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Venedig im Jahre 1975: In der Lagunenstadt taucht ein verschollenes, unbekanntes Werk von Michelangelo auf - und der Mafioso Ikarus Pasquale aus Rom bietet eine Million Dollar für die Skulptur. Dies ruft den Londoner Kunsthändler Seth Sartorius auf den Plan, denn er bezweifelt die Echtheit des Kunstwerkes - trotz mehrerer Gutachten, welche ausdrücklich das Gegenteil behaupten. Schließlich sind neben Sartorius und einer jungen venezianischen Bettlerin auch die Handlanger des Mafia-Bosses in die Sache verstrickt - und diese Handlanger gehen nötigenfalls über Leichen... SARTORIUS UND DER SCHLAF VON VENEDIG (die Fortsetzung des Romans SARTORIUS UND DER FLUCH VON VENEDIG) von Christian Dörge, Autor u. a. der München-Krimis um die Privatdetektive Jack Kandlbinder und Remigius Jungblut, ist ein überaus kunstsinniger und spannender Kriminalroman, welcher wie sein Vorgänger die venezianische Atmosphäre beinahe fühlbar einfängt.
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CHRISTIAN DÖRGE
SARTORIUS UND
DER SCHLAF VON VENEDIG
Roman
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
Der Autor
SARTORIUS UND DER SCHLAF VON VENEDIG
Die Hauptpersonen dieses Romans
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Copyright © 2023 by Christian Dörge/Signum-Verlag.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg
Cover: Copyright © by Christian Dörge.
Verlag:
Signum-Verlag
Winthirstraße 11
80639 München
www.signum-literatur.com
Venedig im Jahre 1975:
In der Lagunenstadt taucht ein verschollenes, unbekanntes Werk von Michelangelo auf - und der Mafioso Ikarus Pasquale aus Rom bietet eine Million Dollar für die Skulptur.
Dies ruft den Londoner Kunsthändler Seth Sartorius auf den Plan, denn er bezweifelt die Echtheit des Kunstwerkes - trotz mehrerer Gutachten, welche ausdrücklich das Gegenteil behaupten.
Schließlich sind neben Sartorius und einer jungen venezianischen Bettlerin auch die Handlanger des Mafia-Bosses in die Sache verstrickt - und diese Handlanger gehen nötigenfalls über Leichen...
Sartorius und der Schlaf von Venedig (die Fortsetzung des Romans Sartorius und der Fluch von Venedig) von Christian Dörge, Autor u. a. der München-Krimis um die Privatdetektive Jack Kandlbinder und Remigius Jungblut, ist ein überaus kunstsinniger und spannender Kriminalroman, welcher wie sein Vorgänger die venezianische Atmosphäre beinahe fühlbar einfängt.
Christian Dörge, Jahrgang 1969.
Schriftsteller, Dramatiker, Musiker, Theater-Schauspieler und -Regisseur.
Erste Veröffentlichungen 1988 und 1989: Phenomena (Roman), Opera (Texte).
Von 1989 bis 1993 Leiter der Theatergruppe Orphée-Dramatiques und Inszenierung
eigener Werke, u.a. Eine Selbstspiegelung des Poeten (1990), Das Testament des Orpheus (1990), Das Gefängnis (1992) und Hamlet-Monologe (2014).
1988 bis 2018: Diverse Veröffentlichungen in Anthologien und Literatur-Periodika.
Veröffentlichung der Textsammlungen Automatik (1991) sowie Gift und Lichter von Paris (beide 1993).
Seit 1992 erfolgreich als Komponist und Sänger seiner Projekte Syria und Borgia Disco sowie als Spoken Words-Artist im Rahmen zahlreicher Literatur-Vertonungen; Veröffentlichung von über 60 Alben, u.a. Ozymandias Of Egypt (1994), Marrakesh Night Market (1995), Antiphon (1996), A Gift From Culture (1996), Metroland (1999), Slow Night (2003), Sixties Alien Love Story (2010), American Gothic (2011), Flower Mercy Needle Chain (2011), Analog (2010), Apotheosis (2011), Tristana 9212 (2012), On Glass (2014), The Sound Of Snow (2015), American Life (2015), Cyberpunk (2016), Ghost Of A Bad Idea – The Very Best Of Christian Dörge (2017).
Rückkehr zur Literatur im Jahr 2013: Veröffentlichung der Theaterstücke Hamlet-Monologe und Macbeth-Monologe (beide 2015) und von Kopernikus 8818 – Eine Werkausgabe (2019), einer ersten umfangreichen Werkschau seiner experimentelleren Arbeiten.
