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Der Londoner Schriftsteller Simon King verbringt einen Wanderurlaub auf der Mittelmeer-Insel Korsika. Dort wird er unversehens Augenzeuge eines Mordes. Der Schwerverletzte flüstert ihm noch die Worte »Die goldene Nymphe...!« zu, bevor er dahinscheidet. Dies ist der Auftakt einer Abfolge von lebensgefährlichen Ereignissen, in der neben King eine Napoleon-Statue, eine elegante Schlossherrin und eine ebenso geheimnisvolle wie attraktive Frau die Hauptrollen spielen... DIE GOLDENE NYMPHE ist ein spannender Korsika-Krimi aus der Feder von Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien EIN FALL FÜR REMIGIUS JUNGBLUT, DIE UNHEIMLICHEN FÄLLE DES EDGAR WALLACE, FRIESLAND und der Frankenberg-Krimis um den Privatdetektiv Lafayette Bismarck.
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CHRISTIAN DÖRGE
Die goldene Nymphe
Roman
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
Der Autor
DIE GOLDENE NYMPHE
Die Hauptpersonen dieses Romans
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Copyright © 2023 by Christian Dörge/Signum-Verlag.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg
Umschlag: Copyright © by Christian Dörge.
Verlag:
Signum-Verlag
Winthirstraße 11
80639 München
www.signum-literatur.com
Der Londoner Schriftsteller Simon King verbringt einen Wanderurlaub auf der Mittelmeer-Insel Korsika. Dort wird er unversehens Augenzeuge eines Mordes. Der Schwerverletzte flüstert ihm noch die Worte »Die goldene Nymphe...!« zu, bevor er dahinscheidet.
Dies ist der Auftakt einer Abfolge von lebensgefährlichen Ereignissen, in der neben King eine Napoleon-Statue, eine elegante Schlossherrin und eine ebenso geheimnisvolle wie attraktive Frau die Hauptrollen spielen...
Die goldene Nymphe ist ein spannender Korsika-Krimi aus der FedervonChristian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien Ein Fall für Remigius Jungblut, Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, Friesland und der Frankenberg-Krimis um den Privatdetektiv Lafayette Bismarck.
Christian Dörge, Jahrgang 1969.
Schriftsteller, Dramatiker, Musiker, Theater-Schauspieler und -Regisseur.
Erste Veröffentlichungen 1988 und 1989: Phenomena (Roman), Opera (Texte).
Von 1989 bis 1993 Leiter der Theatergruppe Orphée-Dramatiques und Inszenierung
eigener Werke, u.a. Eine Selbstspiegelung des Poeten (1990), Das Testament des Orpheus (1990), Das Gefängnis (1992) und Hamlet-Monologe (2014).
1988 bis 2018: Diverse Veröffentlichungen in Anthologien und Literatur-Periodika.
Veröffentlichung der Textsammlungen Automatik (1991) sowie Gift und Lichter von Paris (beide 1993).
Seit 1992 erfolgreich als Komponist und Sänger seiner Projekte Syria und Borgia Disco sowie als Spoken Words-Artist im Rahmen zahlreicher Literatur-Vertonungen; Veröffentlichung von über 60 Alben, u.a. Ozymandias Of Egypt (1994), Marrakesh Night Market (1995), Antiphon (1996), A Gift From Culture (1996), Metroland (1999), Slow Night (2003), Sixties Alien Love Story (2010), American Gothic (2011), Flower Mercy Needle Chain (2011), Analog (2010), Apotheosis (2011), Tristana 9212 (2012), On Glass (2014), The Sound Of Snow (2015), American Life (2015), Cyberpunk (2016), Ghost Of A Bad Idea – The Very Best Of Christian Dörge (2017).
Rückkehr zur Literatur im Jahr 2013: Veröffentlichung der Theaterstücke Hamlet-Monologe und Macbeth-Monologe (beide 2015) und von Kopernikus 8818 – Eine Werkausgabe (2019), einer ersten umfangreichen Werkschau seiner experimentelleren Arbeiten.
2021 veröffentlicht Christian Dörge mehrere Kriminal-Romane und beginnt drei Roman-Serien: Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, Ein Fall für Remigius Jungblut und Friesland.
2023 erscheint sein neues Album Kafkaland.
Künstler-Homepage: www.christiandoerge.de
Simon King: ein Schriftsteller aus London.
