FRIESLAND UND DIE TOTE GRÄFIN - Christian Dörge - E-Book

FRIESLAND UND DIE TOTE GRÄFIN E-Book

Christian Dörge

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Beschreibung

1968. Rechtsanwalt Siemen Friesland ist wie vor den Kopf geschlagen: Gräfin Francesca Leonardi-Romanow, eine überaus wohlhabende Dame der Gesellschaft, macht ihm buchstäblich aus heiterem Himmel einen Heiratsantrag. Hätte Friesland diesen Antrag angenommen, so wäre die Ehe nur von erstaunlich kurzer Dauer gewesen und er selbst wäre zum wohl reichsten Witwer von Hagensmoor geworden: Denn Gräfin Leonardi-Romanow wird ermordet... Der Roman FRIESLAND UND DIE TOTE GRÄFIN von Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien EIN FALL FÜR REMIGIUS JUNGBLUT und DIE UNHEIMLICHEN FÄLLE DES EDGAR WALLACE, ist der dritte Band einer Reihe von Krimis aus Deutschlands Norden. Als Bonus enthält dieses Buch die Erzählung FRIESLAND UND DAS DUNKLE LICHT.

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CHRISTIAN DÖRGE

 

 

FRIESLAND

UND DIE TOTE GRÄFIN

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

Der Autor 

FRIESLAND UND DIE TOTE GRÄFIN 

Die Hauptpersonen dieses Romans 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

Vierundzwanzigstes Kapitel 

Fünfundzwanzigstes Kapitel 

FRIESLAND UND DAS DUNKLE LICHT 

Impressum

 

Copyright © 2023 by Christian Dörge/Signum-Verlag.

Lektorat: Dr. Birgit Rehberg

Cover: Copyright © by Christian Dörge.

 

Verlag:

Signum-Verlag

Winthirstraße 11

80639 München

www.signum-literatur.com

[email protected] 

Das Buch

 

 

1968.

Rechtsanwalt Siemen Friesland ist wie vor den Kopf geschlagen: Gräfin Francesca Leonardi-Romanow, eine überaus wohlhabende Dame der Gesellschaft, macht ihm buchstäblich aus heiterem Himmel einen Heiratsantrag. Hätte Friesland diesen Antrag angenommen, so wäre die Ehe nur von erstaunlich kurzer Dauer gewesen und er selbst wäre zum wohl reichsten Witwer von Hagensmoor geworden: Denn Gräfin Leonardi-Romanow wird ermordet... 

 

Der Roman Friesland und die tote Gräfin vonChristian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien Ein Fall für Remigius Jungblut und Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, ist der dritte Band einer Reihe von Krimis aus Deutschlands Norden. 

Als Bonus enthält dieses Buch die Erzählung Friesland und das dunkle Licht. 

Der Autor

 

Christian Dörge, Jahrgang 1969.

Schriftsteller, Dramatiker, Musiker, Theater-Schauspieler und -Regisseur.

Erste Veröffentlichungen 1988 und 1989:  Phenomena (Roman), Opera (Texte).  

Von 1989 bis 1993 Leiter der Theatergruppe Orphée-Dramatiques und Inszenierung  

eigener Werke,  u.a. Eine Selbstspiegelung des Poeten (1990), Das Testament des Orpheus (1990), Das Gefängnis (1992) und Hamlet-Monologe (2014). 

1988 bis 2018: Diverse Veröffentlichungen in Anthologien und Literatur-Periodika.

Veröffentlichung der Textsammlungen Automatik (1991) sowie Gift und Lichter von Paris (beide 1993). 

Seit 1992 erfolgreich als Komponist und Sänger seiner Projekte Syria und Borgia Disco sowie als Spoken Words-Artist im Rahmen zahlreicher Literatur-Vertonungen; Veröffentlichung von über 60 Alben, u.a. Ozymandias Of Egypt (1994), Marrakesh Night Market (1995), Antiphon (1996), A Gift From Culture (1996), Metroland (1999), Slow Night (2003), Sixties Alien Love Story (2010), American Gothic (2011), Flower Mercy Needle Chain (2011), Analog (2010), Apotheosis (2011), Tristana 9212 (2012), On Glass (2014), The Sound Of Snow (2015), American Life (2015), Cyberpunk (2016), Ghost Of A Bad Idea – The Very Best Of Christian Dörge (2017). 

Rückkehr zur Literatur im Jahr 2013: Veröffentlichung der Theaterstücke Hamlet-Monologe und Macbeth-Monologe (beide 2015) und von Kopernikus 8818 – Eine Werkausgabe (2019), einer ersten umfangreichen Werkschau seiner experimentelleren Arbeiten.

