5,99 €
Augsburg im Jahre 1965. Eine kalte Nebelnacht im November. Durch den Nebel schimmern die Lichter des Hauses der Familie Waldstätten - scheinbar friedlich, in tiefes Schweigen gehüllt. Doch in dieser Nacht geschieht in diesem Haus am Hunoldsgraben ein brutaler Mord - und jeder aus der Familie scheint als Täter in Frage zu kommen. Wirklich jeder? Inspektor Aumüller, ein Freund der Familie, wird an den Tatort gerufen. Und noch während er fieberhaft ermittelt, schlägt der Mörder - oder die Mörderin? - ein zweites Mal zu... AUGSBURG IM NEBEL von Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien JACK KANDLBINDER ERMITTELT, EIN FALL FÜR REMIGIUS JUNGBLUT, DIE UNHEIMLICHEN FÄLLE DES EDGAR WALLACE und FRIESLAND, ist ein spannender Whodunit-Regionalkrimi aus Bayrisch-Schwaben.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
CHRISTIAN DÖRGE
AUGSBURG IM NEBEL
Roman
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
Der Autor
AUGSBURG IM NEBEL
Die Hauptpersonen dieses Romans
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Copyright © 2023 by Christian Dörge/Signum-Verlag.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg
Cover: Copyright © by Zasu Menil.
Verlag:
Signum-Verlag
Winthirstraße 11
80639 München
www.signum-literatur.com
Augsburg im Jahre 1965.
Eine kalte Nebelnacht im November. Durch den Nebel schimmern die Lichter des Hauses der Familie Waldstätten - scheinbar friedlich, in tiefes Schweigen gehüllt.
Doch in dieser Nacht geschieht in diesem Haus am Hunoldsgraben ein brutaler Mord - und jeder aus der Familie scheint als Täter in Frage zu kommen.
Wirklich jeder?
Inspektor Aumüller, ein Freund der Familie, wird an den Tatort gerufen. Und noch während er fieberhaft ermittelt, schlägt der Mörder - oder die Mörderin? - ein zweites Mal zu...
Augsburg im Nebel von Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien Jack Kandlbinder ermittelt, Ein Fall für Remigius Jungblut, Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace und Friesland, ist ein spannender Whodunit-Regionalkrimi aus Bayrisch-Schwaben.
Christian Dörge, Jahrgang 1969.
Schriftsteller, Dramatiker, Musiker, Theater-Schauspieler und -Regisseur.
Erste Veröffentlichungen 1988 und 1989: Phenomena (Roman), Opera (Texte).
Von 1989 bis 1993 Leiter der Theatergruppe Orphée-Dramatiques und Inszenierung
eigener Werke, u.a. Eine Selbstspiegelung des Poeten (1990), Das Testament des Orpheus (1990), Das Gefängnis (1992) und Hamlet-Monologe (2014).
1988 bis 2018: Diverse Veröffentlichungen in Anthologien und Literatur-Periodika.
Veröffentlichung der Textsammlungen Automatik (1991) sowie Gift und Lichter von Paris (beide 1993).
Seit 1992 erfolgreich als Komponist und Sänger seiner Projekte Syria und Borgia Disco sowie als Spoken Words-Artist im Rahmen zahlreicher Literatur-Vertonungen; Veröffentlichung von über 60 Alben, u.a. Ozymandias Of Egypt (1994), Marrakesh Night Market (1995), Antiphon (1996), A Gift From Culture (1996), Metroland (1999), Slow Night (2003), Sixties Alien Love Story (2010), American Gothic (2011), Flower Mercy Needle Chain (2011), Analog (2010), Apotheosis (2011), Tristana 9212 (2012), On Glass (2014), The Sound Of Snow (2015), American Life (2015), Cyberpunk (2016).
Rückkehr zur Literatur im Jahr 2013: Veröffentlichung der Theaterstücke Hamlet-Monologe und Macbeth-Monologe (beide 2015) und von Kopernikus 8818 – Eine Werkausgabe (2019), einer ersten umfangreichen Werkschau seiner experimentelleren Arbeiten.
