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Kurz vor seinem Ableben trifft Heinz Roland letzte Vorkehrungen. So setzt er eigentlich mit guten Absichten Georg Halden, einen vermeintlichen Freund, als zukünftigen Vormund für seine Tochter Nanda ein, welche später auch dessen Sohn Jürgen heiraten soll. Doch nach Heinz Rolands Tod entpuppt sich der Schwiegervater in spe als schrecklicher Tyrann. Um ihm zu entkommen flieht Nanda nach Argentinien. Jürgen ahnt von alldem nichts, doch seine und Nandas Wege kreuzen sich erneut ...-
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Seitenzahl: 335
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Hedwig Courths-Mahler
Saga
Die entflohene Braut
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1936, 2022 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788728472941
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
www.sagaegmont.com
Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
Und wann kommt dein Sohn heim, Georg?«
»Die Ferien beginnen in den nächsten Tagen, und daß er diesmal sofort nach Hause kommen muß, habe ich ihm klargemacht. Bisher hatte ich nichts dagegen, daß er sich während seiner Ferien draußen in der Welt umsah, denn sitzt er erst auf eigener Scholle, kommt er doch nicht mehr viel hinaus. Außerdem ... nun ja, ich hielt es für richtig, daß er deine Tochter nicht zu Gesicht bekam. Er kennt sie nur von ihrer Kinderzeit her. Wie alt war sie denn, als er das Gymnasium besuchte?«
»So ungefähr neun oder zehn Jahre!«
»Richtig. Und da ist er auch immer nur flüchtig mit ihr zusammengetroffen. Das war auch gut und richtig, denn wenn sie sich zu gut von Kind auf kennen, entsteht eher ein freundschaftliches oder geschwisterliches Verhältnis. Und wir haben doch beide schon seit Jahren beschlossen, daß sie mal Mann und Frau werden sollen.«
»Ja, Georg, ich versprach es dir bereits an dem Tage, da du mir in einer höchst kritischen Situation so tatkräftig beisprangst. Ich weiß, ohne deine Hilfe wäre es damals mit Heidersberg schiefgegangen, und daß ich mich wiederfand und wieder emporkam, danke ich dir. Deshalb gab ich dir auch ohne weiteres meine Einwilligung, daß unsere Kinder sich eines Tages heiraten und dadurch unsere beiden Besitzungen vereinigt werden sollten. Und wir sind wohl beide nicht von diesem Wunsche abgekommen.«
»Ich bestimmt nicht«, sagte Georg Halden energisch, den Freund fast herrisch ansehend. Er war immer von beiden der energischere, zielbewußtere gewesen. Und fast lag es wie eine heimliche Drohung in seiner Stimme, so daß sich Heinz Roland zu sagen beeilte:
»Ich selbstverständlich auch nicht, Georg. Ich kann mir ja keinen besseren Mann für meine Tochter wünschen, ganz abgesehen davon, daß die Verhältnisse so gut zusammenstimmen.«
Georg Halden nickte befriedigt.
»Also machen wir jetzt, wenn mein Junge heimkommt, die Verlobung perfekt!«
Unsicher sah Heinz Roland zu dem tatkräftigen Freunde auf.
»Aber was werden die beiden dazu sagen?«
»Die werden wir nicht lange fragen. Sie haben sich beide zu fügen, und soviel Autorität werden wir doch wohl noch besitzen, unsern Wünschen Geltung zu verschaffen!«
Heinz Roland richtete sich im Bett, in dem er seit Wochen krank lag, mit Anspannung aller seiner Kräfte hoch, gleichsam durch des Freundes Willen bestärkt in seinen Entschlüssen, die eigentlich nicht die seinen waren, sondern ihm nur durch den energischen Freund suggeriert worden waren.
»Selbstverständlich, soviel Autorität besitzen wir schon, um das durchzuführen, was wir zum Besten unserer Kinder beschlossen haben.«
»Hast du mit Nanda schon darüber gesprochen?«
»Nein! Sie ist ja mit knapp fünfzehn Jahren noch zu kindlich, um das alles mit dem nötigen Ernst aufzunehmen.«
»Jetzt ist es aber die höchste Zeit dazu, Heinz; wenn Jürgen heimkommt, muß alles bereit sein, damit wir das Verlöbnis gleich vornehmen können.«
»Ja, allerdings, ich werde noch heute abend mit ihr sprechen. Es trifft sich gut, daß Fräulein Sanders heute in der Stadt bei ihrer Schwester bleibt, die sie so lange nicht besucht hat. Da bin ich mit Nanda allein und kann ungestört mit ihr reden.«
»Meiner Ansicht nach hätte Fräulein Sanders ruhig dabei sein können, sie ist eine unerhört energische und tüchtige Person und wird helfen, Nanda etwaige Mukken auszutreiben.«
Heinz Roland lächelte matt.
»Ja, energisch ist sie schon, manchmal geradezu unentwegt, wenn sie ein Ziel verfolgt. Man hat Mühe, ihr gegenüber seine Freiheit zu behaupten.«
»Oha! Sollte sie Absichten haben, Frau Roland zu werden?«
»Das erscheint mir ziemlich klar. Aber ganz abgesehen davon, daß ich, auch wenn ich gesund wäre wie ein Fisch im Wasser, Eugenie Sanders niemals heiraten würde, geschieht das ganz sicher nicht, nun ich mich bereits als Todeskandidaten betrachten muß.«
»Nun, wir sind Männer, die dem Unabänderlichen ins Auge sehen können, Heinz; jedem von uns schlägt einmal die Stunde. In Bereitschaft sein, ist alles. Abgesehen davon, daß Fräulein Sanders Heiratsabsichten auf dich hat, die sich nicht verwirklichen werden, wie ich dich kenne, ist sie doch eine äußerst tüchtige und zielbewußte Person, und Nanda wird in ihren Händen gut aufgehoben sein, bis sie sich mit Jürgen verheiratet. Du hast doch dafür Sorge getragen in deinen letztwilligen Verfügungen, daß Fräulein Sanders in Heidersberg bleibt, bis Nanda mündig ist oder sich verheiratet?«
»Ja, dafür habe ich gesorgt, wenn mir Fräulein Sanders auch zuweilen zu hart und zu tyrannisch erscheint.«
»Nun, das wird für Nanda sehr gut sein. Sie ist ziemlich eigenwillig und selbstbewußt, und wenn sie eine gute Ehefrau werden soll, muß ihr das ein wenig abgewöhnt werden.«
Der Kranke seufzte. »Sie ist eben ohne Mutter aufgewachsen, und ich habe ihr wohl etwas zuviel Willen gelassen seit dem Tode meiner Frau.«
»Richtig, und das muß ausgemerzt werden. Es ist nicht nötig, daß Jürgen erst in der Ehe anfangen muß, seine Frau zu erziehen, das gibt dann nur böses Blut, und besser ist es, Fräulein Sanders übernimmt das, ohne daß du dazwischenredest und durch unangebrachte Milde ihr Amt erschwerst.«
Heinz Roland sah unruhig zu dem Freunde auf.