Freya Armstrong: eine Touristinaus London.
Nigel Montgomery: ein Wirtschaftsspion.
Penelope Garland: eine vermeintliche Sozialfürsorgerin.
William Anderson: ein Reiseleiter.
Mademoiselle Isabella Bernardi: Herrin von Castello Valmartelli.
Dr. Theodor Berger: ein Arzt.
Maurice Laffargue: ein Tourist.
Chloé Fournier: ein Barmädchen.
Pierre Gancio: eine zwielichtige Gestalt.
Dieser Roman spielt im Jahre 1970 auf Korsika.
Sommerliche Wärme und strahlende Sonne. Unaufhörliches Zirpen der Zikaden. Dazu ständig der allgegenwärtige Duft Korsikas – Thymian, Myrte und Lavendel, der Geruch der warmen Macchia, des Mischwaldes. Weißer Sand und grünes Wasser.
Hier unter den Pinien war es schattig und verhältnismäßig kühl, aber nur wenige Schritte von den Bäumen entfernt flimmerte der verlassene Strand im grellen Licht. Links von Simon King, am diesseitigen Ende des Küstenstreifens, reichte ein Streifen roter, schroffer Felsen bis hinunter ans Wasser. Zu seiner Rechten, am entfernten Ende der kleinen, leeren Bucht, zog sich eine tiefblaue Zunge tieferen Wassers bis an die niedrigen Klippen hin. Mit ihrem Bewuchs von Aloe und Feigendistel bildeten diese eine eindrucksvolle dunkle Silhouette vor den dahinterliegenden Bergen, die in unwahrscheinlichen Violett- und Amethystfarben strahlten, und vor dem fernen Himmel.
King überlegte, ob er zum Café an der Straße zurückkehren oder durch die Wälder und über die Hügel zum nächsten Dorf weitergehen sollte. Falls seine Karte stimmte, würde er dort so etwas Ähnliches wie eine Kneipe oder ein Albergo finden und höchstwahrscheinlich freundlicher aufgenommen werden als in dem Café. Dieses Café... war eine düstere, unfreundliche Bude mit einer einigermaßen korpulenten Frau als Wirtin. Sie hatte sich mürrisch und desinteressiert gezeigt, als er ein Glas Bier bestellt hatte. Und jetzt war es erst halb zwölf. Er hatte also genügend Zeit zum Überlegen. Er lag da, sah auf den Strand hinaus, und aus seiner Pfeife kräuselte sich bedächtig der Rauch. In einem Sonnenstrahl leuchtete er blau auf.
Zunächst hatte er geglaubt, hier allein zu sein. Doch nun bemerkte er, dass noch eine junge Frau anwesend war. Anscheinend nahm sie auf einem schmalen Felsband über dem tiefen Wasser drüben bei den Klippen ein Sonnenbad. Während er hinübersah, bewegte sie sich plötzlich und hob etwas an die Augen. Es blitzte kurz auf. Sie beobachtete durch einen Feldstecher die Felsen am diesseitigen Ende der Bucht. Automatisch drehte er sich um und sah in dieselbe Richtung. Er musste die Augen wegen des hellen Lichts zusammenkneifen.
Schlagartig wurde es auf dem Strandstück lebendig. Eine dunkle Gestalt tauchte auf der Kante des Felsrückens auf, kletterte herunter und ließ sich das letzte Stück ungeschickt herabfallen. Dann rannte sie dicht am Strand entlang in möglichst gerader Linie auf den nächsten Baum zu.
Es war ein Mann, der einen gar nicht hierher passenden hellgrauen Geschäftsanzug trug. Er keuchte und quälte sich ab und hielt einen dunklen Gegenstand in der Hand. Keuchend kam er auf King zu. Sand wirbelte von seinen Absätzen auf. Er war noch etwa fünfzig Meter entfernt, da schien er sich plötzlich darauf zu besinnen, dass er auf festem, nassem Sand rascher vorankommen würde. Er bog nach links ab und hielt sich ganz in der Nähe des Wassers. Die Luft flimmerte von der Hitze. Gegen den leuchtenden Hintergrund wirkte er wie eine körperlose, schwebende Fata Morgana.
Plötzlich zuckte der Mann zusammen und wurde nach links gerissen. Erst als er schon zusammenbrach, erreichte King der trockene, hallende Krach eines Schusses.
