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Hamburg im Jahre 1986. Düstere Aussichten für Henk Griefenhagen: Der korrupte Ex-Hauptkommissar Jasper Graumann, den Henk überführte und ins Gefängnis brachte, wird aus der Haftanstalt Fuhlsbüttel entlassen. Und Graumann treibt nur ein einziger Gedanke an: Rache! Eine Schlinge mörderischer Intrigen zieht sich immer enger um Griefenhagens Hals zusammen, die Lage scheint hoffnungslos. Und nur Griefenhagen selbst kann sich aus dieser tödlichen Umklammerung befreien... Griefenhagen und die Vergeltung von Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien JACK KANDLBINDER ERMITTELT, EIN FALL FÜR REMIGIUS JUNGBLUT, DIE UNHEIMLICHEN FÄLLE DES EDGAR WALLACE und FRIESLAND, ist der zweite Band einer Reihe von spannenden Hamburg-Krimis um den Ex-Polizisten Henk Griefenhagen.
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CHRISTIAN DÖRGE
GRIEFENHAGEN
UND DIE VERGELTUNG
Roman
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
Der Autor
GRIEFENHAGEN UND DIE VERGELTUNG
Die Hauptpersonen dieses Romans
Prolog: Perspektivenwechsel/Juni 1986
Erstes Kapitel/November 1986
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Epilog
Copyright © 2023 by Christian Dörge/Signum-Verlag.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg
Cover: Copyright © by Zasu Menil.
Verlag:
Signum-Verlag
Winthirstraße 11
80639 München
www.signum-literatur.com
Hamburg im Jahre 1986.
Düstere Aussichten für Henk Griefenhagen: Der korrupte Ex-Hauptkommissar Jasper Graumann, den Henk überführte und ins Gefängnis brachte, wird aus der Haftanstalt Fuhlsbüttel entlassen. Und Graumann treibt nur ein einziger Gedanke an: Rache!
Eine Schlinge mörderischer Intrigen zieht sich immer enger um Griefenhagens Hals zusammen, die Lage scheint hoffnungslos. Und nur Griefenhagen selbst kann sich aus dieser tödlichen Umklammerung befreien...
Griefenhagen und die Vergeltung von Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien Jack Kandlbinder ermittelt, Ein Fall für Remigius Jungblut, Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace und Friesland, ist der zweite Band einer Reihe von spannenden Hamburg-Krimis um den Ex-Polizisten Henk Griefenhagen.
Christian Dörge, Jahrgang 1969.
Schriftsteller, Dramatiker, Musiker, Theater-Schauspieler und -Regisseur.
Erste Veröffentlichungen 1988 und 1989: Phenomena (Roman), Opera (Texte).
Von 1989 bis 1993 Leiter der Theatergruppe Orphée-Dramatiques und Inszenierung
eigener Werke, u.a. Eine Selbstspiegelung des Poeten (1990), Das Testament des Orpheus (1990), Das Gefängnis (1992) und Hamlet-Monologe (2014).
1988 bis 2018: Diverse Veröffentlichungen in Anthologien und Literatur-Periodika.
Veröffentlichung der Textsammlungen Automatik (1991) sowie Gift und Lichter von Paris (beide 1993).
Seit 1992 erfolgreich als Komponist und Sänger seiner Projekte Syria und Borgia Disco sowie als Spoken Words-Artist im Rahmen zahlreicher Literatur-Vertonungen; Veröffentlichung von über 60 Alben, u.a. Ozymandias Of Egypt (1994), Marrakesh Night Market (1995), Antiphon (1996), A Gift From Culture (1996), Metroland (1999), Slow Night (2003), Sixties Alien Love Story (2010), American Gothic (2011), Flower Mercy Needle Chain (2011), Analog (2010), Apotheosis (2011), Tristana 9212 (2012), On Glass (2014), The Sound Of Snow (2015), American Life (2015), Cyberpunk (2016).
Rückkehr zur Literatur im Jahr 2013: Veröffentlichung der Theaterstücke Hamlet-Monologe und Macbeth-Monologe (beide 2015) und von Kopernikus 8818 – Eine Werkausgabe (2019), einer ersten umfangreichen Werkschau seiner experimentelleren Arbeiten.