»Faßt sie nur nicht zu hart an, meine wilde Hummel, es steckt sehr viel überschüssige Kraft in ihr, und wenn sie mir auch aufs Wort gehorcht, weil sie mich nicht betrüben will, so findet Fräulein Sanders doch nicht immer den richtigen Ton für sie. Mit Güte erreicht man alles bei ihr.«
Georg Halden war anderer Ansicht. Nanda Roland war ihm zu eigenwillig und ungebärdig, so, wie er es bei einer Schwiegertochter zu ertragen nicht willens war, aber er wollte dem kranken Freund jetzt nicht widersprechen und sagte beruhigend:
»Nun, schließlich bin ja auch ich noch da, um der Sanders die nötigen Direktiven zu geben. Du hast mich ja für alle Fälle zu Nandas Vormund bestimmt, falls dir, was Gott verhüten möge, etwas geschehen sollte, bevor sie sich verheiratet.«
Vertrauensvoll richtete der Kranke die Augen auf den Freund.
»Ja, Georg, dir vertraue ich meine Nanda an, wie ich dich auch zu ihrem Geschäftsführer bestimmt habe, bis sie sich verheiratet. Ich hoffe, daß ich so alles bestens eingerichtet habe, und ich danke dir schon im voraus für alle Mühe, die du haben wirst.«
Georg Halden drückte ihm, da er alles erreicht hatte, was er erreichen wollte, befriedigt die Hand und lächelte ihm mit einer gutgespielten Herzlichkeit, die leider nie ganz echt war, zu.
»Nun, nun, ich hoffe und wünsche, daß du deine Geschäfte selbst wirst führen können, bis dein künftiger Schwiegersohn sie dir abnehmen kann. Diese dumme Krankheit, die dich befallen hat, wirst du schon überstehen. Nur Mut, mein lieber Heinz, nicht vorzeitig die Waffen strecken. Und nun will ich dich allein lassen, damit du dich nicht zu sehr anstrengst. Brauchst noch Kraft, um mit Nanda zu reden. Verschiebe es aber nicht, einige Tage muß sie sich immerhin an den Gedanken gewöhnen, daß sie sich mit Jürgen verloben soll.«
Ein wenig seufzte der Kranke.
»Sie wird kaum den Ernst dieser Sache schon so recht erfassen können, aber selbstverständlich muß ich mit ihr sprechen.«
»Und heute noch!« Das klang fast befehlend.
»Ja, ja, es wird heute noch geschehen, sei unbesorgt.«
»Na, sieh nur nicht so sorgenvoll dabei aus, Heinz. Mein Jürgen ist doch wohl der Mann dazu, solch ein junges Herz zu erobern. Er wird schon den nötigen Eindruck auf sie machen. Wie gesagt, es ist gut, daß sie sich so lange nicht gesehen haben. Der Reiz der Neuheit gehört nun mal zum Verlieben.«
Nandas Vater vermochte sich freilich nicht vorzustellen, daß seine wilde Hummel sich in irgendeinen Mann schon jetzt verlieben könnte, aber auch er war davon überzeugt, daß Jürgen Halden der rechte Mann für sie sein würde. So nickte er dem Freund lächelnd zu, und dieser schied mit festem Händedruck von ihm.
Als Georg Halden draußen auf dem breiten Gange bis zur Treppe gegangen war, sah er auf der obersten Treppenstufe Nanda Roland sitzen, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht in den Händen vergraben. Langsam richtete sie sich auf, als sie ihn kommen hörte, und hob ihr blasses, schmerz verzogenes Gesicht zu ihm empor. Vorwurfsvoll sahen ihre hellschimmernden Grauaugen aus dem sonnengebräunten Gesicht zu ihm auf.
»So lange hast du Vater von seiner Ruhe abgehalten! Er soll doch nicht soviel sprechen.«
Mit gutgespieltem Wohlwollen legte er die Hand auf ihr etwas zerzaustes, kastanienbraunes Haar, das sich in kurzen natürlichen Locken ringelte.
Sie machte aber schnell eine Bewegung, so daß seine Hand von ihrem Kopf gleiten mußte, worüber es ärgerlich in seinen Augen aufblitzte.
»Wir mußten Notwendiges besprechen; du, Nanda, brauchst mich nicht schon wieder so feindlich anzublikken. Kannst dir doch denken, daß ich selbst sehr besorgt um deinen Vater bin und ihm alles Schwere ersparen möchte.«
Sie warf den Kopf zurück und wollte sagen, daß sie davon durchaus nicht überzeugt sei, aber sie hielt diese raschen Worte zum Glück zurück, sonst hätte sie sich ihn noch mehr als bisher zum Feinde gemacht. Fernanda Roland hegte, seit sie klar denken konnte, eine unbestimmte Antipathie gegen diesen »Freund« ihres Vaters, weil sie nicht an seine Freundschaft glaubte. Ihre scharfen Augen hatten mancherlei beobachtet, was ihr diese Antipathie eingeflößt hatte. Und sie wußte, daß Georg Halden sehr eng liiert mit Fräulein Sanders, ihrer Erzieherin war, die Nanda nicht leiden mochte, weil sie sehr wohl fühlte, daß diese sich zwischen sie und den geliebten Vater drängen wollte. Daß Eugenie Sanders ihr sehr feindlich gesinnt war, weil sie sich wie ein Schutzwall zwischen ihr und dem Vater aufstellte, wußte sie nur zu gut. Aber mochte sie, es war ihr viel lieber, als wenn sie mit ihrer öligen, falschen Freundlichkeit sie umschmeichelte, hinter der Nandas wahrhaftes und ehrliches Empfinden die krasseste Heuchelei spürte. Um dem Vater aber Ärger und Unruhe zu ersparen, da er schon lange leidend war, behielt sie ihre Aversion gegen Eugenie Sanders für sich.