Simon King riss ungläubig die Augen auf. Er sah, wie sich der Mann halb auf die Knie erhob und wieder zusammenbrach. Dann rannte er selbst auf den Strand hinaus. Die plötzliche Hitze und Helligkeit hüllte ihn wie die Glut eines Ofens ein, aber weder zwischen den Felsen noch in der Nähe konnte er eine Bewegung feststellen. Nur der Mann schien ihn gesehen zu haben. Er hob einen Arm, und drüben bei den Klippen zischte etwas ins Wasser.
King kam sich bedroht und deckungslos vor. Er sah sich noch einmal nach den schützenden Bäumen um, dann drang ein dünner Schrei an sein Ohr, und er begann zu rennen. Der heiße Sand verlangsamte seine Schritte. Doch als er durch das seichte Wasser planschte, wurde sein Geist auf einmal kühl und hart.
Der Mann machte den jämmerlichen Eindruck von angetriebenem Strandgut. Sein eleganter Anzug wurde vom Wasser dunkel, und eine dünne, rötliche Wolke schwebte in diesem Wasser davon. Der Mann stützte sich auf seinen Arm, um den Kopf heben zu können. Er hatte ein gerötetes, etwas derbes Gesicht, sandfarbenes Haar und leuchtende, kalte Augen.
King sah zu den Felsen hinüber, ließ sich neben ihm nieder und fragte schweratmend: »Was ist geschehen?«
»Na, was denken Sie denn?«, ächzte der Mann. »Der Herr hat mich wie einen Baum gefällt.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Wer sind Sie?«
King starrte fassungslos die Einschusswunde unter der linken Schulter an und warf wieder einen Blick zurück zu den Felsen, dann stieß er hervor: »Wa-was zum Teufel... Kommen Sie, aufstehen. Sie brauchen einen Arzt. Und die Polizei.«
Der Mann hustete und flüsterte: »Einen Totengräber brauch’ ich, sonst nichts.« Als ihm King seinen Arm um die Schultern legte und ihn herumzudrehen versuchte, fluchte der andere mit versagender Stimme. »Verdammt, lassen Sie mich in Ruhe!«
»Herr im Himmel...!«, begann King.
»Hören Sie, mein Junge«, unterbrach ihn der Mann flüsternd. »Quatschen Sie nicht, sondern hören Sie genau zu... Peter Armstrong, Hotel Grande Bretagne, Calvi...« Seine Worte wurden immer undeutlicher. »Sagen Sie... weitermachen, was auch... passiert. Soll sie fangen... Schweinehunde. Und bloß weg von... Polizei. Weiß nicht, wer hier wer ist...« Er stieß ein verzweifeltes Lachen aus und murmelte: »Hätte... das... gedacht. Ich als reuiger... Totenbett...«
»Kommen Sie«, sagte King, wie man mit einem zugänglichen Betrunkenen redet. »Ich bring’ Sie den Strand hinauf. Unter die Bäume.«
Die blauen Augen öffneten sich und sahen ihn an. Sie wirkten jetzt sichtlich matter, aber irgendwie brachte der Mann noch ein schwaches Lächeln zustande. Er flüsterte: »Verdammter kleiner Held...« Dann hustete er wieder und bat: »Um Gottes willen... runterlassen...«
»Hören Sie«, drängte King. »Sie müssen es mir sagen: Wer hat das getan? Wer war’s?«
»Verschwinden Sie!«, sagte der Mann ächzend. Dann wisperte er: »Verdammter kleiner Bastard... Hat ein Gewehr... Sein Name...« Er hustete wieder und sagte deutlich: »Das ist mein Schicksal.« Seine Augen schlossen sich. Er flüsterte noch: »Die goldene Nymphe...« dann stieß er einen seltsamen Ton aus, der wie ein langer, rasselnder Seufzer klang. Sein Kopf sank schwer gegen Kings Arm.
Gleichzeitig nahm King platschende Schritte wahr, die rasch näher kamen. Er drehte sich um und erblickte ein Paar brauner, fester Beine. Im ersten Augenblick glaubte er, das Mädchen sei nackt, dann erst bemerkte er den winzigen Bikini, der von seinem Erfinder nicht zum Baden bestimmt war. Sein erstaunter Blick wanderte an dem tropfnassen Körper empor zu einem breiten Mund, graugrünen Augen und einem feuerroten Haarschopf. Ihr Atem ging ein wenig rascher als normal.