2021 veröffentlicht Christian Dörge mehrere Kriminal-Romane und beginnt drei Roman-Serien: Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, Ein Fall für Remigius Jungblut und Friesland.
2023 erscheinen seine neuen Alben Kafkaland und Lycia, sich entfernen.
Künstler-Homepage: www.christiandoerge.de
Seth Sartorius: ein durchaus dubioser Kunsthändler aus London.
Isabella Pearce: Künstlerin.
Harriet St. John: ihre Tante.
Valentina Catarina: eine junge venezianische Bettlerin.
Arturo Santoro: venezianischer Gelehrter.
Salvatore Cassetti: Kunstagent.
Colonel Alistair Sterling: britischer Offizier a. D.
Ikarus Pasquale: ein zwielichtiger Geschäftsmann aus Rom.
Riccardo 'Ricci' Esposito und Alberto 'Berto' Marchetti: Pasquales Spießgesellen.
Francesco Benedetti: Kunstexperte.
Dieser Roman spielt im Jahr 1975 in Venedig und in Rom.
Salvatore Cassetti sagte schlicht: »Ich habe Angst.«
Es war still in dem kleinen Zimmer und schattig, trotz der Hitze und der strahlenden Helligkeit des Morgens. Die Bilder an den getäfelten Wänden glühten warm im grünlich schimmernden Licht, das durch das Fenster kam; grünlich wie das Wasser unten und leicht flirrend vom Gekräusel der Wellen, das sich im ewig gleichen, ständig bewegten Schattenspiel an der Decke spiegelte. Ganz gleich, wohin man in dieser verdammten Stadt geht, dachte Salvatore Cassetti, man sieht überall das Schattenspiel. Er hatte keinen Sinn dafür. Es war so ruhelos wie Venedig selbst, und es machte ihn nervös, so wie diese ganze Geschichte ihn nervös machte.
Die beiden Männer, die einander an dem antiken Schreibtisch gegenübersaßen, hätten ungleicher nicht sein können. Cassetti war klein und rundlich und sah ein wenig verschwitzt in seinem hellbraunen Sommeranzug aus; der andere war nur in Leinenhose und Seidenhemd gekleidet und wirkte dennoch steif und soldatisch, als sei er in Uniform. Cassettis rundes Gesicht hätte kindlich angemutet, wären nicht die berechnenden Augen gewesen und eine Spur zornigen Eigensinns um den Mund; Colonel Alistair Sterling, der zurückgelehnt in einem brokatbezogenen Sessel saß, war kühl, grau, wachsam. Ungeduldig beugte er sich vor und wiederholte: »Sie haben also Angst. Gut. Wovor?«
Cassettis Stimme klang trotzig. »Dem sind wir nicht gewachsen.«
»Ich schon«, berichtigte Sterling ruhig. »Sie vielleicht nicht. Ich finde das verwunderlich. Benedetti erklärte mir, niemand könnte den Verkauf des Cupido besser regeln als Sie.«
»Benedetti!« Es war beinahe ein Fluch. »Je älter Benedetti wird, desto boshafter wird er. Er will sich nur noch einen letzten Spaß machen, bevor er stirbt. Und sein Tod ist längst überfällig.«
»Benedetti erklärte sich nur unter der Bedingung einverstanden, dass Sie ein Drittel des Verkaufspreises erhalten, beim gegenwärtigen Stand der Dinge rund dreihundertdreißigtausend Dollar. Ich finde das keineswegs spaßig. Und auch nicht boshaft.«
»Es wird aber unheimlich spaßig, sollte auch ich sterben.« Cassetti beugte sich plötzlich vor und legte beide Hände mit den Innenflächen nach oben auf den Schreibtisch. »Beantworten Sie mir eine Frage, Colonel Sterling. Ikarus Pasquale gibt vor, eine Million Dollar zahlen zu wollen. Aber warum?« Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr er fort: »Pasquale ist ein Barbar, eine Bestie.« Er brach unvermittelt ab und fügte ruhiger hinzu: »Ich lasse mich auf eine Sache dieser Art niemals ein, ohne vorher sorgfältigste Nachforschungen anzustellen.«
»Das haben Sie schon einmal gesagt. Richtig, Pasquale hat einen miserablen Ruf. Aber ich bin überzeugt, dass sein Geld immer noch gut genug ist.«
»Pasquale ist ein Mörder«, betonte Cassetti und riss dramatisch die Augen auf, während er dachte, dass auch der Colonel ein Barbar war; alle Engländer waren Barbaren, mussten es sein, oder sie wären keine Engländer. »Ich sage es Ihnen noch einmal. Erpressung, Mord, Rauschgifthandel. Lieber Gott, das ist doch mehr als genug!«
Sterling seufzte. »Vor drei Jahren kam er selbst zu diesem Schluss. Er kehrte New York eiligst den Rücken und zog sich in weiser Voraussicht vom Geschäft zurück.«
Die feine Spur Ironie schien Cassetti in Rage zu bringen.
