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Jemand musste Michal K. verleumdet oder denunziert haben. So beginnt die Novelle des Bissendorfer Autors Michael Thomsen, aber anders als in Kafkas Prozess wird in aller Klarheit das Schicksal der Polenhure Liesel Gnädig nachgezeichnet. Die treulose Ehefrau des Kriegsinvaliden Heinrich Gnädig soll mit dem polnischen Kriegsgefangenen Michal K. Rassenschande betrieben haben. Der Autor versucht einfühlsam, die Leiden dieser Frau ohne Gesicht im Zuge der Verhöre durch die Gestapo, der Hinrichtung des polnischen Kriegsgefangenen, den Aufenthalten in Gefängnis und Konzentrationslager und dem Behördenkrieg nach Kriegsende nachzuzeichnen. Vielleicht wäre das Leben dieses Springinsfelds im Rahmen eines anderen Zeitgeistes anders verlaufen?
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Seitenzahl: 94
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Vorwort
Die Personen
Festnahme
In Schlesien
Weltkriegsinvalide
Zwangsarbeiter
Verhör
Liesels Verhöre
Hinrichtung
In Ravensbrück
Rückkehr ins Dorf
Nach dem Krieg
Behördenkrieg
Danksagung
Von unserem Wohnzimmerfenster aus kann ich fast bis auf die Buche schauen, an der der polnische, kriegsgefangene Zwangsarbeiter Pawel Bryk 1941 von Bürgern der Gemeinde, in der ich wohne, infolge einer Denunziation von irregeleiteten Menschen unter Ägide der Nationalsozialisten erhängt wurde. Erst in den 2000-er Jahren wurde die Geschichte sukzessive vom Bissendorfer Heimatverein und von Schülerinnen des Graf-Stauffenberg-Gymnasiums in Osnabrück aufgearbeitet. 2011 wurde im Ortskern ein Mahnmal errichtet. Und bei meinen Recherchen zu dem Fall STOLPERTE ich über die Polenhure Karoline Marie Gräbig, geborene Hockemeyer (1900 – 1967).
Insbesondere die Aufzeichnungen von Manfred Staub und dessen Erinnerungen in einem Gespräch haben mich inspiriert, meine Gedanken in den Fall einfließen zu lassen und daraus eine Erzählung zu generieren. Die Novelle, die die Ereignisse jener Zeit nachzuzeichnen versucht, orientiert sich dabei besonders an einem Zeitgeist, dessen Fallstricke heute wieder aktueller scheinen als je zuvor. Rassismus und Nationalismus, sowie Verachtung für Andersartige und Fremde, geschmückt mit Hasskommentaren in sozialen Medien finden vermehrt Eingang in das Denken vieler Menschen. Gleichwohl fand ich darüber hinaus in der Recherche zum Fall wiederkehrende Muster hinsichtlich des Umgangs mit Informationen einerseits und den zugrundeliegenden und den Umgang prägenden, Werthaltungen andererseits.
Ich habe Namen geändert, belassen oder weggelassen und noch mehr habe ich mir erlaubt, ein hohes Maß dichterischer Freiheit um die Geschichten des jungen polnischen Zwangsarbeiters und der „Polenhure“ walten zu lassen, ohne auf die faktischen Eckdaten zu verzichten. Darüber hinaus habe ich mir erlaubt, einige Ausführungen und Redewendungen aus den Schriften von Manfred Staub1 und Sebastian Weitkamp2 fast wörtlich wiederzugeben, ohne sie als Zitat kenntlich zu machen. Auch dies sei der dichterischen Freiheit geschuldet und zugleich ein Lob auf deren Ausführungen.
Niemand weiß bis heute wirklich, und niemand hat es wohl je GEWUSST, wie die Beziehung der beiden Hauptdarsteller tatsächlich gewesen ist. Und für mich ist das aus heutiger Sicht auch völlig sekundär. Vielleicht ist es zu sexuellen Handlungen zwischen den beiden gekommen, aus damaliger Sicht wäre das in verschiedenerlei Hinsicht eine Sünde und ein Skandal zugleich gewesen. Wohl nicht ganz abwegig, aber es hätte vielleicht auch ganz anderes abgelaufen sein können. Eine andere Version der Geschichte wäre also genauso denkbar. Wollte ein Filmemacher die nachfolgende Novelle verfilmen, müsste er gezwungenermaßen auf Sexszenen verzichten, denn die hat auch damals niemand zu sehen bekommen. Vielleicht war Lina Gräbig wirklich ein Springinsfeld, der sich freier gebärdete und eigene Ansichten entgegen der offiziellen Moral ungeniert zum Besten gab, mit denen sie immer wieder aneckte. Ihre kaum zu bändigende Art und Unbekümmertheit mögen den einen angezogen, den anderen abgestoßen haben. In jedem Fall aber gereichte es ihr zum Schaden. Vielleicht gab es mit ihrem Ehemann eine gewisse Übereinkunft hinsichtlich dessen, was Lina sich erlauben durfte. Ihr Ehemann hat jedenfalls bis zum Tod zu seiner Lina gestanden.