2021 veröffentlicht Christian Dörge mehrere Kriminal-Romane und beginnt drei Roman-Serien: Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, Ein Fall für Remigius Jungblut und Friesland. 

2023 erscheinen seine neuen Alben Kafkaland und Lycia, sich entfernen. 

 

Künstler-Homepage: www.christiandoerge.de 

FRIESLAND UND DIE TOTE GRÄFIN

 

  Die Hauptpersonen dieses Romans

 

 

Siemen Friesland: Rechtsanwalt (und ehemaliger Marine-Leutnant) in Hagensmoor.

Ingmar Stutenbrinck: Inspektor bei der Polizei von Hagensmoor. 

Francesca Leonardi-Romanow: eine wohlhabende junge Dame. 

Götz Hartwig: Inhaber der Firma Steinhuder AG. 

Giulia Rothaupt: Schwester von Francesca Leonardi-Romanow. 

Niclas Rothaupt: ihr Mann und der Generaldirektor der Petersen-Werke. 

Roland Lüdtke: Francesca Leonardi-Romanows Verlobter. 

Berlinde Michaelis: Frieslands resolute Sekretärin. 

Philip Lohmann: Staatsanwalt in Hagensmoor. 

Paul Hollerer: ein arbeitsloser Ex-Soldat. 

Susanne Hollerer: seine Schwester. 

Elfie Kruse: ein Mannequin und Paul Hollerers Verlobte.

Hasso Cordes: ein Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft Hagensmoor. 

Eduard Ostendorf: ein Rechtsanwalt.

Ahlrich Kramer: ein Reporter beim Hagensmoorer Morgen. 

Björn Gaedtke: Personalchef der Petersen-Werke in Hannover. 

 

 

 

Dieser Roman spielt in der ostfriesischen Kleinstadt Hagensmoor im Jahre 1968.

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Die meisten Leute machen nicht gleich auf, wenn es bei ihnen an der Tür klingelt. Sie fragen zuerst nach, wer davor steht. Aus diesem Grund war ich einigermaßen überrascht, als Francesca Leonardi-Romanow mir auf mein Läuten hin sofort öffnete, liebenswürdig lächelte und ohne viel Umstände sagte: »Guten Tag. Bitte treten Sie ein.«

»Moinsen«, ließ ich ein wenig verblüfft – und fraglos unangemessen –  vernehmen.

Wie bereits angedeutet: Im Allgemeinen lässt eine wohlerzogene, kultivierte junge Dame einen völlig Fremden nicht in ihre Wohnung, ohne ihn vorher nach seinem Anliegen oder zumindest nach seinem Namen zu fragen. Und Francesca Leonardi-Romanow hatte mich noch nie in ihrem Leben gesehen. Aber man soll die Feste feiern, wie sie fallen. Ich hatte eine Rechtsangelegenheit für einen meiner Klienten mit ihr zu besprechen und folgte ihrer Aufforderung mit Vergnügen.

Sie wohnte in einem Atelier im Schwarzen Weg, dem fraglos exklusivsten Stadtteil von Hagensmoor, mit hohen, schrägen Fenstern, persischen Teppichen auf dem Boden und alten, aber bequemen Möbeln. Auf einer Staffelei in einer Ecke sah ich das halbfertige Bild einer orientalischen Schönen, mit schwarzen Haaren und einem ernstem Gesichtsausdruck. Neben der Staffelei stand ein niedriger Tisch, darauf ein wildes Durcheinander von Farben, Pinseln, Kohle und anderen Mal-Utensilien. Weitere, meist amateurhaft und nicht besonders begabt gemalte Bilder lehnten an den Wänden. Trotzdem war diese Phase in Francescas Leben, dieses Interesse an der Kunst, wahrscheinlich ein Schritt in die richtige Richtung.

Sie wies auf einen Stuhl: »Bitte, nehmen Sie Platz.« Es war mehr ein Befehl als eine Aufforderung.

Also... setzte ich mich.

Sie trat vor mich hin und betrachtete mich lange, eingehend und aufmerksam. Da stand sie nun also vor mir: Francesca Leonardi-Romanow, mehrere Millionen Mark schwer. Gräfin Leonardi oder Prinzessin Romanow – man konnte wählen. Die Titel stammten von ihren Ex-Gatten, das Geld dagegen kam von ihrem verstorbenen Onkel. Sie musste etwa achtundzwanzig Jahre alt sein, war vielleicht ein wenig mager, mit blassblondem Haar, sensiblen Augen und einem feingeschnittenen, schmalen Mund. Ihre ganze Erscheinung war rätselhaft, eindrucksvoll und völlig anders, als ich es nach den Zeitungsberichten über ihre Abenteuer in aller Welt erwartet hatte.