»Ziehen sich Leute seines Schlags denn jemals von ihren schmutzigen Geschäften zurück? Es ist richtig, dass er jetzt mit den zwei Männern, die ihm noch geblieben sind, in einer kleinen Villa bei Rom lebt. Aber das bedeutet doch noch lange nicht, dass er plötzlich zum Heiligen geworden ist.«
»Ich verstehe Sie nicht«, beschwerte sich Sterling. »Wenn Sie sich derart vor diesem Mann fürchten, warum sind Sie dann auf den Geschäftsvorschlag überhaupt eingegangen?«
Cassetti schlug mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte. »Weil ich keine Ahnung hatte. Der alte Benedetti rief mich in Mailand an. Er sagte mir lediglich, dass wir hier ein gutes Geschäft machen könnten; dass Sie den Cupido zu verkaufen wünschten und bereits einen Käufer hätten. Ich sollte nur den Abschluss tätigen und den bestmöglichen Preis herausschlagen. Ich wusste nicht, dass der Käufer Pasquale ist.«
Sterling blickte ihn ungerührt an.
»Ich zog also meine Erkundigungen ein«, fuhr Cassetti fort. »Pasquale ist etwas über zwei Millionen Dollar wert. Er stammt aus Sizilien. Er ist, so behauptet er jedenfalls, ein kranker Mann; und wie mir die Sekretärin seines Anwalts erzählte – die Frau kostete mich an einem Abend über zweihunderttausend Lire –, wird sein Geld nach seinem Tod dem Anwalt selbst und Pasquales beiden Laufburschen zufallen. Riccardo Esposito, ein Korse, und Alberto Marchetti, ebenfalls Sizilianer.« Wieder beugte sich Cassetti vor und ließ die Hand auf die Schreibtischplatte sausen. »Colonel Sterling, leuchtet es Ihnen vielleicht ein, dass ein Mensch dieses Schlages bereit sein soll, die Hälfte seines gesamten Vermögens für einen Kunstgegenstand auszugeben, eine Skulptur, die noch nicht einmal besonders groß ist?«
»Gewiss, es ist merkwürdig«, stimmte der Colonel zu.
»Merkwürdig?«, echote Cassetti. »Ein typisch englisches Understatement. Es ist völlig unglaubwürdig. Ich habe Erfahrung, Colonel. Sie werden sich erinnern, dass Pasquale zunächst zweihundertfünfzigtausend bot und dann auf fünfhunderttausend hinaufging. Damit hätten wir uns zufriedengeben sollen.« Er wies mit dem Zeigefinger anklagend auf Sterling. »Aber Sie verlangten, dass wir auf einer Million bestehen müssten, sogar, als er siebenfünfzig bot. Das war unvernünftig. Pasquale wird keine Million zahlen; er hat gar nicht die Absicht. Er wird sich den Cupido auf eigene Art beschaffen, und er wird weder vor Folter noch vor Mord zurückschrecken.«
Wie melodramatisch, dachte Sterling. Cassetti war nicht einmal persönlich an Pasquale herangetreten; sämtliche Verhandlungen hatten bisher brieflich oder telefonisch stattgefunden. Der kleine Mann hatte darauf bestanden, dass dies die beste und diskreteste Methode sei, solange sich die Verhandlungen noch im Anfangsstadium befanden, und Sterling hatte sich nicht die Mühe gemacht, einzugreifen.