Er starrte sie einen Augenblick lang an, dann stellte er nüchtern fest: »Er ist tot.«
Sie sah an ihm vorbei auf den Toten und gab keine Antwort. King ließ ihn in den Sand sinken und richtete sich auf. Wieder hatte er das verrückte Zirpen der Zikaden im Ohr, und er spürte den heißen Macchia-Duft.
»Lassen Sie mal sehen«, sagte sie dann, schob ihn ungeduldig beiseite, kniete nieder und tastete nach dem Handgelenk des Toten. King sah ihr zu und kam sich überflüssig und nutzlos vor. Erst jetzt bemerkte er den weißen Strohhut, der auf dem Wasser schwamm, und den dunklen Gegenstand, den der Mann vorhin in der Hand gehalten hatte. Der Hut wurde auf ihn zugetrieben. Auf dem Schweißband stand mit eleganten Goldbuchstaben eingeprägt: Lantapopoulis, Beirut. Der dunkle Gegenstand entpuppte sich als eine kleine Holzstatue, die Napoleon Bonaparte in seiner unverwechselbaren Pose darstellte. Sie war offenbar aus Pinienholz geschnitzt und knapp einen halben Meter groß.
Das Mädchen richtete sich auf und sagte: »Ja, er ist tot. Hat er...?« Sie brach mitten in der Frage ab und starrte King an. Sie hatte Angst, dessen war er sicher, und der Schreck steckte ihr in den Gliedern. Auch Wut war dabei. Doch trotz dieser Verfassung verriet sie sich nicht, sie beherrschte sich. Für eine Sekunde überfiel ihn die unangenehme Erkenntnis, dass sie sich, auch wenn sie praktisch nackt war, hier viel sicherer bewegte als er in seinem ausgeblichenen blauen Hemd und den durchnässten Hosen. Ihr goldbrauner Körper stach von dem schimmernden Wasser ab. Und der hübsche Kopf mit dem leuchtenden Haar...
Er starrte sie an, bis sie ihn fragte: »Wer sind Sie?«
»Ist das jetzt nicht völlig unwichtig? Wir sollten besser darüber nachdenken, was wir jetzt tun sollten Ihnen scheint nicht klar zu sein...«
Sie fiel ihm ins Wort: »Wir sollten ihn dort hinaufschaffen. Unter die Bäume.«
King nickte und sah über die Schulter zu den Bäumen hinüber. Soweit er erkennen konnte, rührte sich dort immer noch nichts. Er bückte sich zu den Schultern des Mannes hinab. Gemeinsam drehten sie ihn auf den Rücken. Um seine Lippen schwebte immer noch das spöttische Lächeln, und King hatte den Eindruck, als glitzerten seine Augen ironisch.
Das Mädchen flüsterte: »Mein Gott, ist der schwer...« King sah, wie sich ihre Muskeln in dem Bemühen anspannten, ihn hochzuheben.
In diesem Augenblick pfiff etwas an ihnen vorüber. Das Geräusch war schon fast verklungen, da hörten sie das trockene Knallen eines Schusses. Das Mädchen duckte sich und stolperte. Eine schreckliche Sekunde lang dachte King schon, sie sei ebenfalls getroffen. Er ließ die Leiche klatschend ins Wasser zurückfallen und rief: »Um Himmels willen...!« Aber da richtete sie sich schon wieder auf und er packte sie beim Handgelenk.
Zum zweiten Mal pfiff etwas in der Nähe vorbei. Noch ehe sie den Schuss krachen hörten, zerrte er sie schon aus der Schusslinie.
»Augenblick!«, rief sie. Sie tat einen Schritt ins Wasser und griff nach einem Gegenstand, der darin schwamm. King sah sich um und bemerkte, dass sie den albernen holzgeschnitzten Napoleon in der Hand hielt.
»Sie sind verrückt!«, fuhr er sie an.
Sie wateten aus dem Wasser bis zu dem harten Sandstreifen und rannten weiter, bis ihnen der weiche, heiße Sand des Strandes unter den Füßen brannte. Aber der Unsichtbare hinter den Felsen schien zufrieden zu sein: Es folgten keine weiteren Schüsse.