2021 veröffentlicht Christian Dörge mehrere Kriminal-Romane und beginnt drei Roman-Serien: Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, Ein Fall für Remigius Jungblut und Friesland.
2023 erscheinen seine neuen Alben Kafkaland und Lycia, sich entfernen.
Künstler-Homepage: www.christiandoerge.de
Dr. Thomas Waldstätten: ein Arzt mit eigener Praxis.
Matilda Waldstätten: seine Frau.
Rosie Waldstätten: seine Schwester.
Anneliese Waldstätten: seine Großmutter.
Raoul Lefebre: ein belgischer Geschäftsmann.
Dr. Leopold Dornheck: Arzt, Partner ist der Waldstätten-Praxis.
Franz Leichtweiß: ein junger Mann.
Inspektor Balthasar Aumüller: ein Polizeibeamter.
Inspektor Anton Kronberg: ein Polizeibeamter.
Alois Jennerwein: Pathologe.
Gregor Millinger: Strafverteidiger.
Wilhelm Brennwaldt: Staatsanwalt.
Dieser Roman spielt im Jahre 1965 in Augsburg.
Der dichte Nebel legte sich wie eine nasse, graue Decke auf die Windschutzscheibe. Es dauerte eine Ewigkeit, bis Leopold von seinem Erkundungsgang zurückkehrte und mit seinem gelben Waschlederhandschuh an ihre Scheibe klopfte. Rosie kurbelte das Fenster herunter und steckte ihren hübschen Kopf heraus. »Glück gehabt?«
»Ja. Wir sind in der Pfladergasse und nicht in der Sterngasse.« Er ließ seine Taschenlampe auf blitzen und beleuchtete das Straßenschild ganz in der Nähe. Dann verschwand er in der grauen Waschküche, ging um die Rückseite des Wagens herum und setzte sich ans Steuer. Beruhigend klopfte er ihr aufs Knie. »Dauert nicht mehr lange, Schätzchen. Keine Sorge, ich weiß genau, wo wir sind.«
»Das hast du schon einmal gesagt«, klagte sie.
»Ja, aber diesmal weiß ich’s wirklich. Nur stehen wir verkehrt herum. Ich muss also wenden.«
Geisterhaft kroch ein Bus vorbei, mit unheimlich leuchtenden Augen, gefolgt von weiteren Lichtern der Fahrzeuge, die sich in seinem Windschatten hielten. Leopold wendete mit unendlicher Vorsicht, dann folgten sie ein paar Minuten lang der Schlange und bogen schließlich dicht an der Bordsteinkante nach links ab. »Keine Sorge, Schatz, jetzt weiß ich’s wirklich.«
Rosie wurde ungeduldig. »Keine Sorge, sagst du, dabei sind wir schon stundenlang unterwegs.«
»Höchstens eine Viertelstunde, Rosie. Ich konnte wirklich nicht schneller fahren.«
»Nein, aber sich derart zu verirren...«
»Wenn ich doch nichts sehen kann.«
»Hätten wir nur vorher die Polizei angerufen«, murmelte sie.
»Ich weiß«, nickte er zerknirscht, »das ist meine Schuld, ich hätte daran denken sollen. Aber von mir zu euch fahre ich üblicherweise nur fünf Minuten, und da bin ich einfach in den Wagen gesprungen. Ich hatte ja keine Ahnung, dass der Nebel so dicht ist.«
Ihr junges Gesicht war bleich. Alle Muskeln in ihrem Körper waren gespannt. »Leopold – er wird doch nicht tot sein, oder?«
»Woher, zum Teufel, soll ich das wissen?« Er verlor nun auch die Geduld.
