Die Faust des Riesen. Band 2 - Rudolf Stratz - E-Book

Die Faust des Riesen. Band 2 E-Book

Rudolf Stratz

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Beschreibung

Leutnant Wend von Brake ist der Bruder von Diether von Brake, Majoratsherr auf Seddelin in der Mark Brandenburg, und mit seinem Bruder zutiefst zerstritten. Das bringt ihn in eine prekäre Lage, denn ohne die finanzielle Hilfe seines Bruders ist der Mittellose nicht in der Lage, seine Verlobte Helle zu heiraten. Helles Bruder, Leutnant von Salehn, fordert ihn daher ultimativ auf, allen Kontakt mit Helle einzustellen. Derweil geht es mit den wirtschaftlichen und ehelichen Verhältnissen Diether von Brakes weiter bergab. Ein zwielichtiges und ohnehin von Beginn an zum Scheitern verurteiltes Geschäftsprojekt folgt aufs Nächste. Diether ringt auf Versöhnung mit seiner Frau, doch Martine kann nicht mehr: "Du hast mich mit Absicht Zoll für Zoll umgebracht und stehst da und hältst mir die Hand hin! ... Was hast du mir alles genommen! ... Meine Eltern ... meinen Glauben an die Menschen ... meine Ehrfurcht vor der Ehe ... Ich bin matt und müde zum Sterben! Ich bin gebrochen!" Alles scheint auf die unvermeidliche finale Katastrophe zuzulaufen. Als Diether von Brake schließlich in seiner Berliner Wohnung mit einer Schusswunde im Kopf tot aufgefunden wird, fällt der Verdacht auf seinen Bruder ... Unter der Regie von Rudolf Biebrach wurde "Die Faust des Riesen"1917 als ein zweiteiliges Stummfilmdrama mit Henny Porten in der Hauptrolle verfilmt und wurde ein großer, von der Kritik hochgelobter Erfolg.-

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Rudolf Stratz

Die Faust des Riesen.

Roman

Zweiter Band.

Saga

Die Faust des Riesen. Band 2

© 1910 Rudolf Stratz

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711507155

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

VII.

In der kleinen märkischen Stadt, in der das Infanterieregiment Prinz Hohenlohe in Garnison lag, hatte der Dienst in der neunten Kompanie eben ein Ende. Es war Mitte Dezember. Der Schnee lag draussen auf dem Exerzierplatz fusshoch. Man hatte sich, so gut es ging, auf dem Kasernenhof behelfen müssen, um den Vormittag auszufüllen. Der Hauptmann hatte sich bereits im eifrigen Gespräch mit dem Feldwebel entfernt. Wend von Brake stand noch samt dem Oberleutnant auf dem zugigen Platz, auf dem sie mit der alten Mannschaft Griffe geklopft hatten, und sagte zu dem herantretenden Benjamin der Kompanie, dem Rekrutenoffizier, dessen Leute eben drüben Schnursprunggestelle, Bajonettiergewehre und Zielpfähle zusammenpackten: „Stürtzer ... wollen Sie mir ’nen Gefallen tun? Dann vertreten Sie mich über den Sonntag! Ich hab’ was vor!“

Der blutjunge Leutnant Stürtzer, der vor noch nicht einem Jahr aus dem Kadettenkorps gekommen war, machte ein sehr saures Gesicht, und der andre begütigte: „Es ist doch bloss Schuh- und Stiefelparade heut nachmittag und morgen Vormittagsappell. Weiter nichts!“

„Jawohl! Und ich hab’ bei meinen Kerlen ohnedies heute abend Putz- und Flickstunde und morgen früh Kirchgang! ... Ich bin immer der Lastesel! Der Hauptmann geht auf die Jagd ... Sie, Kranichstein,“ er wandte sich an den Oberleutnant, „gehen auf die Jagd, Brake muss alle Nasenlang nach Berlin, und ich sitz’ hier!“

„Dafür sind Sie auch der Jüngste!“

„Ja. Aber man muss doch auch etwas vom Leben haben. Man ist so schon nur noch halb Mensch mit den Rekruten!“

