funktioniert, und gleich kommt CJ vom People-Magazin. Also werde ich heute später am Set sein. Sag allen, sie sollen sich bis nach dem Lunch gedulden.“ Annie biss sich auf die Unterlippe. „Sorry. Ich bin heute Morgen etwas übellaunig. Ich habe vergessen zu frühstücken.“

„Dann mach dir jetzt etwas. Okay, meine Hübsche“, sagte Melissa fröhlich. „Ich muss los.“

Annie wandte sich wieder ihrem Computer zu, um noch einmal die Uhrzeit für den Termin mit der Reporterin zu prüfen. CJ Morris wollte einen Hintergrundbericht über die Sendung schreiben – nicht nur über die Stars Martin Harlow und Melissa Judd, sondern über die gesamte Produktion. Von ihren Anfängen als kleine Sendung im Kabelfernsehen bis zu dem Hit, der sie geworden war. Martin und Melissa hatte CJ bereits interviewt. Heute würde sie nun hierherkommen, um sie zu besuchen, die Erfinderin der Sendung. Es war ein ungewöhnlicher Ansatz für einen Zeitschriftenartikel. Normalerweise waren die Leserinnen nur an Klatsch und an Fotos der Stars interessiert. Annie hoffte, das Beste aus der Gelegenheit machen zu können.

Während sie auf die Journalistin wartete, tat sie das, was eine Produzentin tat – sie nutzte jede freie Minute, um sich um Dinge zu kümmern. Sie las sich die Mietbedingungen für die Hebebühne genau durch, um eine Telefonnummer zu finden. Hierüber hatten Martin und sie sich auch in die Haare bekommen. Die Miete für die Hebebühne mit der höchsten Sicherheitsstufe war wesentlich höher als die für die hydraulische. Trotz ihres Einspruchs hatte Martin darauf bestanden, die billigere zu nehmen. Wie üblich hatte sie nachgegeben und er seinen Willen bekommen. Da sie das Budget wegen des Wasserbüffels überschreiten würden, hatte sie woanders Abstriche machen müssen. Jetzt funktionierte diese Hebebühne nicht, und es war an ihr, das Problem zu lösen.

Genug, sagte sie sich. Ihr fiel wieder ein, dass sie etwas frühstücken wollte, und sie öffnete den Kühlschrank. Bulgarischer Joghurt mit Ahornmüsli? Nein, ihr Magen lehnte die Vorstellung von Joghurt ab. Die zarten französischen Radieschen, die auf dem Bauernmarkt so verlockend ausgesehen hatten, waren nicht mehr ganz frisch. Und selbst eine schlichte Scheibe Toastbrot fand sie wenig ansprechend. Okay, also kein Frühstück. Eine Sache nach der anderen.

Sie ging ins Gästebad und kämmte sich ihr langes dunkles Haar, das sie am Tag zuvor mit dem Glätteisen in die Unterwerfung gezwungen hatte. Dann prüfte sie ihren Lippenstift und ihren Nagellack. Beide kirschrot und perfekt zueinanderpassend. Der schwarze Bleistiftrock, Plateausandalen und das fließende weiße Top waren cool und lässig, eine gute Wahl bei der derzeitigen Hitzewelle. Sie wollte für das Interview gut aussehen, auch wenn diesmal kein Fotograf dabei wäre.

Es klingelte, und sie eilte zur Gegensprechanlage. Mist, die Reporterin war früh dran, so etwas mochte sie gar nicht.

„Eine Lieferung für Annie Rush“, sagte die Stimme auf der anderen Seite.

Eine Lieferung? „Oh … okay. Kommen Sie rauf.“ Sie drückte auf den Türöffner.

Ein riesiges Bukett aus üppigen tropischen Blumen kam die Treppe herauf. „Achtung, stolpern Sie nicht“, sagte Annie zu den Beinen, die sie darunter sehen konnte. „Da drüben … auf dem Tresen ist gut.“

Orientalische Lilien und weiße Tuberosen verströmten ihren würzigen Duft im Raum. Schleierkraut verlieh dem Arrangement einen leichten Touch. Die Frau, die den Strauß gebracht hatte, stellte die Vase ab und strich sich eine schwarze Haarsträhne aus der Stirn.

„Viel Spaß damit, Ma’am“, sagte sie.

Sie war jung und trug Tattoos und Piercings an den ungewöhnlichsten Stellen. Die Schatten unter ihren Augen wiesen auf eine schlaflose Nacht hin, auf einer ihrer Wangen prangte eine gelblich verblasste Prellung. Annie fielen solche Dinge immer auf. „Ist alles in Ordnung?“, fragte sie.

„Äh, sicher.“ Das Mädchen nickte in Richtung der Blumen. „Sieht so aus, als wäre jemand sehr glücklich mit Ihnen.“

Annie reichte ihr eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und einen Zwanzigdollarschein. „Passen Sie gut auf sich auf.“

„Mach ich.“ Das Mädchen schlüpfte aus der Tür und eilte die Treppe hinunter.

Annie zupfte den kleinen Briefumschlag aus dem Blumenwald – Rosita’s Express Flowers. Auf der Karte stand eine schlichte Botschaft: Es tut mir leid, Babe. Lass uns darüber reden.

Ah, Martin. Die Geste war typisch für ihn – verschwenderisch, übertrieben … unwiderstehlich. Vermutlich hatte er die Bestellung auf dem Weg zur Arbeit aufgegeben. Sie wurde von einer Woge der Zuneigung erfasst, und ihre Verärgerung schwand dahin. Die Nachricht war genau das, was sie brauchte. Und dann verspürte sie einen Anflug von Schuldgefühlen. Manchmal sorgte sie sich, dass sie nicht genügend an ihn glaubte. Den Entscheidungen nicht traute, die er traf. Es könnte sein, dass er mit dem Wasserbüffel recht hatte. Es könnte eine der beliebtesten Folgen ihrer Sendung werden.

Der Pförtner klingelte erneut und verkündete CJs Ankunft.

Annie öffnete die Tür und wurde von einer Hitzewand begrüßt. „Kommen Sie rein, bevor Sie schmelzen“, sagte sie.

„Danke. Dieses Wetter ist verrückt. Ich habe im Radio gehört, dass wir heute wieder die Fünfunddreißig-Grad-Marke knacken. Und das so früh im Jahr.“

Annie trat beiseite und geleitete die Journalistin ins Haus. Sie hatte extra aufgeräumt und war nun dankbar, dass Martins Blumenstrauß einen Hauch von Eleganz verströmte. „Fühlen Sie sich wie zu Hause. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Ich habe einen Krug Eistee im Kühlschrank.“

„Oh, das klingt gut. Ist er koffeinfrei? Ich trinke im Moment kein Koffein. Und das Tannin stört mich auch. Ist er tanninfrei?“

„Sorry, leider nicht.“ Egal wie lange sie hier wohnte, Annie würde sich niemals an die unzähligen Ernährungsmarotten der Südkalifornier gewöhnen.

„Dann vielleicht einfach ein Wasser. Wenn es aus der Flasche kommt. Ich bin zu früh“, sagte CJ entschuldigend. „Der Verkehr ist so unvorhersehbar, und ich habe extra ausreichend Zeit eingeplant.“

„Kein Problem“, versicherte Annie ihr. „Meine Großmutter hat immer gesagt, wenn du nicht pünktlich sein kannst, komm zu früh.“ Sie ging zum Kühlschrank, während die Reporterin ihre Sachen abstellte und sich auf das Sofa setzte.

Zumindest konnte Annie sie mit dem Wasser beeindrucken. Ein Sponsor hatte ein paar Kostproben seines Mineralwassers geschickt, das vierzehn Dollar die Flasche kostete, aus einem Brunnen tief in der Erde der Anden stammte und abgefüllt wurde, bevor es jemals mit Luft in Berührung gekommen war.

„Was für eine tolle Küche“, bemerkte CJ und schaute sich um.

„Danke. Hier entstehen all die Köstlichkeiten.“ Annie reichte ihr die gekühlte Wasserflasche.