Ohne weitere Einleitung fragte sie: »Wie heißen Sie?«

»Siemen Friesland.«

Sie lächelte. »Darf ich Sie Siemen nennen?«

»Bitte!«

»Wie alt sind Sie?«

»Zweiunddreißig.«

»Junggeselle?«

»In der Tat, gnädige Frau.«

»Waren Sie je verheiratet?«

»Nein, gnädige Frau.«

»Sie sind durchaus... attraktiv.«

»Danke. Und ich gebe das Kompliment gern zurück.«

Sie schüttelte ungeduldig den Kopf und schien aus irgendeinem Grund verstimmt zu sein. Was immer das Spiel war, offenbar wollte sie die Spielregeln festlegen.

»Sind Sie in Ordnung?«

»In Ordnung?«, wiederholte ich verständnislos.

»Körperlich, meine ich. Gesundheitlich. Haben Sie keine organischen Schäden?«

Ich setzte mich gerade auf und sah sie scharf an. War sie nicht ganz richtig im Kopf? »Entschuldigen Sie...«

Aber sie unterbrach mich mit einer Handbewegung. »Beantworten Sie meine Fragen. Wenn sie Ihnen unangenehm sind, können Sie sich gern verabschieden.« Sie zeigte mit dem Kinn auf die Tür, um anzudeuten, dass sie nicht verschlossen war.

Die Neugier trieb mich zu bleiben. »Kerngesund«, stellte ich klar. »In bester Verfassung. Soll ich ein Telefonbuch zerreißen?«

»Das ist nicht nötig. Womit verdienen Sie Ihr Geld, Siemen?«

Ich fing an, mich zu amüsieren. Wenn ich ihr die Wahrheit sagte, nämlich, dass ich Rechtsanwalt war, würde das Spiel ein sehr rasches Ende nehmen, aber mich interessierte, worauf sie hinauswollte. Also improvisierte ich und sagte: »Ich bin Eklipsen-Fotograf.«

»Was sind Sie?«, fragte sie stirnrunzelnd.

»Eklipsen-Fotograf. Ich stelle einen Fotoapparat auf, und alle paar Jahre, während einer Sonnen- oder Mondfinsternis, knipse ich ein Bild.«

Sie lächelte nachsichtig. »Ich verstehe. Sie sind arbeitslos.« Der Ausdruck in ihren Augen wurde weicher. »Wo wohnen Sie, Siemen?«

»Im Fregattenweg«, log ich munter. »Es ist nicht so übel in dieser Jahreszeit.«

Sie verfügte über keine gute Beobachtungsgabe, denn ihr fiel offenbar nicht auf, dass ich für einen Arbeitslosen entschieden zu gut angezogen war. Sie nickte beifällig. »Ihre Einstellung gefällt mir, Siemen. Sie tun sich nicht leid. Sie leben also im unschönsten Viertel von Hagensmoor. So ein Leben hat keine große Zukunft, nicht wahr?«

Ich zuckte die Achseln. »Was hat schon eine große Zukunft? Der Mensch wird geboren und muss schließlich sterben, was immer er auch tut.«

»Aber befriedigt Sie diese Art Leben? Haben Sie denn gar keinen Ehrgeiz?«

»Oh, doch«, sagte ich. »Ich möchte mit viel Geld auf der Bank sterben. Das ist der Ehrgeiz eines jeden jungen Mannes, oder nicht?«

»Wie Sie es sagen, klingt es so enttäuscht.«

»Ganz und gar nicht.«

Sie sah mich eindringlich an. »Sind Sie Kommunist?«

»Ich? Kommunist?« Ich lachte abfälliger, als es beabsichtigt war. »Nicht doch.« Bei ihren zehn Millionen hielt ich das für die angemessene Antwort, und sie schien auch darüber befriedigt.

»Hat man Sie je verhaftet?«

»Ja, einmal. In Flensburg. Ein Verkehrsdelikt. Ich wurde aber nicht vor Gericht gestellt.«

Sie konzentrierte sich, strich in Gedanken einzelne Punkte von ihrer Frageliste und überlegte, ob sie auch nichts vergessen habe. »Sind Sie hier geboren?«

»Ja, gnädige Frau. Mein Urgroßvater war Krabbenfischer.« Das Wort Krabbenfischer verbürgte eine ostfriesische Abstammung, wie sie höchsten Ansprüchen genügen musste.

