Die Flügel des Poseidon - Jörg Kastner - E-Book
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Die Flügel des Poseidon E-Book

Jörg Kastner

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Beschreibung

Olympia im Jahre 67 n. Chr. Der römische Kaiser Nero hat eigens die Heiligen Spiele verlegen lassen, um selbst an den Wettkämpfen teilnehmen zu können. Doch dieses Vorhaben soll ihm zum Verhängnis werden. Verschwörer haben einen Plan geschmiedet, wie sie Hellas von dem launenhaften Caesaren befreien können: Der Hirte Jason, der in der Stadt der Olympioniken nach seinem verschollenen Vater sucht, ist auserwählt, dem Kaiser bei den Spielen gegenüberzutreten. Doch bevor es dazu kommt, wird Jasons Freund Amykos kaltblütig ermordet. Neben dem Toten ist ein rätselhaftes Bild in den Sand gezeichnet: ein geflügeltes Pferd. Jason erkennt, dass die Olympischen Spiele längst nicht so heilig und edel sind, wie ihn sein Lehrmeister Lysias glauben ließ. Ein Netz aus Lügen, Sabotage und Gewalt zieht sich immer enger um den Athleten, dessen eigene Familiengeschichte tiefer in die Ereignisse in Olympia verstrickt ist, als ihm lieb sein kann.

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Seitenzahl: 559

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Jörg Kastner

Die Flügel des Poseidon

Kaiser Neros Olympiade

Ein Roman aus dem antiken Griechenland

Für meinen Freund Manfred,der schon in der Schulevom Sport so viel hielt wie ich.

Mein Dank gehört meinem Lektor Reinhard Rohnfür sorgfältige Lektüre und fundierte Kritiksowie meiner Frau Corinnafür Rat, Unterstützung und Verständnis.

Die Personen dieses Romans

Anmerkung: Historische Personen sind hinter ihrem Namen mit einem (H) gekennzeichnet.

Die Gesandtschaft von Paros

Jason von Eläos – Schweinehirte und Athlet

Kreugas – Gesandtschaftsführer

Xenophanes – Alipt

Eupolos – Pharmakopole und Haarscherer

Zopyra – Hetäre

Koroibos – streitsüchtiger Athlet

Amykos – feinfühliger Athlet

Hippias – arroganter Athlet

Kleomenes – seltsamer Athlet

Gerenos – kahlköpfiger Athlet

Ikkos – dürrer Athlet

Megillos – rotschöpfiger Athlet

Phanas – stämmiger Athlet

Simias – grauhaariger Athlet

Elis

Alopex – Schuhmacher und Untervermieter

Agis – sein Sohn

Bias – Herr der tausend Freuden

Perses – sein fetter Handlanger

Hyperides – Untersuchungsbeamter

Kallikles – Offizier der Wache

Myron – Theorodoke und Steinbruchbesitzer

Melissa – seine Tochter

Kyniska – ihre Dienerin

Pontikos – Leiter von Myrons Rennstall und Wagenlenker

Tranion – Kaufmann aus Kyllene

Lysikles – sein Sohn

Olympia

Melesias – erster Oberpriester

Adeimantos – zweiter Oberpriester

Sosandros – dritter Oberpriester

Hedeia – angenehme Schaustellerin

Römer

Nero Claudius Caesar (H) – Kaiser und Künstler

Statilia Messalina (H) – seine dritte Frau

Sporus (H) – Geschlechtsumgewandelter

Epaphroditus (H) – Neros Sekretär

Cluvius Rufus (H) – Neros Zeremonienmeister

Ofonius Tigellinus (H) – Prätorianerpräfekt

Titus Valerius Maximus – Neros Favorit im Faustkampf

Turpilius – wüster Prätorianer

Sowie eine Menge weiterer Griechen und Römer, ein Hund namens Niko und ein trinkfreudiger Kapitän.

Prolog

Auf der Peloponnes, genauer: auf dem Gebiet des Staates Elis befand sich das Zeusheiligtum von Olympia, wo schon seit vielen Jahrhunderten Feierlichkeiten begangen wurden, die Zeus, dem höchsten Gott, geweiht waren. Die zeremoniellen Wettkämpfe, die alle vier Jahre stattfanden, finden sich zum ersten Mal für das Jahr 776 v. Chr. nachgewiesen, wurden aber offensichtlich schon vorher ausgetragen. Im Laufe der Zeit jedoch nahm gegenüber der religiösen die sportliche Seite der Veranstaltung einen immer größeren Raum ein. Die Olympischen Spiele entwickelten sich dabei zu den wichtigsten der vier großen panhellenischen Spiele; die anderen drei waren die Pythien von Delphi, die Isthmien von Korinth und die Nemeen von Nemea. Daneben entstand eine Vielzahl größerer und kleinerer Sportwettbewerbe, bei denen – zunächst im Gegensatz zu den vier panhellenischen Spielen – beachtlicher materieller Gewinn winkte.

Das änderte sich, als Griechenland im zweiten Jahrhundert v. Chr. unter römische Herrschaft geriet. Im großen Stile schlossen sich die Römer der Sportbegeisterung an und gründeten eigene Spiele. Auch die panhellenischen Spiele wurden in ihrer Ausrichtung materieller, Rom setzte sogar eine jährliche Pension für die Sieger aus, was ihnen zuvor höchstens von Seiten der Stadtstaaten, aus denen sie jeweils stammten, vergönnt wurde.

Nachdem schon Tiberius und Germanicus in Olympia an den Wagenrennen teilgenommen hatten, zog es auch Nero, den ehrgeizigen und gefallsüchtigen, kunst- und wettkampfbesessenen Kaiser des römischen Reiches nach Griechenland. Im Jahre 66 n. Chr. brach er mit großem Gefolge zu seiner Reise und künstlerischen Tournee auf. Eigens für ihn wurden die Termine der großen Spiele verlegt; auch die 211. Olympischen Spiele wurden vom Jahr 65 n. Chr. auf das Jahr 67 n. Chr. verschoben.

Das alles erfahren wir aus den historischen Quellen: Die Überlieferung hat es aufbewahrt und trägt es uns über die Zeiten zu. Was sie uns, fixiert auf die großen und bizarren Gestalten der Weltgeschichte, verschweigt, ist die Geschichte des Schweinehirten Jason aus den zerklüfteten epirischen Bergen, der zur selben Zeit wie Nero unterwegs nach Olympia war. Ihn trieb nicht die Aussicht auf Ruhm, sondern ein dunkles Geheimnis, das er im Schatten Olympias zu ergründen hoffte. Aber er stieß nicht nur auf die Hintergründe dieses Geheimnisses, sondern auch auf Nero …

Erster Teil

Elis

1.Der Löwe von Paros

Dies ist ein zweiter Herakles.Plutarch

Jason von Eläos war ein guter Schweinehirte. Seine Herde war noch immer zahlreich angesichts der vielen Wochen und der noch größeren Zahl an Meilen, die nun schon hinter ihm lagen. Sorgsam hatte er die Tiere gehütet und nur wenige waren ihm auf der Strecke geblieben, ohne dass er einen entsprechenden Gegenwert für sie erhalten hätte. Wohlbehalten hatte er sie durch die zerklüfteten Schluchten von Epirus geführt, sie trotz eines Unwetters über den stark angeschwollenen Fluss Thyamis gebracht und nur ein Jungtier an die Wolfsrudel verloren, die vor Phylake durch die Wälder streiften. Niko, Jasons zotteliger großer Hund, hatte den wilden Räubern getrotzt, wie es kein anderer vermocht hätte. Drei Tage musste Jason rasten, um Nikos zahlreiche Wunden so weit zu pflegen, dass der arg Zugerichtete wieder einigermaßen laufen konnte. Die Spuren des großen Bären in den Agraeischen Bergen hatte Jason dagegen rechtzeitig genug entdeckt, um seine Herde umzuleiten. Das war eine gute Entscheidung gewesen. Wie Jason später hörte, hatte der Bär, ein böser alter Einzelgänger, schon zwei Ziegen, ein Schaf und eine alte Frau geschlagen.

Trotz dieser Fährnisse und Widrigkeiten, trotz Müdigkeit und der Schmerzen seiner überbeanspruchten Glieder, hatte Jason nicht ein einziges Mal seinen Entschluss bereut, nach Elis aufzubrechen. Das bloße Unterwegssein stellte ihn zufrieden. Wenn seine muskulösen Beine ausgreifen konnten, wenn er die Luft der Berge und Wälder tief in seine Lungen sog, fühlte er sich für alle Pein entschädigt. So war es schon in seiner Kindheit gewesen, wenn er mit der Herde hinausging. Er genoss Freiheit und Ungebundenheit, wurde eins mit der Natur. Sein Körper schien sich aus ihr zu erneuern. Und auch seine Gedanken eilten freier dahin und beschäftigten sich mit Dingen, die sonst von den Alltagssorgen verdrängt wurden. Auf seiner langen Wanderschaft zur Peloponnes hatte Jason genug Gelegenheit zum Nachdenken gehabt; einer Lösung des Rätsels um Aelian war er dadurch freilich nicht nähergekommen …

Die erste unerwartete Schwierigkeit stellte sich ihm erst in den Weg, als er die Peloponnes fast erreicht zu haben glaubte. Dass er dem Kapitän des Ploions, das ihn von Naupaktus nach Erineus übersetzte, fünf Schweine – ein Viertel seiner Herde – als Bezahlung überlassen musste, war zwar höchst ärgerlich, aber nicht zu vermeiden gewesen. Überdies war es nicht Jasons Schuld. Niemand hatte ihm gesagt, dass das Festland südlich von Aetolia plötzlich aufhörte. Er hatte davon ebenso wenig Kenntnis besessen wie von der Größe des Landes, das er zu durchmessen hatte. Wer hätte ihn darauf auch hinweisen können?