„Das kann ich mir vorstellen. Also, Ihre Großmutter“, sagte CJ, während sie ein altes Kochbuch betrachtete, das auf dem Wohnzimmertisch lag. „Das ist die gleiche, die dieses Buch geschrieben hat, richtig?“ Sie schaltete die Aufnahmefunktion ihres Handys an und legte es auf den Couchtisch. „Unterhalten wir uns doch ein wenig darüber.“

Annie liebte es, über Gran zu sprechen. Sie vermisste sie jeden Tag, aber die Erinnerungen hielten sie in ihrem Herzen lebendig. „Gran hat das Buch in den Sechzigerjahren veröffentlicht. Ihr Name war Anastasia Carnaby Rush. Mein Großvater hat sie Sugar genannt – zu Ehren der Ahornsirupmarke seiner Familie. Sugar Rush.“

„Ich liebe es.“ CJ blätterte in dem Buch.

„Es war jahrelang ein regionaler Bestseller in Vermont und New England. Inzwischen ist es vergriffen, aber ich kann Ihnen eine digitale Ausgabe zukommen lassen.“

„Super. War sie gelernte Köchin?“

„Nein, sie hat sich alles selbst beigebracht. Sie hatte einen Abschluss in Englisch, doch Kochen war ihre große Liebe.“ Sogar jetzt noch, lange nachdem ihre Großmutter gestorben war, sah Annie sie in der sonnigen Küche des Farmhauses vor sich, wie sie fröhlich jeden Tag des Jahres für die gesamte Familie kochte. „Gran hatte eine besondere Art, mit Lebensmitteln umzugehen“, fuhr Annie fort. „Sie hat immer gesagt, jedes Rezept hat eine Schlüsselzutat. Das ist die Zutat, die das Gericht definiert.“

„Verstehe. Deshalb konzentriert sich jede Folge Ihrer Sendung auf eine einzelne Zutat. War es schwer, diese Idee dem Sender zu verkaufen?“

Annie lachte leise. „Nein, das war nicht schwierig. Ich meine, kommen Sie, Martin Harlow.“ Sie zeigte der Frau ein weiteres Kochbuch – das neueste von Martin. Das Cover zierte ein Bild von ihm, auf dem er noch leckerer aussah als der goldkrustige Brombeerkuchen, den er gerade zubereitete.

„Stimmt. Er ist die perfekte Kombination aus Wildwestcowboy und Cordon-bleu-Koch.“

CJ strahlte und machte keinen Hehl aus ihrer Bewunderung. Sie studierte die auf dem Couchtisch liegenden Zeitschriften. Us Weekly, TV Guide, Variety. Alle hatten in den letzten sechs Monaten etwas über die Sendung gebracht.

„Sind das die neuesten Artikel?“

„Ja. Nehmen Sie sich gerne alles, was Sie interessiert.“ Ein weiteres von Annies hochgeschätzten Büchern lag ebenfalls in der Nähe – ein Exemplar von Herr der Fliegen, ein altes, in Leinen gebundenes Werk in einem festen Schuber. Es war eine von drei Ausgaben, die sie besaß, und sie hoffte, dass die Reporterin sie nicht darum bitten würde.

CJ konzentrierte sich auf andere Dinge – einen mehrseitigen Artikel in Entertainment Weekly, der Martin zeigte, wie er in seiner unverkennbaren abgetragenen Jeans und der Metzgerschürze kochte, unter der er ein enges weißes T-Shirt trug, das seinen fitten, muskulösen Oberkörper betonte. Seine Co-Moderatorin Melissa stand neben ihm. Ihre elegante Erscheinung war die perfekte Ergänzung zu seinem lässigen Look.

Essen als Unterhaltung. Das war eine Richtung, die Annie für ihre Sendung The Key Ingredient nicht im Kopf gehabt hatte. Aber wer war sie, gegen die erfolgreichen Einschaltquoten zu argumentieren?

Annie erzählte kurz von ihrem Hintergrund – Film- und Rundfunkstudium mit Schwerpunkt Kochkünste in einem Spezialprogramm an der Tisch School of the Arts der New York University. Was sie nicht erwähnte, war das Opfer, das sie bringen musste, um von der Ostküste nach L. A. ziehen zu können. Das war ein Teil ihrer Geschichte, jedoch nicht der Geschichte der Sendung.

„Wann sind Sie an die Westküste gezogen?“

„Das kommt mir wie eine Ewigkeit her vor, aber es war vor ungefähr zehn Jahren.“

„Also direkt nach dem Studium?“

„Ganz genau. Ich hatte nicht erwartet, in L. A. zu landen, noch bevor die Tinte auf meinem Diplom trocken war, doch so ist es gewesen“, erwiderte Annie. „Es wirkt vielleicht etwas plötzlich, aber mir kam es nicht so vor. Seit ich sechs war, wusste ich, dass ich eine Sendung übers Kochen haben wollte. Meine frühesten Erinnerungen sind die an meine Großmutter in der Küche, während Ciao Italia im Fernsehen lief. Ich habe mir Gran immer als Mary Ann Esposito vorgestellt, die der Welt das Kochen beibringt. Ich liebte ihre Art, wie sie über Essen sprach, wie sie mit den Zutaten umging, wie sie sich dadurch ausdrückte, darüber redete und schrieb und ihr Wissen teilte. Ich habe Koch-Demos für Gran gedreht und später für jeden, der sich eine meiner Präsentationen angehört hat. Ich habe sogar mich beim Kochen gefilmt. Ich habe einige der alten VHS-Tapes in digitale Dateien umwandeln lassen, um die Erinnerungen zu bewahren. Martin und ich wollen uns immer mal hinsetzen, um sie uns gemeinsam anzusehen.“

„Was für eine fabelhafte Geschichte. Sie haben Ihre Leidenschaft also früh entdeckt.“

Ihre Leidenschaft war in der Küche ihrer Großmutter geboren worden, als Annie noch zu jung gewesen war, um lesen oder schreiben zu können. Aber sie war nie zu jung gewesen, um zu träumen. „Ich bin davon ausgegangen, dass jeder die gleiche Leidenschaft fürs Essen hat wie ich. Das tue ich nach wie vor, und ich bin immer überrascht, wenn ich herausfinde, dass dem nicht so ist.“

„Also hatten Sie schon Interesse am Kochen, bevor Sie Martin kennengelernt haben.“

Wieder Martin. Die Welt nahm an, dass er das Interessanteste an ihr war. Wie hatte sie das zulassen können? Und warum? „Ehrlich gesagt“, erwiderte sie, „hat alles mit einer kurzen Dokumentation angefangen, die ich über Martin gedreht habe. Damals, als er einen kleinen Imbissstand in Manhattan hatte.“

„Dieses erste Video ist ein großer Erfolg, oder? Und trotzdem sind Sie immer noch hinter den Kulissen tätig. Wollten Sie nie vor der Kamera stehen?“

Annie bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Natürlich wollte sie das. Jeden Tag. Das war ihr Traum gewesen, aber die Welt der kommerziellen Fernsehsendungen hatte andere Vorstellungen. „Ich bin viel zu sehr mit der Produktion beschäftigt, um darüber nachzudenken“, sagte sie.

„Haben Sie nie mit dem Gedanken gespielt, Co-Moderatorin zu sein? Ich frage nur, weil Sie vorhin die Koch-Demos erwähnt haben …“

Annie wusste, worauf CJ hinauswollte. Reporter hatten die Angewohnheit, sich in private Themenbereiche zu stehlen und sich Informationen zu erschleichen. CJ würde hier jedoch keinen Schmutz finden. „Leon Mackey, der ausführende Produzent und Besitzer der Sendung, verlangte eine Co-Moderatorin, um zu verhindern, dass Martin zu einem Ansager wird, von dem man immer nur Kopf und Schultern sieht. Martin und ich haben sogar ein paar Probeaufnahmen zusammen gemacht“, sagte sie. „Noch bevor wir geheiratet haben, wollten wir sowohl vor als auch hinter der Kamera ein Team sein. Das kam uns romantisch und einzigartig vor, eine Möglichkeit, uns von anderen Sendungen abzugrenzen.“

„Ganz genau“, sagte CJ. „Doch es hat nicht funktioniert?“

Als sie die Probeaufnahmen gedreht hatten, waren ihre Hoffnungen ins Unendliche gestiegen. Sie hatte gedacht, der Sender würde sich für sie entscheiden. Aber nein. Die Show brauchte jemanden, der sich leichter zuordnen ließ, hatten sie argumentiert. Geschliffener. Was sie nicht sagten, war, dass ihr Aussehen zu ethnisch war. Ihre olivfarbene Haut und die dunklen Korkenzieherlocken passten nicht zur Vision des „Mädchens von nebenan“, nach der ihr Sender EP suchte. Sie passen nicht zu dieser Sendung, hatte Leon gesagt, Sie sehen aus wie Jasmine Lockwoods kleine Schwester. Das könnte die Zuschauer verwirren.