Wenige Sekunden später erreichten sie den kühlen Schatten der Bäume und blieben einigermaßen außer Atem stehen.
Die fast unsichtbare Kleinigkeit, mit der das Mädchen bekleidet war, rutschte nach unten. Sie wurde plötzlich rot und zog sie mit einem Ruck wieder hoch. Aber King interessierte sich im Augenblick mehr für die geschnitzte Statuette in ihrer Hand.
»Was ist denn an dem Ding so wichtig?«, wollte er wissen.
Sie schüttelte nur den Kopf und warf das leuchtende Haar zurück. Dann sah sie hinaus zu der Stelle, wo am Strand der reglose Körper lag. Er wirkte aus der Entfernung wie ein dunkles, angetriebenes Meerestier, durch die Hitze wieder in eine Art von Trugbild verwandelt.
»Was hätten wir denn sonst tun sollen?«, fragte sie und sah dann King an. »Haben Sie irgendwas beobachtet?«
Er antwortete: »N-nichts. J-jedenfalls...« Meistens war sein Stottern nicht so ausgeprägt, sondern es machte sich nur als kleines Zögern bemerkbar. Dadurch wurde der leicht nachlässige Eindruck, den er erweckte, noch verstärkt. »Er rannte v-vor etwas davon, das war klar. Ein Mann m-mit einem leichten Karabiner, einem zwo-zwo, würde ich sagen. Vermutlich nicht mit Zielfernrohr. Dann...«
»Was machen Sie eigentlich hier?«, unterbrach sie ihn. Sie keuchte immer noch ein wenig. Ein paar glitzernde Wassertropfen liefen ihr über den Bauch. Sie wischte sie mit einer ungeduldigen Bewegung weg. »Und wer sind Sie?«, fragte sie erneut.
»Eigentlich sollte ich Ihnen diese Frage stellen«, konterte er. »Hören Sie, das ist doch albern. Wir müssen die Polizei und einen Arzt holen. Da oben ist ein Café.« Er ging an ihr vorbei auf den Fußpfad zu, der den Hügel hinaufführte. Als sie keine Anstalten machte, ihm zu folgen, drehte er sich um und rief über die Schulter: »Kommen Sie nun mit oder nicht?«
Zum ersten Mal kam die Andeutung eines Lächelns auf ihre Lippen. »In diesem Aufzug?«, fragte sie.
»Was macht das schon?«
»Sie haben Schuhe an«, sagte sie. »Gehen Sie voraus. Ich komme nach.«
Er sah sie eine Weile an, wie sie dastand und zu ihm aufblickte, dann lief er rasch weiter. Er stolperte ein paarmal über Pinienwurzeln, die unter Sand und Nadeln halb begraben waren. Hinter sich hörte er keinerlei Geräusch. Wieder drehte er sich um. Sein Verdacht bestätigte sich: Sie war bereits verschwunden. Weit auf der linken Seite, wo die Bäume am dichtesten standen, bewegte sich etwas parallel zum Küstenstreifen. Sonne glänzte auf brauner Haut, ihr brandrotes Haar leuchtete auf, dann war sie endgültig im grüngoldenen Schatten untergetaucht.
»He!«, rief er ihr nach. »Gehen Sie nicht wieder dort hinunter! Sie müssen verrückt sein, wenn Sie es dennoch tun!«
Er bekam keine Antwort. Seine laute Stimme brachte für einige Sekunden die Zikaden zum Verstummen. Es herrschte völlige Stille, die ihm plötzlich bedrohlich erschien. Dann murmelte er: »Wenn sie’s nicht anders haben will, diese dumme Gans!« und kletterte weiter. Sie gehörte zu dem Typ Frau, den er am wenigsten mochte, zu den befehlsgewohnten Frauen. »Und sie steckt bis an den Hals mit drin«, murmelte er vor sich hin. »Sie weiß genau, was hier los ist.« Seltsamerweise verstärkte der Gedanke, dass sie etwas wusste, das er eben nicht wusste, seine Abneigung gegen sie; er war nämlich auch beruflich an dieser Sache interessiert.
Dann trat er aus dem Schatten der Bäume wieder ins helle Sonnenlicht hinaus. Gelb und staubig lag es jetzt auf einem mit Macchia und Feigendisteln bewachsenen Hügel.