»Jetzt verstehe ich den Grund für Ihre seltsamen Geschäftsmethoden«, stellte er ironisch fest. »Sie halten den Mann offenbar für Satan persönlich.«
»Wäre er Satan, lägen die Dinge wesentlich einfacher. Jeder Dorfpriester kann mit dem Teufel fertig werden; aber bei zwei Sizilianern und einem Korsen würden selbst dem Heiligen Vater Bedenken kommen.« Cassetti grinste humorlos. »Sehen wir die Dinge doch realistisch. Es wird der Zeitpunkt kommen, an dem ich den Cupido präsentieren muss. Und was geschieht dann?« Er fuhr sich mit dem Zeigefinger quer über den Hals und stieß zwischen zusammengepressten Lippen ein unangenehmes Geräusch hervor. »Kein Cupido, keine Million Dollar, kein Salvatore Cassetti mehr. Das sind Pasquales Methoden. Sie werden verstehen, dass ich gewisse Bedenken habe.« Er machte eine Pause und betrachtete Sterling nachdenklich. Dann fuhr er fort: »Es gibt aber eine andere Möglichkeit, völlig risikolos: Ich habe gehört, dass in Kürze ein Amerikaner, ein ausgesprochen sympathischer und kultivierter Mann, in Venedig eintreffen soll. Er ist der Kurator eines der größten amerikanischen Museen.«
»Das würde zu viel Aufsehen erregen. Ich will das Geschäft in aller Stille abschließen.«
»Wir können bei dreihunderttausend anfangen, und vielleicht könnte ich ihn dann bis vier- oder sogar fünfhunderttausend steigern.«
»Nein«, erklärte Sterling bestimmt. Er streckte den Arm aus und rückte mit einer entschlossenen Bewegung die kleine, antike Uhr auf dem Schreibtisch zurecht. »Signor Cassetti«, sagte er dann, »ich habe das schon seit einiger Zeit kommen sehen, und Sie können es mir nicht verübeln, wenn ich meine eigenen Vorkehrungen treffe und einen anderen Vermittler einsetze.«
»Wenn Sie was?«, flüsterte Cassetti und starrte Sterling ungläubig an. »Soll das heißen, Sie wollen mich entlassen?«
»Wäre es nicht besser, wir sagten, Sie hätten selbst beschlossen, sich aus der Sache zurückzuziehen?«
»Ich verstehe.« Cassettis Stimme war tonlos. »Und Benedetti?«
»Er wird sein Drittel erhalten, sobald das Geschäft abgeschlossen ist. Sie erhalten eine Vergütung Ihrer Auslagen und eine großzügige Anerkennung für Ihre Bemühungen.«
»Ich verstehe«, wiederholte Cassetti. Er kniff die Augen zusammen und starrte Sterling an. »Und wer ist dieser... dieser Vermittler?«
»Sein Name ist Sartorius, Seth Sartorius. Ich werde noch heute Morgen mit ihm zusammentreffen.«
»Aha«, machte Cassetti. Dann umklammerte er mit beiden Händen die Schreibtischkante und zog sich langsam hoch. »Wer ist dieser Seth Sartorius?«, fragte er. Doch ehe Sterling ihm antworten konnte, rief er heftig: »Lassen Sie nur. Ich werde es herausfinden. Ihnen ist doch wohl klar, dass das eine schwere Beleidigung ist? Und Sie wissen sicher auch, dass sich der Cupido noch in meiner Hand befindet.«
»So wie ich die Dokumente besitze, die beweisen, dass er das Werk Michelangelos ist. Ohne die Dokumente können Sie den Cupido nicht verkaufen; und ohne den Cupido sind sie nichts weiter als unnütze Fetzen Papier.« Das kühle Lächeln erlosch. »Es sieht nach einem Patt aus. Sie müssen doch einsehen, Cassetti, dass wir aufeinander angewiesen sind. Warum sollen wir Sartorius nicht für uns arbeiten und das Risiko tragen lassen – falls ein solches besteht? Wenn Sie Zeit gehabt haben, sich das zu überlegen, werden Sie nur zu gern zustimmen.«
Cassetti war schon auf dem Weg hinaus; doch an der Tür blieb er stehen und blickte über die Schulter zurück. Stammelnd sagte er: »Das können Sie nicht tun, Colonel. Der Cupido könnte so leicht wieder verlorengehen!«
Am Dogenpalast stieg Seth Sartorius aus seinem Boot. Er lächelte zu dem Bootsmann hinunter und sagte: »Sie brauchen nicht zu warten, Pietro, alter Freund. Ich komme mit einem Taxi nach San Giorgio zurück.«
Keine Vorahnungen drohender Gefahr trübten seine Stimme, als er jetzt am Wasser entlangging. Die Einladung in das Haus in der Calle della Pieta war mehr als höflich gewesen und die Andeutung, dass man ein Zusammentreffen vielleicht von beiderseitigem Nutzen finden würde, zweifellos verheißungsvoll. Während also Mr. Sartorius wie ein heiterer römischer Kaiser im taubengrauen Maßanzug durch die sonnenhellen Straßen schritt, gestattete er sich, seine Gedanken bei Isabella Pearces letztem Werk verweilen zu lassen, einer Bagatelle, aber einer entzückenden Bagatelle. Das erst kürzlich erkannte Talent des guten Mädchens, Kunstwerke zu fälschen, entwickelte sich rasch zur reinsten Genialität, diesmal handelte es sich um eine Katzenstudie von Jacopo Bassano, jenem großartigen Maler der Hochrenaissance, dem der geringste Vorwand genügt hatte, um bei einem Abendmahl oder einer Anbetung der Hirten auch Tieren einen Platz zu geben. Wenn dem Colonel ernstlich an einer beiderseitig lukrativen Zusammenarbeit gelegen war, konnte es nicht schaden, den kleinen Bassano der lieben Isabella zu erwähnen; mit gebotener Diplomatie natürlich.