2021 veröffentlicht Christian Dörge mehrere Kriminal-Romane und beginnt drei Roman-Serien: Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, Ein Fall für Remigius Jungblut und Friesland.
2023 erscheinen seine neuen Alben Kafkaland und Lycia, sich entfernen.
Künstler-Homepage: www.christiandoerge.de
Henk Griefenhagen: ehemaliger Kripo-Beamter.
Luan Chén: Ex-Kollege und bester Freund Griefenhagens.
Jasper Graumann: ehemaliger Hauptkommissar bei der Hamburger Kriminalpolizei.
Maren Graumann: seine ungeliebte Ex-Ehefrau.
Smilla Persson: Griefenhagens Freundin.
Sören Messerschmidt: Polizeipräsident von Wilhelmsburg und Hamburg Mitte.
Eike Böckmann: Rechtsanwalt der Familie Griefenhagen.
Hauke Knüttel: Inspektor bei der Hamburger Kripo.
Kacper Jankowski: ein diskreter polnischer Elektroingenieur.
Hong Zhào: ein undurchsichtiger Chinese.
Dieser Roman spielt im Jahr 1986 in Hamburg.
Es war Juni. Die Sonne war lange geblieben und hatte alles erwärmt, was sie berührte. Smilla trug einen Bikini und sammelte die Krebsschalen ein. Um vier hatten sie gegessen, nebeneinander draußen auf dem Deck liegend. Im Korb war Obst und in der Kühltasche Bier.
Griefenhagens einzige körperliche Ertüchtigung hatte darin bestanden, Luan Chén die Tür aufzumachen, als der läutete.
Als die Straßenlichter angingen, sah Griefenhagen auf seine Uhr. Blitzende Diamanten zeichneten den Verlauf der Brücken nach.
»Zwanzig nach neun. Ist dir klar, dass wir heute den ganzen Tag keinen Finger krummgemacht haben?«
»Das gilt vielleicht für euch«, sagte Chén. Er trug immer noch den gestreiften Anzug mit Krawatte, während er Brot ins Wasser warf, an welchem die Fische keinerlei Interesse zeigten. »Ich schulte seit heute Morgen um acht.«
Smilla verschwand mit den Überresten ihrer Mahlzeit. Griefenhagen drehte sich auf der Liege um.
»Ich hab' gehört«, bemerkte Chén, »Graumanns Frau hat sich scheiden lassen...« Er öffnete eine Dose Bier, trank und wischte den Mund mit dem Handrücken ab.
Griefenhagen nahm ihm die Büchse ab und leerte sie. »Ich könnt' mir denken, dass es andersrum war«, meinte er. »Sie soll doch was mit einem vom Rauschgift-Dezernat gehabt haben...«
Smilla kam wieder an Deck. Sie hatte sich den Kanga um die Hüften geschlungen und ihr karamellfarbenes Haar zurückgebunden. Missbilligung stand auf ihrem Gesicht, als sie von Griefenhagen zu Chén blickte.
»Ihr Männer macht mich ganz krank. Beim Klatschen seid ihr schlimmer als Frauen.«
Griefenhagen zwinkerte seinem Freund zu. »Wir nehmen solche Dinge eben sehr ernst – Ehe und Scheidung...«
Chén lehnte sich an den Deckaufbau. »Sie haben ihn nach Fuhlsbüttel verlegt. Er arbeitet draußen. Könnte jederzeit türmen.«
Griefenhagen griff nach einer Zigarette und zog Smilla zu sich herunter.
»Lass ihn doch.« Er legte seinen Arm um Smillas warme Schultern und berührte ihre Haut mit den Lippen. »Du riechst nach Sonnenöl und Krebsfleisch. Eine interessante Mischung.«
Sie lächelte dieser Tage häufiger.
»Erinnere mich dran, dass ich dich morgen fotografiere«, sagte sie. »In dieser Beleuchtung siehst du beinahe präsentabel aus.«
»Du lieber Gott!« Luan Chén streckte sich auf seinen kurzen Säbelbeinen. »Das halt’ ich nicht mehr aus. Ich seh’ euch nächste Woche. Bleib ruhig liegen. Ich find’ schon raus.«
Die Gangway-Tür knallte zu. Wenig später hörten sie den Golf davontuckern. Still lagen sie nebeneinander, eingeschläfert von der sachten Bewegung des Boots. Das violett schimmernde Licht gab ihrem Gesicht Weichheit.