Heute war sie sehr froh gewesen, daß Fräulein Sanders ihre Schwester in der Stadt besuchen wollte. Diese war verheiratet und hatte Kinder, und es fand bei ihr eine Familienfeier statt. Da sollte Eugenie über Nacht in der Stadt bleiben, und Nanda würde mit dem geliebten Vater und der Dienerschaft allein sein.
Und nun war plötzlich der Freund und Gutsnachbar ihres Vaters aufgetaucht, den sie, sehr gegen ihr Empfinden, von Kind auf Onkel Georg nennen mußte. Er behauptete. Wichtiges mit dem Vater besprechen zu müssen, und Nanda war deshalb aus dem Krankenzimmer geschickt worden. Tief betrübt, daß ihr nun die herrliche Zweisamkeit mit dem Vater gestört wurde, war sie hinausgegangen und hatte sich auf die Treppe gesetzt, um gleich wieder zur Hand zu sein, wenn der Vater sie brauchte. Die Unterredung dünkte sie eine Ewigkeit zu dauern. Was er schon Wichtiges mit dem Vater zu reden haben würde? Und so sah sie ziemlich grollend in sein hartes, eckiges Gesicht. Ohne direkt auf seine Worte zu antworten, sagte sie eilig:
»Ich will jetzt zum Vater gehen, du verzeihst, wenn ich dich nicht hinunterbegleite. Hermann ist unten in der Halle und wird dir zu Diensten sein.«
»Siehst ja wieder sehr zerzaust um den Kopf aus, Nanda, das müßtest du abstellen, bist doch nun eine junge Dame.«
Erbittert sah sie ihn an. Dieser Vorwurf traf sie häufig, auch von Fräulein Sanders. Trotzig warf sie den Kopf zurück.
»Das kommt daher, weil mir immer alle möglichen Leute auf den Kopf fassen«, sagte sie ärgerlich.
Er wußte, daß dies ein Protest sein sollte dagegen, daß er ihr die Hand auf den Kopf gelegt hatte. Aber er lächelte nur wie zu der unartigen Torheit eines Kindes.
»Fräulein Sanders sollte dich besser erziehen«, erwiderte er ihr, und sie sah ein feindliches Funkeln in seinen Augen aufblitzen.
Trotzdem er sie zur Frau seines Sohnes machen wollte, hegte er durchaus keine Sympathie für das eigenwillige Geschöpf, aber an ihrer Hand hing Heidersberg und ein sehr ansehnliches Vermögen. Denn wenn auch Heinz Roland vor Jahren eine Schlappe erlitten hatte, so hatte er sich doch längst wieder erholt, und außerdem hatte er inzwischen einen Onkel beerbt und war nun ein reicher Mann. Nanda war sein einziges Kind, folglich eine glänzende Partie.
Und da Heidersberg in der direkten Nachbarschaft seines eigenen Gutes lag, war es schon immer sein Plan gewesen, es durch diese Verbindung an sich zu bringen.
Nanda blitzte ihn ebenso feindlich an, zuckte aber nur mit den Schultern und sagte: »Ich muß zu Vater.« Damit eilte sie davon und verschwand im Zimmer ihres Vaters.
Georg Halden sah ihr mit einem unbeschreiblichen Blick nach. Sie ist maßlos verzogen! dachte er. Wenn ihr Vater die Augen schließt, muß die Sanders sehr energisch vorgehen, um sie zu bändigen. Da wird es hart auf hart gehen, aber es kann doch nicht schwer sein, so ein wildes Füllen zu bändigen. Jürgen wäre vielleicht zu gutmütig dazu, und sie muß die Kandare fühlen, noch ehe sie seine Frau wird, sonst tanzt sie uns auf dem Kopf herum.
Das war sein Gedankengang, während er langsam die Treppe hinunterstieg. Unten in der Halle stand der Diener Hermann und half ihm dienstfertig in seinen Überrock. Georg Halden drückte ihm ein Trinkgeld in die Hand. Er war sonst nicht so großzügig, aber hier im Hause kam es darauf an, willige Helfer für alle Fälle zu werben. So hatte er schon Eugenie Sanders, Nandas Erzieherin, auf seine Seite gebracht, allerdings nicht durch Trinkgelder, sondern durch kleine Gefälligkeiten, die er der alten Jungfer erwies, was diese zu allerlei allerdings unberechtigten Hoffnungen ermunterte. Da sie bei Heinz Roland ausgespielt hatte, durch die Intrigen seiner Tochter, wie sie sich sagte, hielt sie es für angebracht, ihre Netze nach dem stattlichen Witwer Halden auszuwerfen, der ebenfalls ein reicher Gutsbesitzer war. Georg Halden ahnte, daß sie ihre Hoffnungen von seinem Freund Heinz auf ihn übertragen hatte, aber er zerstörte ihr vorläufig diese Hoffnungen nicht, weil er ihrer Unterstützung bedurfte. Er wollte sie so gefügig halten.
Ruhig und würdevoll schritt er zu seinem Auto, das vor der Tür hielt, und stieg ein. Der Chauffeur kurbelte an und fuhr davon.
Als Nanda zu ihrem Vater ins Zimmer trat, sah er ihr mit sehnsüchtigen Augen entgegen. Sie lief auf sein Bett zu und kniete neben ihm nieder.
»Vater, lieber Vater, du hast dich doch nicht zu sehr angestrengt? Onkel Georg sollte dich doch jetzt, da du krank bist, nicht mit geschäftlichen Dingen quälen.«
Er strich sanft über ihr Haar, und jetzt hielt sie geduldig still.