Sartorius' ganze Existenz basierte auf gebotener Diplomatie. Sie war dringend vonnöten, wollte man die Luxuswohnung in London, die den Richmond Park überblickte, und die Zweitwohnung hier in Venedig auf der Insel San Giorgio Piccolo – wo Mrs. Harriet St. John ein heiteres Regiment führte und ihre Nichte Isabella so vollendete neue Werke alter Meister schuf – vor dem geringsten Skandal bewahren. Das Leben eines Mannes, der mit gefälschten Kunstwerken handelte, blieb stets eine riskante Sache. Der Sturz aus dem Licht in die Nacht düsterer Gefängniszellen konnte schnell und plötzlich erfolgen.
Doch im Moment konnte man sich am Anblick Venedigs im Zauber des frühen Septembers erfreuen. Es war ein buntes Bild: hübsch gekleidete junge Mädchen, die vorüberschwirrten wie Schmetterlinge und ihn anlachten, als er sie wohlgefällig betrachtete; ein braunhäutiger kleiner Junge mit einem frechen Grinsen; Zeitungsverkäufer und Blumenhändler; zwei Stadtpolizisten in strahlendweißen Uniformen, die Hände am Schwertknauf. Und dann plötzlich das Kind; es trat aus dem Schatten des Danieli-Hotels hervor, seltsam verloren im Menschengewühl, und flüsterte: »Signore...« Aus einem ernsten Gesichtchen blickte es abschätzend zu ihm auf.
Es war ein kleines Mädchen. Auf den ersten Blick wirkten das krause, schwarze Haar, das verblichene rosa Hemd und die verwaschene Hose ganz jungenhaft; doch der Schelm in den großen, veilchenblauen Augen war durch und durch weiblich. Und ganz zweifellos war sie eine kleine Bettlerin. Erschreckend dünn und klein, wenn auch sicher schon elf oder zwölf Jahre alt. Sie streckte ihm eine gefächerte Sammlung grellfarbiger Ansichtskarten hin und sagte: »Signore, für Sie, alle Ansichten von Venedig.«
Sartorius blickte zu ihr hinunter. »Aber, aber, mein Kind«, murmelte er. »In diesem Geschäft bin ich selbst. Du willst doch nicht an einen Kollegen verkaufen?«
Das schien ihr unverständlich; doch sie erkannte die Güte in seiner Stimme, und ihre Mundwinkel verzogen sich, und die tiefblauen Augen schielten zu ihm auf. »Aber vielleicht brauchen Sie einen Führer. Ich kenne jeden Winkel von Venedig.«
»Nein, ich brauche auch keinen Führer«, antwortete Sartorius.
Die Mundwinkel verzogen sich noch ein wenig mehr, und die Augen, fand er, blickten niedergedrückt.
»Armes Kind«, murmelte er und zog eine Hundert-Lire-Münze aus der Tasche. »Aber du brauchst ganz sicher ein Eis oder ein Stück Schokolade«, sagte er und drückte ihr die Münze in die Hand. »Wie heißt du denn?«
»Valentina Catarina«, antwortete sie. »Und tausend Dank, Signore. Ich kaufe mir Pizza. Das ist nahrhafter.« Ihre Augen huschten nervös an ihm vorbei.