„Na schön! Also dann nicht!“

Wend von Brake grüsste kurz und ging. In den alten Exerzierpaletot gehüllt, die Hände in den Taschen, in hohen Stiefeln stieg er über die zusammengeschaufelten gelben Schneehaufen, die gefrorenen Wasserpfützen, das holperige Pflaster des Marktes in die krumme Gasse hinab, die zum See führte. Es war ein weiter Weg. Fast eine Viertelstunde. Wenn man wie er beim Abschied von der Kavallerie seine eigene Zimmereinrichtung verkauft hatte und sich mit einer möblierten Stube nebst Burschengelass begnügte, dann wohnte man da draussen weit billiger als in der Altstadt, in der Umgebung der Kaserne, wo die vielen Einjährigen die Preise verteuerten. Und den Blick ins Freie hatte man noch umsonst — über diese weite, an den abgemähten Schilfrändern gefrorene Seefläche, über deren bleifarbigen Spiegel jetzt vor Weihnachten die Ostseemöwen kreisten, und auf verschneite Felder und schwarze Kieferforsten und den fernen grauen Horizont.

Der Leutnant von Brake sah das alles mit trüben Augen. Sein Gesicht war finster, als er seine Wohnung erreichte. Es war das Haus eines biederen Ackerbürgers, mit einem hübschen Vorgärtchen, im Sommer ganz in Baumgrün und Blumen gebettet. Nun pfiff hier der Nordost, der ungehindert über Blachfeld und Wasserspiegel heranfegte, schneidend um die Mauern. Der junge Offizier hatte das matte Trostgefühl eines Mannes, den wenigstens, wenn er vom Leben auch sonst nicht viel hatte, nach einem auf dem Kasernenhof durchfrorenen und durchschimpften Vormittag ein Zimmer mit einem glühenden Kanonenöfchen, ein Paar warme Hausschuhe, eine Flasche Bier mit einem Stück Wurst erwarteten. Er trocknete sich mit dem Taschentuch die Eisstückchen aus dem dunklen Schnurrbart, stampfte sich den Schnee von den Feldstiefeln und trat ein.

Zu feinem Erstaunen war da schon jemand, der wartend gesessen und sich bei seinem Erscheinen erhoben hatte — ein Infanterieleutnant gleich ihm, ein kleiner, untersetzter Herr, etwas älter als Wends sechsundzwanzig Jahre. Denn er trug, obwohl er mit seinen beinah bartlosen, roten Backen blutjung aussah, den Oberleutnantsstern auf den Achselstücken. Sein wichtiges und ein bisschen kindisches Gesicht kam dem andern seltsam bekannt vor — nicht in angenehmem Sinne. Es war ein dunkler Eindruck, über den er sich nicht Rechenschaft geben konnte. Und nun sagte der Fremde: „Herr von Brake? ... Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle! Mein Name ist von Salehn! ...“

Helles Bruder! Auf einmal wusste Wend von Brake den Grund seines unwillkürlichen Missfallens. Dies rundwangige, an sich ganz hübsche Gesicht da drüben war eine Vergröberung, eine Entstellung ins Männliche, der zarten Züge seiner Braut. Eine gewisse Ähnlichkeit war unverkennbar, wie er dem Leutnant, den er bei dessen entlegener westpreussischer Garnison bisher nie zu Gesicht bekommen, ins Auge blickte. Er wusste nicht, wie er sich zu ihm stellen sollte. Er durfte zu ihm nicht zuerst von Helle als von seiner Braut sprechen. Die Mutter und damit die Familie hatte ja die Verlobung nicht anerkannt. Er musste abwarten, was sein Besucher dazu sagen würde.

Die beiden jungen Offiziere sahen sich zögernd an und reichten sich die Hände. Dann setzten sie sich. Wend zog die Zigarrenkiste heran, und der Leutnant von Salehn begann, heftig rauchend, um eine gewisse Verlegenheit, die sich deutlich auf seinem pausbäckigen Kindergesicht malte, zu bemänteln: „Freue mich, dass ich endlich einmal das Vergnügen habe. ... Sehen Sie, Herr Kamerad ... ich habe mich bisher bei der ganzen Sache absichtlich passiv verhalten ... ich bin ja sozusagen der Älteste der Familie ... der einzige Sohn ... aber wie soll ich schliesslich von der Wasserpolackei aus beurteilen, was in Berlin geschieht ... nicht wahr? ... Da hab’ ich lieber geschwiegen ...“

Er sprach eifrig, zuweilen in seiner Aufregung die Worte ein wenig überhastend, wie jemand, der sie sich zuvor zu genau eingeprägt hat. Wend hörte ihm stumm zu.