Sie betrachtete mich in aller Ruhe. Dann griff sie nach einer Zigarette, zündete sie an und inhalierte. Der Rauch strömte langsam aus ihren Nasenlöchern. Einen Augenblick war sie ganz allein, in Gedanken verloren, ein Mädchen, das einen Entschluss zu fassen versuchte.

Ich saß da, wartete und fragte mich, worum es eigentlich ging.

Dies also war die quecksilbrige Francesca Leonardi-Romanow, welche die Gesellschaftsreporter seit der legendären Party anlässlich ihres Debüts in der feinen Gesellschaft, vor zehn Jahren, ständig in Atem gehalten hatte. Dieses Ereignis war im Hamburger Ritz gefeiert worden, und ihr Onkel Johann Petersen hatte die Rechnung bezahlt. Das Ritz existierte nicht mehr und ihr Onkel auch nicht. Der alte Herr war vor ein paar Wochen gestorben und hatte sein Erbe, die Petersen-Werke, diesen Firmen-Koloss – Chemikalien, Kunststoffe und Sprengstoffe –, seinen zwei Nichten, Francesca und ihrer Schwester hinterlassen.

Sie drückte plötzlich ihre Zigarette aus, erwachte aus ihren Gedanken, sah mir direkt in die Augen und verkündete ohne Umschweife: »Siemen, ich will mich auf meine weibliche Intuition verlassen. Ich glaube, man kann Ihnen trauen.«

»Zweifellos, gnädige Frau.«

»Möchten Sie gern etwas Geld verdienen?«

»Es kommt darauf an«, sagte ich. »Wieviel?«

»Fünftausend Mark.«

»Nur zu gern. Was muss ich dafür tun?«

Ein plötzliches Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Oh, die Arbeit ist ganz leicht.«

»Wie leicht?«

Sie hörte auf zu lächeln. Ihr Gesicht wurde ernst. »Sie brauchen nichts weiter zu tun, als mich zu heiraten.«

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Für Sie, liebe Leser, sind das nur Worte auf dem Papier. Aber für mich war die Situation überaus real, und ich hörte Francesca die Worte tatsächlich aussprechen. Und diese Worte waren an mich gerichtet. Mir wurde ein Antrag gemacht! Sie fragte mich rundheraus, ob ich sie heiraten wolle. Ein reizvolles Mädchen mit mehr Geld als ein Mensch im Lauf seines Lebens auf vernünftige Weise ausgeben konnte. Und sie scherzte nicht. Sie meinte es ernst.

Von allen je von ihr begangenen, ausgefallenen Verrücktheiten gebührte bestimmt dieser der erste Preis.

Ich machte den Mund zu und schluckte. »Ich... Schauen Sie, gnädige Frau... ich...«

Sie unterbrach mein Stottern mit einer Handbewegung. Ihr Blick war ernst und aufmerksam. »Sie brauchen sich nicht gleich zu entscheiden, Siemen.«

»Wirklich nicht?«

»Nein. Sie können es sich eine Stunde überlegen... oder auch zwei...«

Eine Stunde oder auch zwei... Ich, der ich mein Leben lang ein vorsichtiger Junggeselle gewesen war. Jetzt hatte ich eine Stunde oder zwei, um mir zu überlegen, ob ich den Sprung ins kalte Wasser wagen wollte. Wie ausgesprochen nett von ihr! Nun wartete sie mit hoffnungsvoll flehender Miene und besorgtem Blick. In der ganzen Welt träumten junge Männer von eben einem solchen Antrag, und ich wurde damit buchstäblich überrumpelt. Sie war wunderschön und reich. Aber sie war offenbar auch nicht ganz richtig im Kopf. Oder, gelinde gesagt, einigermaßen exzentrisch.

Ich sah sie prüfend an. »Warum fragen Sie ausgerechnet mich?«

»Ich sagte es Ihnen bereits. Aus weiblichem Instinkt. Ich glaube, Sie würden sich ganz gut eignen.«

Die Sonntagsbeilagen mussten gewusst haben, was sie schrieben, als sie Francesca die verrückte Gräfin tauften. Wenn man ihr Verhalten an diesem Vormittag betrachtete, schien der Spitzname gut zu passen. Sie hatte bereits zwei Ehemänner konsumiert. Zuerst den italienischen Grafen Edoardo Leonardi, der einem Schlaganfall erlegen war, dann Igor Romanow, einen russischen Fürsten im Exil, von dem sie in Hamburg geschieden worden war.