Das Café selbst war nichts weiter als ein langer, dunkler Schuppen. Auf einer Art von Terrasse standen ein paar Eisentische, Getränkereklamen hingen an den Wänden, und davor führte eine verlassene Straße vorbei, die nach einer Abzweigung von der Hauptstraße aussah. Die Straße war ebenso leer wie vorhin, als er das erste Mal vorbeigekommen war – erschrocken stellte er fest, dass das erst vor einer halben Stunde war –, und die dicke Frau saß immer noch gleichgültig strickend im Schatten. Er konnte sich diese Frau vorstellen, wie sie eine Trikolore in Händen hielt und unter einer Guillotine saß.
In seiner etwas zögernden Art sprach er sie an: »M-Ma- dame... Verzeihen Sie die Störung, aber wo ist Ihr Telefon?« Sie betrachtete seine nassgewordene Hose und das feuchte Hemd, dann schüttelte sie langsam den Kopf und strickte weiter. Er setzte noch einmal an: »Das Telefon. Es hat einen Unfall gegeben – unten, am Strand. Ein Mann wurde... wurde erschossen.«
»Erschossen?«, wiederholte, sie. »Kommt vor. Sie hätten nicht da hinuntergehen sollen. Das ist Privatbesitz. Und ein Jagdgebiet.«
»Wir müssen die Polizei verständigen«, sagte er scharf. »Und einen Arzt.«
Sie wiederholte: »Die Polizei.« Aus ihrer tonlosen Stimme klang eine Andeutung von Verachtung. »Genau das versuche ich Ihnen gerade verständlich zu machen. Hier gibt’s kein Telefon. Das nächste ist in Bocca Seddia – drei Kilometer.«
King begann: »Aber das ist doch...«
In diesem Augenblick hörte er hinter sich das mahlende Geräusch von Autoreifen auf Schotter. Er rannte mitten auf die Straße hinaus. Ein weißer offener Sunbeam Alpine hielt vor dem Café. Eine Dame stieg gerade mit geschmeidigen Bewegungen aus. Diese Geschöpfe verfolgen mich heute geradezu!, dachte er ärgerlich. Aber diese hier schien wenigstens etwas menschlicher veranlagt zu sein als die beiden anderen. Sie trug ein teures grünes Leinenkleid, Schuhe mit flachen Absätzen, war älter als die Frau vorhin – vielleicht fünfunddreißig – und hatte ein blasses, ovales Gesicht mit warmen roten Lippen.
Er sagte: »M-Madame...«
In den violetten Augen blitzte es ein wenig auf. Ein leises Lächeln spielte um ihre Lippen. »Mademoiselle«, verbesserte sie freundlich. Ihre Stimme klang ein wenig rauchig; sie hatte einen eigenartigen Unterton.
Er fühlte sich in ihrer Gegenwart gleich viel wohler. Sie war ihm sympathisch, sie war eine Frau, mit der man reden konnte. Er sagte: »Wir brauchen die Polizei. Dort unten am Strand ist eine ziemlich unangenehme Sache passiert.«
Sie sah ihn eine Weile an und fragte dann: »Ein Unfall?«
»Ich würde es eher einen Mord nennen.«
Für einen Augenblick wurde es bis auf die Zikaden wurde es wieder sehr still,
»Was sagen Sie da?« Sie wirkte gar nicht schockiert oder erschrocken, sondern nur einfach ungläubig.
King berichtete rasch, in groben Zügen, was geschehen war. Sie sah ihn immer noch mit diesem leicht abschätzenden Blick an. Sie war eine große, sehr schlanke Frau mit einem intelligenten Gesicht.
Als er fertig war, meinte sie: »Völlig ausgeschlossen! Ein Mord – hier? Und noch dazu unter derart phantastischen Umständen?«
Die dicke Frau war aus ihrem Café getreten. Sie stand in der Tür, beobachtete die beiden und strickte dabei mechanisch weiter.
Die Mademoiselle sah zu ihr hinüber und rief: »Aurélie, wissen Sie etwas davon?«
King warf ein: »Sie muss die Schüsse gehört haben.«
»Hier wird ständig geschossen.« Aurélie sah die jüngere Frau an. »Das hab’ ich ihm schon zu erklären versucht. Dies hier ist Jagdgebiet.«
»Klar ist es das. Wir verlieren nur Zeit!«, fuhr King hoch. »Und der arme Teufel liegt da unten im Meer.«
»Und wo ist das Mädchen?«, verlangte die Mademoiselle zu wissen.