So empfand Jason keinen Stolz auf sich, nur Zufriedenheit darüber, dass es ihm gelungen war, bis jetzt so weit gekommen zu sein. Die Götter hatten ihm seine Mühen bis jetzt gelohnt. Besonders Pan, der gehörnte Schutzgott der Hirten.

Vor seinem Aufbruch war Jason zu der Lichtung im Fichtenwald gegangen, in deren Mitte eine alte, verwitterte Steineiche stand, die – so nahm man an – fast bis zu den Höhen des Olymps hinaufreichte. Ihre ausladenden Äste breitete sie weit wie ein schützendes Dach aus. Dieser Platz wurde von den Menschen aus Jasons Dorf und der Umgegend als Ort und natürlicher Tempel des Pan verehrt, denn Fichte und Steineiche waren die heiligen Bäume des Bocksgottes. Dort hatte Jason den kräftigsten Eber seiner Herde geopfert und Pan für die lange Reise um Beistand gebeten, von der viel mehr abhing als der Verkauf möglichst vieler Schweine in Elis.

Jetzt aber, kurz vor dem Ziel, sah es urplötzlich so aus, als seien alle Mühen und das Opfer selbst des prachtvollsten Ebers vergebens gewesen. Jason trieb seine Herde eine karge Anhöhe hinauf, die, lediglich von einigen verbrannten Kräutern bestanden, den Tieren wenig verlockend erschien. Müde trotteten sie einher. Plötzlich aber schüttelten sie ihre Lethargie wie auf einen geheimen Befehl ab und begannen, den Hügel mit so ungewohnter Geschwindigkeit zu erklimmen, als gälte es, einen olympischen Wettkampf zu gewinnen. Jason bezweifelte allerdings, dass seine Schweine von der bloßen Aussicht auf den Olivenzweig des Siegers angetrieben wurden. Der junge Hirte rief den davonstiebenden Tieren beruhigend zu – sie ließen sich nicht beirren. Hastig zog Jason die Syrinx aus dem großen Leinenbeutel, der an seiner Seite hing, aber der schrille Klang der Schilfrohrflöte verfehlte diesmal seine Wirkung.

Niko jagte den Schweinen nach, sprang wild um sie herum und versuchte sie knurrend und laut bellend einzuschüchtern, doch die aufgeregten Tiere ignorierten ihn und rannten flink bergan. Als die Herde über die Hügelkuppe verschwunden war, blieb Niko stehen. Unschlüssig blickte er zwischen den entschwindenden Schweinen und seinem Herrn hin und her, der sich hastig mühte, den Hügel zu erklimmen. Früher hätte Niko die Verfolgung wohl nicht so schnell aufgegeben, aber seit dem Kampf mit den Wölfen war sein rechter Hinterlauf lädiert, was ihn offenbar behinderte. Außerdem litt er, wie sein Herr und wie auch die Schweine, unter der Hitze und sengenden Trockenheit, da sie seit über einem Tag gänzlich ohne Wasser waren.

Mit einem Mal, Jason hatte die Hügelkuppe noch nicht ganz erreicht, schien neue Kraft in Niko zu fahren. Wieder drehte er den Kopf dorthin, wo die Schweine verschwunden waren, dann jaulte er hoch auf und entschwand mit gewohnt vollendeter Leichtigkeit hinter dem Hügel hinab.

»Mein braver Niko, auf dich ist doch immer Verlass«, keuchte Jason und verharzte außer Atem auf der Hügelkuppe, um sich zu orientieren. Er musste die flache Rechte vor die breite Filzkrempe seines Petasos legen, weil das alles überstrahlende Licht der an ihrem höchsten Punkt stehenden Sonne ihm jegliche Sicht nahm.

Als er die breite Straße unter sich sah, die sich zwischen den Hügeln hindurchwand, wollte er es erst kaum glauben. Konnte es wirklich sein, dass Elis so nah war, nach all den vielen Tagen, endlich? Es musste so sein. Denn welches andere Ziel als Elis sollte in diesen Tagen der lange Zug von Wagen, Tieren und Menschen haben, der die Straße bevölkerte? Die Wagen waren groß, oft vierrädrig, und prächtig verziert. Prunkvoll wirkten auch die Decken der Reitpferde: gleißend reflektierten die Gold- und Silberfäden, mit denen sie durchwirkt waren, das Sonnenlicht. Lang war dieser Zug. Ihm gehörten viel mehr Menschen an, als in Jasons Dorf lebten.

Dies alles überschaute Jason in einem Augenblick. Zu längerer Betrachtung blieb keine Zeit, da seine Schweine inzwischen angekommen waren und sogleich gewaltige Aufregung unter die Fremden brachten. Die halb verdursteten Tiere hatten nämlich dasselbe Ziel wie die Menschen, die am Rande der Straße angehalten hatten: ein kleiner See, ein anheimelnder blauer Sprenkel inmitten der sonnenverbrannten Hügel. Im Gegensatz zu den Menschen kannten die Schweine nicht die geringste Zurückhaltung. Der Durst machte ihnen so zu schaffen, dass sie ihre Scheu angesichts der vielen Fremden vollkommen vergaßen. Ohne viel Federlesens rannten sie mitten durch die rastende Gruppe hindurch. Einige sprangen noch rasch beiseite, andere freilich wurden umgerissen und nicht wenigen, die sich schon am Ufer des Sees aufhielten und sich nur etwas erfrischen wollten, verhalfen die außer Rand und Band dahinstürmenden Schweine zu einem unfreiwilligen Bad.

Niko versuchte ersichtlich noch immer, die Herde zurückzutreiben. Er rannte aufgeregt hin und her und sorgte durch sein unablässiges Gekläff für zusätzliche Verwirrung, so dass einige der Pferde unruhig wurden und mit ihren Wagen durchzugehen drohten. Die Szene entbehrte wahrhaftig nicht der Komik. Aber Jason verging die Lust zu lachen bereits, als er den Hügel hinuntersprang. Ein paar der Männer, deren einfache Kleidung darauf schließen ließ, dass es sich um Diener oder Sklaven handelte, vergalten das ungestüm sich äußernde Bedürfnis der Schweine mit mörderischer Gewalt: Mit langen spitzigen Messern beendeten sie das Leben aller Tiere, derer sie habhaft werden konnten.

»Hört auf damit!«, schrie Jason laut und entsetzt – da steigerte ein anderer Anblick noch seinen Schrecken.

Ein wahrer Turm von einem Mann, bekleidet mit einem blau-goldenen Chiton und mit Lederstiefeln, die mit Goldornamenten verziert waren, packte Niko und riss ihn vom Boden, als sei der große Hund nur ein Iltis, wie ihn sich die Stadtmenschen zur Mäusejagd hielten. Nikos wütendes Bellen wurde binnen weniger Sekunden zu einem kraftlosen Winseln, als die ungeschlachten Hände des Mannes ihm die Kehle zudrückten.

Jason war sich nicht bewusst, dass er schrie, laut und sinnverstörend, als er auf den schwarzhaarigen Fremden zusprang, der über die Kräfte eines Bären verfügen musste. Der muskelbepackte Mann, der mit unförmiger Miene auf den sterbenden Hund starrte, zeigte überdies keine Regung, dass er etwas vernommen habe. Erst als Jason ihn fast erreicht hatte, ließ er das kraftlose Tier fallen und fragte: »Was willst du, Hirte?« Das letzte Wort sprach er mit abschätziger Verachtung aus. Er wischte die von Nikos Speichel besudelten Hände achtlos am teuren Leinen seines kurzen Chitons ab.

Jason kniete sich vor dem Hirtenhund auf den Boden und untersuchte ihn mit äußerster Behutsamkeit. Sein schwerer Körper strahlte noch einen Rest Lebenswärme aus, aber der Kopf ließ sich ohne Anstrengung in alle Richtungen bewegen, und die kleinen, unter Fellbüscheln versteckten Augen blickten schon glanzlos auf, ohne das blendende Licht der Mittagssonne zu scheuen: Der Mann im blau-goldenen Chiton hatte sich nicht damit begnügt, Niko die Luft zum Atmen abzuschnüren, sondern hatte mit voller Absicht das Genick des Hundes gebrochen.

»Elender Lump!«, stieß Jason mit Tränen in den Augen hervor, während er sich langsam erhob und zu dem Fremden aufsah. Ja, der durchaus hochgewachsene Hirte musste tatsächlich den Kopf in den Nacken legen, um in das unförmige Gesicht zu blicken, dessen dunkel-schiefliegende Augen boshaft in ein einziges zusammenflossen und Jason an die Kyklopen denken ließ, von denen seine Mutter ihm früher erzählt hatte.

Ehe er sich’s versah, schossen die Pranken dieses Kyklopenmenschen auf ihn zu und schleuderten ihn, unvorbereitet und abgelenkt, wie er war, auf den Boden, der hier am Seeufer mit noch grünem Gras bewachsen war. Jason erholte sich rechtzeitig von der Überraschung und milderte die Härte des Aufpralls durch eine Drehung gerade noch ab.

Der Kyklop machte einen Schritt auf Jason zu, spuckte ihn an und knurrte mit Bärenstimme: »Du widerlicher kleiner Schweinehirte wagst es, mich, Koroibos von Paros, einen elenden Lumpen zu nennen? Du sagst das, der stinkt und in zerrissenen Fetzen durchs Land zieht, der barfuß läuft wie ein Spartaner, der angibt und groß tun will?« Tatsächlich war Jason durch den Wassermangel der letzten Tage gezwungen gewesen, die spärlichen Vorräte in seinem Ziegenlederschlauch nicht zum Waschen zu verschwenden und roch durchdringend nach Schwein und Mensch. Sein wollener Chiton hatte auf der Reise ziemlich gelitten, war an vielen Stellen eingerissen und hatte seine ursprüngliche Farbe längst verloren: Aus dem kräftigen Blau des Heidelbeersaftes, mit dem seine Mutter das Hemd gefärbt hatte, war über die Jahre ein verblichenes Grau geworden. Schuhe allerdings vermisste Jason nicht. Er war daran gewöhnt, barfuß zu laufen und war geradezu darauf angewiesen, den Boden unmittelbar unter den Füßen zu spüren. In unwegsamen Gegenden suchten die Zehen einen Halt, und die Feuchtigkeit einer verborgenen Wasserstelle spürte er mit der bloßen Haut, nicht aber mit dicken Sohlen aus Leder, Kork oder Flechtwerk.