Sartorius blickte sich um. Die Stadtpolizisten beobachteten das kleine Mädchen. Es war offensichtlich, dass sie für Bettler nichts übrig hatten, und das Kind zeigte unverhohlene Angst vor ihnen.
Sartorius nickte. »Ich habe vollstes Verständnis für deine Lage. Schön, dann begleite mich bis zur Calle della Pieta.«
Ein helles, verschwörerisches Lächeln blitzte in ihrem Gesicht auf. »Sie sind sehr großzügig, Signore. Ich zünde Ihnen auch eine Kerze in San Marco an; sobald ich das Geld habe, um eine zu kaufen.«
»Und ich zweifle nicht daran«, antwortete er, »dass im Himmel eine Kerze von einem Kind wirksamer ist als die Segnung eines Bischofs. Komm, Valentina Catarina. Die Herren in Weiß sehen immer noch herüber.«
Colonel Sterling stand mit dem Rücken zum Fenster. Wie eine dunkle Silhouette hob sich seine Gestalt gegen das flirrende Licht dahinter ab. Als Sartorius hineingeführt wurde, hatte er sogleich das Gefühl, dass diesem Mann gegenüber Vorsicht geboten war und dass sich das Geschäft zum beiderseitigen Nutzen unter Umständen als recht einseitige Angelegenheit entpuppen konnte. Doch dann trat der Colonel hinter dem Schreibtisch hervor und streckte seine Hand aus.
»Mr. Sartorius«, sagte er, »es ist sehr freundlich von Ihnen, dass Sie vorbeigekommen sind; und so kurzfristig. Ich weiß, Sie sind ein vielbeschäftigter Mann.« Ein überraschend charmantes Lächeln verlieh den schmalen Lippen einen weichen Zug. »Es ist wirklich sehr entgegenkommend von Ihnen, und ich danke Ihnen. Aber bitte, nehmen Sie Platz. Ein Glas Wein?«
Auf einem silbernen Tablett stand eine langhalsige Flasche neben zwei venezianischen Kelchen, und Sterling schenkte mit behutsamer Hand die helle Flüssigkeit ein.
»Niersteiner Eiswein«, murmelte er. »Ein wenig exzentrisch vielleicht, einen solchen Wein zu dieser Stunde zu trinken.«
»Sir«, erwiderte Sartorius, »einen solchen Wein kann man zu jeder Tageszeit genießen.« Er kostete einen kleinen Schluck und hauchte: »Köstlich.«
Der Ausdruck echter Freude, der sich auf dem Gesicht des Colonels ausbreitete, ließ darauf schließen, dass Sterling auf dieses Lob nur gewartet hatte.
»Ein 62er«, erklärte er. »Sie wissen sicher, dass der Herbst in Deutschland in dem Jahr geradezu ideal war. Trocken und kalt bis in den November.« Er trank mit Genuss aus seinem eigenen Glas und hielt es dann gegen das Licht, so dass das Glitzern eines Sonnenstrahls sich darin fing. »Ihr Ruf eilt Ihnen voraus, Mr. Sartorius.«
Nur ein äußerst aufmerksamer Beobachter hätte bemerken können, dass Sartorius leicht zusammenzuckte, während er sich nüchtern überlegte, dass es jetzt nur noch darauf ankam, unter welchem Ruf er Sterling bekannt war; und beinahe so, als hätte der Colonel diesen Gedanken erraten, fuhr er fort: »Als Fachmann für die Kunst der Renaissance. Sie sind gewiss eine Kapazität auf diesem Gebiet.«
Sartorius senkte die Lider. »Nur ein Händler, Sir. Aber man bemüht sich natürlich um Gewissenhaftigkeit.«
»Und mit Erfolg! Mit einzigartigem Erfolg. Deshalb möchte ich Ihnen auch keinesfalls Ihre kostbare Zeit stehlen.«
Der Mann ist mir zu schmeichlerisch, sagte sich Sartorius. Sein Benehmen war beinahe naiv, und Naivität stand Colonel Sterling schlecht zu Gesicht. Schwang da nicht vielleicht die Spur einer Drohung mit? Nun, fraglos würde sich das früher oder später zeigen; im Moment aber war es wohl das klügste, Isabellas neuestes kleines Werk zu vergessen und selbst das Unschuldslamm zu spielen.
»Sie sind zu gütig, Sir«, ließ er sich bescheiden vernehmen.
»Bei weitem nicht«, versetzte Sterling, und das zumindest entsprach wahrscheinlich den Tatsachen.