Jetzt wollte sie einen dritten Mann – mich! Zumindest verdiente sie eine gute Note für ihre Bemühungen. Sie beugte sich verwirrend nah über mich, mit Augen, so verführerisch groß und so tief wie verwunschene Teiche. Diese Augen waren sehnsuchtsvoll und zugleich berauschend, und einen kurzen Augenblick hatte ich fast Lust aufzustehen und sie in die Arme zu nehmen. Aber ich war nicht deswegen gekommen und rief mich innerlich zur Ordnung.

Der Spaß war weit genug gegangen. Ich fand, es würde Zeit, den Vorhang zu lüften. »Hören Sie, Frau Romanow«, sagte ich, »ich bedauere, aber...«

»Bitte«, unterbrach sie mich hastig, »es wäre nur auf kurze Zeit. Für einen Monat oder höchstens acht Wochen. Dann können Sie Ihre Freiheit wiederhaben. Wir lassen uns scheiden, und Sie bekommen fünftausend Mark.«

Ich stand energisch von meinem Stuhl auf und sagte: »Es tut mir furchtbar leid, aber ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor.«

»Ein Missverständnis?« Sie wich zurück. »Sind Sie nicht der Mann, mit dem ich vorhin telefoniert habe?«

»Durchaus nicht, gnädige Frau.«

Sie starrte mich mit offenem Munde an. »Sie... Sie sind also nicht auf mein Inserat hin gekommen?«

»Ihr Inserat? Was für ein Inserat?«

»Mein Inserat in der heutigen Zeitung.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, gnädige Frau. Ich weiß nichts von einem Inserat. Ich bin gekommen, um mit Ihnen über Curt Engbertus zu sprechen.«

»Worüber?«                                                   

»Über Curt Engbertus. Das ist ein Name. Genauer gesagt, der Name meines Klienten.«

»Klienten?« Sie war vollkommen verwirrt.

»Jawohl, gnädige Frau. Ich bin Rechtsanwalt.«

»Rechtsanwalt?« Sie riss die Augen auf. »Aber Sie... Sie sagten mir...«

»Entschuldigen Sie. Es war ein Scherz. Sie machten die Tür auf, baten mich herein und überfielen mich sofort mit Ihren Fragen. Ich dachte, es sei eine Art Spiel.«

»Oh!« Ihr Gesicht bekam vor Ärger Farbe.

Ich klärte sie auf. »Die Sache ist die, Frau Leonardi: Mein Klient möchte wissen, warum Ihre Gesellschaft ständig die Lieferkontrakte bricht.«

»Meine Gesellschaft? Lieferkontrakte? Entschuldigen Sie, aber ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«

»Aber, ich bitte Sie, Sie sind doch Delegierte des Verwaltungsrats.«

»Wovon?«

»Von einer Firma namens Steinhuder AG.«

»Ich habe diesen Namen noch nie gehört.«

»Bitte, Frau Leonardi. Ich habe die Eintragung im Handelsregister selbst geprüft. Sie besitzen die Hälfte des Aktienkapitals und sind Delegierte des Verwaltungsrats. Ich weiß genau Bescheid.«

Endlich schien ihr ein Licht aufzugehen. Sie runzelte die Brauen und tippte sich mit dem Finger gegen die Schläfe. »Ja«, sagte sie und nickte langsam. »Eben fällt mir ein, dass Onkel Johann einmal erwähnte, er habe eine Beteiligung an einer Aktiengesellschaft auf meinen Namen überschrieben. Damit ich ein festes Einkommen habe. Das war lange, bevor er starb.« Sie runzelte wieder die Stirn. »Aber warum wenden Sie sich an mich?«

»Weil sich kein Mensch um die Sache kümmert. Ich habe mehrere Briefe an die Steinhuder AG in der Gotenstraße geschrieben; aber niemand hat geantwortet. Die Firma hat in der Gotenstraße ein Lagerhaus. Ich bin hingegangen, und es war verschlossen. Kein Mensch zu finden. Und mein Klient befindet sich in einer ernsten Klemme. Die Verzögerung der vereinbarten Lieferungen kostet ihn Geld. Er will, dass etwas geschieht.«

Sie zuckte die Achseln. »Ich bedaure. Aber ich habe nicht das geringste mit der Geschäftsführung zu tun.«

»Die Firma gehört Ihnen aber«, sagte ich. »Ihnen und einem Kerl namens Götz Hartwig, der die übrigen Aktien besitzt. Als Delegierte des Verwaltungsrats sind Sie für die Geschäftsführung verantwortlich. Ich habe zuerst versucht, Götz Hartwig zu erreichen, aber er scheint nicht in der Stadt zu sein.«