„Nun hab’ ich die Weihnachtszeit benutzt, um mir mal eine Woche Berliner Urlaub herauszudividieren! ... Dringendste Familienangelegenheiten hab’ ich dem Oberst gesagt ... sind es auch wahrhaftig ... noch viel dringender, als Sie wissen, Herr von Brake! Und da mich doch mein Weg auf der Rückreise von Berlin sozusagen hier vorbeiführte, hielt ich es am besten, mal Station bei Ihnen zu machen, und wir reden miteinander ganz offen und ehrlich. ... Was meinen Sie ... hab’ ich da nicht eigentlich recht?“

„Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür!“ sagte Wend. Er merkte schon: auf seiner Seite stand er nicht!

Sein Besucher riss seine kleinen blauen Augen noch wichtiger auf, als er bisher schon getan, und versetzte: „Ich kann Ihnen das alles ja so nachfühlen, Herr Kamerade! Ich bin ja selber auch in so einer ähnlichen Zwickmühle ... auch so halb und halb verlobt ... nur ist die Situation bei mir nicht so verflucht, weil ich nur noch drei Jahre bis zum Hauptmann zweiter Güte hab’! Dann langt’s nämlich, wenn ein oller Onkel von mir das Seinige zusammenkratzt, grade zum Kommissvermögen. Bis dahin heisst’s nun freilich Luftschnappen und die Tage im Kalender wegstreichen! Schade um die schönen Jahre! Na — das nur nebenbei! ... Wir wollen nu natürlich bloss über die Angelegenheit meiner Schwester Helle reden — versteht sich ...“

Er machte eine Pause. Dann fuhr er entschlossen fort: „Und da liegt die Sache so: Mein Vater hatte an: Ende seiner Tage nischt ... aber auch buchstäblich nischt! Wie wir ihn begraben und mit seiner Versicherungsgesellschaft abgerechnet hatten, da war nichts mehr da, als die Witwenpension und ein kleines, für mich sichergestelltes Kapital. Das muss bleiben. Unbedingt! Die Zinsen davon, diese armseligen paar Kröten, sind meine Zulage! Was soll ich ohne die machen? Ich kann doch nicht jetzt schon auch ins Versicherungsfach übergehen!“

Wend von Brake blickte den kleinen, rotbäckigen Egoisten im bunten Waffenrock vor ihm mit erneutem Unbehagen an.

Der war jetzt, wo er sich in sein Thema hineingeredet hatte, selbstsicherer geworden. Er betonte noch einmal entschieden: „Das Geld muss bleiben! Meine Mutter weiss das auch, kann auch gar nicht ’ran! Sie wusste genau, dass sie sich höllisch nach der Decke strecken musste, um mit der Pension auszukommen. Wäre auch schliesslich gegangen! Meine Schwester, die Photogräphin, verdient ja selbst ihr Teil. Auf die ist nie viel verwendet worden. War nicht hübsch genug! Keine Chancen! Sie sehen, ich bin ganz offen, Herr von Brake ... ich kehr’ Ihnen hier meine Familieninterna um, wie ’nen alten Strumpf! — Aber da hatten wir nu die Helle! Über deren Vorzüge brauche ich Ihnen ja am wenigsten was zu sagen. Aber Mama sind die zu Kopf gestiegen. Sie fing an von irgend einer Bombenpartie zu träumen. Hätt’ das Mädel ja auch — hätte sie, wenn Sie nicht dazwischen gekommen wären. ... Na, wir wollen uns darüber nicht streiten — geschehen ist geschehen! Tatsache ist nur, dass meine Mutter in den letzten zwei Jahren, um die Helle ein wenig unter Menschen zu bringen, ganz unverhältnismässig über ihre Mittel gelebt hat ...“

Der junge Mann räusperte sich.

„‚Über ihre Mittel‘ ist eigentlich noch viel zu wenig gesagt, Herr von Brake! Man müsste sagen: Ohne Mittel und überall Schulden! Diese Schuldenlast, die Mama da nun glücklich zusammengebracht hat, namentlich in letzter Zeit, unwirtschaftlich wie sie ist und immer in Hoffnung auf die grosse Heirat, die sie gewissermassen schon mit Händen greifen konnte. ... Ich hab’ mich entsetzt, jetzt in Berlin: Lohndiener ... Abendessen mit sechs, acht Gästen, Schneiderinnenrechnungen, Hüte ... na ... nun haben wir das Finale .. . totaler Zusammenbruch. ... Ich hab’ die Sache zur Not geordnet ... Mama muss auf einige Jahre ihre Pension verpfänden ... der olle Onkel, von dem ich vorhin sprach, sagt den Leuten dafür gut ... sie zieht zu ihm nach Görlitz ... er ist ein gichtischer Oberst a. D. — Witwer ... braucht jemanden, der ihm die Wirtschaft führt. ... Meine ältere Schwester behält ihre Berliner Stellung bei, die sie ja ernährt, und mietet sich irgendwo ein ... so kann zum ersten Januar, also in vierzehn Tagen, doch der ganze Krempel aufgelöst werden. ... Einen Untermieter für die Wohnung haben wir zum Glück auch schon gefunden. Ich reise wirklich mit leichterem Herzen zurück, als ich hingefahren bin ...“