Zusammengekauert am Boden, sah Jason einen gewaltigen Stiefel auf sich zukommen, und er hörte die Bärenstimme weit über sich brüllen: »Ich werde dich zertreten wie eine Wanze, Schweinehirte!« Beiläufig, im Bruchteil eines Augenblicks, registrierte Jason die Goldornamente auf dem Leder: fein ziselierte Abbildungen eines sprungbereiten Löwen. Das drohende Funkeln in den Augen der Raubtiere kam aus winzigen Rubinen. Im gleichen Augenblick packte er zu, umklammerte den preziösen Stiefel und drehte ihn dann mit einer ruckartigen Bewegung beider Arme herum. Für einen Augenblick hing Koroibos von Paros in der Luft, ungelenk wie ein junger Vogel auf seinem ersten Flug. Ein äußerst ungeschlachter Vogel allerdings, wie der riesenhafte Rok, der, wie Jason sich von ungefähr erinnerte, früher im Land der Perser lebte. Plump stürzte er zu Boden und stieß ein schmerzerfülltes Grunzen aus. Als er sich aufrappeln wollte und sich unter wütendem Keuchen auf die Knie stemmte, stand Jason schon über ihm und spuckte ihm mitten zwischen die beiden schief ineinander verschwimmenden Augen.

»Ich mag ein Schweinehirte sein, ich mag stinken, und meine Kleider mögen Lumpen sein, aber ich töte keine Tiere, die zum Wasser laufen, nur weil der Durst sie halb wahnsinnig macht. Und ich töte keinen Hund, der versucht, seine Pflicht zu tun. Ich mag nur ein schmutziger Schweinehirte sein, aber du bist der Lump!« Unbeherrscht schrie Jason die Worte in das formlose Gesicht hinein.

»Dreckiger Schweinehirte!«, knurrte der am Boden kniende Mann nur, während er sämtliche Muskeln anspannte.

Jason beobachtete ihn genau. Er wusste, dass sein Gegner, der eben noch ein ungeschickter Vogel gewesen war, sich nun in ein Raubtier verwandelte, im Begriff, zum tödlichen Sprung anzusetzen. Als der Sprung dieses Mal erfolgte, war der Eläer vorbereitet und wich gewandt zur Seite aus. Koroibos verfehlte sein Ziel und stürzte, von seinem eigenen Schwung mitgerissen, erneut zu Boden. Jason drehte sich herum, beugte sich leicht vor und versenkte seinen Blick in die Augen des Gegners, wie er es von Lysias gelernt hatte. Es waren dunkle Augen, schwarz wie das Haar des Riesen. Ihr Blick war böse und hasserfüllt. Als ein Glitzern über die dunklen Seen zog, wusste Jason, dass Koroibos zum nächsten Angriff ansetzte.

Diesmal war er so schnell, dass er Jason zu überrumpeln vermochte. Er hatte dem massigen Körper eine solche Wendigkeit gar nicht zugetraut und seine Ausweichdrehung erst zur Hälfte vollführt, als ihn Koroibos packte, seinen Kopf herunterriss und zwischen Oberarm und Brustkasten verkeilte. Und wieder schossen ihm Gedanken durch den Kopf, die seiner Lage unangemessen schienen und ihn momentweise von ihr entfernten: Das Leinen des blau-goldenen Chitons, gegen das seine Wange gepresst wurde, fühlte sich sanft an wie die Hand von Jasons Mutter, wenn sie früher zärtlich über das Gesicht ihres kranken Kindes streichelte. Und der Geruch, den Koroibos verströmte, war nicht die strenge Ausdünstung eines schwitzenden Kämpfers, sondern süßlich und schwer, wie Jason sich das Parfüm edler Damen vorstellte.

Jason ließ plötzlich die Luft aus sich heraus; gleichzeitig stieß er sich, so gut er konnte, mit beiden Händen vom Körper des Giganten ab. Er entkam, verlor aber beim Zurücktaumeln das Gleichgewicht. Noch zu geschwächt, um den Sturz abzufangen, prallte er mit dem Rücken gegen einen kleinen Felsen. Er verlor einige Augenblicke den Atem. Er konnte sich nicht bewegen, lag erstarrt am Seeufer und sah den Riesen auf sich zukommen. Er riss Jason vom Boden und presste ihn an die massige, blau-gold überspannte Brust. Immer fester drückten die gewaltigen Arme zu und pressten das Leben aus dem jungen Hirten heraus. Genauso hat er es bei Niko gemacht!, schoss es durch Jasons Kopf. Der Gedanke an den erbärmlichen Tod seines Weggefährten entfachte mit der Wut seine verlöschenden Lebensgeister. Er dachte an das, was Lysias ihm beigebracht hatte: riss sein rechtes Knie hoch, ruckartig, mit aller ihm noch zur Verfügung stehenden Kraft. Er traf Koroibos zwischen den Beinen, genau dort, wo es einen Mann am meisten schmerzt. Der getroffene Gigant stieß einen spitzen, hohen Schrei aus und lockerte seinen Griff so weit, dass Jason sich ihm durch eine schlangengleiche Bewegung entwinden konnte. »Stich zu wie ein Skorpion und winde dich wie eine Schlange!«, hatte Lysias diese Übung genannt.

Die Männer standen sich gegenüber, lauernd, aufmerksam und in gewisser Weise sogar froh über die kleine Verschnaufpause. Bisher hatte Jason nur Augen für seinen ungestalten Gegner gehabt. Zum ersten Mal wurde ihm jetzt bewusst, dass sie beide im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses standen. Koroibos’ Begleiter hatten einen weiten, aber dichten Kreis um sie gebildet und verfolgten gebannt jede ihrer Bewegungen, wobei sie Rufe des Erstaunens und der Anfeuerung ausstießen. Obwohl das Blut in seinen Ohren dröhnend wie ein Schmiedehammer schlug, glaubte Jason zu vernehmen, dass einige sogar Wetten auf den Sieger abschlossen.

Obwohl Jasons ganze Aufmerksamkeit eigentlich dem Gegner hätte gelten müssen, wurde sein Blick für einen langen Moment vom Antlitz einer der wenigen anwesenden Frauen gebannt. Die meisten Frauen hier machten in Kleidung und Aussehen einen einfachen Eindruck, wie Sklavinnen oder Freigelassene. Diese Frau aber war anders. So stellte Jason sich eine Dame von edler Herkunft vor. Das Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den leicht schrägstehenden, mandelförmigen Augen strahlte einen fremd-orientalischen Zauber aus, den der dunkle Schimmer der Haut und das zu einer kunstvollen Frisur aufgetürmte schwarze Haar bestätigten. Sie war zweifellos kein junges Mädchen mehr, sondern bestimmt ein paar Jahre älter als Jason, irgendwo in den Zwanzigern. Der eng anliegende, den Körper wie eine zweite Haut umschließende Peplos, noch edler bestickt als Koroibos’ Chiton, war beim Gehen wohl eher hinderlich, unterstrich aber gerade deswegen die Attraktivität der fremden Dame. Sie faszinierte Jason – gerne hätte er ihr mehr Aufmerksamkeit gewidmet.

Der unter lautem Gebrüll wie ein Stier heranstürmende Gigant ließ ihm keine Zeit dazu. Die erfreuliche Ablenkung hatte ihren Preis: schmerzhaft stieß er mit dem Mann aus Paros zusammen, der den Hirten offenbar über den Haufen rennen wollte. – Doch wie hatte Lysias gesagt? »Bist du der Kraft des Gegners nicht gewachsen, dann sieh zu, dass der Gegner selbst es auch nicht ist!« Eingedenk dieser Worte klammerte sich Jason an Koroibos fest und hing wie ein umgeschnürtes Bündel an ihm. Der Gigant stolperte, ging zu Boden und riss den Jüngling mit sich. Sie rollten ineinander verkrallt durch das Gras, hin und her, bis ein Felsblock sie aufhielt. Jeder krampfte seine Hände um den Hals des anderen und versuchte, ihm die Luft zu nehmen.

Wie du es mit Niko getan hast, du verdammter Lump!, dachte Jason. Gern hätte er es laut gesagt, dem anderen ins Gesicht geschrien, doch dazu reichte sein Atem bei Weitem nicht mehr. Der Griff des Giganten war eisern und wurde immer fester. Aber der junge Eläer ließ nicht los und hob nicht die Hand, um sich zu ergeben. Nicht nur, weil er das Gefühl hatte, dies würde angesichts des wütenden Riesen ein aussichtsloses Unterfangen sein. Sondern auch, weil er an Niko dachte und es seinem Mörder mit gleicher Münze heimzahlen wollte. In diesen Augenblicken hatte Jason den Grund seiner Reise vollständig vergessen und war bereit, die Rache für Nikos Tod mit seinem eigenen Leben zu bezahlen.

Die nachlassenden Kräfte seines Körpers schwächten auch Jasons Sinne. Das hässliche, unförmig verunstaltete Gesicht seines Gegners, dessen Knoblauchatem ihm betäubend entgegenschlug, begann zu verschwimmen. Bis etwas hart und spitz gegen Jasons Brust stieß. Gleichzeitig spürte er kräftige fremde Hände, die seine eigenen von Koroibos’ Hals rissen, den sie halb bewusstlos umklammert hielten. Der Hirte war zu schwach, sich dagegen zu wehren.