Der Vater ..., ja der durfte ihr Haar streicheln, soviel er wollte. Das tat gut und jagte einem nicht einen Schauder über den Rücken, wie wenn Onkel Georg oder Fräulein Sanders es taten.
»Es war ja nichts Geschäftliches, was wir zu besprechen hatten, Nanda.«
»Aber warum mußte ich dann hinausgehen?«
Er zögerte eine Weile, dann ergriff er ihre Hand und sah sie liebevoll an.
»Weil wir etwas über dich zu sprechen hatten, Nanda, was ich dir selber sagen will, nun wir allein sind.«
Unruhig sah sie ihn an.
»Über mich, Vater?«
»Ja, mein Kind. Und gerade heute will ich das mit dir besprechen, da Fräulein Sanders uns nicht stören kann.«
Hell und warm wie das liebe Sonnenlicht strahlten ihre Augen in die seinen.
»Oh, das ist gut, was du sagst, Vater! Du empfindest es also auch, wie störend zuweilen die Gegenwart von Fräulein Sanders ist. Sie, nun ja, Vater, du weißt es doch, sie möchte sich immer zwischen uns drängen.«
Er lächelte ihr zu und strich ihr wieder über den Kopf. Wußte er doch, daß Nanda die Bemühungen Eugenie Sanders um seine Huld feindlich betrachtete, in einer gewissen zärtlichen Eifersucht.
»Brauchst keine Sorge zu haben, Nanda, nie wird es Fräulein Sanders gelingen, sich zwischen dich und mich zu drängen.«
Aufatmend küßte sie ihm die Hand.
»Ja, jetzt weiß ich das, Vater, aber früher hatte ich zuweilen Angst, sie könnte meine Stiefmutter werden. Das wäre doch schrecklich gewesen.«
Er mußte über ihr Entsetzen leise lachen.
»Nicht auszudenken, Nanda, das hätten wir alle beide nicht ertragen.«
Schmeichelnd lehnte sie ihre Wange an die seine.
»Ach, wie gut, daß du darüber lachen kannst und das ebensowenig ertragen hättest wie ich.«
»Nun du das aber weißt, Nanda, wirst du deine heimliche Feindseligkeit gegen Fräulein Sanders aufgeben und vernünftig sein.«
»Ich will mir wenigstens Mühe geben, lieber Vater.«
»Das ist brav. Mehr verlange ich nicht. Sie ist nun mal deine Erzieherin, und du mußt noch viel von ihr lernen.«
»Ja, Vater, das weiß ich. Aber verlange nur nicht, wie sie es tut, daß ich mir an ihr ein Beispiel nehmen soll. Nie in meinem ganzen Leben möchte ich auch nur im entferntesten so werden wie sie, in keiner Beziehung.«
Wieder mußte er lachen. Es war ein krankes, schwaches Lachen, aber sie freute sich darüber.
»Nein, nein, das sollst du auch nicht. Bleibe dir nur immer selbst treu, Nanda, und bringe es nie dahin, daß ich bedauern könnte, dir soviel freien Willen gelassen zu haben.«
»Oh, nie werde ich etwas tun, das dich ernstlich betrüben könnte. Du willst doch selbst nicht, daß ich unwahr und heuchlerisch werden soll; nicht wahr, Vater?«
»Ganz gewiß nicht. Und ich bin auch sicher, daß du, wenn du nur willst, all deine kleinen Torheiten ablegen und ein vernünftiges Mädchen werden wirst.«
»Das verspreche ich dir, lieber Vater. Ich könnte es schon jetzt sein, aber ich werde eben immer wieder trotzig, wenn man mich falsch anfaßt.«
»Ich weiß, du findest selbst den rechten Weg. Und wie sehr ich dir vertraue, sollst du jetzt erfahren. Ich will etwas sehr Ernstes und Notwendiges mit dir besprechen, und du mußt mir beweisen, daß ich dir vertrauen und mich auf dich verlassen kann, sonst machst du mich sehr traurig.«
Unruhig und angstvoll sah sie ihn an, aber sie nahm sich fest vor, alles, was er ihr sagen würde, so aufzunehmen, daß sein Vertrauen zu ihr belohnt würde. Ganz ernst und feierlich sagte sie:
»Ich werde es dir beweisen, lieber Vater, du sollst schon merken, daß ich viel vernünftiger und zuverlässiger bin, als du glaubst.«
»Gut! Gib mir erst noch ein wenig Limonade.«
Sorglich reichte sie ihm das Glas, ihn liebevoll dabei stützend, und er trank. Dann lehnte er sich wieder zurück.
»Setze dich auf meinen Bettrand, Nanda, und gib mir deine Hand. Also jetzt ganz tapfer, mein liebes Kind! Du mußt dich mit dem Gedanken vertraut machen, daß ich nicht mehr lange bei dir bleiben kann. Meine Krankheit ist ernster, als ich dich glauben ließ – sie kann zum Tode führen.«
Wie unter einem Schlage zuckte sie zusammen und wurde totenbleich. Ihre Augen verloren allen Glanz, und die Lippen zuckten in verhaltenem Schmerz. Aber sie dachte daran, daß sie dem Vater beweisen müsse, daß sie vernünftig und zuverlässig sei. Mit aller Kraft zwang sie den qualvollen Aufschrei nieder, der sich über ihre Lippen drängen wollte, und schluckte krampfhaft, damit sie sprechen konnte. Er sah ihren stillen Kampf und war gerührt.
»Vater, lieber Vater, jetzt hast du mich aber auf die härteste Probe gestellt«, flüsterte sie mit versagender Stimme.