»Weißt du was«, sagte er impulsiv. »Den heutigen Tag möchte ich nie vergessen.«
Sie lächelte. »Es macht dich also glücklich, dein Leben mit einer Frau zu teilen, die sich weigert zu tun, was du sagst? Es wird nicht immer so sein.«
»Ich weiß«, erwiderte er und ließ ihre Hand los. »Komm, gehen wir ins Bett.«
Das Läuten des Telefons riss Griefenhagen aus dem Schlaf. Er griff zum Hörer, während er schlaftrunken auf den Wecker auf dem Nachttisch sah. Es war zwanzig Minuten nach acht, und draußen war der Himmel noch dunkel. Eine Möwe kreischte gellend.
»Moin, Griefenhagen!«, grüßte eine muntere Stimme.
Griefenhagen wälzte sich auf den Rücken und schloss die Augen. »Mensch, Luan, es ist Sonntagmorgen!«
Luan Chén rief sicher von seinem Penthouse auf der anderen Seite der Elbe an. An einem klaren Tag konnte man das Haus sehen, ein ockerfarbener Tupfer vor dem Taubengrau der Lagerhallen.
Luan Chén, seines Zeichens Polizeibeamter, nahm den Vorwurf auf die leichte Schulter.
»Was ist denn los mit euch? Habt ihr gestern zu viel getrunken?«
Griefenhagen versuchte, den Schlaf abzuschütteln. Er konnte Smilla sehen, die in seinem blauen Bademantel in der Küche stand, und er roch, dass Eier und Schinken gebrutzelt wurden. Sie kam zur Tür und hielt die Kaffeemaschine hoch, so dass er sie sehen konnte. Wenn Smilla da war, tranken Sie Kaffee zum Frühstück. War er allein, trank er Tee.
»Es ist Luan«, sagte er.
»Dann leg nicht gleich auf. Ich will noch mit Li-Ming reden. Ich hab’ seit Wochen nicht mehr mit ihr gesprochen«, erklärte sie.
Ihr schulterlanges Haar hatte die Farbe hellen Tabaks, und sie hatte es am Hinterkopf zu einem losen Knoten geschlungen. Sie besaß ein Talent dafür, immer frisch wie der junge Tag auszusehen, ganz gleich, wie sehr sie am Abend zuvor über die Stränge geschlagen hatte. Er konnte sich nicht erinnern, dass Smilla je als schön bezeichnet worden war, doch ihre weit auseinanderliegenden Augen und ihr langgliedriger Körper hatten einen ganz besonderen Reiz.
Er gab ihre Nachricht weiter und teilte ihr Chéns Antwort mit.
»Li-Ming ist in Hannover. Sie kommt erst am Zwölften zurück.« Li-Ming Chén war Cellistin bei den Hamburger Philharmonikern.
Griefenhagen schlüpfte wieder unter die Decke. Im Sommer waren in das Hausboot Doppelfenster und fest schließende Schiebetüren eingebaut worden. Kerzen brannten jetzt, ohne zu tropfen, und selbst Frau Schröder, aller Veränderung abhold, musste zugeben, dass es eine Verbesserung war. Es gäbe nicht mehr so viel Staub, bekannte sie widerwillig.
»Rate mal«, plauderte Luan Chén weiter, »wer auf der Liste entlassener Strafgefangener aufgetaucht ist?«
»Jemand, den ich kenne?«
»Jasper Graumann«, sagte Chén.
»Ach nein«, meinte Griefenhagen.
»Ach ja«, versetzte Chén. »Und da ich weiß, was er dir angedroht hat, dachte ich, das würde dich interessieren.«
Die Erinnerung führte zwölf Jahre zurück in eine Zeit, als Griefenhagen noch bei der Polizei gewesen war, Inspektor bei der Kriminalpolizei. Sein Zusammentreffen mit Hauptkommissar Graumann war rein dienstlicher Natur gewesen – er, der Jüngere, hatte den Dienstälteren um einen Rat gefragt. Aus Gründen, die Griefenhagen niemals völlig klar geworden waren, hatte Graumann eine starke Abneigung gegen ihn entwickelt. In den folgenden Jahren gab er sich alle Mühe, Griefenhagens Karriere zu zerstören. Die Umstände veranlassten Griefenhagen, den Dienst zu quittieren. Es war Ironie des Schicksals, dass es wenig später Griefenhagen war, der dafür sorgte, dass Graumann hinter Gitter wanderte.