»Aber du bist doch Arzt, nicht wahr?«
Er beugte sich aus dem Fenster und behielt die Bordsteinkante im Auge. »Nur weil ich Arzt bin, kann ich doch aufgrund eines Telefongesprächs keine Diagnose stellen. Erzähl mir noch einmal, was geschehen ist.«
»Ich hab’s dir doch schon erzählt, Leopold. Das Telefon läutete. Ich dachte, es sei vielleicht ein Patient, deshalb hab’ ich abgehoben, wie ich es zu Hause für Thomas auch gemacht hätte. Dann sagte eine schrecklich krächzende Stimme: Kommen Sie schnell! Ich fragte: Wer ist denn da?, und er antwortete: Sagen Sie dem Doktor, er soll schnell kommen. Jemand war hier und hat mich mit einem Schläfenbeinhammer niedergeschlagen. Dann fügte er noch hinzu: Ich sterbe. Ich war natürlich ganz durcheinander, glaubte aber immer noch, dass es sich um einen Patienten handelte, deshalb fragte ich: Sagen Sie mir bitte Ihre Adresse. Da gab er mir unsere eigene Adresse!«
»Bist du ganz sicher?«
»Es ist eigentlich anzunehmen, dass ich weiß, wo ich wohne«, sagte Rosie verdrossen.
»Und er sagte bestimmt Schläfenbeinhammer?«
»Wahrscheinlich hat Thomas einen herumliegen lassen, und der Einbrecher schlug den armen Raoul damit nieder. Wir haben noch eine Menge alter Instrumente.«
»Und du bist sicher, dass es dieser Raoul Lefebre war?«
»Die Stimme nannte jedenfalls unsere Adresse. Raoul war für heute Abend bei uns zum Essen eingeladen, und sonst konnte ja niemand mit ausländischem Akzent dort sein. Ach, Leopold, glaubst du, dass er wirklich stirbt? Seine Stimme klang so schrecklich schwach, und dann hörte ich noch einen Plumps, als hätte er den Hörer fallen lassen.«
»Wir sind gleich da«, stellte er fest. »Es dauert nicht mehr lange.«
Der kleine Wagen schlich wie eine wildernde Katze durch die im Nebel versunkene Stadt: Er war kaum zu sehen, nur die Augen leuchteten im dicken Grau. Der Mann in mittleren Jahren und sein sonst so vergnügtes, rundliches Gesicht wirkten angespannt und genauso grau wie der Nebel draußen. Das Mädchen klopfte sich mit den rundlichen Kinderfingern auf das nylonbestrumpfte Knie. Er hatte gelernt, Leben zu retten, aber er sagte sich, dass hinterhältige Verführer wie dieser Raoul Lefebre besser tot waren. Sie dachte in ihrer Aufregung an alle ihre Sünden und überlegte, ob es von ihrem Gesichtspunkt aus gut oder schlecht war, wenn sich der arme Raoul tatsächlich zu seinen Ahnen versammelt hatte. Sie überlegte auch, was er vorher vielleicht noch zu Matilda gesagt haben könnte.
Erst vor einer Woche hatte Rosie zu Matilda gesagt: »Ich muss dich etwas fragen, Tilda. Ich fürchte, ich stecke furchtbar in der Tinte. Es kann nämlich sein, dass ich ein Kind kriege.«
Tilda erstarrte. Mit einer Hand hielt sie Emma am Nachthemd fest. Der wurde es zu dumm, und sie streckte die Zunge heraus. Aber das war streng verboten und brachte wieder Leben in Tilda. Sie legte das Kind übers Knie, gab ihm einen Klaps auf das rosa Hinterteil und stieß dabei resigniert hervor: »Ach, Rosie!«
»Es hat keinen Zweck, sich darüber aufzuregen«, sagte Rosie. »Es ist nun einmal passiert.«
»Nimm das nicht so leicht«, entgegnete Matilda, stellte die gleichgültige Emma wieder aufrecht und verdarb ihren Erziehungsversuch durch doppelte Zärtlichkeit. »Ein uneheliches Kind ist kein Spaß. Besonders nicht im Alter von achtzehn Jahren.«
»Großer Gott, du glaubst doch nicht etwa, dass ich es bekommen will?«
»Was hast du denn vor?«
»Du liebe Zeit, da gibt es doch tausend Möglichkeiten. Alte Hexen in Hinterhöfen, aber ich kann ja auch zu Leopold gehen.«
Leopold war Thomas Waldstättens Partner in der Arztpraxis.