»Hartwig? Ich bin noch nie einem Mann dieses Namens begegnet.«

»Dann wird es höchste Zeit. Er ist Ihr Geschäftspartner. Sie sollten ihn kennenlernen.«

»Wirklich, Herr Friesland, diese Geschäftsangelegenheit interessiert mich überhaupt nicht.«

»Sie erhalten aber Ihre Dividende. Und als Delegierte des Verwaltungsrats wohl auch ein Gehalt. Oder nicht?«

Sie überging das mit einer gleichgültigen Handbewegung. Um Geld hatte sie sich ihr Leben lang nicht gekümmert; es war stets eine Selbstverständlichkeit für sie gewesen. Jetzt, nach dem Tode ihres Onkels, hatte sie mehr denn je davon. Ich fing an, mich ein wenig zu ärgern.

»Das halbe Aktienkapital dieser Gesellschaft befindet sich in Ihren Händen«, fuhr ich fort. »Und Sie beziehen ein stattliches Einkommen daraus. Haben Sie gar kein Verantwortungsgefühl Ihren Kunden gegenüber?«

»Verantwortungsgefühl? Gegenüber mir völlig unbekannten Menschen wie Ihrem Klienten mit dem unmöglichem Namen, diesem...«

»Curt Engbertus. In seiner bolivischen Heimat ein eher ungewöhnlicher Name. Er ist Besitzer einer Bleimine in der Nähe von La Paz. Ihre Gesellschaft hat ihm für seinen dortigen Betrieb seit längerer Zeit wichtige Rohmaterialien geliefert, auch Sprengstoff und ähnliches Zeug. Er hat sich für die Lieferung auf die Steinhuder AG verlassen. Dann ist irgendetwas schiefgegangen. Die Firma ist mit den Lieferungen im Rückstand geblieben und hat schließlich überhaupt nichts mehr geliefert. Engbertus hat seinerseits Kunden und Verpflichtungen ihnen gegenüber, denen er nachkommen muss. Das Verhalten der Steinhuder AG schädigt nicht nur seine Produktion, es verletzt auch seine Gefühle. Die Bolivianer sind empfindliche Leute – selbst ein Bolivianer deutscher Herkunft. Er will der Steinhuder AG einen Schadenersatzprozess anhängen. Ich dachte, ich gehe erst einmal zu Ihnen und versuche, zu einer Einigung zu gelangen. Ich war auf eine schlechte Zusammenarbeit gefasst, aber nicht auf eine derartige Gleichgültigkeit. Sie sitzen hier in Ihrem Elfenbeinturm, schmieren mit Farben herum und lehnen jede Verantwortung ab. Von mir aus: bitte sehr. Aber das Gericht...«

Sie unterbrach mich mit einer Handbewegung. »Was schlagen Sie vor, Herr Friesland?«

»Etwas sehr Einfaches. Sie finden heraus, wer die Firma wirklich leitet und demnach die Verantwortung trägt. Dann machen Sie dem Betreffenden Beine.«

»In Ordnung.« Sie nickte. »Ich will sehen, was ich tun kann. Auf Wiedersehen, Herr Friesland.« Sie streckte mir die Hand hin.

Ich bin kein Dickhäuter, und ich wäre auch ohne diese unmissverständliche Andeutung gegangen. Ich griff also nach meinem Hut und ihrer Hand. Sie fühlte sich kühl und unpersönlich an, eben wie eine Hand, die nie etwas Anstrengenderes getan hat, als einen dreißig Gramm schweren Pinsel oder einen Löffel voll Kaviar zu halten.

Das Telefon klingelte, und sie zog die Hand zurück. Sie lächelte entschuldigend, winkte mir zu und lief an den Apparat. Als ich an der Tür war, sprach sie schon eifrig.

Ich öffnete die Tür und prallte fast mit einem Mann zusammen, der gerade klopfen wollte. Er ließ verdutzt die Hand sinken. »Mein Name ist Paul Hollerer«, sagte er. »Komme ich zu spät?«

»Wofür?«

»Für die Stelle, die Sie ausgeschrieben haben.«

»Sind Sie der Mann, der vorhin angerufen hat?«

»Jawohl.«

Ich sah ihn mir an. Er war mittelgroß, gut gewachsen, mit breiten Schultern, einem sympathischen Gesicht, anständigen Augen und einem ernsten Mund. Sein blauer Anzug hatte eigentlich schon ausgedient und fing an zu glänzen.