‚Du Gemütsmensch,‘ dachte Wend von Brake. Aber dabei stand ihm das Herz still, während jener wieder anhub: „Nun bleibt noch die Hauptsache: Meine Schwester Helle! Was mit der? Görlitz ... das geht nicht! Zweie kann mein Onkel nicht durchfuttern und was macht sie auch dort? Wir haben uns an die Adelsgenossenschaft gewandt — und man hat ja auch sonst seine Verbindungen ... es haben sich da unter der Hand zwei ganz nette Stellungen als Gesellschafterin gefunden — die eine in München, die andre bei einer Dame am Rhein. Bis Neujahr müssen wir uns entscheiden! ... Helle kann doch nicht allein in Berlin bleiben und dort ihrer Schwester zur Last fallen — nicht wahr?“

Wend antwortete nicht. Er sah stumm den rundlichen, blühenden Unglücksboten an.

„Und diese Entscheidung, Herr von Brake, wird im wesentlichen durch Ihre Haltung beeinflusst. Wie ich höre, betrachten Sie und Helle sich als verlobt?“

„Ja!“

„Sind Sie in der Lage, sie zu heiraten?“

„Nein!“

„Werden Sie in absehbarer Zeit in diese Lage kommen?“

„Nein!“

„Absolut nicht?“

„Nur durch den etwaigen Tod meines Bruders! In dem Augenblick wäre ich ein sehr reicher Mann!“

„Aber Ihr Bruder ist verheiratet, sehr kräftig, erst Anfang der Dreissig?“

„Ja!“

„Und gibt Ihnen nichts?“

„Sicher nicht!“

„Also liegt der Fall eigentlich trostlos?“

„Ja!“

Der Leutnant von Salehn stand auf.

„Das wollt’ ich bloss von Ihnen selbst noch einmal bestätigt hören! Ja, Herr von Brake: Was nun weiter erfolgen muss, das ist doch wohl bei Leuten wie wir klar! Sie dürfen nicht länger mit dem Schicksal meiner Schwester spielen! Sie müssen sie freigeben! Völlig! ... Ist ja hart! Aber ich glaube, jeder wird Ihnen sagen, dass das Ihre Pflicht ist! Sie werden es selber fühlen — glauben Sie nicht?“

Auch Wend hatte sich erhoben. Er stand vor dem anderen. Es zuckte in ihm: ‚Wenn er jetzt bloss drohend werden möchte, damit ich Streit mit ihm anfangen kann!‘

Aber der kleine Herr war viel zu vorsichtig. Er sprach in versöhnlichem Ton: „Das musst’ ich Ihnen eben alles mündlich mitteilen! Das ist für beide Teile kein Vergnügen! Macht sich aber besser, als mit der dämlichen Briefschreiberei, wo man so leicht missverstanden wird. Nicht wahr — keine Missverständnisse, Herr Kamerad? Wir haben einfach vertraulich als zwei Offiziere über eine Sache gesprochen, die sich ja leider Gottes nicht ändern lässt, und ich bin überzeugt, Sie wissen nun selber ganz genau, was Sie zu tun haben werden! Es liegt mir ferne, mich da irgendwie noch mit einem Ratschlag, wie das am besten geschehen soll, aufzudrängen! Gott behüte! ... Na ... ich muss weiter ... mein Zug geht bald ... recht traurige Angelegenheit leider, die uns zusammengeführt hat. ... Tragen Sie’s mir, bitte, nicht nach, Herr von Brake ... ich hätte wahrhaftig jemanden wie Sie gerne zum Schwager gehabt!“

Die beiden Leutnants verstummten und gaben sich schliesslich wieder die Hand. Dann verbeugte sich der kleine Offizier steif und tief und klirrte hinaus. Wend stand am Fenster und sah ihm nach, wie er eilig durch den Schnee zur Stadt hinaufstiefelte. Er rührte sich nicht. Er konnte nicht denken, nichts wollen. Vor seinen schreckensvollen Augen war nur eine ungeheure, gähnende Leere — und ein Schwindel, wie das Vorgefühl eines nahen Sturzes in diesen Abgrund ...