»So etwas... würde Leopold nie tun.«
»Vielleicht nicht für andere Leute, aber bestimmt für mich. Er ist doch furchtbar hinter mir her, nicht wahr?«
»Das schon. Gott steh ihm bei! Umso mehr ein Grund, dir unter diesen Umständen nicht zu helfen. Und was in aller Welt wird Thomas dazu sagen?«, fügte Tilda kläglich hinzu.
»Vielleicht braucht er gar nichts zu erfahren«, sagte Rosie rasch.
»Sei doch nicht albern, Kind. Wenn man mit einem Arzt unter einem Dach lebt...«
Rosie war Thomas’ Schwester, aber knapp halb so alt wie er. Während seiner Ausbildung war sie eine Belastung für ihn gewesen, aber da sie mit ihrem hübschen, runden Gesicht, den Bernsteinaugen und dem blonden Lockenschopf nicht viel alberner wirkte als andere Mädchen, hatte er sie mit einer Art idealistischer Leidenschaft großgezogen und in ihr, so sachlich er sonst war, ein Muster von Tugend und Charme gesehen. Matilda hatte in den zwölf Jahren ihrer Ehe verschiedentlich versucht, ihm klarzumachen, dass die Verbindung von so viel körperlicher Anziehungskraft, achtloser Großzügigkeit und Dummheit früher oder später Gefahren mit sich bringen musste. Aber Thomas war in Rosie vernarrt; er hatte zwar zugegeben, sie sei absolut idiotisch, wie übrigens alle Mädchen ihres Alters, aber im Gegensatz zu ihnen so treu wie Gold. Zu allem Überfluss hatte er sie in ein Internat in die Schweiz geschickt und sich immer noch darauf verlassen, Hut und Schuluniform würden sie schützen. Aber kaum war der Zug abgefahren, hatte sie schon das für Damen reservierte Abteil verlassen, um ihren ersten Flirt anzufangen. Trotz der freundlichen Hilfe und der Beaufsichtigung durch Matildas einstige Flamme Raoul Lefebre war Rosie aus Genf nun wieder in den Schoß der Familie zurückgekehrt.
Raoul Lefebre! Tilda deckte das schläfrige Baby zu, schaltete im Kinderzimmer den Gasofen aus, tastete sich durch den dunklen Raum und lächelte bei der Erinnerung an die schönen Abende unter den Bäumen vor der kleinen Wirtschaft in Carouge, nicht weit von Genf entfernt. Bei einem Krug Rotwein hatte Raoul ihr etwas von einem Plätzchen zugeflüstert, wo sie beide allein sein würden. Eh, Mathilde? Ah, Mathilde – dites oui! Tilda lächelte säuerlich. Und ich predige der armen, gefallenen Rosie Moral!
Rosie machte gar keinen gefallenen Eindruck, als sie sich im Schein des Kaminfeuers auf der schäbigen Couch in Thomas’ Büro zusammenringelte.
»Also erzähl schon, Rosie.«
Und schon wieder saß Matilda in Carouge unter den märchenhaften Bäumen, sie sah deutlich und klar den Tisch vor sich, weiße Brötchen auf einem weißen Tischtuch, daneben eine Karaffe Rotwein...