Erst als sein Blick sich aufklarte, wurde ihm richtig bewusst, dass auch die Gigantenhände nicht mehr um seinen Hals lagen. Männer aus Koroibos’ Begleitung hatten die Kämpfer voneinander getrennt. Der harte, spitze Gegenstand, den Jason gespürt hatte, war das Ende eines gegabelten Stocks gewesen, wie ihn auch Lysias benutzt hatte, das Werkzeug eines Paidotriben oder Alipten.

Es gehörte einem großen, hageren Mann in einem purpurnen, gefälteten langen Chiton. Der Bart, der Mund und Kinn eines länglichen Gesichts umrahmte, musste, wie auch sein krauses Haar, einmal tiefschwarz gewesen sein, war jetzt aber von vielen grauen Strähnen durchzogen. Grau war das richtige Wort für dieses Gesicht. Es wirkte älter, als es mutmaßlich war; denn noch lag viel Kraft in den auf eine herbe Art schönen Zügen. Vielleicht gründete sich der Eindruck auch vor allem auf die grauen Augen des Mannes, die Jason sonderbar interessiert musterten. Die Augen saßen über tief in das Antlitz gegrabenen Ringen.

Mit diesem Mann ging es Jason wie mit der eleganten Frau: Er faszinierte den Hirten vom ersten Augenblick an.

Unterdes hatte Koroibos die fremden Hände unwirsch von sich abgeschüttelt, richtete sich schwankend auf und fuhr den Bärtigen an: »Was mischt du dich in diesem Kampf ein, Xenophanes? Wir stehen hier nicht in der Palaistra. Dieser stinkende Schweinehirte hat mich beleidigt. Er hat den Tod verdient und wird ihn von meiner Hand erhalten!«

»Oder du ihn von seiner Hand«, erwiderte der Mann mit dem gegabelten Stab in einem gelassenen Ton, begleitet von einem spöttischen Zucken um die Mundwinkel.

Koroibos’ dunkle Augen funkelten ihn böse an, doch der Gigant hielt sich zurück. Er schien vor dem Bärtigen wesentlich mehr Respekt zu haben als vor Jason. »Was willst du damit sagen, Xenophanes?«

»Dass ich nicht weiß, ob meine Helfer eben den Hirten oder dich vor dem Tod bewahrt haben, Koroibos. Und die anderen scheinen es auch nicht zu wissen. Erst wollte niemand gegen dich wetten, aber je länger der Kampf andauerte, desto mehr Wagemutige fanden sich.« Xenophanes senkte seinen Blick auf Jason, der mit dem Rücken gegen den Felsen gelehnt saß und die Luft genoss, die wieder ungehindert durch seine Lungen strömte. »Und ich muss sagen, sie fanden sich zu Recht.«

Seine Worte stießen bei Koroibos nicht gerade auf Bewunderung. Er schnaubte wie ein gereizter Stier und sein hässlicher Schädel pendelte unschlüssig zwischen Xenophanes und Jason hin und her. Schließlich presste der Gigant mit mühsam verhaltener Wut hervor: »Ich respektiere dein Wort in der Palaistra, Xenophanes. Hier aber hast du mir nichts zu sagen. Dieser lächerliche Schweinehirte hat mich gereizt. Ich habe seinen Tod beschlossen und werde diesen Beschluss vollstrecken!«

Obwohl der Gigant Jasons Todesurteil aussprach, fühlte sich der, dem es galt, davon ganz unberührt. Vielleicht lag es an der Erschöpfung, die ihn gegenüber seinem eigenen Schicksal teilnahmslos machte, vielleicht auch an dem Gefühl der Sicherheit, das ihm Xenophanes einflößte. Dieser legte seine hohe Stirn in Falten und die buschigen Brauen aus dunklem Grau überschatteten die Augen. »Willst du deine Hände mit dem Blut eines Menschen besudeln, Koroibos, hier, auf dem Weg nach Olympia?«

Die absonderliche Verformung, die sich auf Koroibos’ unförmigem Antlitz abzeichnete, sollte wohl ein angestrengtes Grinsen bedeuten. »Wir sind noch nicht auf dem Weg nach Olympia, sondern nach Elis.« Er blickte die Straße in Marschrichtung der Kolonne entlang.

»Das ist Haarspalterei!«, sagte Xenophanes mit zunehmendem Zorn. »Du weißt so gut wie ich, dass die Ekecheiria für alle Reisenden gilt, die unterwegs nach Olympia sind, auch wenn ihr Weg sie über Elis führt. Alle Besucher der Spiele stehen unter dem Schutz der Waffenruhe.«

»Der ein Besucher der Spiele?«, krächzte Koroibos und blickte erneut mit unverhohlener Verachtung auf Jason nieder. »Das ist doch nur ein Schweinehirte!«

»Das eine schließt das andere nicht aus«, erwiderte der Bärtige und wandte sich an Jason: »Wie ist dein Name?«

»Jason von Eläos.«

»Was ist dein Ziel, Jason von Eläos?«

»Elis.«

»Nicht Olympia?«

»Ich weiß nicht … vielleicht auch …« Es hing davon ab, was Jason in Elis in Erfahrung brachte. Wie konnte er etwas beantworten, das für ihn selbst im Dunkeln lag?

»Da hast du es, Xenophanes!«, triumphierte der Gigant. »Der Schweinehirte will gar nicht nach Olympia. Also steht seine Reise auch nicht unter dem Schutz der Ekecheiria. Und jetzt hör auf, ihm weitere Antworten in den Mund zu legen!«

Er warf einen bösen Blick auf den Bärtigen, dann machte er einen Schritt auf Jason zu und baute sich breitbeinig vor ihm auf. Der Jüngling spannte sämtliche Muskeln an und machte sich bereit zur Fortsetzung des Kampfes, auch wenn er sich noch ausgesprochen schwach fühlte.

Da trat die elegante, schöne Frau vor, die Jason kurz bewundert hatte. Sie legte eine schlanke Hand auf den muskulösen Arm des Giganten und sagte: »Koroibos, hör einmal: Willst du dich wirklich mit einem Schweinehirten prügeln wie ein gemeiner Bauer?«

Der verquollene Kopf ruckte zur Seite und seine schiefen Augen musterten skeptisch die Frau. »Was willst du damit sagen, Zopyra?«

»Gar nichts. Ich frage mich nur, ob es deiner Würde entspricht, dich mit diesem Hirten im Dreck zu wälzen. Koroibos, der Löwe von Paros, verschwendet sein Talent und seine Kraft mit einem Bauernlümmel. Ich weiß nicht, ob es deinem Ruf zuträglich ist, wenn dies in Elis und Olympia die Runde macht.«

»Meinst du?«, fragte Koroibos unvermutet nachdenklich. Zopyra nickte. »Aber wer sollte es erzählen?«

Zopyra wies in einer kreisförmigen Bewegung auf die Umstehenden. »Sie alle werden es mit Begeisterung erzählen, wenn erst der Wein sie gesprächig macht. Und Wein wird viel fließen in Elis, gerade in diesen Tagen.«

»Da hast du wohl recht«, brummte der Gigant, blickte angestrengt überlegend auf Jason herab und wandte sich dann wieder der Frau zu: »Was aber soll ich tun? Ich habe diesem Wechselbalg den Tod verkündet!«

Die schöne Zopyra stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihm etwas in sein breit wucherndes Blumenkohlohr.

Ein zufriedener Zug glitt über das Gesicht des Giganten. Er nickte und wandte sich dann mit herablassender Miene wieder an Jason: »Hör zu, Schweinehirte aus Eläos, was ich dir zu sagen habe. Du hast den Tod verdient durch die unverschämten Worte, die du mir gabst. Und ich könnte dich mit der Leichtigkeit töten, mit der ein Löwe die Gazelle schlägt. Aber ich, Koroibos, der Löwe von Paros, bin nicht nur für meine Kraft und meine Unbesiegbarkeit bekannt, sondern auch für meinen unendlichen Großmut. Deshalb schenke ich dir dein unwürdiges Leben. Mögen die Götter sich noch einige Zeit an deiner nichtigen Existenz erfreuen, die Menschen werden es sicher nicht.« Der Riese wandte sich zum Gehen, drehte sich aber noch einmal um und knurrte: »Aber hüte dich davor, meinen Weg ein weiteres Mal zu kreuzen, Bursche! Der Löwe von Paros zieht seine Pranken nur einmal zurück!«

Koroibos marschierte davon, ohne Jason noch eines Blickes zu würdigen, einen Arm um Zopyras schlanke Taille gelegt. Als die Frau an dem Bärtigen vorbeiging, glaubte Jason ein Zwinkern ihrer Mandelaugen zu erkennen, das Xenophanes galt.

»Da hast du nochmal Glück gehabt, Jason. Die Tage in seinem nicht ganz kurzen Leben, an denen Koroibos Großmut gezeigt hat, lassen sich bestimmt an den Fingern einer Hand abzählen.« Die Stimme gehörte einem blondgelockten Burschen: einer von denen, die Jason von seinem Gegner weggezerrt hatten. Er schien nur wenig älter als der Schweinehirte. Seine blassblauen Augen ruhten teilnahmsvoll auf Jason, von fast zärtlicher Besorgnis erfüllt. Ein Blick, den der Jüngling aus Eläos bisher nur von seiner Mutter kannte. »Ich bin Amykos von Paros und freue mich sehr, dass dieser Kampf nicht dein Leben gekostet hat. Wie fühlst du dich?«

»Nicht gut.« Jason war verwirrt, dass seine Antwort einen Heiterkeitsausbruch bei Amykos auslöste.

»Nicht gut«, wiederholte der und schüttelte sich vor Lachen. »Das ist wirklich köstlich!«

»Was findest du daran lachhaft?«, fragte Jason, dem nach allem eher zumute war als nach Heiterkeit und Spott.