Er fuhr sich verlegen mit der Hand durchs Haar. »Ich habe keine Ahnung. Und es ist mir auch egal. Sie ist ganz einfach verschwunden. Genauso plötzlich, wie sie auftauchte.«
Aurélie winkte ab. »Ich für meinen Teil will damit nichts zu tun haben. Wenn da unten ein Toter liegt, dann sollten Sie die Gendarmen verständigen. Die sind bei solchen Sachen recht empfindlich.«
»Später vielleicht«, antwortete die Mademoiselle und überquerte mit entschlossenen Schritten die Terrasse.
»Wo wollen Sie hin?«, erkundigte sich King.
»Verzeihen Sie«, sagte sie. »Aber das alles ist so – so unwahrscheinlich. Das muss ich mir mit eigenen Augen ansehen.«
King lief ihr nach. »Sie können ohnehin nichts mehr für ihn tun.«
Aurélie bemerkte: »Falls er noch am Leben ist, sollten Sie hingehen. Ist er wirklich tot, macht es auch nichts, wenn’s ein bisschen länger dauert. Dann hat er genug Zeit.«
»Er ist wirklich tot«, erklärte King. »Herr im Himmel, das ist doch alles so einfach. Nehmen Sie mich doch bitte bis Bocca Seddia mit. Oder würden Sie selbst hinfahren und die Polizei verständigen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Erst muss ich ganz sicher sein. Aurélie hat recht. Falls der Mann vielleicht nur verletzt ist...«
»Ich gebe Ihnen mein Wort darauf...«, begann er, dann fluchte er leise vor sich hin, weil ihm einfiel, dass er seinen Rucksack hatte unter den Bäumen liegenlassen. Sie sah ihn fragend an. Er sagte: »Schön, ich bin unzuverlässig. Ich muss selbst noch einmal hinunter. Hab’ meine Sachen unten vergessen. Meinen Rucksack, alle Kleidungsstücke und die anderen Sachen.«
»Ihre Kleidung?«, fragte sie. »Es wird ja immer verwirrender.« Aber ihre weichen, vollen Lippen zeigten ein Lächeln. Sie fügte hinzu: »Dann können wir zusammen hinuntergehen. Es wird mir ein Vergnügen sein.«
»Vergessen Sie dabei nicht, dass dort ein Verrückter mit einem Gewehr herumläuft und auf jeden schießt, der nicht schnell genug Deckung findet.« Er führte sie eilig über die Terrasse, an der Hecke von Feigendisteln vorbei und den Hügel hinunter. Es war inzwischen nach zwölf Uhr. Die Sonne hatte ihren höchsten Stand erreicht, und der süße Macchia-Duft war überwältigend, aber die Frau stieg ebenso sicher über Steine und hartes, trockenes Gras wie er selbst. Einmal stützte sie sich für einen Augenblick auf seine Schulter. Er bildete sich ein, ein flüchtiges Streicheln ihrer Finger gefühlt zu haben. Er drehte sich zu ihr um. Sie beklagte sich freundlich: »Sie gehen mir viel zu schnell. Sie haben einen Schritt wie ein Bergsteiger.«
»Bringen wir’s hinter uns«, brummte er nur und kletterte weiter.
»Diese junge Frau«, hörte er sie hinter sich murmeln, »haben Sie es nach dem Namen gefragt?«
»Für eine formvollendete Vorstellung war leider keine Zeit.«
»Es war nur so ein Gedanke«, fuhr sie fort. »Aber diese Frau könnte für Sie noch von größter Wichtigkeit sein. Sie kennen unsere Polizei nicht.«
Als beide schon den smaragdenen Spiegel des Meeres durch die Bäume schimmern sahen, erreichten sie jene Stelle, wo Kings Rucksack und seine Pfeife auf dem Boden lagen. Draußen am Strand hatte sich die Hitzespiegelung etwas verlagert; jetzt schienen die Klippen auf der rechten Seite zitternd in der Luft zu schweben. Selbst wenn sich dort etwas bewegt hätte, es wäre von hier aus kaum zu erkennen gewesen.