»Du kannst es natürlich nicht wissen, Matilda, aber in der Nähe von Genf gibt es ein kleines Lokal, das wir immer unsere Kneipe nannten. Dort war es schrecklich romantisch, und wir waren eben jung und dumm. Inzwischen habe ich mehr Erfahrung... Wir fuhren abends zum Essen oft hinaus, saßen unter den Bäumen und hielten Händchen. Du verstehst natürlich nicht, in welchen Zustand man gerät, wenn auf der ganzen Welt nichts anderes mehr existiert. Irgendjemand hatte ihm eine kleine Wohnung zur Verfügung gestellt, weil er nur ein Student war und keinen Sou besaß; man ging eine kleine, krumme Gasse den Berg hinauf, und dort oben war es geradezu himmlisch. Am Ende versuchte ich gar nicht mehr, brav zu sein, und wir waren Tag und Nacht beisammen und so verliebt, dass es einfach zu schön war, um wahr zu sein.«
»Und in der Schule hatte man nichts dagegen, Rosie?«
»Natürlich habe ich dort eine Menge Lügen erzählt und schließlich so getan, als seist du nach Genf gekommen, um nach mir zu sehen; ich habe mich für dich ausgegeben und Madame angerufen, dann sind wir fast gestorben vor Lachen, weil sie mir anvertraute, was für ein schreckliches Kind ich sei, und weil ich ihr natürlich zustimmte.«
»Warum, zum Teufel, hat mir diese Frau nie geschrieben?«, fauchte Matilda zornig.
»Ich sag’s dir ja: Sie glaubte, fast täglich mit dir per Telefon in Verbindung zu stehen, nur hattest du Grippe oder sonst etwas furchtbar Ansteckendes und konntest dich deshalb nicht mit ihr treffen. Natürlich warst du schrecklich rücksichtsvoll und hattest Angst, ich könnte die Infektion in die Schule tragen, deshalb musste ich zu Hause bleiben, und am Ende hat sie uns wahrscheinlich aufgegeben. Aber dann musste er nach Hause fahren, und es war ohnehin egal.«
»Wo war er denn zu Hause? Ich meine, wer ist dieser Mann überhaupt?«
»Reg dich nicht auf, Tilda, und glaub durchaus nicht, dass ich ihn heiraten kann. Seine Eltern sind Bauern irgendwo in den Bergen, und du glaubst doch nicht, dass ich wegen eines Kindes mein Leben auf einer Alm verbringe, oder?«
»Dann scheinst du dich also von deiner großen Leidenschaft wieder erholt zu haben?«, fragte Matilda trocken.
»Damals war’s mir ernst.« Rosie schien ein wenig beschämt. »Es war... es war einfach toll! Etwas so Großartiges kann natürlich nicht ewig dauern.«
»Genaugenommen nicht einmal drei Monate.«
»Wenn du mir so kommst, hätte ich es dir besser nicht erzählt. Ich hätte dich für aufgeschlossener gehalten, Tilda. Du bist es doch sonst.«
Matilda bemerkte, dass diese Zuversicht nur eine Maske war und dass Rosies Gesicht papierweiß wirkte. Wenn die jungen Leute nur nicht so verdammt hochnäsig wären, wenn sie schon an unser Mitleid appellieren! Sie betonte: »Du kannst mir sicher nicht vorwerfen, dass ich puritanisch bin, Rosie. Ich werde dir helfen, wo immer ich kann, denn erstens finde ich diese Sache schrecklich, und zweitens ist es zu gefährlich für alle Beteiligten, wenn etwas schief geht; drittens bin ich mit einem Arzt verheiratet, und du bist die Schwester eines Arztes, und es wäre einfach scheußlich für Thomas, wenn wir in eine solche Geschichte verwickelt würden. Alles andere...«
»Na ja, dann muss ich eben doch zu Leopold gehen«, murmelte Rosie.
Rosie sprach also mit Leopold. Er saß an seinem Schreibtisch in der Praxis seines Hauses und spielte unentwegt mit einem dunkelgrünen Bleistift. »Soll das heißen, Rosie, dass der Mann dich betrunken gemacht hat?«
»Er war ja so viel älter als ich, Leopold«, sagte Rosie schon zum vierten Mal. »Er führte mich in dieses wunderbare Restaurant, und ich weiß auch nicht... die Zitronenbäume blühten, verstehst du, alles duftete, es war eben die große, weite Welt, und ich wollte auch nicht so sein...« Sie sah ihn mitleidheischend an, eine gepflückte Blume, die offenbar selbst nicht wusste, wie ihr geschehen war. »Zu einem tollen Essen gab es hunderte verschiedene Weine...«
»Kann ich mir denken«, knurrte Leopold trocken.