Nach einer Viertelstunde kam er plötzlich zu sich ... Er setzte die Mütze auf. Mantel und Säbel trug er noch. So stürmte er auf die Strasse. Unterwegs traf er den Rekrutenoffizier der neunten Kompanie, den mädchenhaft jungen Leutnant Stürtzer, und der sagte verlegen: „Eben wollt’ ich zu Ihnen, Brake! Die anderen Herren haben mir den Kopf gewaschen wegen meiner Ungefälligkeit! Ich hab’ jetzt erst gehört, was Sie so nach Berlin zieht! Ich will gern den Dienst für Sie übernehmen!“

„Danke schön!“ Wend drückte ihm die Rechte und eilte weiter zu seinem Hauptmann. Der schüttelte den Kopf.

„Wieder über ’n Sonntag weg? Wissen Sie was, Brake — gehen Sie mal zum Oberst — der hat gerade gestern mit mir lange über Sie gesprochen — und bitten Sie ihn um vierzehn Tage Weihnachtsurlaub! Sie kriegen ihn! Wir werden uns inzwischen hier schon ohne Sie behelfen!“

Ähnlich sprach kurz darauf der Regimentskommandeur zu ihm. Er liebte den jungen Offizier mit dem schönen, alten Namen besonders, den er sich für das kommende Frühjahr zu seinem Adjutanten ausersehen hatte.

„Sie sind bis zum dritten Januar beurlaubt! Benutzen Sie mal die Zeit und kommen Sie in Berlin mit allem gründlich ins reine, Brake!“ sagte er ernst. „Das wünschen wir Ihnen insgesamt! Ich möchte nicht, dass ein so tüchtiger Offizier wie Sie auf die Dauer durch derlei Konflikte aus seiner Form gerät. Denn es ist in letzter Zeit etwas Fremdes in Ihnen! Es ist eben jetzt, wie Sie mich ansehen, in Ihren Augen ein Ausdruck, der mich direkt beunruhigt! Na ... nur Mut! Seien Sie ein Mann! Und nun reisen Sie mit Gott!“

Es war spät nachmittags, als der Leutnant von Brake in Berlin anlangte. Er fuhr sofort nach der Wohnung seines Freundes Malchow. Er hatte sich nicht angemeldet. Aber er wusste: ein Nachtquartier war dort für ihn immer bereit.

Der lange Pommer war noch im Dienst. Er hatte jetzt viel zu tun. Auch die Geheimrätin war ausgegangen. Das Mädchen führte den Gast in den Salon. Dort sass Mielke, die Tochter des Hauses. Sie begrüsste ihn mit einem kräftigen Händegeschüttel, so wie sie kameradschaftlich ungeniert mit den Herren ihrer Bekanntschaft zu verkehren pflegte. Mama käme gleich. Damit fing sie schon an, vom Hundertsten und Tausendsten zu reden. Es war so ihre Art. Wer ihr zuhörte, war ihr gleich dabei. Es blieb das gleiche Lippenwerk. Wend, der zerstreut daneben sass, hatte immer das Gefühl, als sprängen dabei kleine Spatzen in ihrem weissblonden Strubbelkopf von Ast zu Ast ...

Er wusste: es war immer die stille Hoffnung seines Freundes Malchow gewesen, dass er, Wend, und dessen Schwester einmal sich heiraten würden. Es war niemals davon geredet worden. Aber es hätte alles so gut gepasst. Der Unterschied der Jahre — die beiden schönen alten Familien ... die Mielke hatte Geld ... war ganz nett ... klug dabei — die Schusseligkeit gewöhnte man ihr schon ab ... und „Nein“ hätte sie Wohl nicht gesagt ... das hatte er früher schon an mancherlei Anzeichen gemerkt.

Sie wurde auch jetzt allmählich befangen, während sie mit ihm sprach. Ihr Redefluss, der sich bisher um Bälle, Basare und Routs gedreht hatte, stockte. Endlich legte sie die Hände im Schoss zusammen, sah Wend an und forschte unsicher: „Was haben Sie denn heute, Herr von Brake?“

„Wieso, Fräulein Mielke?“

„Sind Sie etwa krank?“

„Ich bin nie krank!“

„Sie sind aber so verändert ...“

„Ich wüsste nicht, wie ...“

„Doch! ... So ... so furchtbar bleich sehen Sie aus ... förmlich verwildert ...“

Er lächelte bitter und schwieg.