»Ich weiß, mein Kind, und ... ich bin stolz auf dich. Aber ich muß noch weiter an deine Vernunft und Zuverlässigkeit appellieren.«
Sie erschauerte. »Oh, Vater, was könnte mich noch härter treffen als das?«
»Nein, härter wird dich jetzt nichts treffen können, das weiß ich, aber was ich dir noch zu sagen habe, wird auch einige Kraft von dir fordern. Sieh, mein Kind, wenn ich sterben muß, lasse ich dich allein, und mein Besitz muß in feste Hände kommen, damit dein Erbe nicht verlottert wird. Schon seit langer Zeit habe ich deshalb mit Onkel Georg besprochen, was geschehen muß, wenn ich die Augen schließe. Er wird dein Vormund sein.«
Sie preßte die Lippen fest aufeinander. Der Vater hatte recht, das traf sie fast so hart wie das andere, was er ihr eröffnet hatte. Aber dieses junge Geschöpf besaß große Seelenstärke. Was war denn noch wichtig, wenn sie den Vater hergeben mußte? Mochte doch Onkel Georg in Heidersberg die Geschäfte erledigen. Leise fragte sie:
»War er der Beste dafür, lieber Vater?«
»Ja, mein Kind! Er hat mir einst einen großen Dienst erwiesen, als ich dicht vor dem Ruin stand.«
»Ah, und das band dich an ihn – deine Dankbarkeit!«
»Nicht wahr, Nanda, das verpflichtet. Und ... seit Jahren haben wir uns deshalb vorgenommen, unsere Kinder miteinander zu verheiraten, wenn sie erwachsen wären. Du wirst Jürgen Haldens Frau werden, Nanda.«
Sie zuckte empor und sah ihn mehr erstaunt als erschrocken an.
»Jürgen Haldens Frau? Aber Vater, ich bin doch noch ein Kind. Und ich kenne ihn doch kaum, er war doch so lange fort von daheim. Verzeihe, Vater, aber das kommt mir so ... so unwahrscheinlich vor.«
Und sie lachte ein wenig vor sich hin, als amüsiere sie der Gedanke mehr, als er sie schrecken könnte. Junge Mädchen in ihrem Alter spielen wohl zuweilen schon mit dem Gedanken, daß sie sich eines Tages verheiraten werden. Doch liegt ihnen diese Zeit in so traumhafter, unwirklicher Ferne, daß sie noch keinen festen Begriff damit verbinden.
Für Fernanda Roland tauchte nun dieser Gedanke zum ersten Male auf, und da sie in ihrer Unerfahrenheit nicht wußte, was eine Ehe bedeutete, war der Gedanke für sie mehr komisch als schrecklich. Nur fühlte sie, daß es ihr viel lieber gewesen wäre, wenn der für sie bestimmte Gatte nicht gerade der Sohn von Onkel Georg gewesen wäre. Sie sann jetzt angestrengt darüber nach, was Jürgen Halden wohl für ein Mensch war. Wenig genug hatte sie Gelegenheit gehabt, ihm zu begegnen, und die letzte Begegnung mit ihm lag um Jahre zurück. Sie rief sich diese letzte ins Gedächtnis zurück. Es war an einem sonnigen Maientage gewesen, und sie hatte ein junges, nervöses Fohlen zugeritten, das sie aber abgeworfen hatte, Jürgen Halden gerade vor die Füße. Er hatte sie erschrocken aufgehoben und sie gefragt, ob sie sich weh getan habe. Sie aber hatte sich nur die rechte Hüfte, auf die sie gefallen war, ein wenig gerieben und hatte gelacht.
»Unsinn, wenn ich mir jedesmal weh tun wollte, wenn ich vom Pferde falle, wäre ich sehr ungeschickt.«
Und ohne auf ihn zu achten, sprang sie, sich das Fohlen einfangend, wieder auf dessen Rücken und ritt in wildem Galopp davon.
Sie wußte, daß Jürgen Halden ihr lachend nachgesehen und zugewinkt hatte. Also lachen konnte er wenigstens, er war nicht so finster und verdrossen, wie sein Vater es immer war. Und er hatte auch ein ganz anderes Gesicht als sein Vater. Vielleicht ähnelte er ihm auch sonst nicht. Immerhin war es ihr nicht angenehm, in ein so enges verwandtschaftliches Verhältnis zu Onkel Georg zu kommen. Aber Vater jetzt widersprechen und ihn betrüben, das kam gar nicht in Frage, da er leider viel schlimmer krank war, als sie geglaubt hatte.
Es würde ihr schon etwas einfallen, wie sie sich vor dieser Verbindung schützen konnte, wenn es soweit war. Vielleicht verzichtete auch Jürgen Halden darauf, sie zu heiraten; das wäre das beste, dann brauchte sie Vater nicht zu betrüben und konnte sich gehorsam zeigen.
Der Vater hatte das wechselnde Mienenspiel in ihrem Gesicht verfolgt und sagte nun überredend:
»Du mußt bedenken, mein liebes Kind, wie sehr es mich beruhigen würde, wenn ich dich in sicherem Schutz zurücklassen würde. Jürgen Halden ist ein zuverlässiger und ehrenhafter Mensch, dem ich volles Vertrauen entgegenbringe.«
Sie sah ihn unsicher an.
»Es ist aber doch sehr komisch, lieber Vater, daß ich jetzt schon an eine Heirat denken soll ...«
»Vorläufig ja nur an eine Verlobung, Nanda. Jürgen kommt in den Ferien nach Hause, und dann soll eure Verlobung perfekt werden. Mit der Heirat hat es noch einige Jahre Zeit.«
»So bald schon soll ich mich verloben?«
»Nur, um mich zu beruhigen, Nanda.«
Sie drückte seine Hand an ihre Lippen.
»Selbstverständlich, wenn es dich beruhigt! Dann wirst du auch wieder gesund, ich will sehr darum beten. Aber, wenn nun Jürgen Halden mich gar nicht heiraten will?«
»Er wird ebenfalls dem Wunsche seines Vaters nachkommen.«
Es zuckte um ihren Mund.
»Aber wenn nun nicht, es wäre doch möglich, daß er nicht will, dann brauche ich mich doch auch nicht mit ihm zu verloben?«
Er merkte aus ihren Worten, wie sehr kindlich ihre Einstellung zu dieser Frage noch war. Und um sie nicht zu beunruhigen, meinte er:
»Dann allerdings nicht, Nanda.«
Sie nickte abschließend.