»Ich weiß, es war albern von mir, Leopold, aber er war ja so viel älter als ich... Trotzdem sah er noch ganz gut aus und war natürlich schrecklich erfahren und das alles. Ich glaube, in Frankreich nennt man so etwas einen roue.«
»Möglich.«
»Und dann fragte er mich, ob ich nicht auf eine Tasse englischen Tee in seine Wohnung kommen wollte.«
»Was, keine alten Stiche?«
»Nein, seine Masche war englischer Tee«, antwortete Rosie schlicht. »Das ist in der Schweiz wahrscheinlich origineller. Er hatte eine wunderbare Wohnung mit Blick über die Bucht, weil er nämlich auch reich ist. Und dann... Ja, dann begann er zärtlich zu werden und mich zu streicheln, und ich kam mir ganz dumm und verschlafen vor. Wahrscheinlich fühlte ich mich irgendwie geschmeichelt...« Sie brach wieder in Tränen aus.
Er sah sie von der Seite an. Sein rundes, immer freundliches Gesicht schien sich plötzlich verändert zu haben, dachte sie, als sie ihn insgeheim durch die Tränen, die ihr sehr gut standen, beobachtete. Er hatte faltige Wangen und ein Doppelkinn. Dann wischte sie sich mit ihrem albernen, kleinen Seidentuch die Nase ab und hockte sich auf seine Stuhllehne. »Tu doch nicht so, Schatz, davon geht die Welt nicht unter.«
»Ich kann’s einfach nicht glauben, Rosie«, sagte er. »Nicht bei dir.«
»Das kommt daher, weil du mich immer noch für ein kleines Mädchen hältst.«
»Was du nicht sagst«, murmelte er. Er nahm ihre weiche Hand und drückte sie für eine Weile an seine Wange. Dann ließ er sie los, stand auf und sah zum Fenster hinaus. Nach einer Weile sagte er: »Rosie, es hat wohl keinen Zweck, wenn...« Er brach ab. »Nein, ich bin ein Narr.«
»Stimmt. Aber was wolltest du sagen?«
»Ich dachte, ich könnte dir vielleicht helfen, indem ich eine ehrbare Frau aus dir mache«, seufzte er. »Aber lass nur.« Er trat wieder auf sie zu, fasste sie unters Kinn und lächelte in ihre tränennassen Augen hinunter. »Ich denke, für eine solche Verzweiflungstat ist es noch zu früh. Wir werden es schon irgendwie schaffen. Ich werde alles in meinen Kräften stehende für dich tun.«
Trotzdem gab es offenbar eine Möglichkeit, die Leopold nie in den Sinn gekommen wäre. In dieser Hinsicht blieb er hart, und gerade deshalb war Rosie ja zu ihm gekommen.
»Warum eigentlich nicht, Leopold? Wegen des Risikos?«
»Aus ethischen Gründen. Aber das verstehst du wohl nie, mein kleiner Dummkopf, wie?«
»Aber auch bei mir nicht, Leopold?«
»Schlag dir das aus dem Kopf, Rosie. Ich tue wirklich alles für dich, nur das nicht. Wir suchen irgendwo ein Plätzchen für dich, und nachher kannst du das Baby zur Adoption freigeben.«
»Ich werde kein verdammtes Baby kriegen«, beharrte Rosie. »Dabei bleibe ich.«
»Rosie, in dieser Hinsicht kann ich dir nicht helfen. Dir schon gar nicht.«
»Aber Leopold...«
»Ein für alle Mal nein.«
»Na schön«, murmelte Rosie, »dann muss ich mir eben jemand anders suchen. Es gibt genug Leute, die das tun.«
»Aber kaum für junge Damen aus Medizinerkreisen, mein Schatz.«
»Für Geld... kann man alles haben.« Rosie warf den Kopf in den Nacken.