Jasmine Lockwood war die Moderatorin einer sehr beliebten Sendung über Hausmannskost im selben Netzwerk. Annie sah die Ähnlichkeit zwar nicht, aber sie hatte nachgegeben und die Sendung über ihr Ego gestellt.

„Wie auch immer“, sagte sie mit einem strahlenden Lächeln. „Angesichts der Einschaltquoten haben wir die richtige Kombination für die Sendung gefunden.“

CJ nippte an ihrem Wasser und hob die schlichte Glasflasche dann ein wenig an, um sie zu bewundern. „Wann ist Melissa Judd dazugestoßen?“

Annie hielt kurz inne. Sie konnte schlecht sagen, dass Martin sie in seiner Yogaklasse getroffen hatte, auch wenn dem so gewesen war. Damals hatte Melissa einen Vertrag als Moderatorin einer spätabendlichen Sendung in einem Homeshoppingkanal gehabt. Ihr Aussehen, hatte Melissa in dem vorab aufgenommenen Interview mit ernster Miene behauptet, sei ihr immer in die Quere gekommen, weil die Leute es nicht schafften, an ihrer Schönheit vorbeizusehen und das Talent dahinter zu entdecken.

„Zwischen ihr und Martin herrschte von Anfang an diese unglaubliche Chemie, die nicht künstlich herzustellen ist“, erklärte Annie der Reporterin. „Also wussten wir, dass wir sie brauchten.“ Sie erwähnte nicht die Vorbereitungen, derer es bedurft hatte, um die neue Co-Moderatorin für ihre Rolle fit zu machen. Melissas Moderationen waren zu schrill und grob, ihre Stimme perfekt dafür, die Zuschauer spätabends vor dem Fernseher wach zu halten, aber nicht dafür, die Sinnlichkeit des Kochens zu präsentieren. Ihr war die Aufgabe übertragen worden, Melissas sehr verborgene Talente hervorzubringen. Sie hatte lange und hart daran gearbeitet, ihre kecke Art des Mädchens von nebenan zu kultivieren. Annie musste Melissa zugutehalten, dass sie schnell lernte. Sie und Martin wurden ein dynamisches Duo.

„Nun, Sie haben definitiv eine Gewinnerkombination zusammengestellt“, merkte CJ an.

„Äh … danke.“ Manchmal, wenn sie das lockere Geplänkel zwischen den beiden beobachtete –, meistens ein Geplänkel, das sie vorher penibel geschrieben hatte – ertappte Annie sich bei dem Wunsch, selbst vor der Kamera zu stehen und nicht nur hinter den Kulissen zu agieren. Die Formel funktionierte jedoch, und außerdem hatte Melissa einen wasserdichten Vertrag.

Annie wusste, dass sie die Unterhaltung wieder auf ihre Rolle in der Sendung zurückbringen sollte, aber sie dachte erneut an Frühstück. Scones, überlegte sie. Mit Meersalzkruste und Ahornbutter.

„Erzählen Sie mir von der ersten Folge“, schlug CJ vor. „Ich habe sie mir gestern Abend noch einmal angesehen. Die Hauptzutat war Ahornsirup, was angesichts Ihres Hintergrunds natürlich perfekt ist.“

„Wenn Sie mit ‚perfekt‘ meinen, dass es die reinste Katastrophe war, haben Sie recht.“ Annie grinste. „Ahornsirup ist schon seit Generationen das Hauptgeschäft meiner Familie.“ Sie zeigte auf ein Gemälde an der Wand – eine Landschaft, die ihre Mutter vom Rush Mountain in Vermont gemalt hatte. „Es schien das ideale Thema für den Start der Sendung zu sein. Die Produktion hat tatsächlich bei uns im Garten stattgefunden – zwischen den Ahornbäumen der Rush-Familie in Switchback, Vermont.“

Sie atmete tief durch und verspürte einen Anflug von Übelkeit. Annie wusste nicht, ob es von ihrem leeren Magen hervorgerufen wurde oder von der Erinnerung an die damaligen Aufnahmen. Sie erinnerte sich noch an das angespannte Gefühl, als sie in die kleine Stadt zurückgekehrt war, in der sie aufgewachsen war – umgeben von allen, die sie seit Jahren kannten.

Zum Glück hatte das Budget es ihnen nur gestattet, zweiundsiebzig Stunden zu bleiben, und jede Stunde war mit Aktivitäten vollgepackt gewesen. Alles, was schiefgehen konnte, war schiefgegangen. Der Schnee war zu früh geschmolzen und hatte die malerischen Winterwälder in einen braunen Sumpf aus nackten Bäumen verwandelt, aus denen Plastikschläuche ragten, durch die der Ahornsirup floss. Sie hatten ausgesehen wie Infusionsschläuche, die von Baum zu Baum reichten. Das Zuckerhaus, in dem die Magie hatte stattfinden sollen, war für die Aufnahmen zu laut und die Luft darin zu dampfig gewesen. Ihr Bruder Kyle hatte sich vor der Kamera so unwohl gefühlt, dass einer der Redakteure sogar gefragt hatte, ob er geistig ein wenig zurückgeblieben sei. Melissa hatte sich eine Erkältung eingefangen, und Martin hatte den gefürchteten Satz Ich habe es dir ja gesagt ausgesprochen.

Annie war sich damals sicher gewesen, dass ihre Karriere – ihre lang erträumte, lang ersehnte Sendung – mit einem Wimmern verenden und zu einer Fußnote auf der endlosen Liste gescheiterter Fernsehsendungen werden würde. Sie war am Boden zerstört gewesen.

Und das war der Moment, in dem Martin sie gerettet hatte. Zurück im Century-City-Studio hatte das Team der Postproduktion Überstunden geschoben, um das Material zu schneiden, mit Fotos und Computeranimationen zu ergänzen, wobei sie sich auf den umwerfend attraktiven, klugen Moderator Martin Harlow und seine gut ausgebildete, unglaublich fröhliche Co-Moderatorin Melissa Judd konzentrierten.

Als die Sendung schließlich lief, hatte Annie im Schneideraum auf einem Bürostuhl gesessen und es nicht gewagt, sich zu bewegen. Am Rande der Panik stehend, hatte sie den Atem angehalten … bis eine Assistentin mit ihrem Handy erschien und ihr eine lange Liste an Feedbacks aus den sozialen Medien zeigte. Die Zuschauer liebten die Show.

Die Kritiker hatten die Sendung ebenfalls geliebt und Martins ansteckende Liebe zum Essen gelobt, die deutlich geworden war, als er an der Wand des Zuckerhauses gelehnt und einen noch warmen Krapfen mit frisch gezapftem Ahornsirup gekostet hatte. Sie hatten Melissas charmanter Art bei der Zubereitung eines Gerichts applaudiert und der verführerischen Weise, in der sie die Zuschauer zum Probieren eingeladen hatte.

Die Einschaltquoten waren respektabel, und die Online-Views des Trailers nahmen von Stunde zu Stunde zu. Die Leute sahen es sich an. Wichtiger noch, sie teilten den Link, sodass er durch den digitalen Äther um die ganze Welt reiste. Der Sender bestellte nach den ersten acht Ausgaben dreizehn weitere Folgen. Annie hatte Martin angeschaut, und Tränen der Erleichterung waren ihr über das Gesicht geströmt. „Du hast es geschafft“, hatte sie gesagt. „Du hast meinen Traum gerettet.“

„Angesichts Ihres Gesichtsausdrucks“, sagte CJ, „war das ein sehr emotionaler Moment.“

Annie blinzelte überrascht. Arbeit war Arbeit. Es passierte nicht oft, dass ihr deswegen die Tränen in die Augen stiegen. „Ich habe mich nur daran erinnert, wie erleichtert ich war, dass sich alles zum Guten gewendet hatte“, sagte sie.

„Also wurde ordentlich gefeiert?“

„Oh ja.“ Bei der Erinnerung daran lächelte Annie. „Martin hat mit einem Candle-Light-Dinner gefeiert … und einem Heiratsantrag.“

„Wow. Oh mein Gott. Sie sind Aschenputtel.“

Sie hatten vor acht Jahren geheiratet. Vor acht geschäftigen, produktiven, erfolgreichen Jahren. Manchmal, wenn sie mal wieder mit teuren Extras über die Stränge schlugen, wie etwa einem Tauchausflug, um Austern zu ernten, der Suche nach Trüffeln oder dem Melken einer nubischen Ziege, ertappte Annie sich bei dem Gedanken, was aus ihrer Hauptzutat geworden war, dem Originalkonzept für die Sendung. Die bescheidene Idee war irgendwo in den verschwenderischen Episoden vergraben, die sie heutzutage produzierten. Es gab Momente, in denen sie sich Sorgen machte, weil das Programm sich von ihrem Kerntraum entfernt hatte und es von den theatralischen und reißerischen Elementen erstickt wurde, die nichts mit ihrer ursprünglichen Vision zu tun hatten.