»Nun gut, ich will dich beruhigen, so gut ich kann, und dir gehorsam sein; also willige ich in alles, was du gutheißt, das verspreche ich dir.«
Und sie dachte dabei:
Ich werde es schon so einrichten, daß Jürgen Halden mich nicht zu seiner Frau machen will. Das darf ich doch, um von ihm loszukommen, ohne Vater zu betrüben. Ich werde mich schon so aufführen, daß ihm alle Lust vergeht, mich zu heiraten. Wie konnte Vater nur darein willigen, daß ich mich jetzt schon verloben soll, und zwar mit Onkel Georgs Sohn? Dahinter steckt zweifelsohne Onkel Georg; der will mich nur vollends unter seine Fuchtel bringen. Dagegen wehre ich mich! Ich will nur Vater nicht betrüben.
Heinz Roland aber atmete erlöst auf. Er hatte große Angst vor dieser Eröffnung gehabt, und wenn Nanda die ganze Tragweite dieses Projektes erfaßt hätte, wäre die Unterredung auch sicherlich dramatischer ausgefallen, trotz ihrer sorgenden Liebe für den Vater. Er dankte ihr, daß sie sein liebes, gutes Kind sei, und sie beugte sich herab und küßte ihn.
»Wie könnte ich anders, mein lieber, guter Vater. Aber bitte, sage mir doch, daß es möglich ist, daß du wieder gesund wirst. Ich will ja alles tun, um dich zu hegen und zu pflegen. Ganz allein will ich es tun, kein anderer Mensch soll dir beistehen dürfen, außer wenn dich Hermann umbetten muß, wozu meine Kräfte leider nicht ausreichen. Nicht wahr, Väterchen, du wirst wieder gesund?«
Er wollte sie nicht unnötig betrüben, solange es nicht sein mußte.
»Der Arzt sagt, daß Hoffnung ist, solange ein Mensch lebt. Aber wir müssen doch mit dem Schlimmsten rechnen, damit es dich nicht unvorbereitet trifft. Du mußt mir auch versprechen, daß du tapfer sein wirst, was auch kommen mag.«
Wieder schluckte sie die aufsteigenden Tränen hinunter.
»Ja, Vater, das verspreche ich dir. Und du weißt, ich halte mein Versprechen immer. Aber nun wollen wir gar nicht mehr daran denken. Heute abend machen wir es uns behaglich. Ich bleibe bei dir und lasse mir auch das Essen heraufbringen. Niemand wird uns stören. Wenn du willst, lese ich dir die Zeitung vor, so gut wie Fräulein Sanders kann ich es auch, das kannst du mir glauben. Und noch eine Bitte habe ich.«
»Was denn, Kind?«
»Du mußt mir erlauben, daß ich jetzt, solange du krank bist, im Nebenzimmer auf dem Diwan schlafen darf, damit ich gleich zur Hand bin, wenn du mich brauchst.«
»Dann hast du aber keine ungestörte Nachtruhe, Nanda.«
Vorwurfsvoll sah sie ihn an.
»Denkst du denn, ich würde besser schlafen, wenn ich nicht bei dir sein kann! Immer habe ich jetzt Angst, es könnte etwas geschehen, wenn ich nicht bei dir bin.«
Ein gerührtes Lächeln huschte um seinen Mund. Er konnte es seinem Kind nicht versagen, die kurze Frist seines Lebens noch bei ihm zu sein.
»Also gut, Nanda, richte dich da drüben für die nächsten Nächte ein. Ich will dir das nicht abschlagen.«
»Du darfst aber auch nicht andern Sinnes werden, wenn dir Fräulein Sanders vorjammert, daß ich zu jung und zu leichtsinnig bin, um einen Kranken zu pflegen. Du kannst mir schon glauben, daß ich es besser machen werde als sonst ein Mensch.«
Lächelnd sah er in ihre hellen, bangen Augen.
»Du mußt aber nicht von deiner Erzieherin sagen, daß sie dir etwas vorjammert.«
»Liebster Vater, findest du nicht, daß ich mich noch sehr milde ausgedrückt habe? Wenn die gute Eugenie so loslegt – ich finde, das ist schlimmer als jammern.«
Wenn er ihr auch nicht unrecht geben konnte, wollte er doch die Autorität von Fräulein Sanders nicht untergraben. Und so zwang er sich zum Ernst und sagte mahnend:
»Es wäre besser, du hörtest darauf, was Fräulein Sanders dir an guten Lehren gibt, Nanda. Sie ist nun einmal dazu da, die Lücken in deiner Bildung auszufüllen. Ich habe deine Erziehung ein bißchen vernachlässigt.«
»Oh, Vater, ich finde, du hast mich wundervoll erzogen, hast mich alles Schlechte und Gemeine hassen gelehrt und mir alles Gute, Liebe und Schöne liebenswert gemacht. Ist das nicht die Hauptsache? All der nebensächliche Kram, den Fräulein Sanders mich lehrt, ist doch nur oberflächlicher Firnis! Wenn ich will, habe ich den in acht Tagen intus!«
»So, so, also du hast nur nicht gewollt.«
»Ehrlich gesagt – nein. Wenn die holde Eugenie mir in langen Tiraden etwas erklärt, was ich längst schon weiß, dann stelle ich mich so dumm, wie sie glaubt, daß ich bin. Das darfst du ihr aber nicht wieder sagen, lieber Vater.«
Er mußte lachen. »Ich werde mich hüten, du Wildfang!«
Sie beugte sich glückstrahlend über ihn.
»Ach, wie herrlich, jetzt habe ich dich zum Lachen gebracht. Sollst sehen, das ist gesund. Sorge dich nur nicht. Herzensvater, ich verspreche dir, daß ich eines Tages ein wohlerzogenes, würdevolles junges Mädchen sein werde, wenn ich erst drei, vier Jahre älter bin, also uralt. Jetzt laß mich noch ein bißchen herumtollen, wenn ich mir auch mal die Kleider dabei zerreiße. Ich ziehe mir ja zu solchen Unternehmungen immer die ältesten Kleider an, die ohnedies nicht mehr ausgebessert werden können. Ich finde es nun mal himmlisch, wenn Eugenie, die Unübertreffliche, dann jedesmal fast in Ohnmacht fällt, wenn ich ihr so als Lumpenbündel unter die Augen komme.«
Es war, als wehe bei Nandas Geplauder, das den Vater aufmuntern und erheitern sollte, ein Hauch von Jugendlust und Maienfreude durch das Krankenzimmer. Und als er nun wirklich lachte, lachte sie mit, so recht aus vollem, dankbarem Herzen, daß es ihr gelungen war, trotz all ihrer heimlichen Herzensnot um den Vater, diesen zum Lachen gebracht zu haben.