Diesseits der Bucht lagen die Felsen klar und still da. Das Meer war glatt wie ein grünes Seidentuch, das fast keine Falten warf. Von der Leiche war nichts zu sehen. Und nichts deutete darauf hin, dass sie jemals existiert hatte.
King stand da und starrte ungläubig aufs Wasser hinaus. Er war derart perplex, dass er die Frau vergaß, bis diese schließlich flüsterte: »Ich sehe aber nichts.«
Er konnte den Blick nicht vom leeren Strand und dem schimmernden Wasser losreißen: »An dieser Stelle war es ungefähr, nur ein paar Meter vom Ufer entfernt. Und von hier bin ich hingelaufen und mit der Frau wieder zurückgekommen.«
»Irgendetwas ist hier seltsam«, beschloss sie leise.
Er fuhr zornig zu ihr herum. »Nichts ist daran seltsam! Es gibt nur eine einzige sinnvolle Erklärung: Der Mann, der ihn erschossen hat, kam her und hat den Toten verschwinden lassen, während ich oben im Café war. Die Zeit war dazu mehr als ausreichend.«
Sie nickte und ging an ihm vorbei. Der Sand war vollkommen glatt bis auf die Stelle, wo der Mann zu Boden gegangen war. Dort hatten auch er und das Mädchen den Sand zusätzlich aufgewühlt.
»Ohne eine Spur zu hinterlassen?«, zweifelte sie.
»Sie könnten ein Boot benutzt haben.«
»Vielleicht. Und die geheimnisvolle Frau?«
Er deutete mit einer Kopfbewegung hinüber zur Klippe, unter der das tiefere Wasser dunkler leuchtete. »Sehen Sie die Bucht da drüben? Sie muss herübergeschwommen sein, weil das schneller ging, als außenherum zu laufen. Ich glaube, sie hat ihn erwartet.«
Sie warf ihm einen Seitenblick zu und murmelte noch einmal: »Vielleicht.«
»Was liegt dort hinter den Felsen?«, fragte King. »Sie müssen sich hier doch auskennen.«
»Selbstverständlich kenne ich mich aus. Sehr gut sogar. Das Wasser dort drüben ist tief; ein Bootshaus und ein Privathafen liegen dahinter. Und ein Motorboot... Aber nun werden Sie vermutlich gleich mich beschuldigen, denn zufälligerweise gehört dieser Grund und Boden nämlich mir.« Als er sie fassungslos anstarrte und nur blinzeln konnte, lachte sie. »Klingt das so unglaublich? Sagen sie – ist das alles tatsächlich geschehen oder haben Sie sich das nur eingebildet?«
»Das frage ich mich allmählich selbst. Verd-dammt!«, fügte er zornig hinzu. »Ich laufe doch nicht durch die Gegend und sehe Gespenster. Jedenfalls nicht solche.« Er lachte sie plötzlich an. »Es liegt nicht an der Hitze, und außerdem bin ich geistig gesund und stocknüchtern. Das Land gehört also Ihnen...«
»Das behauptet zumindest mein Verwalter. Und der muss es wissen.«
»Dann brauchen Sie hier niemanden um Erlaubnis zu fragen. Sollten wir uns nicht ein wenig umsehen?«
Sie blickte ihn ernst an und legte ihm die Hand auf den Arm. »Sie sind entweder außergewöhnlich tapfer oder ein großer Narr – vielleicht auch beides. Was mich betrifft, so werde ich mich hüten, mich in einen korsischen Streit einzumischen.«
»Glauben Sie, dass es nur darum geht?«
»Um was denn sonst? In diesem Fall handelt es sich um eine reine Privatangelegenheit, und wir können nichts unternehmen. Außerdem ist es hier unten unerträglich heiß. Gehen wir?«
Seltsamerweise schien sie es jetzt sehr eilig zu haben. Sie wandte sich ab und ging, ohne abzuwarten, ob King ihr folgte. Mit einem letzten Blick auf den leeren Strand nahm er seinen kleinen, leichten Rucksack in die Armbeuge und folgte ihr. Er hatte das sichere Gefühl, dass es hier weitaus mehr zu sehen gab, wenn er nur Zeit dazu gehabt hätte.
Diesmal ging sie voran. Ihr schlanker, überraschend jugendlicher Körper bewegte sich mühelos in dem blassgrünen Kleid.