Die Sendung hat ein Eigenleben entwickelt, rief sie sich in Erinnerung, und das konnte etwas Gutes sein. Mit ihrem Wissen ums Kochen, das sie sich selbst beigebracht hatte, und ein wenig Buchhaltung hielt sie Woche für Woche alles am Laufen.

„Du bist die Hauptzutat“, erklärte Martin ihr immer wieder. „Das alles existiert nur deinetwegen. Wenn wir das nächste Mal über die Verträge reden, werden wir für dich eine Rolle vor der Kamera herausschlagen. Vielleicht sogar eine eigene Show.“

Aber sie wollte nicht noch eine Sendung. Sie wollte The Key Ingredient. Doch sie war lange genug in L. A., um zu wissen, wie man das Spiel spielte, und dazu gehörte viel Geduld und erhöhte Wachsamkeit, was die Kosten anging. Die Herausforderung bestand darin, aufregend und relevant zu bleiben – und innerhalb des Budgets.

CJ machte sich ein paar Notizen auf ihrem Tablet. Annie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, als sie kurz auf die Uhr schaute und überlegte, was sie an diesem Tag noch alles zu tun hatte.

Sie musste mal auf die Toilette, daher entschuldigte sie sich und ging nach oben ins Badezimmer.

Und da traf es sie. Sie war zu spät. Nicht zu spät zur Arbeit – sie hatte bereits angekündigt, dass sie nicht zur üblichen Zeit ins Studio kommen würde, sondern zu spät im Sinne von überfällig.

Ihr stockte der Atem. Sie stützte sich aufs Waschbecken und drückte ihre Handflächen auf das kühle Porzellan.

Ganz bewusst atmete sie aus und rief sich in Erinnerung, dass sie es erst seit ein paar Wochen versuchten. Niemand wurde so schnell schwanger. Oder? Sie hatte angenommen, dass ihr ausreichend Zeit bliebe, um sich an die Vorstellung zu gewöhnen, eine Familie zu gründen. Zeit, um ein größeres Haus zu finden, ihren Terminplan unter Kontrolle zu bekommen. Zeit, aufzuhören, sich so viel zu streiten.

Sie hatte noch nicht mal eine einzige Eintragung in ihren Ovulationskalender gemacht. Hatte keines der „Was während einer Schwangerschaft zu erwarten ist“-Bücher gelesen. Hatte keinen Arzt aufgesucht. Es war viel zu früh für das alles.

Aber vielleicht … Sie schnappte sich einen Test aus dem Schränkchen unter dem Waschbecken – ein Überbleibsel aus einer Zeit, als sie nicht schwanger hatte sein wollen. Wenn sie die Möglichkeit nicht sofort ausschloss, würde der Gedanke den ganzen Tag an ihr nagen. Die Anleitung war ziemlich einfach, und sie befolgte sie aufs Wort. Und dann, vorsichtig, legte sie das Stäbchen auf die Ablage. Ihre Hand zitterte, als sie das kleine Fenster beobachtete, in dem das Ergebnis auftauchen würde. Eine rosafarbene Linie bedeutete nicht schwanger. Zwei Linien bedeuteten schwanger.

Sie blinzelte, um sicherzugehen, dass sie das richtig sah. Zwei rosa Linien.

Einen Moment lang erstarrte alles zu Eis, kristallisierte sich wegen ihres Erstaunens. Die Welt löste sich auf.

Annie hielt die Luft an. Beugte sich vor und starrte in den Spiegel. Sie hatte einen Ausdruck im Gesicht, den sie noch nie gesehen hatte. Es war einer dieser Augenblicke, die ihre Gran Schlüsselmomente genannt hatte. Die Zeit tickte nicht einfach weiter, unbemerkt, ungesehen. Nein, das hier war einer der Momente, in denen alles stehenblieb. Man trennte ihn von allen anderen, drückte die Empfindung an sein Herz, wie eine getrocknete Blume, die zwischen den Seiten eines geliebten Buches herausrutscht. Dieser Augenblick war aus etwas Zerbrechlichem und Zartem gemacht, und doch hatte er die Macht, für immer zu überdauern.

Das, so würde Gran bestätigen, war ein Schlüsselmoment. Annie spürte einen Kloß im Hals – ein Gefühl der Euphorie, das so rein war, dass sie zu atmen vergaß.

So fängt es also an, dachte sie.

All die Millionen Dinge auf ihrer To-do-Liste verschmolzen zu nichts. Jetzt hatte sie nur eine Aufgabe in dieser Welt – es Martin zu sagen.

Sie wusch sich die Hände und eilte ins Schlafzimmer, um nach dem Telefon zu greifen. Nein, sie wollte ihn nicht anrufen. Er ging sowieso nie ran und hörte nur selten seine Mailbox ab. Was auch ganz gut war, denn ihr fiel ein, dass diese Neuigkeit viel zu groß war, um per Nachricht oder SMS übermittelt zu werden. Sie musste ihrem Mann die Neuigkeit persönlich mitteilen – ein Geschenk, dargeboten aus ihrem Herzen, eine Überraschung so süß wie die, die sie gerade empfand. Er verdiente seinen eigenen Schlüsselmoment. Sie wollte ihn sehen. Wollte sein Gesicht beobachten, wenn sie die magischen Worte aussprach: Ich bin schwanger.

Sie eilte die Treppe hinunter und gesellte sich wieder zu der Reporterin im Wohnzimmer. „CJ, es tut mir so leid. Es ist etwas dazwischengekommen. Ich muss sofort ins Studio. Können wir das Interview ein andermal fortsetzen?“

Die Miene der Frau verschloss sich ein wenig. „Ich habe nur ein paar weitere …“

Es war zwar nicht besonders klug, die Journalistin eines bekannten Magazins vor den Kopf zu stoßen, aber darauf mochte Annie jetzt keine Rücksicht nehmen. Sie funkelte förmlich wegen des Wunders, das sich ereignet hatte, und konnte sich auf nichts anderes als auf ihre Neuigkeit konzentrieren. Sie ertrug die Vorstellung, sie für sich zu behalten, keinen Moment länger. „Könnten Sie mir die Fragen nicht per E-Mail schicken? Ich schwöre, ich würde nicht darum bitten, wenn es nicht wichtig wäre.“

„Geht es Ihnen gut?“

Annie fächelte sich Luft zu. Auf einmal fühlte sie sich erhitzt und atemlos. Sah sie anders aus? Hatte sie schon das Strahlen der Schwangeren? Das war dumm; sie wusste es doch erst seit wenigen Minuten. „Ich … es ist etwas Unerwartetes geschehen. Ich muss sofort ins Studio.“

„Wie kann ich helfen? Soll ich mitkommen? Ihnen zur Hand gehen?“

„Das ist sehr nett von Ihnen.“ Normalerweise war Annie mit der Presse nicht so rücksichtslos. Ein Teil des Erfolgs ihrer Sendung lag daran, dass sie und ihr PR-Team die Medien mit verschwenderischer Aufmerksamkeit bedachten. Sie hielt inne, um nachzudenken, dann sagte sie: „Ich habe eine Idee. Treffen wir uns im Lucque zum Dinner – Sie, Martin und ich. Er kennt den dortigen Chefkoch. Da können wir bei einem hervorragenden Essen weiterreden.“

CJ steckte ihre Unterlagen in ihre Tasche. „Mit Bestechung kommen Sie bei mir immer durch. Ich habe gehört, dass die Wartezeit auf einen Tisch dort sechs Wochen beträgt.“

„Außer, wenn man mit Martin Harlow hingeht. Ich werde meine Assistentin sofort einen Tisch reservieren lassen und Sie anrufen.“ Annie verabschiedete sich hastig von der Reporterin. Dann sammelte sie ihre Sachen ein – Schlüssel, Handy, Laptop, Tablet, Portemonnaie, Wasserflasche, Produktionsnotizen – und stopfte alles in ihre bereits überquellende Aktentasche.