»Die Stelle ist noch zu haben«, grinste ich. »Sie sehen wie ein geeigneter Kandidat aus. Wenn Sie Junggeselle sind, können Sie den Posten vielleicht kriegen. Gehen Sie nur hinein.« Ich fasste nach seiner Hand, schüttelte sie und trat beiseite: »Viel Glück, Paul, Wahrscheinlich werden Sie’s brauchen.«

Ich überließ ihn seinem Schicksal und ging die Treppe hinunter. Das drei Etagen hohe Haus im Schwarzen Weg verfügte über keinen Lift. Francesca Gräfin Leonardi, geschiedene Prinzessin Romanow, war in ihrer Boheme-Phase. Was nachher kommen würde, wusste kein Mensch.

Wieder auf der Straße, steuerte ich direkt auf einen Kiosk zu und kaufte mir eine Zeitung. Ich entdeckte das Inserat sofort. Es stand im Hagensmoorer Morgen auf der letzten Seite unter Vermischtes:

 

Junger Mann gesucht, gute Erscheinung, Junggeselle. Ungewöhnlicher Posten, streng vertraulich. Telefon Hagensmoor 58624.

 

Ich sah im Telefonbuch nach und stellte fest, dass die Nummer stimmte. Natürlich war die Anzeige verrückt. Aber soweit ich beurteilen konnte, hatte sie keine Bedeutung irgendwelcher Art für meinen Klienten. Die Welt ist voll von Verrückten, und manche haben genug Geld, um ihrer Verrücktheit freien Lauf zu lassen. Ich dagegen musste meinen Lebensunterhalt verdienen; also unterdrückte ich energisch jegliche Neugier und ging zurück ins Büro.

Ich diktierte einen Brief an Engbertus, in dem ich ihm die Umstände erklärte. Fräulein Michaelis nahm das Stenogramm auf.

Fräulein Michaelis ist meine rechte Hand. Sie ist überaus korpulent, vierzig Jahre alt und wiegt an Tüchtigkeit einige in Berlin oder München ausgebildete Juristen auf. Ich habe sie von einem Anwalt geerbt, der die Juristerei mit der Politik vertauscht hat. Fräulein Michaelis hat ein phänomenales Gedächtnis und kann so ziemlich jede Gesetzesformel tippen, ohne die Bücher zu konsultieren, was durchaus keine Kleinigkeit ist! Sie allein führt praktisch mein Büro. Wäre sie fünfzehn Jahre jünger und fünfzig Pfund leichter, würde ich erwägen, sie... Aber, zum Teufel, jetzt war nicht Zeit zum Träumen. Ich hatte zu arbeiten.

Wir sollten in der nächsten Woche Berufung in einem wichtigen Prozess einlegen, und der Schriftsatz musste noch gründlich überarbeitet werden. Ich verbrachte den Rest des Nachmittags mit der Korrektur von Grammatik, Satzbau und Orthographie. Ich weiß nicht, ob die weisen Herren Richter sich wirklich die Mühe machen, das ganze Zeug zu lesen, oder ob sie diese Arbeit auf einen Sekretär abwälzen. Jedenfalls kann man sich nicht darauf verlassen. Außerdem musste der Schriftsatz in neunzehn Exemplaren gedruckt werden; wahrscheinlich, um die Augen der ehrenwerten Herren zu schonen, und ich hatte keine Lust, mich in einer Akte, die vielleicht jahrzehntelang aufbewahrt wurde, als Analphabet zu erweisen, Also blieb ich an der Arbeit, bis mein Magen protestierte, und ging dann zum Abendessen. Allein!

Das war Dienstag. Der Mittwoch verlief ähnlich. Aber Mittwochabend...

 

 

 

 

  Drittes Kapitel

 

 

Ich war zu Hause, in Schlafrock und Pyjama gekleidet, und hörte Musik aus dem Radio, bequem in einem Clubsessel sitzend, als das Telefon läutete. Ich betrachtete es widerwillig. Es läutete hartnäckig weiter. Also nahm ich den Hörer ab und sagte: »Hallo.«

»Herr Friesland?« Die weibliche Stimme klang energisch und sachlich.