»Verzeih mir, Jason. Ich wollte dich nicht kränken. Ich finde es durchaus nicht lachhaft, aber höchst belustigend. Koroibos ist vielleicht der größte Kämpfer, den die panhellenischen Spiele jemals gesehen haben.« Amykos senkte seine Stimme: »Zumindest hält er sich dafür.« Und wieder lauter: »Es ist eine Seltenheit, dass einer seiner Gegner auf seinen Beinen den Kampfplatz verlässt. Vielen von ihnen ist es unmöglich, sich jemals wieder zum Zweikampf zu stellen. Und das Einzige, was du, ein Schweinehirte, nach einem Kampf mit dem Löwen von Paros zu sagen hast, ist, dass du dich nicht gut fühlst.«

»Vielleicht, weil er nicht bloß ein Schweinehirte ist«, bemerkte Xenophanes, der neben sie getreten war und den größten Teil von Amykos’ Rede mit angehört hatte. »Was sind deine Absichten in Elis, Jason?«

»Ich will meine Herde verkaufen – oder das, was von ihr jetzt noch übrig ist«, sagte Jason und blickte besorgt nach seinen Schweinen, von denen er nur noch einige wenige zwischen den Wagen, Tieren und Menschen dieser Reisegesellschaft sah.

Xenophanes blickte ungläubig. »Du machst die weite Reise von Eläos, nur um deine Herde hier zu verkaufen? Dafür hätte es auf deiner Reise vielfach Gelegenheit gegeben, an hundert Orten, die deiner Heimat näher sind als Elis.«

»Ich lebe von den Schweinen«, sagte Jason wie zu seiner Verteidigung. Denn er hatte das Gefühl, sich verteidigen zu müssen, obwohl der bärtige Mann ihn nicht angeklagt hatte und auch gar nicht das Recht dazu besaß. In den Worten hatte etwas Aufforderndes mitgeschwungen, das nach Erklärung verlangte. »Ich wollte sie nicht verkaufen, bevor ich mein Ziel erreicht habe.«

Ein überlegener Schimmer zog über die grauen Augen des Bärtigen. »Also wolltest du aus anderem Grund nach Elis! Die Schweine waren nicht der Grund, nur das Mittel.«

Jason hatte sich unversehens verraten. Xenophanes’ rasche Schlussfolgerung machte es ihm bewusst. Offenbar war er von wachem, scharfem Geist. Jason nahm sich vor, vorsichtiger zu sein.

»Meine Mutter starb vor Kurzem. Ich bin allein und wusste nicht, wohin ich mich wenden sollte. Lysias hat mir viel erzählt von Elis und den Olympischen Spielen. Ich wollte es mir selbst ansehen.«

Das alles war die Wahrheit, aber nicht die ganze. Jason zögerte, den Fremden von Aelian zu erzählen. Zwar war er nach Elis aufgebrochen, um die Wolken zu vertreiben, die über Aelians Schicksal lagen. Doch solange er nichts Genaueres wusste, wollte er lieber vorsichtig mit seinen Nachforschungen sein.

»Wer ist Lysias?«, fragte Xenophanes, dessen Interesse an Jasons Person den Schweinehirten mehr und mehr verwirrte.

»Ein Paidotribe aus Eläos. Bei ihm habe ich gelernt, wie man kämpft.«

»Er muss ein guter Paidotribe gewesen sein, ein sehr guter«, sagte Xenophanes und streckte seine rechte Hand vor, um auf Jason zu zeigen. »Denn du bist ein sehr guter Kämpfer!«

Jason erschrak über das, was er vor sich sah. Bisher war die rechte Hand des Bärtigen in den Falten seines grünen Himations verborgen gewesen, das einen augenfälligen Kontrast zu dem purpurnen Chiton bot und ganz entgegen dem Brauch über die rechte Schulter geschlungen war. Nun erhob er sie; das aber war keine Hand. Aber es hätte mit ihr verwechselt werden können, wäre es nicht aus braunem Leder gewesen. Tot und regungslos starrten die fein nachgebildeten Finger Jason entgegen.

Xenophanes bemerkte Jasons Stutzen, überging es aber und fuhr fort: »Wie kommt es, dass ich von diesem Lysias nie etwas gehört habe? Ein so guter Paidotribe muss Männer ausgebildet haben, die bei den Spielen in ganz Hellas Preise holen. Warum höre ich keine Lobgesänge über diesen Lysias? Weshalb ist er nur ein Paidotribe und nicht, wie ich, ein Alipt?«

»Lysias … ist tot, schon seit ein paar Jahren«, antwortete Jason ausweichend und überlegte, wie viel er dem Fremden verraten sollte. Er sagte sich, dass er nur dann etwas über Aelian herausfinden konnte, wenn er Fragen stellte. Wenn dieser Xenophanes, wie es den Anschein hatte, ein olympiaerfahrener Alipt war, konnte er Jason vielleicht Auskunft geben. Jason brauchte ihm ja nicht mitzuteilen, was ihn mit Aelian verband. »Lysias hat einmal einen Athleten aus meinem Dorf ausgebildet, der nach Olympia zu den Spielen gegangen ist. Sein Name war Aelian.«

»Aelian?« Xenophanes legte den Kopf schief und schien den Worten seiner Erinnerung zu lauschen. »Nein, den Namen kenne ich nicht. Und ich kenne so gut wie alle Namen der Olympioniken.«

»Vielleicht hat Aelian keinen Preis gewonnen«, mutmaßte Jason.

»Dann wäre Lysias doch kein so guter Alipt gewesen, wie ich dachte«, meinte Xenophanes. »Wann hat dieser Aelian an den Spielen teilgenommen?«

»Vor vier Olympiaden.« Jasons Antwort kam ohne Zögern.

Diese Zahl würde er niemals vergessen. »Aber ich weiß nicht, ob er daran teilnahm. Er verließ Eläos mit der Absicht, den Zweig des Ölbaums zu erringen, doch niemand in unserer Gegend hörte jemals wieder etwas von ihm.«

»Vor sechzehn … achtzehn Jahren also«, murmelte Xenophanes mit leichtem Kopfnicken. Er hatte sich gerade noch daran erinnert, dass die diesjährigen Spiele in Olympia eigentlich schon vor zwei Jahren hätten stattfinden müssen, wären sie nicht auf höchstpersönlichen Wunsch Neros verlegt worden. »Damals war ich nicht in Olympia. Dieser Aelian könnte mir also entgangen sein.«

Jason versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen. Doch eigentlich hatte er gar keinen Grund, enttäuscht zu sein. So schnell etwas über Aelians Schicksal herauszufinden, durfte er nicht erwarten.

Amykos kehrte vom Seeufer zurück, in den Händen ein nasses Tuch, das er auswrang. Er ließ sich wieder neben Jason auf die Knie nieder und begann, dessen zahlreiche Schürfwunden vom Schmutz zu reinigen. Jason war erstaunt über die Sanftheit, die der blonde Jüngling dabei an den Tag legte. Wieder fühlte sich Jason an seine Mutter erinnert. Tatsächlich erweckte Amykos durch seine weichen Züge und den schmalzierlichen Körperbau Eindruck. Er machte seine Sache gut. Jason fühlte sich bei ihm sicher aufgehoben, fast wohlig.

»Einige Wunden sind doch recht tief«, bemerkte Amykos mehr zu Xenophanes als zu Jason. »Eupolos sollte sie mit einer seiner Wundertinkturen bestreichen.«

»Ein guter Vorschlag«, fand der Alipt. »Holst du ihn?«

»Eupolos ist unser Pharmakopole«, erklärte Xenophanes. »Er bringt die Athleten unserer Abordnung mit seinen unschätzbaren Künsten auf die Beine, auch wenn sie noch so erschöpft sind.«

Der korpulente, fast kahlköpfige Mann, der kurz darauf in Amykos’ Begleitung zu Jason und Xenophanes trat, warf nur einen kurzen Blick auf den Schweinehirten. Dann ließ er sich ächzend auf die Knie nieder, öffnete die Ledertasche, die um seine Schulter gehangen hatte, und entnahm ihr einen tönernen Lekythos sowie einen fingerlangen Pinsel. Mit den Zähnen entkorkte er das Tongefäß, tauchte den Pinsel hinein und bestrich Jasons Wunden mit einer öligen gelben Flüssigkeit, die einen penetranten Geruch verbreitete.

»Das stinkt wie das Wasser, das meine Schweine lassen«, entfuhr es Jason.

»Du hast eine gute Nase«, sagte der Pharmakopole. »Der Urin von Schweinen ist ein wichtiger Bestandteil dieser Essenz.« Als er fertig war, pfropfte er den Korken wieder auf den schlanken Hals des Lekythos und sagte zu seinem Patienten: »Wasch dich heute nicht mehr, dann werden die Wunden morgen verheilt sein.«

Sehnsüchtig sah Jason zum nahen See und dachte an das Bad, das er zu nehmen gedacht hatte.

Dann ging alles sehr schnell. Die Leute aus Paros nahmen die getränkten Ochsen und Maultiere wieder ins Joch, kletterten auf die Wagen oder bestiegen die Pferde. Die einfacheren Angehörigen der über hundertköpfigen Olympia-Abordnung, wohl zumeist Sklaven, gingen zu Fuß.

»Es geht weiter«, sagte Xenophanes und richtete seinen seltsam interessierten Blick zum letzten Mal auf den Schweinehirten. »Der Kampf, den ich sah, war vorzüglich, allemal besser als die Umstände unserer Begegnung. Mögen unsere Pfade, sollten sie sich noch einmal kreuzen, von freundlicherem Licht beschienen werden. Lebwohl, Jason von Eläos!« Er hob zum Gruß die Linke mit dem langen Stock und ging zu einem der schweren, vierrädrigen Ochsenkarren, auf den ihm ein paar kräftige Sklavenhände halfen.