Die Schrecken, die die Hinrichtung Pawel Bryks im Dorf hinterlassen haben, dauern noch bis heute an. Das Leid der „Polenhure“ blieb dabei im Gegensatz zu Pawel Bryks Schicksal weitestgehend verdrängt und im Dunkeln. Sie hatte Demütigung, Gefängnis, Krieg und Konzentrationslager überstanden, Sohn und Ehemann verloren und lebte in den letzten Jahren unauffällig und zurückgezogen. Lina Gräbig blieb auch wegen der Vernichtung von Akten und Fotos durch die 1945 fliehenden Nazis im Nachhinein eine Frau ohne Gesicht, deren Leiden nicht erkannt wurde.
Ich will versuchen, ein mögliches Bild dieser Frau zu zeichnen, ihr ein Gesicht geben und Mut beweisen, sie als Liesel in einem neuen Licht dastehen zu lassen.
Bissendorf, im September 2024
Michael Thomsen
1 Manfred Staub, in: de Bistruper, Hefte 13, 18, 28, 29, 31
2 Sebastian Weitkamp: „Polenhure“ – Lina Gräbig, Bissendorf und eine nicht gezahlte Entschädigung, in: Osnabrücker Mitteilungen 2012, Band 117, S. 159 - 172
Michal K. (1915 – 1941) Marek K. (Vater von Michal) Olga (Stiefmutter von Michal) Liesel Gnädig (1900 – 1961?) Johann Gnädig (1925 – 1944) Heinrich (Heinz) Gnädig (1899 – 1944) Bauer Reitholt Bäuerin Reitholt Dürrer Polizist Klobiger Polizist Zimmermeister Wolpermann Bürgermeister SS-Mann Dorfpolizist Friedrich Kicker Gestapo-Leute Bauernführer Meyer Ortsbürgermeister Breitner Heinrich Kirchner Pensionierter Polizist (Liesels Mieter)
Jemand musste Michal K. verleumdet oder denunziert haben, denn ohne, dass er sich zunächst irgendeines Vergehens bewusst werden konnte, wurde er eines Morgens im Februar 1941 festgenommen. Die Bäuerin hatte ihn noch nicht zum Frühstück gerufen und überhaupt war es still im alten Heuerhaus. Gerade wollte er nachsehen, was Ursache dieser merkwürdigen Stille auf dem Hof sei, da hörte er am Geräusch von Stiefeln auf den knarzenden Treppenstufen, wie jemand zu seiner Knechtskammer heraufkam und schließlich an die Kammertür klopfte.
Michal hatte sich rasch seine dicke Winterjacke übergeworfen und wollte die Tür öffnen, als diese plötzlich und ruckartig aufsprang und so heftig mit der Klinke an die Zimmerwand stieß, dass etwas Putz von dort auf die Bodendielen rieselte. Michal erschrak über die Heftigkeit dieser Aktion, dass er abrupt stehen blieb und zunächst auf die Krümel auf den Dielen herunterblickte und dann den Kopf hob, um zu schauen, wer da so rabiat und ohne Aufforderung seine Kammer zu betreten gedachte.
Zwei schwarzdunkelgrau uniformierte Herren in dicken Wintermänteln, einer breit und klobig, dahinter der andere, dürr in einer viel zu weiten Jacke, standen auf dem obersten Absatz der nach unten zur Tenne führenden Stiege und entboten den Führergruß.
„Mitkommen!“ brüllte ihn der Klobige an.
Ohne zurückzugrüßen, blieb Michal K. wie versteinert stehen und sah erst dem Dürren auf seinen quadratischen Oberlippenbart und dann dem Klotz mit fragendem Blick unter die Augenbrauen.
„Wird´s bald! Der Boss wartet nicht ewig. Abmarsch!“ schrie der Dürre nun mit heiserer Stimme in den Raum hinein, als sei noch jemand hinter Michal im Zimmer, was Michal bewog, sich nach hinten umzusehen.
Das wiederum schien dem Klobigen Anlass genug, seine schwarzen Stiefel in die Kammer zu setzen und Michals rechten Arm zu packen und zu sich zu ziehen, derweil der Dürre sogleich hinterhereilte, um sich des linken Armes zu bemächtigen. Dabei stieß er an einen schräg verlaufenden Dachbalken, verlor zudem seine Mütze und schrie einen kurzen Schmerzenslaut aus.
Die Kammer war klein, es gab nur das Bett, einen Schrank, einen Stuhl und einen kleinen Tisch mit einer Waschschale darauf. Über dem Stuhl hing ein Handtuch. Das Kämmerlein wurde durch eine kleine Luke recht spärlich mit dem Licht der aufgehenden Ost-Sonne bedacht. Noch immer lag Schnee draußen auf Hof und Feldern, der den Lichtschein der morgendlichen Sonne noch verstärkte. Der Dürre hatte kurz den Griff gelockert und sich nach seiner Mütze gebückt, während der Klobige nun mit einer Handschelle hantierte und bereits eine Fessel arretiert hatte. Michal wurde nun mit dem Oberkörper etwas nach unten gedrückt, so dass der Dürre dem Klobigen den linken Arm zuschob, um die zweite Fessel anbringen zu können.