»Du bist und bleibst eine wilde Hummel!« suchte der Vater die Situation zu retten.
Aber Nanda sprang auf, wuchtete stolz und würdevoll durch das Zimmer, wie sie es Fräulein Sanders abgelauscht hatte, und sagte:
»Mon Dieu! Du bist doch das reine enfant terrible!«
Der Kranke amüsierte sich, weil Nanda ihre Erzieherin mit so viel Drollerie kopierte, und er konnte wieder nichts anderes tun als sich an seinem Kinde freuen und mitlachen. Aber dann seufzte er tief auf. »Welch ein Jammer, daß deine gute Mutter so früh sterben mußte.«
»Väterchen, wenn ich nicht fürchtete, du würdest dich zu sehr anstrengen, dann würde ich dich bitten, mir ein wenig von meiner Mutti zu erzählen.«
»Ich glaube, du wirst deiner Mutter eines Tages sehr ähnlich sein. Vielleicht sah sie als Kind auch so aus wie du jetzt, aber ich lernte sie ja erst kennen, als sie zwanzig Jahre alt war.«
»Du lerntest sie in Nizza kennen, nicht wahr, bei einem Blumenfest?«
»Ja, mein Kind. Ach, was waren das für Zeiten! Und dann, die wenigen Jahre, die sie hier in Heidersberg hatte! Sie war eine Waise, als ich sie kennenlernte, und lebte mit ihrer Schwester zusammen in der Obhut einer alten Dame, die sie auch auf Reisen begleitete. Diese alte Dame sehnte sich aber nach Ruhe und wollte nach der Verheiratung deiner Mutter ihre Stellung aufgeben. Da war deine Mutter sehr in Sorge, was aus ihrer fast zwei Jahre jüngeren Schwester werden sollte. Diese hieß Susanna, wurde aber nur Sanna gerufen.«
»Und Mutter hieß Leonore, wurde aber nur Lori gerufen?«
»So ist es. Du bist nach deiner Großmutter Fernanda genannt worden. Also da deine Mutter sich so sehr um die Schwester sorgte, sagte ich ihr: ›Wir nehmen sie einfach mit nach Heidersberg!‹ So geschah es auch. Und solange deine Mutter lebte, blieb Sanna hier.«
»Ach, warum ist sie dann fortgegangen? Du hast mir erzählt, daß sie sich nach Argentinien begeben habe.«
Es zuckte ein wenig unruhig in seinem Gesicht.
»Ja, erst wollte sie ja hier bei uns bleiben. Aber, du kannst es ja jetzt wissen, es geschah in jener Zeit, da auch Onkel Georg Witwer wurde, und ... er hatte Sanna liebgewonnen und wollte sie heiraten. Ich weiß selbst nicht, was geschehen war ... jedenfalls sagte sie mir, sie könne nicht länger bleiben, Georg Halden mache ihr das unmöglich. Er habe sie zu sehr gedrängt, seine Frau zu werden. Sie habe aber ihr Herz anderweitig verschenkt, an einen Mann, der in Argentinien lebe und zu dem sie nur nicht habe gehen wollen, solange ihre Schwester sie brauche. Er schreibe aber nun so sehnsüchtige Briefe, daß sie sich entschlossen habe, ihn zu heiraten. In Buenos Aires würde er sie erwarten, und dort sollte sogleich die Trauung stattfinden, ehe sie mit ihm ins Innere des Landes ginge, wo er seine Besitzungen habe.«
»Oh, wie romantisch das ist! Ich kann mir sehr gut denken, daß sie nicht Onkel Georgs Frau werden mochte«, seufzte Nanda auf.
»Nun, damals war er ja ein junger, stattlicher Mann, und ich denke wohl, hätte sie ihr Herz nicht schon verschenkt gehabt, wäre sie seine Frau geworden. Was zwischen ihnen vorgefallen ist, habe ich freilich nie erfahren, auch er hat darüber geschwiegen. Ein Mann spricht niemals gern von einer Niederlage.«
Nanda konnte aber ihre Tante sehr wohl verstehen. Wie hätte sie einem Manne wie Onkel Georg angehören können! Unmöglich! Zum Glück glich Jürgen Halden seinem Vater gar nicht. Außerdem wollte sie es schon so einrichten, daß er gern von einer Verlobung mit ihr zurücktrat. Und aufatmend fragte sie weiter:
»Und Tanta Sanna hat dann in Buenos Aires geheiratet? Ist sie denn glücklich geworden?«
»Soviel ich aus ihren seltenen Briefen entnahm, außerordentlich, sie ist es wohl jetzt noch, das nehme ich an, obwohl ich seit Jahren nichts mehr von ihr gehört habe. Wir haben uns immer seltener geschrieben, und schließlich ist der Briefwechsel ganz eingeschlafen. Jedenfalls lebte sie in sehr guten Verhältnissen, denn sie hatte, wie deine Mutter auch, ein ansehnliches Vermögen, und auch ihr Mann war begütert. Schade, daß das Vermögen deiner Mutter in der Inflation verlorenging. Ich konnte dir leider dieses Erbe nicht erhalten. Das brachte mich damals in eine so schwierige Lage, daß ich Onkel Georgs Hilfe in Anspruch nehmen mußte. Er hat mich sozusagen vor dem Ruin gerettet. Zum Glück konnte ich später die Scharte wieder auswetzen, und dann erbte ich ein hübsches Vermögen, und so bist du doch wieder eine reiche Erbin geworden.«
»War Tante Sanna meiner Mutter ähnlich?«
»Sehr, sie hießen überall die schönen Schwestern und man hätte sie für Zwillinge halten können. Du wirst ihnen mit jedem Tage ähnlicher, hast dieselben hellen Grauaugen, dasselbe kastanienbraune Haar und dasselbe Lachen. Manchmal, wenn ich dich draußen lachen höre, erschrecke ich, weil ich denke, es sei das Lachen deiner Mutter. Ach, wie gern lachten damals die Schwestern ein herrliches Duett. Sie wirkten wie das blühende Leben selbst – und doch raffte eine böse Grippe deine Mutter so früh hinweg.«
Traurig sah er vor sich hin. Aber obwohl Nanda selbst die Tränen aufsteigen wollten, sie durfte es nicht dulden, daß der Vater traurig wurde.