Sie beharrte: „Es ist so etwas Irres an Ihnen!“

„Ich bin auch an allem irre, Fräulein Mielke!“

Es war eine Weile still. Das kleine spillerige Fräulein von Malchow schaute bedrückt in dem Salon umher. Dann meinte sie unsicher: „Wissen Sie, eigentlich fürchte ich mich heute vor Ihnen ...“

„Vor mir?“

„Ja ... ich wollte förmlich, Mama käme zurück ...“

Das war nicht ihr sonstiges Getue — ihre oberflächliche Koketterie mit einem Dutzend Leutnants um sie her. Sie schüttelte den Kopf.

„Ich bin froh, dass ich Ihnen nie Gelegenheit gegeben habe, auf mich böse zu sein. Sonst möchte ich Ihnen jetzt nicht begegnen — wenigstens nicht unter vier Augen ...“

„Ach, du lieber Gott ... wir sind ja so zahm!“ Er stand brüsk auf, stiess seinen Stuhl zurück und ging im Zimmer auf und nieder. „Man ist ja so geduckt von Jugend auf ... man hat keinen eigenen Willen und keine eigene Meinung mehr ... man ist ja bloss ein anständiger Mensch, und das zu sein, ist ’ne Fessel ... glauben Sie mir ...“

„Ich verstehe Sie wirklich nicht!“ sagte das Fräulein von Malchow bang.

„Seien Sie froh, dass Sie mich nicht verstehen! ... Ah ... Guten Abend, Malte!“

Der lange Pommer trat ein, eine dicke Aktenmappe, das Zeichen der Schreibstubensklaverei, unter dem Arm, und begrüsste den Freund, und der fuhr fort: „Hab’ keine Angst! ... Ich bleib’ dir nicht die ganzen vierzehn Tage, die ich Urlaub habe, hier auf dem Hals ... ich nehme nachher ein Zimmerchen in der Nähe ... im Hotel ... überhaupt ... ich hab’ furchtbar viel zu tun. ... Komm mal mit in dein Zimmer! Ich muss dir was erzählen!“

Je länger er zuhörte, desto mehr verdüsterte sich das sommersprossige, knochig gutmütige Gesicht des Pommern. Er zerbiss seinen Zigarrenstummel zwischen den Zähnen und warf ihn mit einer zornigen Bewegung fort. Wend war zu Ende. Er verschränkte die Hände im Nacken, legte den Kopf zurück und sah zur Decke hinauf. In seinen dunklen Augen war etwas wie ein starrer, glänzender Punkt, der sich nicht bewegte und sich nicht veränderte.

„Ich weiss mir keinen Rat mehr, Malte!“ murmelte er. „Einfach keinen Rat ...“

„Was sagt denn deine Braut zu dem Unheil?“

„Ich weiss nicht!“

„Du warst noch gar nicht bei ihr?“

„Sie ahnt noch nicht, dass ich in Berlin bin! Ich kann nicht wieder so mit leeren Händen vor sie hintreten! ... Ich mach’ das Mädel und ihre ganze Familie unglücklich, und ... Herrgott ... ich bin doch ein Mann ... ich müsste mir doch zu helfen wissen ...“

Der junge Offizier hatte sich in einer plötzlichen jähen Erregung vor seinen Freund hingestellt.

„Aber man kommt zu nichts!“ sagte er in einer verbissenen Wut, die weisslich über sein Antlitz wetterleuchtete. „Man zappelt und zappelt sich zu Tode und meinen Bruder Diether amüsiert das höchlich. Je mehr Leute um ihn herum zappeln, desto lieber ist es ihm! Meine Schwägerin sitzt nun auch wieder draussen mit den Kindern und rührt sich nicht mehr von Seddelin fort. Wozu ist er nur auf der Welt! ... In seiner Hand liegt das ganze Schicksal unseres Geschlechts, und jeder Segen verwandelt sich bei ihm zum Fluch, und das bisschen, was man vom Leben haben könnte, wird einem zum Unglück! Das ist doch alles so blind, so blödsinnig. ... Warum ist denn das eigentlich so eingerichtet ... he?“

„Das musst du unsern lieben Herrgott fragen! Der ist der einzige, der es weiss!“ erwiderte der Pommer finster und zündete sich eine neue Zigarre an.