Rosie ging also zu Oma. »Ich muss dir etwas erzählen, Oma, aber sei bitte nicht schockiert.«
Frau Waldstätten war ebenso wie ihre angeheiratete Enkelin Matilda durch nichts zu erschüttern, es sei denn durch Grausamkeit oder vulgäre Worte. Sie war Anfang der 20er Jahre eine fröhliche, erfolgreiche Debütantin gewesen und langweilte sich jetzt in ihrem großen Zimmer im Haus ihres Enkels mit Blick auf den hübschen Garten.
Rosie hatte von ihrer Großmutter zwar nur ein Zehntel der Schönheit, aber viel von dem einstigen Charme geerbt. Eine strahlende Frische und Vitalität ging von ihr aus, eine herzliche Großzügigkeit, ohne die ihr rundliches Gesicht mit der Stupsnase und dem kleinen kirschförmigen Mund vielleicht albern gewirkt hätte. Sie ließ sich zu Füßen der älteren Frau nieder.
»Es ist schrecklich, Oma, aber ich weiß, dass du mir helfen wirst. Außer dir versteht mich sowieso niemand, aber du bist doch trotz deines Alters sehr aufgeschlossen, nicht wahr, Oma?«
»Wegen meines Alters«, korrigierte Frau Waldstätten. »Was gibt’s denn? Hast du jemanden kennengelernt?«
»Ja.«
»Einen Mann oder einen Herrn?«
Rosie wusste nicht so recht, was sie auf diese Frage antworten sollte. Frau Waldstätten war eine begeisterte Roman-Leserin und schwankte in ihrer Vorliebe öfter zwischen feinen Herren und Rohdiamanten. Rosie kramte in ihren Genfer Männerbekanntschaften; glücklicherweise gab es deren genug, und sie brauchte nichts zu erfinden, sie konnte aus dem Vollen schöpfen. Mit dem untrüglichen Instinkt der Dummheit wählte sie den geeigneten Kandidaten aus.
»Er war irgendwie stark, Oma, und die Männer aus dem Osten haben schließlich auch eine andere Vorstellung davon, wie man Frauen behandelt. Er hat mich gar nicht erst gefragt, ob ich will oder nicht, verstehst du? Ich war einfach hin und weg und konnte nichts dagegen machen, und wenn ein Mann so stark und so hinreißend ist, da will man auch nichts dagegen machen, nicht wahr? Er hatte ein Boot da und sagte einfach: Komm mit! Oder so ähnlich, weil er nicht sehr gut Deutsch sprach, und wir sind in den Mondschein hineingesegelt. Es ist furchtbar, aber ich glaube, ich bekomme ein Kind von ihm.«
»Dann muss er dich heiraten«, erklärte Frau Waldstätten sofort.
»Wie soll er denn?«, improvisierte Rosie. »Inzwischen ist er mit seinen Fischen längst unterwegs in den Osten. Außerdem hat er schon ein Mädchen in seiner Heimat. Ich dachte, du könntest mir vielleicht hundert Mark leihen, damit ich mir etwas besorge, Pillen oder so, das Zeug ist furchtbar teuer. Dann brauche ich das Baby gar nicht zu kriegen und...«
Aber nun setzte Frau Waldstättens kleiner Tick ein: Ein furchtbarer Sturm kam auf, und sie musste sofort alles aus dem Fenster werfen, was im Zimmer war. Die Nachbarn waren es inzwischen gewöhnt, dass von Zeit zu Zeit unzerbrechliche Dinge in den Garten oder die Einfahrt flogen, und bemerkten dann nur, Frau Waldstätten drehe mal wieder durch. Aber einige Spaziergänger blieben verblüfft stehen.
Rosie stürzte die Treppe hinunter, beruhigte die Leute und wusste doch, dass es nach einem Sturm, einem Großfeuer oder einem Erdbeben keinen Zweck mehr hatte, Großmutter noch einmal zu fragen.