Eine Sekunde lang stellte sie sich die Tasche vor, die sie als junge Mutter mit sich herumtragen würde: Windeln und Schnuller … und was noch?

„Oh mein Gott“, flüsterte sie. „Oh mein Gott. Ich weiß überhaupt gar nichts über Babys.“

Sie eilte zur Tür und lief die Treppe des Laurel-Canyon-Stadthauskomplexes hinunter. Ihr Haus war elegant und modern – und sie konnten es sich gerade so leisten. Die Sendung wurde immer beliebter, und bald würden für Martin die Verhandlungen zu seiner Vertragsverlängerung beginnen. Sie bräuchten ein größeres Haus. Mit einem Kinderzimmer. Einem Kinderzimmer.

Die Hitze traf sie wie ein Schwall heißer Ofenluft. Selbst für den Frühling in Südkalifornien war das extrem. Den Einwohnern wurde empfohlen, drinnen zu bleiben, viel Wasser zu trinken und sich aus der Sonne fernzuhalten.

Über dem Gang zur Garage war der Gebäudereiniger immer noch dabei, die Fenster zu putzen. Annie hörte einen Ruf, sah den fallenden Fensterabzieher aber erst, als es zu spät war. Er landete nur wenige Zentimeter von ihr entfernt auf dem Boden.

„Hey!“, rief sie. „Sie haben etwas verloren!“

„Sorry, Ma’am.“ Der Mann war verlegen. „Das Ding ist mir einfach aus den Fingern gerutscht.“

Trotz der schwülen Luft verspürte sie einen kalten Lufthauch. Sie musste jetzt vorsichtig sein. Sie war schwanger. Die Vorstellung erfüllte sie mit Staunen und Freude. Und einem leisen Anflug von Furcht.

Sie drückte auf den Wagenschlüssel, woraufhin die Fahrertür sich mit einem fröhlichen Piep öffnete. Anschnallen. Spiegel prüfen. Sie drehte sich kurz um und schaute die Rückbank an. Sie war überladen mit alten Einkaufstaschen, mehreren leeren Papptabletts und Schüsseln von ihrer letzten Aufnahme, bei der Safran die Hauptzutat gewesen war. Eines Tages würde es dort einen Kindersitz geben. Für ein Baby. Vielleicht würden sie es Safran nennen.

Annie zwang sich, einen Moment still zu sitzen und alles sacken zu lassen. Sie schaltete das Radio aus. Beugte und streckte ihre Finger am Lenkrad. Dann lachte sie auf, und ihre Stimme schwoll zu einem Laut purer Freude an. Sie stellte sich Martins Gesicht vor, wenn sie es ihm erzählte, und lächelte den ganzen Weg aus der Parkgarage hinaus. Sie fuhr extrem vorsichtig und verspürte bereits den Beschützerinstinkt für den winzigen, unsichtbaren Fremden, den sie in sich trug. Über dem Highway flimmerte die Luft vor Hitze, und der Verkehr bewegte sich in einer trägen Schlange vorwärts. Die brüchigen braunen Hügel des Canyons zogen an ihr vorbei. Über ihnen hing der Smog wie die Morgendämmerung eines nuklearen Winters.

L. A. war uncharmant und zugebaut. Vielleicht war das der Grund, weshalb hier so viel fantasievolle Arbeit entstand. Die trockenen Erhebungen, die Betonwüsten und der trübe Himmel boten einen neutralen Hintergrund, vor dem Illusionen erschaffen werden konnten. Mittels der Studios und Tonbühnen wurden die Leute an Orte der Herzen entführt – in kleine Häuser am See, Rückzugsorte am Meer, vergangene Zeiten, Herbst in New England, kuschelige Skihütten …

Wir müssen umziehen, dachte Annie, auf keinen Fall soll unser Kind in dieser dreckigen Luft aufwachsen.

Sie fragte sich, ob sie die Sommer in Vermont verbringen könnten. Ihre idyllische Kindheit schimmerte mit dem Glanz der Nostalgie. In Switchback bedeutete ein Verkehrsstau, dass der Nachbar mit seinem Traktor darauf wartete, dass eine ausgebüxte Kuh die Straße überquerte. Smog gab es nicht, nur frische, kühle Luft, süß vom Duft der Berge, und Forellenbäche. Es war ein unverdorbenes Paradies, das sie nie wirklich geschätzt hatte, bis sie weggezogen war.

Sie wusste keine fünf Minuten von ihrer Schwangerschaft und plante bereits das Leben des Babys. Weil sie so sehr dafür bereit war. Endlich würden sie eine Familie haben. Eine Familie. Das war für sie schon immer das Wichtigste auf der Welt gewesen.

Sie dachte an den Streit am Morgen und erinnerte sich an die gelieferten Blumen. Dieser Augenblick würde alles für sie verändern, und zwar auf die bestmögliche Weise. Die dummen Streitigkeiten, die ausbrachen wie Dampfwolken aus einem Geysir, lösten sich auf einmal in Luft auf. Hatten sie sich wirklich über einen Wasserbüffel gestritten? Eine Hebebühne? Die unverschlossene Zahnpastatube?

Das Vibrieren ihres Handys signalisierte eine eingegangene Textnachricht von Tiger, ihrer Assistentin. ERNSTHAFTE MECHANISCHE PROBLEME MIT DEM GERÜST. WIR BRAUCHEN EIN NEUES.

Sorry, Tiger, später, dachte Annie.

Erst würde sie Martin von dem Baby erzählen. Ein Baby. Das stellte jeden Notfall im Studio in den Schatten. Im Vergleich dazu erschien alles andere – der Wasserbüffel, die Hebebühne – belanglos. Das alles konnte warten.

Sie bog auf das Gelände des Century-City-Studios ein. Der Wachmann winkte sie mit einer lakonischen Geste hinein. Sie suchte sich ihren Weg durch das blendend blasse graue Betonlabyrinth mit den verstreut stehenden Palmenoasen. Nachdem sie in eine Lieferantengasse eingebogen war, parkte sie auf ihrem Platz direkt neben Martins BMW. Sie hatte sich nie etwas aus Sportwagen gemacht. Angesichts der Ausrüstungen, die sie für die Sendung umherfahren mussten, waren sie äußerst unpraktisch. Jetzt, wo Martin Vater wurde, würde er sich vielleicht von dem Zweisitzer trennen.

Zu Fuß ging sie zu Martins Wohnwagen, wobei sie an einer Gruppe von Touristen auf Segways vorbeikam, die in der Hoffnung auf einen Blick auf ihren Star herumfuhren. Eine besonders eifrige Frau blieb mit ihrem Gefährt stehen und schoss ein Foto von Annie.

„Hey, Sie“, sagte die Frau. „Sind Sie nicht Jasmine Lockwood?“

„Nein.“ Annie lächelte beinahe entschuldigend.

„Oh, sorry. Sie sehen genauso aus wie sie. Ich schätze, das hören Sie öfter.“

Annie schenkte ihr ein kleines Lächeln und ging an der Gruppe vorbei. Es war nicht das erste Mal, dass jemand sie auf ihre Ähnlichkeit mit der Kochdiva ansprach, was sie jedes Mal verwirrte. Sie sah niemandem ähnlich außer sich selbst.

Martin, der Goldjunge, sagte gerne, dass sie seine exotische Geliebte war, worüber Annie immer lachen musste. „Ich bin eine komplett amerikanische Promenadenmischung aus Vermont“, erwiderte sie regelmäßig. „Wir können nicht alle einen tadellosen Stammbaum haben.“

Würde ihr Baby wie sie aussehen? Braune Augen und ungezügelte schwarze Locken? Oder wie Martin, blond und majestätisch?

Oh mein Gott, dachte sie in einem weiteren Anfall von Freude, ein Baby.

Stromkabel lagen quer über dem Weg, der zum Studio führte. Die Wohnwagen standen in einer Reihe, Mitarbeiter mit Headsets und Klemmbrettern eilten umher. Sie sah die Hebebühne über dem Arbeitsplatz aufragen. Voll ausgefahren bildete die orangefarbene Stahlkonstruktion ein Zickzackmuster, das in einer Plattform hoch über ihren Köpfen endete. Arbeiter mit Bauhelmen und Elektriker mit Kabelrollen über der Schulter wuselten herum. Ein Mann schlug mit einem schwarzen Eisenschlüssel auf das manuelle Ablassventil ein.

Sie erblickte Tiger, die auf sie zugeeilt kam, um sie zu begrüßen.