»Stundenlang könnte ich dir zuhören, Vater, aber du darfst dich nicht zu sehr anstrengen.«
»Laß mich nur, dies Plaudern von deiner Mutter strengt mich nicht an, es weckt in mir so schöne und liebe Erinnerungen.«
»Du hast Mutter wohl sehr liebgehabt?«
Er seufzte. »Sie galt mir mehr als mein eigenes Leben. Ich habe ihr auch nie eine Nachfolgerin geben mögen.«
Mit feuchten Augen sah sie ihn an.
»Wie glücklich macht es mich, dich so von meiner Mutter reden zu hören, lieber Vater. Hast du nicht ein Bild von ihr?«
Er nickte lächelnd.
»Mehrere, auch eines, auf dem sie mit ihrer Schwester Sanna zusammen fotografiert ist. Ich habe diese Bilder alle in meinen Schreibtisch geschlossen, denn immer kann ich ihren Anblick nicht ertragen. Der Schmerz um den Verlust deiner Mutter wird dann wieder allzu stark. Aber jetzt will ich sie dir zeigen ... jetzt, da du selbst danach verlangst. Ich glaubte nicht, daß du schon reif genug wärest, um zu verstehen, was mir diese Bilder sind. Heute, das fühle ich, wirst du mich trotz deiner Jugend verstehen.«
Er gab ihr seine Schlüssel und sagte ihr, in welchem Fache seines Schreibtisches in seinem Arbeitszimmer die Bilder lägen.
»Sie befinden sich in einem großen Kuvert, Nanda; bringe mir das herüber.«
Sie ging schnell hinaus, und ihr Herz klopfte erwartungsvoll.
Bald war sie mit dem Umschlag zurück, und nun zeigte ihr der Vater ein Bild nach dem ändern. Und Nanda war dabei zumute, als wisse sie erst seit heute, was ihr der Tod genommen hatte. Sie bat den Vater innig, ihr doch eines dieser Bilder zu schenken, und er nahm nur eines davon an sich, von dem er sich nicht trennen wollte. Die ändern stellte er ihr zur Wahl. Sie entschied sich für das Doppelbild ihrer Mutter und deren Schwester, weil es ihr am besten gefiel.
»Dann habe ich sie gleich alle beide, Vater; würdest du mir das geben, wenn ich dich darum bitte?«
Er nickte ihr zu.
»Nimm es nur, Nanda, und halte es allezeit in Ehren. Wenn ich einmal nicht mehr bin, wirst du ja auch die andern bekommen. Jetzt begnüge dich mit diesem.«
Nanda nahm das ihr geschenkte Bild und trug es gleich in ihr Zimmer. Sie wollte es dort über ihrem Bett befestigen. Die andern Bilder verschloß sie wieder in des Vaters Schreibtisch, nur das eine behielt er bei sich, das er ihr nicht mit zur Wahl gestellt hatte. Es mußte wohl eine sehr liebe Erinnerung an ihm hängen.
Als Nanda zu ihrem Vater zurückkam, hielt er dieses Bild mit beiden Händen auf seine Brust gepreßt und lag mit geschlossenen Augen da. Ganz leise setzte sie sich an seinem Lager nieder und sprach kein Wort. Sie glaubte, der Vater sei müde und wolle schlafen. Aber nach einer Weile schlug er lächelnd die Augen wieder auf.
»Wie still und ruhig meine wilde Hummel sitzen kann, wenn sie den Vater nicht stören will.«
»Oh, als ob ich nichts weiter für dich tun könnte! Bist du nicht müde, Vater? Willst du nicht erst ein Stündchen schlafen? Ich sitze dann ganz still bei dir und warte, bis du wieder aufwachst.«
Er sah sie wehmütig an. Schlafen konnte er noch lange, lange – aber in das Gesicht seines Kindes würde er nicht mehr lange sehen, nicht mehr auf dessen Stimme lauschen können.
»Ich bin nicht müde. Plaudere mir etwas vor, Nanda. Wie sieht es draußen in Wald und Feld aus und in den Ställen?«
Sie berichtete alles, was sie mit ihren klugen Augen beobachtet hatte, alles, was ihn interessieren konnte. Aber mit Absicht erzählte sie nur beruhigende Dinge, sprach allmählich leiser und leiser, und endlich hatte sie ihr Ziel erreicht ... der Vater war eingeschlafen. Sie rührte sich nicht, betrachtete unverwandt das Bild ihrer Mutter, das er beiseite gelegt hatte. Es zeigte die schöne, blühende Frau in einem schlichten, weißen Kleid und, der damaligen Mode entsprechend, mit einem Blumenstrauß im Arm. Das hätte kitschig wirken können, wenn es nicht so wundervoll zu dem schönen, lebensprühenden Gesicht gepaßt hätte. Hell und klar lachten die Augen aus dem Bild in die ihres Kindes hinein, so lebenbejahend, so glückselig und froh. Und doch mußte Nanda still vor sich hin weinen bei diesem Anblick. Und alles, was der Vater ihr jemals von der Mutter erzählt hatte, wurde wieder lebendig. Wie sehr mußten sich die Eltern geliebt haben! Und sie sollte sich als halbes Kind mit einem Manne verloben, den sie kaum kannte, der ihr bestenfalls gleichgültig war? Das erschien ihr plötzlich so ungeheuerlich, daß ihr war, als müsse sie davonlaufen, so weit sie konnte, um nur diesem Schicksal zu entgehen. Aber dann mußte sie doch den Vater allein lassen und ihm ihr Wort brechen. Sie hatte nun einmal ja gesagt – und alles war unwichtig, wenn er nur wieder eine Sorge los wurde.
Diese stille Stunde am Bette ihres schlafenden Vaters wirkte seltsam reifend und vertiefend auf das junge, wilde und ungestüme Kind.