»Und wie lange hat er nun insgesamt gesessen?«, fragte Griefenhagen.
»Fünf Jahre und vier Monate.«
Eine andere Szene tauchte in der Erinnerung auf: Gerichtssaal Nummer eins im Gebäude am Sievekingplatz. Graumann hatte soeben die Urteilsverkündung gehört und starrte, aschfahl im Gesicht, auf Griefenhagen. Die beiden Wärter wollten Graumann mit sich ziehen, doch der klammerte sich ans Geländer der Anklagebank. Seine Stimme schallte plötzlich laut durch den Saal.
»Ich kehre zurück, Griefenhagen!«, rief er. »Ich kehre zurück, und dann werden ich mit Ihnen abrechnen.«
Griefenhagen kratzte sich am Kopf. »Hm, naja, eine freudige Nachricht ist das nicht gerade.«
»Auf der Liste steht, dass er am Freitag entlassen worden ist«, bemerkte Chén.
»Wahrscheinlich sitzt er im Rollstuhl«, entgegnete Griefenhagen. »Er ist doch inzwischen mindestens siebzig.«
»Zweiundsechzig«, korrigierte Chén. »Sei bloß vorsichtig. Der Kerl ist ein rachsüchtiges Schwein.«
Griefenhagen gähnte. »War das alles, was du mir mitteilen wolltest?«
»Du bist nicht nur undankbar«, erwiderte Chén, »sondern unhöflich dazu. Wann spielen wir wieder mal Squash?«
»Wahrscheinlich nie wieder«, antwortete Griefenhagen. »Du sprichst mit einem Mann, den man langsam aber sicher seiner Männlichkeit beraubt. Ich musste gestern zu Doktor Wittich. Spritzen gegen meine Krampfadern.«
»Versuch’s doch mit Akupunktur«, riet Chén eifrig. »Ich mach’ dich mit einem chinesischen Heilpraktiker bekannt. Akupunktur heilt alles. Gib der hübschen Dame, die bei dir lebt, einen Kuss von mir.«
Griefenhagen schwang die Beine aus dem Bett und betrachtete kopfschüttelnd seine Waden. Die Schwellungen waren zurückgegangen, aber er wusste, dass der nächste Schritt die Operation sein würde.
Er schlüpfte in seinen Pyjama, putzte sich die Zähne und humpelte in die Küche. Smilla hatte den Raum neu tapezieren lassen, in einem hellen, aber leuchtenden Gelb, welches das Grau des Winters aufhellte. Auf dem Tisch stand eine Vase mit Freesien, ihren Lieblingsblumen, deren Duft das ganze Boot erfüllte. Sie hatte die Sonntagszeitungen aus dem Kasten am Ende der Gangway geholt.
»Worum ging’s denn?«, fragte sie, während sie einen voll beladenen Teller vor ihn hinstellte.
»Was ist das für Kaffee?«, fragte er.
»Der, den wir schon seit Monaten trinken. Ich hab’ ihn aus Paris mitgebracht.« Über den Rand ihrer Tasse hinweg sah sie ihn an. »Was wollte Luan?«
Oben am Kai war es ruhig. Hamburg schlummerte noch in der Stille des Wochenendes.
Er zuckte die Achseln. »Ach, nichts. Er wollte mir nur sagen, dass ein Mann, den ich kenne, aus dem Gefängnis entlassen worden ist.«
Sie hob ihre Tasse, und die Ärmel des Bademantels glitten an ihren Armen herunter.
»Was ist das für ein Mann?«
»Ein gewisser Graumann. Ich habe seinerzeit mit dafür gesorgt, dass er eingebuchtet wurde.«
Er spießte ein Stück Schinken auf und tauchte es ins Eigelb.
»Du hast auf deinen Pyjama gekleckert«, bemerkte sie. Dann kniff sie die Augen zusammen. »Ach ja, ich weiß. Das ist der Mann, der dir im Gerichtssaal gedroht hat. Hauptkommissar Graumann. Was hat Luan denn über ihn gesagt?«
Die Seemöwe schlingerte sachte in der Dünung eines vorüberstampfenden Schiffes. Griefenhagen wischte sich den Mund ab.