Amykos blickte Jason ein wenig traurig an. »Auch ich bedaure, dass wir uns unter so hässlichen Umständen kennenlernten, Jason. Fast noch mehr bin ich darüber traurig, dass wir uns nach so kurzer Zeit wieder trennen müssen. Ich hoffe sehr, dass wir uns in Elis wiedersehen!«

»Ja«, sagte der Schweinehirte, über diese Erklärung ein wenig verwirrt. »Vielleicht treffen wir uns dort.«

Amykos strich sanft über Jasons Arm, wandte sich dann abrupt um und lief zu der aufbrechenden Kolonne.

Bald verschwand sie hinter einer Biegung. Jason sah nur noch den aufgewirbelten Staub, hörte noch leise die Flüche und Anfeuerungsrufe der Kutscher und Viehtreiber.

Dann war er ganz allein mit den restlichen Tieren seiner Herde, die er mühsam zusammentrieb. Neun Schweine waren ihm geblieben, nachdem er zwei zwar noch lebenden, aber schwer verletzten Tieren mit seinem Messer die Halsschlagader geöffnet hatte. Er hatte lange damit zu tun, den toten Tieren die Haut abzuziehen. Die Häute konnte er in der Stadt an einen Ledermacher verkaufen. Das Fleisch hätte er gern auch noch mitgenommen, aber er konnte es nicht tragen. Vielleicht würden die Götter es als Opfer nehmen oder die Geier als willkommenen Festschmaus – vermutlich beides.

Am schmerzlichsten war der Abschied von Niko, dem er am Ufer des Sees ein Grab aushob. Jason fühlte sich miserabel, weil er den treuen Begleiter seiner langen, einsamen Reise nicht hatte retten können. Mit einem traurigen Lied, das er seiner Syrinx entlockte, verabschiedete sich Jason von Niko.

Die Sonne neigte sich weit dem Abend zu, als der Hirte seine kärglich zusammengeschmolzene Herde endlich weitertrieb, die gewundene Straße entlang. Sein Ziel hieß Elis und er begehrte Aufklärung über Aelians Schicksal.

2.Die Stadt der Elier

Ein Leben ohne Feste ist ein langer Weg ohne Gasthäuser.Demokrit

Der lange Weg, der sich um die Ausläufer der Hügel herum nach Süden wand, gab Jason, der einsam dahintrieb, was ihm von seiner Herde geblieben war, viel Gelegenheit zum Nachdenken. Ein Punkt, der ihn sehr verwirrte, war der Reiseweg der parischen Gesandtschaft.

Paros war eine Insel im Ägäischen Meer, soviel wusste sogar ein einfacher Junge aus Eläos. Jason zweifelte keinen Augenblick, dass die Leute aus Paros per Schiff um die Südspitze der Peloponnes herum angereist waren. Erst per Schiff zur Westküste der Insel des Pelops zu fahren und die Reise dann zu Fuß über Land fortzusetzen, wäre viel zu umständlich gewesen. Aber weshalb reiste die Gesandtschaft nun doch über Land nach Elis? Die Stadt der Eller lag direkt an dem großen Fluss Peneios, der wiederum ins Ionische Meer floss. Jason verstand nicht, weshalb die Gesandtschaft nicht auf dem Wasserweg gekommen war; es wäre schneller und bequemer gewesen.

Aber er war eben nur ein unwissender Schweinehirte: Wieder einmal bedauerte er es, zu arm gewesen zu sein, um einen Lehrer zu bezahlen. Lysias hatte ihm einiges beizubringen versucht. Doch hatten sie die meiste Zeit für Übungen im Wettkampf verwandt. Schließlich war Lysias trotz seines Könnens ein verhältnismäßig einfacher Mann gewesen, ein Paidotribe, kein Paidagoge und schon gar kein Grammatist.

Jason verlor sich in Erinnerungen. So kam es, dass er die belebte Straße vor sich erst bemerkte, als der gewundene Weg sich schon fast mit ihr vereinigt hatte. Kleine, größere und große Gruppen von Menschen, Tieren und Wagen zogen die gut befestigte Straße entlang, fast ausnahmslos in südlicher Richtung, nach Elis: ein buntes Völkchen aus Besuchern, Wettkämpfern und ihren Begleitern. Aus der ganzen hellenistischen Welt waren sie gekommen und auch aus der römischen, seitdem Hellas ein Teil der letzteren geworden war. Was natürlich nicht fehlte, waren die Händler, Gaukler, Rhapsoden und Vagabunden, die sich gute Geschäfte von der Feststimmung der vieltausendköpfigen Masse erhofften.

Sie alle strömten nach Elis im Schutz der Ekecheiria, die die Spondophoren überall verkündet hatten. Natürlich war es nur ein frommes Märchen für Gutgläubige, dass sich wirklich jedermann an die Waffenruhe hielt, die für die Dauer der Spiele zu Ehren des Zeus ausgerufen wurde. In gewisser Weise nahm die Gefahr auf den Straßen sogar zu. Denn gerade die zahlreichen und zum Teil vom Gelde schweren Reisenden – Händler und Kaufleute mit ihrem übergroßen Warenangebot, Abordnungen größerer und kleinerer Städte, die wertvolle Weihegeschenke und Opfergaben mit sich führten – zogen das Gesindel an und verlockten es, sich heimtückisch an den Reisenden zu vergreifen, die sich im Schutz der Ekecheiria sicher wähnten. Aber hier, so kurz vor Elis, bestand die Gefahr nicht mehr. Zu viele Menschen waren hier unterwegs, und die elischen Stadtwachen waren nicht weit. So waren alle Reisenden höchst ausgelassen und sahen schwatzend und laut lachend dem nahen Ziel entgegen.

Jason reihte sich mit seiner bescheidenen Herde in den Menschenstrom ein und war enttäuscht, als er das erblickte, was er anfangs für Elis hielt: eine riesige, ungeordnete Ansammlung von Zelten und windschiefen Hütten, die einem starken Sturm nicht standgehalten hätten. Dazwischen immer wieder Plätze mit Marktständen und Darbietungen der Gaukler. Das sollte die hochberühmte Stadt sein, die seit jeher die Ehre genoss, die Heiligen Zeusspiele in Olympia auszurichten?

Verwirrt schritt Jason die Straße entlang, zu deren beiden Seiten sich die unübersichtliche Zeltstadt erstreckte, bis er hinter einem Hügel die Mauern einer Burg auftauchen sah. Er erkannte seinen Irrtum. Die Zeltstadt wuchs für die Dauer der Spiele aus dem Boden, da Elis viel zu klein war, um alle Besucher aufzunehmen. Dort hinten bei der Burg lag die wahre Stadt mit ihren im Laufe der Jahrhunderte entstandenen Gebäuden aus festem Stein.

Nur die Burg, vor mehr als dreihundert Jahren von einem Admiral des Königs Antigonos erbaut, war von Mauern umgeben, die Stadt selbst bot sich einem möglichen Angreifer schutzlos dar. Sie konnte es sich leisten, denn Elis war in allen Kriegen neutral. Niemand hatte es je gewagt, sich an der Ausrichterin der panhellenischen Zeusspiele zu vergreifen. Denn wer das getan hätte, wäre Gefahr gelaufen, sich alle anderen Städte Griechenlands zum Feind zu machen. So stand Elis ungesichert im Sonnenlicht und genoss einen unsichtbaren Schutz, der stärker war, als es die dicksten Mauern hätten sein können.

Wo die Zeltstadt in die Stadt aus Stein überging, standen einige bewaffnete Wächter, die die Ankömmlinge mit kritischen Blicken musterten. Als Jason sich näherte, richteten sich die Eisenspitzen zweier Speere gegen seine Brust.

»Wohin willst du?«, fragte einer der Wächter unfreundlich. Verdrossen blickte das grobporige Gesicht unter dem Pilos auf den Hirten.

»In die Stadt«, antwortete Jason.

»Wie heißt du?«

»Jason.«

»Bist du ein Bürger der Stadt Elis, Jason?«

Der Schweinehirte schüttelte den Kopf. »Ich komme aus der Gegend von Eläos.«

»Hast du in der Stadt ein Quartier?«

Wieder ein Kopfschütteln Jasons. »Ich komme gerade erst an und will mir ein Quartier suchen.«

»Das geht nicht!«

»Warum nicht?«, fragte Jason verdutzt.

Hinter ihm wurden ungeduldige Rufe laut, weil seine Schweine einen Gutteil der Straße versperrten.

Der Wächter mit dem grobporigen Gesicht zeigte auf Jasons Herde. »Darum nicht. Du kannst die Schweine nicht einfach irgendwo in Elis herumlaufen lassen. Die Stadt ist so voll wie die Ägäischen Inseln seit der Verschwörung gegen den Caesar.«

»Sprichst du von Nero?«

»Haben wir noch einen Caesar?«

»Nein«, erwiderte Jason zögernd. »Nicht, dass ich wüsste.«

»Wenn die Verschwörung in Rom Erfolg gehabt hätte, hätten wir zumindest einen anderen«, knurrte der Wächter, und seiner Miene war anzusehen, dass ihm diese Vorstellung gefiel. »Wahrscheinlich einen, der nicht unsere Tempel ausraubt und die Heiligen Spiele verlegen lässt, wie es ihm in den Kram passt.«

»Was hat das mit den Ägäischen Inseln zu tun?«, erkundigte sich Jason, von Neugier erfasst, während die Reisenden hinter ihm lauter und lauter murrten.