„Warum duldet er denn das aber?“ schrie der Leutnant von Brake. Allmählich verliess ihn völlig die Fassung. Er rüttelte den Kameraden, dessen Phlegma ihn erbitterte, an der Schulter: „Sitz nicht so stumpfsinnig da! Werd auch mal wütend ... nicht mir zuliebe — sondern darüber, dass überhaupt so etwas auf der Welt erlaubt ist! Wozu sind wir denn fromm und marschieren jeden Sonntag, den Gott gibt, mit der Mannschaft in die Kirche? Und wozu haben wir denn Gewissen und Ehre im Leib und rings um uns herum tausend Warnungstafeln, was man alles tun darf und nicht tun darf, wenn schliesslich jeder Schuft im Leben recht behält und einen auch noch dazu auslacht? Da kommt man sich ja einfach dumm vor! ... Mehr wie dumm! ... Feige!“

Der junge Offizier war bleich wie der Tod und masslos erregt.

„Einfach feige!“ knirschte er. „Da sind überall Paragraphen ... die zwingen einen ... da kann man sich nun nicht rühren! Da sinkt man einfach so still auf den Grund, als hätt’ man einen Mühlstein um den Hals! ... Kümmert keinen! ... Ein ordentlicher Offizier weniger! Lieber Gott, es gibt ja so viele Tausende! Wenn nur Herr Diether von Brake weiterlebt! Das ist die Hauptsache!“

Er ballte die Fäuste und stürmte im Zimmer auf und ab. Sein Freund folgte ihm mit besorgten Blicken. Die Brakes galten für eine wilde Familie. Schon seit Jahrhunderten. Es hatte ewig blutige Köpfe auf Seddelin gegeben. Wends Vater, der ernste, nüchterne Landjunker, war eine Ausnahme gewesen. Und es schien dem Pommer, dass dessen beide sonst so voneinander verschiedenen Söhne, Wend und Diether — sich in diesem Augenblick des Jähzorns ähnelten, von gleichem Blute seien. Er meinte beschwichtigend: „Kerlchen ... das ist ja alles ganz schön und gut, aber was kannst du machen? Wir leben doch nun mal nicht unter den Wilden, sondern im zwanzigsten Jahrhundert!“

„Ich wollte, ich lebte zu einer andern Zeit, wo man noch tun durfte, was man wollte ...“

„Na ... und dann?“

„Dann würde ich hingehen und Diether totschlagen!“

„Was?“

Der lange Pommer fuhr entsetzt aus seinem Lehnstuhl auf.

Wend wiederholte kaltblütig und trotzig: „Warum denn nicht, wenn jemand so wie er zwischen mir und dem steht, was ich vom Leben haben muss? Ich meine nicht sein Geld und Gut — das gönn’ ich ihm neidlos — sondern das arme bisschen Glück ... das sollen sie mir nicht zertreten! Sonst kenn’ ich mich nicht mehr aus. Sonst räche ich mich ... aber gründlich ...“

„Wend ... um Himmels willen ... bedenke doch, was du sprichst ...“

Der Leutnant von Brake war sonderbar ruhig geworden. Er wiederholte zwischen den Zähnen: „Ja, das tät’ ich! Es wäre einfach mein Recht!“

„Nun höre aber gefälligst auf. ... Mit so was spielt man doch nicht!“

„Es ist auch mein Ernst! Es ist heute mittag über mich gekommen ... gleich nachdem dieser kleine Esel, Helles Bruder, mit seiner Unglücksbotschaft bei mir gewesen war. Da hatt’ ich so ein Gefühl: Nun geht’s los! Nun kannst du nicht mehr wie du willst ... nun musst du ...“

„Aber doch nicht in solche Gedanken hinein ... Wend ... bester Mensch ... komm doch zu dir ... setz dich mal dahin ... werde doch vernünftig ...“

Der junge Offizier war stehen geblieben und schüttelte den Kopf.

„Nimm mal an: Ich treffe ihn hier durch Zufall meinetwegen ... kurz ... ich steh’ plötzlich vor ihm ... und hab’ nur die Wahl: Entweder ich leide mein Leben lang unter ihm ... ich verlier’ den Glauben an Gott und die Menschen ... ich muss auf die Helle verzichten ... ich werd’ schliesslich noch verrückt ... oder aber ... da alle anderen Leute ihm helfen und nicht mir — siehst du: da steht er und da ich, und ich hab’ im Nu den Revolver heraus ... dann sind wir quitt ... für alles ...“

Es flackerte wild in seinen Augen. Er hatte Mühe gehabt zu sprechen und trocknete sich den kalten Schweiss von der Stirne.