„Es steckt in dieser Position fest.“

Mit ihren in Regenbogenfarben getönten Haaren und ihrem bonbonfarbenen Overall sah Tiger aus wie eine Figur aus einem japanischen Comic. Außerdem hatte sie das seltene Talent, mehrere Dinge gleichzeitig und trotzdem gut erledigen zu können. Martin hielt sie für eine Wahnsinnige, aber Annie wusste ihre lasergleiche Konzentration zu schätzen.

„Sag ihnen, dass sie das Ding irgendwie in Bewegung setzen sollen.“ Annie ging weiter und spürte Tigers Überraschung. Es sah ihr so gar nicht ähnlich, ein Problem beiseitezuwischen, ohne den Versuch, es zu lösen.

Martins Wohnwagen war der größte auf dem Platz und der am besten ausgestattete. Er enthielt eine Schminkstation, einen Ankleidebereich, ein Vollbad und eine Küche, eine Arbeits- und eine Lümmelecke. Als sie frisch verliebt gewesen waren, hatten sie oft bis spät in die Nacht hinein zusammengearbeitet und sich am Ende auf dem gebogenen Sofa geliebt, um darauf aneinandergeschmiegt einzuschlafen. Jetzt war die Tür zum Wohnwagen geschlossen und die Jalousien gegen die brennende Hitze heruntergelassen. Die Klimaanlage summte leise.

Annie konnte es kaum erwarten hineinzugehen, wo es kühl war. Sie hielt kurz inne, richtete ihren Rock und schob den Riemen ihrer Tasche auf ihrer Schulter zurecht. Dann fiel ihr der Lippenstift ein. Mist. Sie wollte hübsch aussehen, wenn sie Martin sagte, dass sie die Mutter seines Kindes werden würde. Egal, dachte sie. Martin interessierte sich nicht für ihren Lippenstift.

Schnell tippte sie den Code für das Zahlenschloss ein und öffnete die Tür.

Das Erste, was ihr auffiel, war der Geruch. Ein wenig seifig und blumig. Dann die Musik – ziemlich kitschige Musik. „Hanging by a Thread“, ein Lied, das sie immer lauthals mitgesungen hatte, wenn niemand da war, weil man sich beim richtigen kitschigen Liebeslied noch verliebter fühlte.

Ein schmaler Lichtstreifen fiel durch den Schlitz unterhalb der Jalousien am Fenster. Sie schob ihre Sonnenbrille in die Haare und ließ ihren Augen einen Moment Zeit, sich an das dämmrige Licht zu gewöhnen. Gerade wollte sie nach Martin rufen, als ihr Blick an etwas hängenblieb, das nicht hierhergehörte.

Auf dem Regal am Schminktisch lag ein Handy. Es war nicht Martins, sondern das von Melissa. Annie erkannte die glitzernde rosa Hülle.

Und dann war da dieser Moment. Wie ein Faustschlag in den Magen. Dieses Gefühl, zu wissen und doch nicht wirklich zu wissen. Und nicht wissen zu wollen.

Annie hörte auf zu atmen. Sie war überzeugt, ihr Herz hätte aufgehört zu schlagen, so unmöglich das auch sein mochte. In ihrem Kopf wirbelten verschiedene Möglichkeiten durcheinander wie Mäuse in einem Labyrinth. Sie könnte sich jetzt zurückziehen, aus dem Wohnwagen schlüpfen, den Augenblick zurückdrehen und …

Und dann was? Was? Ihnen eine Vorwarnung geben, sodass alle weiterhin so tun könnten, als würde das hier nicht passieren?

Ein eisiger Stich der Wut trieb sie an. Sie ging zum Wohnbereich, der durch eine Falttür vom Eingang abgetrennt war. Mit einer Handbewegung schob sie die Tür beiseite.

Er saß auf ihr und trug nichts außer seinen Fünfhundert-Dollar-Cowboystiefeln.

„Hey!“, rief er und zuckte zurück wie ein Cowboy auf einem buckelnden Bronco. „Oh Scheiße. Jesus Christus.“ Er rappelte sich auf die Füße und schnappte sich eine Decke mit Fransen, um seine Blöße zu bedecken.

Melissa keuchte auf und drückte sich ein Couchkissen an den Körper. „Annie! Oh mein Gott …“

„Wirklich?“ Annie erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder. „Ich meine, wirklich?“

„Es ist nicht …“

„… das, wonach es aussieht, Martin?“, stieß sie hervor. „Nein. Es ist genau das, wonach es aussieht.“ Sie trat ein paar Schritte zurück. Ihr Herz pochte wie wild. Sie konnte es nicht erwarten, so weit wie möglich von ihm wegzukommen.

„Annie, warte. Babe, lass uns darüber reden.“

In diesem Moment wurde sie zu einem Geist. Das spürte sie. Jeder Tropfen Farbe entwich aus ihr, bis sie durchsichtig war.

Sah er das? Konnte er durch sie hindurch direkt in ihr Herz blicken? Vielleicht war sie schon lange ein Geist und hatte es nur bis zu diesem Augenblick nicht gemerkt.

Das Gefühl, hintergangen worden zu sein, brandete über sie hinweg. Alles stürzte auf sie ein. Fassungslosigkeit. Enttäuschung. Grauen. Abscheu. Es war wie ein außerkörperliches Erlebnis. Ihre Haut kribbelte. Kribbelte buchstäblich unter irgendeiner seltsamen Form elektrischer Aufladung.

„Ich gehe“, sagte sie. Sie wollte sich irgendwo übergeben.

„Können wir bitte einfach darüber reden?“, wiederholte Martin.

„Glaubst du wirklich, es gibt was, worüber wir reden müssten?“

Sie schaute die beiden noch einmal an, weil sie den perversen Wunsch verspürte, sich die Szene in ihr Gedächtnis einzubrennen. In dem Moment veränderte sich etwas.

So endet es also, dachte sie.

Denn das hier war einer dieser Augenblicke. Ein Schlüsselmoment. Einer, der einen herumwirbelte und in eine neue Richtung schickte.

So endet es also.

Martin und Melissa setzten gleichzeitig an und redeten auf sie ein. Für Annies Ohren klang es wie unverständliches Gebrabbel. Der Rand ihres Sichtfelds pulsierte seltsam verschwommen. Roter Nebel. Die Farbe der Wut.

Sie zog sich zurück, musste hier weg. Mit einer Hand suchte sie in ihrer Tasche nach dem Autoschlüssel. Er hing an einem Sugar-Rush-Schlüsselanhänger, der die Form eines Ahornblatts hatte.

Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und trat durch die Tür in die Gasse hinaus. Ihre Schritte waren entschlossen. Der Blick gerade nach vorn gerichtet. Das Kinn gereckt.

Was vermutlich der Grund dafür war, dass sie über das Kabel stolperte. Sie fiel auf die Knie und landete auf dem Asphalt. Die Demütigung ging weiter. Sie hob den Schlüssel auf, der ihr aus der Hand gerutscht war, schaute sich um und hoffte, dass niemand sie gesehen hatte.

Drei Menschen eilten herbei – geht es dir gut? Hast du dir wehgetan?

„Ja, mir geht es gut.“ Sie wischte sich die Handflächen und die aufgeschlagenen Knie ab. „Wirklich, macht euch keine Sorgen.“

Das Telefon in ihrer Tasche ging los wie eine Kreissäge, obwohl es auf stumm geschaltet war. Sie marschierte an der Hebebühne vorbei. Die Arbeiter kämpften immer noch damit und versuchten, das Ablassventil zu öffnen. Sie hätte sich von Martin nicht überreden lassen sollen, das billigere Modell zu mieten.

„Ihr müsst es andersherum drehen“, rief sie den Arbeitern zu.

„Ma’am, in diesem Bereich herrscht Helmpflicht.“ Ein Mann winkte sie weiter.

„Ich gehe ja schon“, sagte sie. „Ich meine nur, dass Sie das Rad am Ablassventil in die falsche Richtung drehen.“

„Wie bitte?“

„Das Ventil. Sie drehen es in die falsche Richtung.“ Was für eine seltsame Unterhaltung. Wenn man entdeckte, dass der eigene Ehemann mit einer anderen Frau schläft, sollte man dann nicht schluchzend seine Mom anrufen? Oder seine beste Freundin?

„Sie wissen schon“, sagte sie zu dem Arbeiter. „Nach links für lose, nach rechts für fest.“

„Ma’am?“

„Im entgegengesetzten Uhrzeigersinn“, erklärte sie und benutzte ihren Schlüsselanhänger, um ihm die Richtung zu zeigen.