»Nero konnte nicht alle Verschwörer umbringen lassen. Politische Rücksichtnahme, verstehst du? Also ließ er die Verschwörer und ihre Familien auf die Inseln im Ägäischen Meer verbannen. Es müssen viele Verschwörer gewesen sein und sie müssen allesamt große Familien haben. Oder der Caesar hat nicht so genau hingesehen, als es darum ging, die Besitztümer der Verbannten zu beschlagnahmen. Jedenfalls erzählen die Reisenden aus der Ägäis, dass es dort fast mehr Römer gibt als Hellenen.« Der Wächter schnaubte verächtlich. »Ihr Eläer scheint wirklich sehr abgeschieden zu leben, dass ihr davon nichts gehört habt.«

»Ich komme nicht direkt aus Eläos, sondern aus einem Dorf in den Bergen, wo ich Schweine gezüchtet habe.«

»Ach ja, die Schweine.« Der Wächter richtete die Speerspitze auf die Tiere. »Schaff sie hier weg, schnell, sie versperren den Weg! Ich sage es zum letzten Mal: Ohne feste Unterkunft darfst du nicht mit den Tieren in die Stadt.«

»Der Eläer hat eine Unterkunft«, verkündete zu Jasons Überraschung eine helle Stimme in seinem Rücken.

Ein Blick über seine Schulter zeigte dem Hirten einen halbwüchsigen Jungen, vierzehn oder fünfzehn, mit bis auf die Schulter fallendem rötlichen Haar und Sommersprossen im Gesicht. Er kämpfte sich durch die ungeduldige Menge, bis er inmitten der Schweineherde stand, beugte sich hinunter und streichelte ein paar der Tiere.

»Wer bist du nun wieder?«, raunzte der Wächter mit dem grobporigen Gesicht den Jungen an.

»Ich bin Agis, Sohn des Schuhmachers Alopex. Und ich sage, dass der Eläer im Hause meines Vaters unterkommt.«

Der Blick des Wächters ruhte überaus skeptisch auf dem Jungen und der Bewaffnete grunzte: »Seltsam nur, dass der Fremde selbst es nicht zu wissen scheint.«

Der Junge richtete sich zu seiner ganzen Größe auf und wirkte dennoch nicht erwachsen. Aber er schaute dem Wächter frech ins grobe Gesicht und erwiderte: »Jetzt weiß er es!«

Unschlüssig sah der Wächter von Agis zu Jason, von diesem auf die Schweine und dann auf die Reisenden hinter der Herde, die Mühe hatten, sich an den Tieren vorbeizuwinden. Für die breiten Lastkarren war es ein hoffnungsloses Unterfangen. Immer länger wurde die Reihe der sich aufstauenden Fahrzeuge und immer lauter die wütenden Rufe der Männer. Nach einem kurzen Blickaustausch mit seinem Kameraden zog der Wächter den Speer zurück. »Also gut, ich will dir glauben, Agis. Aber komme ich dahinter, dass du uns angelogen hast, wirst du dir wünschen, dein Hintern wäre aus Elfenbein wie die Schulter des Pelops!«

»Das habe ich mir schon oft gewünscht«, grinste Agis und legte eine Hand auf Jasons Arm. »Komm, Freund, die Menge meutert gleich.« Und er half dem Eläer, die Herde in die Stadt zu treiben.

»Danke«, sagte Jason, als die Wächter hinter ihnen lagen. »Warum hast du mir geholfen?«

»Mein Vater hat heute Mittag einen säumigen Untermieter vor die Tür gesetzt, einen Kitharaspieler aus Messene. Entweder spielte er so schlecht, dass er kein Geld verdiente, um die Miete zu bezahlen, oder er kam nachts so spät heim, weil er sein Geld in der Dunklen Stadt ließ.«

»Die Dunkle Stadt?«

Der Junge zeigte nach rechts, wo sich eine breite Holzbrücke in einem sanften Bogen über den Peneios schwang. »Das ist die Schildkrötenbrücke.«

»Sie ist tatsächlich gebogen wie der Panzer einer Schildkröte«, bemerkte Jason.

Agis nickte. »Wenn du dort über den Fluss gehst, gelangst du in die Dunkle Stadt. Der Bezirk heißt so, weil er erst nach Einbruch der Dunkelheit zum Leben erwacht. Dort werden einem Mann all die Vergnügungen geboten, für die ich angeblich zu jung bin. Letzteres behauptet zumindest mein Vater.«

»Aber du kennst dich ganz gut aus, wie?«

»Man kommt halt herum.« Agis zuckte mit den Schultern. »Doch sei gewarnt. Gerade jetzt brodelt es in der Dunklen Stadt. Auch Bias feiert das Fest der Heiligen Spiele – auf seine Weise. Ihm ist es egal, wie er an das Geld der Menschen kommt. Wenn sie es nicht freiwillig in seinen Häusern lassen, hilft er auch schon mal nach. Das erzählt man sich jedenfalls.«

»Wer ist nun wieder Bias?«

»Ihm gehört die Hälfte der Dunklen Stadt. Vielleicht auch zwei Drittel oder mehr. So genau weiß das niemand. Genau weiß auch niemand, wo Bias zu finden ist. Wenn die Behörden das wüssten, müssten sie ihn festnehmen.«

»Wieso?«

»Nun, Bias war ein berühmter Athlet. Aber vor vier Olympiaden hat ihm ein Gegner beim Pankration das zerquetscht, was einen Mann ausmacht, und ihn zum Wallach verstümpert.« Agis grinste Jason an. »Du verstehst, was ich meine, Eläer?«

»Ich denke schon.«

»Bias war darüber verständlicherweise nicht sehr erfreut. Und da er sehr rachsüchtig ist, hat er seinem Gegner nachts aufgelauert, ihn niedergeschlagen und dasselbe abgeschnitten, was bei ihm selbst fehlte. Der Entmannte ist elend verblutet. Pech für Bias, dass der Olympionike der Sohn eines angesehen elischen Theorodoken war. Offiziell muss Elis alles daransetzen, Bias zu fangen und ihn zu bestrafen.«

»Offiziell?«

»Man sagt, in Bias’ Häusern verkehren viele Demiurgen. Und dass Bias eine Menge über diese Männer weiß. Dinge, die andere nicht wissen sollten.«

»Dieser Bias scheint ja mit allen Wassern gewaschen zu sein«, meinte Jason.

»Ja, das ist er«, sagte Agis fröhlich und mit einem Anflug von Bewunderung.

Immer wieder mussten Jason und sein Begleiter die Schweine zusammentreiben, um sie in dem Gedränge nicht zu verlieren. Jetzt verstand der Hirte aus Eläos, weshalb die Wächter eine Herde nicht ohne den Nachweis eines Unterstands in die Stadt lassen durften.

Auf allen Plätzen und bis zu den engsten, dafür gar nicht vorgesehenen Gassen hatten einheimische und fremde Händler ihre Stände aufgebaut, krakeelten mit sich überschlagender Stimme und priesen aus voller Brust die Vorzüge ihrer Waren an. Und es schien keine Ware in ganz Hellas und dem römischen Imperium zu geben, die hier nicht vertreten war. Köstlicher Wein von Chios, Lesbos, Rhodos und Thassos. Feingearbeitete Vasen und Töpferarbeiten aus Athen und Korinth. Der einzigartige attische Honig. Die edlen Stoffe von Kos. Sogar die berühmten Möbel aus Milet, die in ganzen Schiffsladungen nach Elis gebracht worden waren. Kretischer Purpur. Feinste Elfenbeinschnitzereien aus Numidien und Holzarbeiten aus Illyrien. Hier und dort wurden die hochberühmten Pferde aus Thrakien angepriesen. Weltläufig blickende Menschenhändler boten Sklaven der unterschiedlichsten Hautfarben feil. Überall standen die berühmten Fuhrwerke herum, die ursprünglich aus Pylos stammten, inzwischen aber mit ihren charakteristischen Farben vielerorts nachgebaut wurden: scharlachrot mit gelben Rädern, blauen Felgen und roten Zügeln.

Kurz, man konnte in der Stadt einfach alles kaufen – falls man das nötige Geld besaß. Denn die Preise waren gesalzen: Wer zu den Spielen nach Elis kam, hatte normalerweise die Taschen voller klingender Münzen.

Jason sah seinen neuen Bekannten an und fragte: »Woher willst du wissen, dass ich die Unterkunft bei deinem Vater bezahlen kann, Agis?«

»Wenn du kein Geld hast, hast du die Schweine. Die sind genauso gut.«

»Und warum hast du mir geholfen?«

»Ich mag Schweine«, antwortete Agis und streichelte als Bestätigung über das dunkle Fell eines fast ausgewachsenen Ferkels. »Außerdem könntest du mir einen großen Dienst erweisen, Jason. Ich habe ein paar Stiefel in der Zeltstadt ausgeliefert und dann die Zeit vergessen. Vielleicht könntest du meinem Vater bestätigen, dass die Zugänge zur Stadt wegen eines Volksauflaufes verstopft waren?« Agis grinste zu Jason hinüber. »Ich meine, so falsch wäre das wohl nicht.«

»Allerdings.« Jason grinste zurück. »Sofern das die einzige Lüge ist, zu der du mich anhalten willst, bin ich einverstanden.«

Agis freute sich. »Du musst nämlich wissen: Das mit dem Hintern aus Elfenbein war durchaus kein Scherz von mir. Vater kann sehr barsch sein, wenn er sich aufregt. Und ich habe ihm versprochen, heute Nachmittag in der Werkstatt zu helfen. Denn im Moment gibt es so viel zu tun wie schon lange nicht mehr. Die Wanderer, die zu den Spielen kommen, haben ziemlich kaputtes Schuhwerk. So läuft das Geschäft meines Vaters glänzend; für mich bedeutet es, dass ich ihm zur Hand gehen muss, wo ich kann.« Der Junge blickte an Jason hinab und ließ seinen Blick auf den nackten Füßen des Hirten verharren. »Sind deine Schuhe auch kaputt, Jason?«

»Ja«, sagte der Schweinehirte einfach, um sich langwierige Erklärungen zu ersparen.

»Vater wird dir einen guten Preis für neue machen, dafür sorge ich schon.«

Jason nickte. Vielleicht wären Schuhe wirklich nicht schlecht, zumindest hier in der Stadt. Es war weit unangenehmer, barfuß durch den Unrat und die stinkenden Abfälle von Menschen und Tieren zu stolpern, der die Straßen bedeckte, als über Bergwege zu wandern.