Malte von Malchow stand neben ihm. „Und dann?“

Wend zuckte die Schultern. Das schien ihm gleichgültig.

„Willst du dich denn köpfen lassen? Oder zeitlebens Wolle spinnen? ... Mensch ... überleg dir doch mal den Unsinn!“

„Es ist doch mehr als ein Schuss im Revolver!“

„Und der zweite für dich? Was hast du dann von der Geschichte?“

„Ich hab’ mich an ihm gerächt! ... Ich hab’ die Welt von ihm befreit — ich hab’ meine Schwägerin von ihm befreit — meine Mutter ... meine Schwester ... seine Kinder ... alle! Einer muss es mal tun!“

„Aber du wärest der letzte dazu!“

„Doch! Wer mir die Helle nimmt, dem nehm’ ich das Leben!“

„Und was wird dann aus deiner Braut?“

Wend schwieg eine lange Zeit. Der andere legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Na also! Ich nehme ja dein Fiebergerede nicht ernst! Aber immerhin — ein netter Standpunkt: Selber kratzt man ab, und die Menschen, gegen die man seine Pflichten hat, die lässt man hier zurück. Die können dann sehen, wie sie sich solo weiter durchs Leben schlagen!“

„Ich bin doch nur ein Bleigewicht in ihrem Leben. Ich hindere sie an allem, womit sie ihr Glück machen könnte. Wenn ich nicht mehr bin, ist sie frei ...“

Wend war an das Fenster getreten und schaute düster auf die allmählich dämmernde Strasse hinaus. Hinter sich hörte er die Stimme des Freundes: „Liebes Kerlchen — wenn das auch nur so Ideen bei dir sind — man darf auch denen nicht Raum geben: man versündigt sich schon dadurch mehr als erlaubt ist. Es heisst doch klipp und klar: ‚Du sollst nicht töten!‘ ... Und am wenigsten den eigenen Bruder! ... Kain und Abel, das ist doch das Furchtbarste, was in der Bibel steht ... der Anfang von allen Verbrechen überhaupt in der Welt. ... Daran nur zu denken, ist Sünde!“

„Ich muss aber daran denken!“

„Dann wiederhole dir nur immer wieder: Du sollst nicht töten!“

„Wozu haben wir denn dann den Säbel an der Seite?“

„Zum Morden nicht!“ Der Pommer wurde ungeduldig. Er schrie es dem andern fast in die Ohren: „Das wünscht Majestät nicht und wir andern Offiziere auch nicht! Das kann ich dir im Vertrauen verraten! Das heisst überhaupt die Freundschaft missbrauchen, wenn man einem mit solch einem Gequatsche kommt! Das verbitt’ ich mir nun! Verstehst du?“

Er sah dem andern ins Gesicht.

„Denk mal an deinen seligen Vater, Wend! Du hast doch so an ihm gehangen! Wenn du nun melden wolltest: ‚Papa ... ich will den Diether umbringen!‘... Was für eine Antwort würdest du wohl von dem alten Herrn bekommen? Na ... ich möchte sie nicht hören ... ich möchte da nicht in deiner Haut stecken ... so ständest du da vor deinem Vater ... mein Kerlchen ... das ist alles Unfug ... darüber kann man gar nicht reden. Pfusch du unserem Herrgott nicht ins Handwerk! Er weiss schon selber, was er tut!“

Wend von Brake war auf einen Stuhl gesunken und hatte das Antlitz in den Händen verborgen. Als der andere sich zu ihm niederbeugte, sah er, dass er weinte. Der Pommer stand ernst daneben und sprach Wend gut zu, in seinem heimischen Platt, das er nur in seltenen Stunden brauchte: „Lat ’t Ding sinen Lop ... der Diether wird auch ohne dich mal kopheister gehn! ... Wat sin möt, dat möt sind ...“

Er zog sich einen Stuhl herbei und sass neben seinem Freund und hielt dessen Hand in der seinen. Endlich kam der junge Leutnant zu sich. Er sprang auf, fuhr sich mit dem Tuch über das Gesicht und sagte matt, aber wieder in seiner gewöhnlichen Sprechart: „Pfui Teufel ... nun heult man auch noch ... weiss der Kuckuck, was in mir steckt!“