„Annie.“ Martin kam aus seinem Wohnwagen gestürzt und rannte auf sie zu. Boxershorts, freier Oberkörper, Cowboystiefel. „Komm zurück.“

Ihre Hand umklammerte den Schlüsselanhänger fester, sodass die Kanten des Ahornblatts sich in ihre Haut bohrten.

Die Segway-Gruppe fuhr am Ende der Gasse vorbei.

„Da ist Martin Harlow!“, rief jemand.

„Wir lieben deine Sendung, Martin!“ Ein Mädchen aus der Gruppe kreischte. „Wir lieben dich!“

„Ma’am, meinten Sie so herum?“ Der Arbeiter drehte kräftig am Ventil.

Irgendwo oben erklang ein metallisches Knirschen. Und dann fiel die gesamte Konstruktion nach unten.

2. Kapitel

„Also, Dad“, sagte Teddy und drehte sich auf dem Küchenhocker zu ihm um. „Wenn der Wasserbüffel zweitausend Pfund wiegt, wie kommt es dann, dass er nicht im Schlamm versinkt?“

Fletcher Wyndham warf einen Blick auf die Sendung, die sein Sohn sich im Fernsehen anschaute. Eine ungewöhnliche Wahl für einen Zehnjährigen, aber Teddy hatte einen Narren an The Key Ingredient gefressen. Die meisten Einwohner von Switchback, Vermont, schalteten die Sendung ein, allerdings nicht wegen des Kochs oder seiner heißen blonden Co-Moderatorin. Nein, der Grund war hinter den Kulissen zu finden – ein kurzes Aufblitzen im Abspann, der vorbeirollte, während die leicht nervtötende Titelmelodie gespielt wurde.

Der Name war Annie Rush – die Produzentin.

Die beliebteste Kochsendung im Fernsehen war ihr Baby, und sie war in Switchback geboren und aufgewachsen. Teddys Lehrerin aus der vierten Klasse war mit Annie zur Schule gegangen. Eine gesamte Sendung war sogar direkt hier in der Stadt gedreht worden, wovon er sich damals allerdings ferngehalten hatte. Seitdem hatte Annie den Status einer Prominenten, obwohl sie selbst nicht vor der Kamera auftauchte.

Was auch ganz gut ist, dachte Fletcher. Sie jede Woche im Fernsehen zu sehen würde ihn verrückt machen. „Gute Frage, Kumpel“, sagte er zu seinem Sohn. „Der da sieht aus, als liefe er übers Wasser.“

Teddy verdrehte die Augen. „Das ist kein männlicher Büffel, sondern ein weiblicher. Sie machen Mozzarella aus der Milch.“

„Warum nennen sie das Tier dann nicht Milchbüffel?“

„Weil sie im Wasser leben. Mann.“

„Verblüffend, was man vom Fernsehen so lernen kann.“

„Ja, du solltest es mich öfter anstellen lassen.“

„Träum weiter“, sagte Fletcher.

„Mom lässt mich so viel gucken, wie ich will.“

Und da war er – der Beweis, dass Teddy in einen Klub aufgenommen worden war, zu dem kein Kind gehören wollte, dem Klub der verwirrten Kinder von geschiedenen Eltern.

Fletcher schaute sich im Chaos des Hauses um, in das er gerade gezogen war, und dachte über eine Frage nach, die er sich inzwischen oft gestellt hatte: Was zum Teufel ist aus meinem Leben geworden?

Er konnte den Wendepunkt genau definieren. Eine einzelne Nacht mit zu viel Bier und zu wenig gesundem Menschenverstand hatte ihn auf einen Weg geschickt, der alle seine Pläne unwiderruflich verändert hatte.

Und doch, wenn er in das Gesicht seines Sohnes schaute, empfand er nicht das geringste Bedauern. Teddy war als schreiendes, rotgesichtiges, bedürftiges, lärmendes Bündel auf die Welt gekommen, und seine Reaktion war nicht Liebe auf den ersten Blick gewesen, sondern Angst auf den ersten Blick. Er hatte keine Angst vor dem Baby. Er hatte Angst davor, bei ihm zu versagen. Angst, etwas zu tun, das dieses winzige, perfekte, hilflose Wesen zerstören könnte.

Er hatte keine andere Wahl gehabt, als die Angst beiseitezuschieben. Er hatte sich voll und ganz Teddy hingegeben, angetrieben von dem mächtigen Gefühl, eine Mission zu haben. Und von einer Form der Liebe, die er nie zuvor gespürt hatte. Jetzt war Teddy in der fünften Klasse, sah unglaublich süß aus, war sportlich, lustig und drollig. Manchmal war er auch eine schreckliche Nervensäge. Aber jeden Moment des Tages war er das Zentrum von Fletchers Universum.

Teddy war schon immer ein glückliches Kind gewesen. Er war auf eine Weise glücklich, die bei Fletcher den Wunsch weckte, ihn in eine schützende Blase zu hüllen. Jetzt erkannte er, dass die Blase trotz seiner besten Vorsätze geplatzt war. Das Ende seiner Ehe war lange vorher abzusehen gewesen, doch er wusste, dass Teddy die Umstellung schwerfiel. Fletcher wünschte, der Schmerz und die Verwirrung wären seinem Sohn erspart geblieben, aber er hatte die Ehe beenden müssen, um wieder atmen zu können. Er hoffte nur, dass Teddy das eines Tages verstehen würde.

„Der Wasserbüffel ist ein bemerkenswertes Meisterstück der Natur“, sagte die Co-Moderatorin von The Key Ingredient, die dem Ego der Sendung, alias Martin Harlow, als Sidekick diente.

„Wieso, Melissa?“, fragte der Moderator mit falscher Stimmlage.

Sie zeigte auf den traurig aussehenden Büffel, der in einem kleinen Pferch vor einem nicht sonderlich professionell per Computer generierten Sumpf stand. „Nun, die breiten Hufe erlauben es ihm, auf dem extrem weichen Untergrund zu gehen, ohne einzusinken.“

Der Moderator strich sich über das Kinn. „Guter Punkt. Weißt du, als ich noch ein Kind war, dachte ich, ich hätte eine fünfzigprozentige Wahrscheinlichkeit, in Treibsand zu versinken, weil das in Filmen so oft vorkam.“

Die Blonde lachte und warf ihr Haar zurück. „Wir sind froh, dass das nicht passiert ist.“

Fletcher zuckte zusammen. „Hey Kumpel, hilf mir mal beim Auspacken, okay?“

Die großen Teile hatte er inzwischen aufgestellt, aber es gab noch mehrere ungeöffnete Kartons.

„Die Sendung ist fast vorbei. Ich will sehen, wie der Mozzarella geworden ist.“

„Die Spannung muss dich ja förmlich umbringen“, sagte Fletcher. „Hey, weißt du, was man mit Mozzarella macht?“

„Pizza! Können wir uns heute Abend eine Pizza bestellen?“

„Klar. Oder wir könnten die Pizzareste von gestern essen.“

„Frisch ist sie besser.“

„Guter Punkt. Ich rufe an, sobald wir zwei Kartons ausgepackt haben. Abgemacht?“

„Ja.“ Teddy reckte eine Faust in die Luft.

Das neue Haus verfügte über alles, was Fletcher sich einst vorgestellt hatte – damals, als er noch jemanden hatte, mit dem er träumen konnte. Eine große, zum Wohnzimmer offene Küche. Wenn er kochen könnte, würden hier die köstlichsten Dinge entstehen. Die Person, die die köstlichen Dinge hergestellt hatte, war jedoch schon lange nicht mehr Teil seines Lebens. Trotzdem war der Traum geblieben und hatte ihn zu diesem speziellen Haus geführt, einem einhundert Jahre alten Gebäude im typischen New-England-Stil. Es gab einen Kamin und ein Zimmer mit ausreichend Bücherregalen, um es Bibliothek zu nennen. Hinter dem Haus befand sich eine Veranda mit einer Schaukel, die zusammenzubauen ihn einen halben Tag gekostet hatte. Es war nicht einfach nur irgendeine Schaukel, sondern eine große, bequeme Bank mit dicken Kissen, die perfekt für ein nachmittägliches Nickerchen geeignet waren – es war genau die Schaukel, die er sich seit über zehn Jahren vorstellte.