»Ich habe eine Idee«, plapperte Agis auch schon weiter, während sie eine Gruppe von Komödianten passierten, die auf einer provisorischen Holzbühne »berühmte Szenen aus berühmten Komödien« spielten, wie sie es selbst nannten. »Wir sagen Vater, die Gesandtschaft aus Paros sei an der Verzögerung schuld. Das ist nah an der Wahrheit. Ich habe mir ihren Durchzug tatsächlich angesehen. Ich wollte nämlich den berühmten Koroibos sehen, den Löwen von Paros.«

»Koroibos?«

»Ja, kennst du ihn?«

Jasons Antwort bestand nur aus einem undeutlichen Brummen. Er verspürte gegenwärtig kein Verlangen, sich das Geschehen am See in Erinnerung zu rufen.

»Natürlich kennst du ihn«, zog Agis seinen eigenen Schluss aus Jasons undeutlicher Äußerung. »Wer kennt den berühmten Kämpfer nicht! Wusstest du, dass Koroibos noch niemals besiegt wurde, in keiner Kampfart und auch nicht im Fünfkampf?«

»Ich hörte so etwas.«

»Niemand kommt ihm gleich. Wenn ich groß bin, möchte ich so werden wie er!«

»Das ist ein schwieriges Ziel«, meinte Jason. »Wohnt die parische Gesandtschaft hier in der Stadt?«

»Nein, sie zog nur durch. Sie ist auf Myrons Anwesen untergebracht.«

»Wer ist Myron?«

»Myron gehört zu den Theorodoken, die sich um die olympischen Gesandtschaften kümmern. Er ist einer der reichsten Männer hier in Elis, vielleicht der reichste – nach Bias. Es gibt kaum ein Geschäft, mit dem er nicht zu tun hat. Er besitzt ein großes Landgut mit einer berühmten Pferdezucht im Osten der Stadt und er hält Anteile an einer Waffenschmiede, an einer Großtischlerei und an einer Handelsflotte. Vater befürchtet schon, dass er auch groß ins Schuhmachergeschäft einsteigen will. Das meiste Geld aber macht Myron mit seinem Steinbruch. In Olympia muss dauernd etwas ausgebessert werden. Aber seit feststeht, dass Nero an diesen Spielen teilnimmt, haben sie auf der Altis und drum herum gebaut wie verrückt. Tag und Nacht hat Myron seine Steine abgebaut und hinübergeschafft. Es muss das Geschäft seines Lebens gewesen sein.« Der Junge machte eine Geste, die Jason noch nie gesehen hatte: Er rieb Daumen und Zeigefinger der rechten Hand aneinander. »Eigentlich müsste er dem Caesar Provision zahlen.«

»Dem Caesar? Was hat er damit zu tun?«

»Na, für ihn haben sie doch halb Olympia umgebaut. Eine prunkvolle Villa für den Caesar, neue Gästehäuser, Thermen und so weiter. Sogar eine neue Umfassungsmauer um den ganzen Bezirk mit fünf Toren, eins davon ein Triumphtor für Neros Einzug.« Agis seufzte. »Steinbruchbesitzer müsste man sein.«

»Vielleicht lässt Nero für sein Gefolge auch noch Schuhe anfertigen«, lachte Jason.

»Vater würde vergiftete Nägel in die Sohlen schlagen«, sagte Agis in einem Tonfall, in dem sich leichtherziger Scherz und tiefer Ernst vermischten. »Er hat schon einmal so etwas gesagt. Allerdings hatte er da fast eine ganze Amphore süßen Weins gekippt.«

Jason bedachte ihn mit einem fragenden Blick.

»Vater hält nicht viel davon, dass wegen Nero die ganzen Spiele auf den Kopf gestellt werden. Er sagt, es sei eine Gotteslästerung, die Heiligen Zeusspiele, die seit uralten Zeiten alle vier Jahre stattfinden, einfach um zwei Jahre nach hinten zu verschieben, nur weil das besser in den Reiseplan des Caesars passt.«

»Vielleicht hat er sich auch geärgert, dass er zwei Jahre länger auf das gute Geschäft warten musste«, meinte Jason.

Agis lachte. »Ja, vielleicht. Jedenfalls geht es nicht nur meinem Vater so. Eine Menge Leute haben sich über Nero geärgert.«

»Sie sollten es nicht so laut tun«, meinte Jason. »Der Wächter vorhin hat mir erzählt, der Caesar sei leicht damit bei der Hand, Leute, die ihm unliebsam sind, zu verbannen.«

»Das stimmt«, sagte Agis ungewöhnlich ernst. Für einen Augenblick wirkte er nicht wie der unbekümmerte Junge, den Jason kennengelernt hatte, sondern höchst überlegt wie ein Mann erfahreneren Alters. Aber der Augenblick ging schnell vorüber. Seine Miene hellte sich auf, und er sagte: »Wir sind da!«

Das Haus, auf das er wies, stand in einer schmalen Straße und machte auf den ersten Blick einen wunderlichen Eindruck. Es wirkte bei Weitem nicht so planvoll wie die meisten anderen Häuser, die Jason auf seinem Weg durch die Stadt gesehen hatte, dafür aber für das Haus eines einfachen Schusters ungewöhnlich groß. Bei näherem Hinsehen kam der junge Eläer dem Grund seines Eindrucks auf die Spur: Der Schuhmacher hatte immer wieder kleinere Segmente an das ursprüngliche Gebäude gesetzt und auf diese wiederum unregelmäßige Aufbauten gepackt. Das Kernstück des ursprünglichen Hauses hatte feste Mauern und ein ziegelgedecktes Dach. Der Rest sah nicht so vertrauenerweckend aus: eilig hochgezogene, dünne Wände, zum Teil aus Holz und mehr schief als gerade, gedeckt mit einem Gemisch aus Stroh und Erde.

»Vater hat ordentlich angebaut, um Zimmer an Reisende vermieten zu können«, erklärte Agis.

»Das sieht man. Was ist mit meinen Tieren?«

»Wir haben einen Innenhof, der teilweise überdacht ist. Das müsste ausreichen. Ich nehme an, du willst die Tiere bald verkaufen?«

»Ja.«

Es war eine Handwerkerstraße. Überall vor den Häusern sah Jason offene Ladenverschläge, wo Töpfer, Tischler, Schmiede, Steinmetze und Weber ihrer Arbeit nachgingen. Und der Schuhmacher Alopex, der gerade damit beschäftigt war, einer edel gekleideten Dame, die ihren Fuß auf einen Schemel gestellt hatte, Ledersohlen zuzuschneiden. Eine dunkelhäutige Sklavin schaute interessiert zu und begleitete ihre Herrin aus der Gasse, als Alopex mit seiner Arbeit fertig war und versprochen hatte, die Schuhe noch an diesem Abend herzustellen.

Der graubärtige kleine Schuster mit dem von der Arbeit leicht gekrümmten Rücken trat auf seinen Sohn und Jason zu. Die winzigen Augen, die aus dem faltigen Gesicht blinzelten, funkelten Agis böse an. »Du missratener Bengel hast mir seit dem Tod deiner Mutter keine Freude mehr gemacht. Die Arbeit wird mehr und mehr, aber du treibst dich lieber herum!« Schon erhob Alopex die knotige Rechte zum Schlag.

»Ich wurde aufgehalten«, sagte Agis schnell. Der Schlag erfolgte dennoch, traf den geschickt wegtauchenden Jungen aber nicht.

Er könnte tatsächlich ein guter Faustkämpfer werden, dachte Jason und sagte laut: »Es stimmt, Schuster, die Eingänge der Stadt waren durch den Einzug der parischen Gesandtschaft verstopft.«

Jetzt erst schien Alopex den Schweinehirten zu bemerken. Agis stellte ihn als neuen Untermieter vor.

»Hat er Geld?«, fragte der Schuster misstrauisch, wohl in Erinnerung an den zahlungsunfähigen Vorgänger.

»Nicht viel«, gestand Jason ein. »Eigentlich so gut wie nichts. Aber wenn ich meine Schweine verkauft habe, werde ich genug Geld besitzen, um die Unterkunft zu bezahlen.«

»Das genügt mir nicht. Ich verlange als Sicherheit die Miete für fünf Tage im Voraus.«

»Du hast doch die Schweine als Sicherheit, Vater.«

»Die können in der Nacht gestohlen werden.«

Jason war für einen Augenblick so ratlos wie Agis. Aber dann nahm der Hirte das streng riechende Bündel von seinem Rücken, die Häute der am See gestorbenen Schweine. »Vielleicht akzeptierst du das als Anzahlung für meine Unterkunft und ein wenig Speise, Alopex. Ich habe die Schweine heute erst gehäutet.«

Der Schuster untersuchte die Häute kurz und sah plötzlich sehr zufrieden aus. »Gutes Schuhleder, einverstanden.«

Agis zeigte Jason seine Unterkunft. Eigentlich war es nur ein mit Stroh und zwei groben Wolldecken ausgelegter Verschlag, aber das störte den jungen Eläer nicht. Der kleine, niedrige Raum hatte feste Wände, was in diesem Haus schon viel war, und lag zu ebener Erde am Innenhof, so dass Jason seine Tiere beaufsichtigen konnte. Was hätte er sich mehr wünschen sollen?

Als die Sonne nicht mehr zu sehen war und alle Gebäude lange Schatten warfen, die bald zum riesigen Schatten der Nacht verschmelzen würden, brachte Agis dem Hirten eine Schale mit Gerstenbrei. Jason aß in Ruhe und schlüpfte dann zwischen die Decken.

Der Tag war lang und anstrengend gewesen. Trotzdem dauerte es eine Weile, bis er in den Schlaf sank. Er hörte überall in den Straßen das Lärmen: Gesang und Gegröle, Musik und Lachen. Ganz Elis schien sich in einen riesigen Festplatz verwandelt zu haben.