»Am Apparat.«

»Hier Francesca Leonardi-Romanow. Ich möchte Sie gern sprechen. Könnten Sie zu mir kommen? Und zwar sofort?«

»Wohin?«

»In mein Atelier.«

»Aber ich bitte Sie, Frau Romanow, es ist halb elf, und ich bin müde. Wie wäre es mit morgen früh, sagen wir um neun, in meinem Büro?«

»Nein, das geht nicht.« Ihre Stimme war entschieden. »Ich dachte, Anwälte sind wie Ärzte. Sind Sie nicht verpflichtet, in Notfällen zu helfen?«

»Ist dies ein Notfall?«

»Nun... Ich kann Ihnen etwas über Ihren Klienten sagen, diesen Herrn...«

»Engbertus – Curt Engbertus.«

»Jawohl, der Mann hat wirklich einen unmöglichen Namen. Außerdem hätte ich gern Ihren Rat in einer sehr wichtigen Sache. Werden Sie kommen?«

In gewisser Weise war ihre Bitte schmeichelhaft. Wahrscheinlich kannte sie eine ganze Reihe Anwälte von der weißhaarigen, steifen Sorte, die würdig und zurückhaltend in der Podbielskistraße in Hannover residierten. 

Doch jetzt, im Notfall, dachte sie an mich. Ich musste einen tiefen Eindruck bei ihr hinterlassen haben.

»Gut«, sagte ich. »Ich bin in einer halben Stunde da.«

 

Mit dem Schwarzen Weg ist das so eine Sache: Entweder man liebt das Viertel, oder man kann es nicht ausstehen.

Es hat weder Form noch Struktur. Es ist angelegt, als ob die Straßen einmal geschmolzen und dann aufs Geratewohl ineinandergelaufen wären. Man braucht einen Führer oder einen Kompass, um sich zurechtzufinden. Und doch ist es einer der wenigen Stadtteile Hagensmoors, die eine ganz spezielle Atmosphäre haben. Die Läden sind dort anders, und auch die Bewohner. Diese heterogene Mischung von Künstlern und Dilettanten, von langhaarigen Jünglingen und kurzhaarigen Mädchen, von Arbeitern und Schwätzern, von Tweed-Jacken, Backenbärten und Spazierstöcken, und wo es mehr Bars als Polizisten gibt. Wo man moderne Kunst verkauft und ständig über die Summe menschlichen Wissens diskutiert.

»Schwarzer Weg«, sagte der Taxifahrer.

Ich stieg aus, bezahlte und stieg die drei Treppen hinauf. Ihr Radio lief, und zwar mit voller Lautstärke. Die übertriebene Verstärkung verzerrte den Klang der Sinfonie. Kein Wunder, dass sie es nicht läuten hörte. Ich drückte den Finger auf den Knopf und klingelte ununterbrochen. Nichts rührte sich. Ich rüttelte am Türknauf, und die Tür ging auf.

Ich machte drei Schritte, dann sah ich sie. Das Radio war nicht der Grund, warum sie das Läuten nicht gehört hatte.

Als ich ihren seltsam gebogenen Hals sah, die zertrümmerte Schläfe und die weit aufgerissenen, großen Augen, die ohne zu blinzeln nach oben starrten, dachte ich: Sie hat recht gehabt. Es war ein Notfall.

Gleich neben ihrer Hand lag die Tatwaffe: eine von den Gipsfiguren für Künstler, die den menschlichen Körperbau und die Muskelstränge desselben  zeigen.

Sie war so reich, so schön und – so tot. Francesca Leonardi-Romanow, die noch das ganze Leben vor sich gehabt hatte... sie war nun nur noch Material für die Akten des Gerichtsmediziners.

Mechanisch, ohne bewusste Absicht, ließ ich mich auf ein Knie nieder und tastete nach ihrem Puls. Natürlich, sie hatte keinen Pulsschlag mehr, die Uhr war abgelaufen. Aber ihr Handgelenk war noch warm. Ich sah mich um, bemerkte den umgestürzten Stuhl und zwei von der Wand weggestoßene, flach am Boden liegende Bilder. Der Kampf war kurz, einseitig und entscheidend gewesen.

Der Tod ist ein seltsames Phänomen. Unbarmherzig und unvermeidlich. Und doch kann man seine Wirklichkeit nicht gleich begreifen. Ich kniete noch immer und hatte nicht bemerkt, dass eine Person das Zimmer betrat. Wahrscheinlich hatte der persische Teppich ihre Schritte gedämpft. Ich hatte überhaupt nichts gehört. Der Schrei war schrill und durchdringend und riss mich hoch wie eine Riesenhand an meinem Genick. Mein Herz klopfte wie rasend, und mein Rückgrat war starr, wie elektrisiert.

Ich drehte mich um.

Wahrscheinlich war sie eine schöne Frau, wenn man ihren Typ mochte, aber ich sah sie in einem ungünstigen Augenblick.

---ENDE DER LESEPROBE---