Sie machten sich an eine Kiste mit Büchern. Teddy schwieg eine ganze Weile, während er sie in die Regale stellte. Dann hielt er eines der Bücher hoch. „Warum heißt das Herr der Fliegen?“

„Weil es super ist“, antwortete Fletcher.

„Okay, aber warum hat es diesen Titel?“

„Das findest du heraus, wenn du älter bist.“

„Ist es was Unanständiges, was ich nicht wissen soll?“

„Es ist höchst unanständig.“

„Mom würde einen Anfall kriegen, wenn ich ihr sage, dass du ein schmutziges Buch hast.“

„Super. Hier ist ein Gedanke: Sag es ihr nicht.“

Teddy stellte das Buch ins Regal und fügte der Sammlung noch ein paar weitere hinzu. „Äh, Dad?“

„Ja, Kumpel?“

„Werden wir jetzt wirklich hier wohnen?“ Er schaute sich im Zimmer um, seine Augen waren zwei große Seen des Schmerzes.

Fletcher nickte. „Ja, hier werden wir wohnen.“

„Für immer und ewig?“

„Jupp.“

„Das ist ganz schön lange.“

„Das ist es.“

„Also wenn ich meine Freunde zu mir nach Hause einlade, kommen sie dann hierhin oder in unser anderes Haus?“

Es gab kein Unser mehr. Celia hatte das Haus im Westen der Stadt, das sie selbst entworfen hatten, für sich beansprucht.

Fletcher hörte auf, die Bücher einzusortieren, und dreht sich zu Teddy um. „Wo auch immer du bist, ist dein Zuhause.“

Sie arbeiteten zusammen weiter und räumten die restlichen Bücher ein. Fletcher trat zurück. Ihm gefiel es, wie die Bücherregale den Kamin einrahmten. Der Wind ließ die Ketten der Schaukel draußen leise klirren.

Das Einzige, was fehlte, war die Person, mit der er diesen Traum geteilt hatte.

3. Kapitel

„Mach die Augen auf.“

Eine unbekannte Stimme trieb über sie hinweg. Sie konnte nicht sagen, ob die Worte in ihrem Kopf oder im Raum gesprochen wurden. Das Geräusch schwebte in die Stille, nur unterbrochen von einem Zischen und leisem Summen. Trotz der Bitte ließen ihre Augen sich nicht öffnen. Der Raum existierte nicht. Nur Schwärze. Sie schwamm in dunklem Wasser, doch aus irgendeinem Grund atmete sie ein und aus, als würde das Wasser ihre Lunge nähren.

Andere Geräusche erklangen um sie herum, aber sie konnte keins davon identifizieren – das rhythmische Saugen und Seufzen einer Maschine. Vielleicht eine Spülmaschine oder eine mechanische Pumpe. Eine hydraulische Pumpe?

Sie roch … etwas. Blühende Blumen. Vielleicht auch Insektenspray. Nein. Blumen. Lilien. Orientalische Lilien.

Feldlilien. War das nicht aus der Bergpredigt? Nein, es war der Name eines Theaterstücks aus der Schule. Lilien auf dem Felde. Ja, ihr Freund Gordy hatte in der Produktion die Rolle von Sidney Poitier ergattert.

„… stündlich steigende Aktivität. Sie hat einen minimalen Grad an Bewusstsein erreicht. Die Nachtschwester hat es bemerkt. Dr. King hat ein weiteres EEG und eine Reihe von CTs angeordnet.“

Die Stimme eines Fremden. Der Akzent. Das zu stark gerollte R. Das hatte sie in ihrer Ausbildung zur Journalistin gelernt – rolle nie das R zu stark. Lass niemanden wissen, woher du kommst.

Der Akzent des mysteriösen Sprechers stammte direkt aus dem nördlichen Vermont.

„Hilf mir mal mit dem EEG, ja?“ Etwas rüttelte an ihrem Kopf.

Hör damit auf.

Ma’am, in diesem Bereich gilt Helmpflicht. Setzten sie ihr einen Bauhelm auf? Nein, ein Haarnetz. Nein, eine Badekappe.

Schwimmer, auf die Plätze.

Sie sah, wie sie sich vorbeugte, gespannt wie eine Feder, die Zehen um den Rand des Startblocks gekrallt. Sie war eine der schnellsten Schwimmerinnen des Highschool-Teams, den Switchback Wildcats. Im Abschlussjahr hatte sie den Rekord über einhundert Meter Brustschwimmen gebrochen. Im Abschlussjahr hatte sich ihr Leben wie ein endlos schimmernder Fluss vor ihr erstreckt; alles hatte noch vor ihr gelegen. Im Abschlussjahr hatte sie sich das erste Mal verliebt.

„… mich immer gefragt, wie ich mit so kurzen Haaren aussehen würde“, sagte eine der Stimmen. Die mit dem rollenden R.

Piep. Das Startsignal dröhnte durch die Schwimmhalle. Annie sprang.

Trocken. Wieso war ihre Kehle trocken, obwohl sie keinen Durst hatte? Warum konnte sie nicht schlucken? Etwas Steifes umfing ihren Hals. Mach das weg. Ich muss atmen.

Sie schwebte weiter. Das Wasser hatte die gleiche Temperatur wie ihr Körper. Sie musste pieschern. Und gleichzeitig musste sie nicht. Nach einer Weile hatte sie keine körperlichen Empfindungen mehr, nur Gefühle, die durch ihren Kopf pulsierten, durch ihren Hals und ihre Brust. Panik und Trauer. Wut. Warum?

Sie war für ihr besonnenes Verhalten bekannt. Annie richtet das schon. Sie korrigierte die Akzente von Leuten. Die Lichtprobleme. Das Setdesign. Stecken gebliebene Hebebühnen.

Nach links für lose, nach rechts für fest. Mit dem Ahornblatt in der Hand hatte sie es demonstriert.

„Siehst du? Diese Bewegung? Die ist nicht willkürlich.“

Wieder eine Stimme.

„Sie ist Linkshänderin.“

Eine andere Stimme.

„Ich weiß, dass sie Linkshänderin ist. Genau wie ich.“

Mom. Mom?

„Sie sieht noch genauso aus wie vorher“, sagte die Mom-Stimme. Ja, sie war unverkennbar. „Ich sehe keinerlei Veränderung. Woran können Sie sehen, dass sie aufwacht?“

„Es ist nicht wirklich ein Aufwachen. Es ist ein Übergehen in einen bewussteren Zustand. Das EEG zeigt erhöhte Aktivität. Das ist ein hoffnungsvolles Zeichen.“

Eine andere Stimme: „Von so etwas wachen Menschen nicht einfach auf. Sie kommen ganz langsam zu sich, werden zwischendurch immer wieder bewusstlos. Annie. Annie, kannst du deine Augen öffnen?“

Nein. Kann ich nicht.

„Drück meine Finger.“

Nein. Kann ich nicht.

„Kannst du mit den Zehen wackeln?“

Nein. Mein Gott.

„Das ist ein langwieriger Prozess“, sagte die Stimme. „Und ein unvorhersehbarer. Aber wir sind optimistisch. Die Aufnahmen zeigen keine dauerhaften Schäden. Ihre Atmung ist ausgezeichnet, seit wir den Beatmungsschlauch entfernt haben.“

Beatmungs… was? War das nicht wie ein Loch in ihrer Luftröhre? Eklig. Tat es deshalb so weh zu schlucken, zu atmen?

„Es tut mir leid.“ Die Stimme ihrer Mutter war von Tränen belegt. „Es ist nur so schwer, mit anzusehen …“

„Das verstehe ich. Aber wir dürfen uns ermutigt fühlen. Ihr sind viele der üblichen Komplikationen erspart geblieben – Lungenentzündung, Kontrakturen, Thrombose … so viel, was hätte schiefgehen können, ist nicht schiefgegangen. Das ist gut.“

„Wie kann ich hierin irgendetwas Gutes sehen?“, flüsterte Mom.

„Ich weiß, dass es schwer für Sie ist, doch glauben Sie mir, sie hat Glück gehabt. Die neuen Hirnaktivitäten lassen das Pflegeteam annehmen, dass sie das Schlimmste überstanden hat. Wir sind positiv.“

„Okay. Dann bin ich das auch.“ Moms Stimme war weich vor verzweifelter Hoffnung. „Aber falls … wenn sie aufwacht, wird sie dann anders sein? Wird sie sich daran erinnern, was vorgefallen ist? Wird sie immer noch unsere Annie sein?“

„Es ist zu früh, um sagen zu können, ob Defizite zurückbleiben.“

„Was meinen Sie mit Defizite