„Warum?“ fragte Michal.
„Das weißt du wohl selbst am besten,“ bellte der Stämmige und stieß ihn zur Tür.
Da die Stiege sehr steil war und nur schmale Trittflächen hatte, die ein Hinuntersteigen in Blickrichtung, also nach vorne gerichtet, kaum zuließ, umkurvte nun der Dürre die beiden und stieg rückwärts hinunter, während der andere Michal herumdrehte und an den Schultern hielt, damit er nicht auf den Dürren fiel, der seine rechte Hand nach oben an Michals Gesäß geführt hatte, da Michal wegen der gefesselten Hände sich nicht an den Tritten festhalten konnte.
Unten angekommen und mittlerweile leichenblass, schaute Michal sich mit rätselndem Blick auf der Tenne um. Niemand war zu sehen, der Frühstückstisch war verwaist. Im offenen Kamin glimmte noch das Herdfeuer unter dem Kessel und warf abwechselnd ein flackerndes Licht und Schatten an die Wände. Als er über die Schwelle des Heuerhauses nach draußen trat, sah er im blendenden Sonnenlicht mehrere Personen, die das Geschehen neugierig verfolgten. Er konnte nicht erkennen, wie viele Personen sich da trotz der Kälte eingefunden hatten. Aber er erkannte, wie der Bauer und der Knecht schweigend dastanden, während die Bäuerin mit einer Nachbarin tuschelte.
Michal schaute der Bäuerin ins Gesicht und wollte gerade etwas sagen, da drehte sie sich weg und wandte sich wieder der Nachbarin zu, die mit aufgerissenen Augen in Michals Richtung glotzte. Auch Liesel und ihr Sohn Johann standen bei den Leuten. Johann mit düsterer Mine und tief ins Gesicht gezogener Mütze wirkte steif, fast wie apathisch und verfolgte das Geschehen mit leicht offenem, staunendem Mund. Liesel machte er etwas hinter der Bäuerin, versteckt unter den Leuten, aus. Sie war aschfahl im Gesicht und schnäuzte sich mit einem Taschentuch die Nase. Ob sie weinte? Michal konnte es nicht erkennen.
Liesel war die Einzige unter dem Gesinde, die ihn bisher behandelt hatte, wie einen der ihren. Zwar behandelte der Bauer ihn im Großen und Ganzen und im Vergleich zu anderen Zwangsarbeitern gut, weil er zuverlässlich war und gut arbeitete, aber vor allem die älteren Männer und die meisten Frauen zeigten ihm immer wieder ihre harte Seite durch einen meist brüllenden Befehlston oder durch demonstratives Meiden. Die meisten Dorfbewohner blieben distanziert und nahmen nur selten Kontakt zu ihm auf. Meistens erhielt er Aufträge und Befehle vom Bauern oder vom Bürgermeister. Die Knechte und Mägde blieben stets ein paar Schritte von ihm weg. Waren Kinder in der Nähe, eilten sogleich größere Geschwister herbei, um sie fortzuführen. Das alles machte ihm nicht viel aus. Er war gut beschäftigt und arbeitete gern. Er genoss es, wenn ihm Dinge besser von der Hand gingen als anderen Burschen.
Zu den Mahlzeiten kam er an einen Nebentisch und musste warten, bis die Familie fertig gegessen hatte. Vom Fleisch blieb meist nicht viel übrig, er aß sich dann vor allem am Brot satt und trank viel Milch. Seine Aufgaben waren klar geregelt und meist arbeitete er für sich.
Gelegentlich dachte er auch an Flucht, aber der Weg nach Polen war weit und sie hätten ihn schnell wieder eingefangen und hart bestraft oder sofort erschossen. Er betete vor dem Essen auf Polnisch. So konnten die anderen nicht verstehen, dass er ein rasches Kriegsende wünschte. Zur Erntezeit konnte er sich in den Trupp der Erntehelfer einreihen. Da erlebte er die Menschen des Ortes und die Leute vom Hof in ihrer authentischen Ehrlichkeit und gelegentlich wurde er auch in gemeinsame Handlungen wie selbstverständlich mit einbezogen. Das tat gut. Und er stellte fest, dass das Leben hier im Dorf sich eigentlich kaum von dem unterschied, was er auch von seiner Heimat Polen her kannte und dort erlebt hatte.
Die anderen Zwangsarbeiter lebten wie er in den bäuerlichen Familien und pflegten meist ein enges Verhältnis, sie arbeiteten schließlich zusammen und aßen gemeinsam an einem Tisch. Aber es gab auch einzelne, die ihre Kriegsgefangenen behandelten wie Arbeitssklaven, ganz nach den allseits bekannten Vorschriften. Sie hatten sich zu verhalten, als hätten sie keinerlei Bedürfnisse und wurden ständig mit viel zu schweren Arbeiten angetrieben. Es gab bereits erste Todesfälle unter den Zwangsarbeitern, die völlig entkräftigt und hinsichtlich zu geringer Kalorienzufuhr rasch Opfer von der Auszehrung und Infekten mit Todesfolge wurden.