»Nicht viel. Du weißt doch, was Luan immer gleich für ein Getue macht.«
»Nein«, entgegnete sie kühl, »ich weiß nicht, was Luan immer für ein Getue macht. So wie ich ihn sehe, vermag ihn kaum etwas zu erschüttern.«
»Okay, okay«, sagte er und hob abwehrend die Hand. »Reden wir doch von was anderem.«
Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und drückte ihr Kinn auf die gefalteten Hände.
»Worüber würdest du dich denn gern unterhalten?« Er hatte das Falsche gesagt und sah die Falle zu spät.
»Ehe und Kinder?«, fragte sie.
Er griff nach den Zeitungen. »Hör mal, Schatz, ich hab’ immer noch einen Kater und meine Beine tun mir weh. Außerdem haben wir dieses Thema bereits 943mal durchgekaut.«
Ihre Augen blitzten. »Über die Dinge, die mir wichtig sind, willst du nie sprechen. Das war schon immer so.«
Er warf die Zeitungen auf den Tisch.
»Das ist ganz einfach nicht wahr. Vor drei Jahren hast du nicht von Ehe und Kindern gesprochen.«
»Ja, weil ich noch hoffte, du würdest das Thema zur Sprache bringen.«
Er schüttelte langsam den Kopf.
»Ich bin, wie ich bin, das kann ich nun mal nicht ändern. Die Art von Verpflichtungen, von denen du sprichst, wollte ich nie, und das weißt du auch. Bitte lass uns darüber jetzt nicht streiten.«
Sie holte tief Atem. »Ich weiß nicht recht, wie ich das jetzt sagen soll, Henk. Ich bin mir nicht sicher, was da vorgeht, aber es ist auf jeden Fall nicht gut. Ich mach’ mir Sorgen um uns, aber besonders mach’ ich mir Sorgen um dich.«
Draußen war es jetzt hell, und die Möwen lärmten auf den Schlickbänken.
»Ich habe mich nicht verändert«, sagte er. »Ich bin der gleiche geblieben.«
Sie streckte den Arm über den Tisch und nahm seine Hand. »Das ist ja das Problem, zumindest zum Teil. Ich bitte dich, dich zu verändern. Du hast immer gesagt, du würdest dir am liebsten ein Boot kaufen und segeln. Der eisige Nordwind, weißt du noch? Warum tust du’s denn nicht? Wir können es zusammen tun! Kein Gerede mehr von Ehe und Kindern. Wir tun ganz einfach etwas zusammen, ehe es zu spät ist. Nur wir beide – ganz allein.«
Ihre Hand lag warm auf der seinen, und er lächelte.
»Ich weiß, was das ausgelöst hat. Du glaubst, ich werde Schwierigkeiten mit Graumann bekommen, nicht wahr? Vergiss es, Smilla. Für mich ist er nicht mehr als einer von vielen Sträflingen. Ich habe bestimmt an die zweihundert Leute ins Kittchen gebracht, als ich noch bei der Polizei war. Wenn ich mir von jeder Drohung dieser Leute den Schlaf rauben ließe, könnte ich mir gleich selbst eine Kugel durch den Kopf jagen.«
Sie zog ihre Hand weg und trug das Frühstücksgeschirr zum Spültisch.
»Also, ich geh’ wieder ins Bett«, beschloss er. »Kommst du mit, Henk?«
Sie drehte sich um. Ihr Gesicht war weder glücklich noch traurig. »Mach nur so weiter. Dann hast du bald überhaupt keine Freunde mehr. Nicht mal mich.«
Griefenhagen zuckte die Achseln, ging ins Schlafzimmer und zog die Vorhänge zu.
Graumann saß auf der Bank vor dem Büro des Gefängnisdirektors; bewacht von einem großen Mann mit angriffslustigem Schnurrbart und einem Repertoire wachsamer Posen. Im Augenblick stand er mit gespreizten Beinen, die Schultern gestrafft, die Hände auf dem Rücken. Die Augen durften umherschweifen, schnellten aber beim geringsten Anlass zurück.
Der Wärter sprang in Hab-Acht-Steilung, als eine Stimme durch die Tür schallte. Er öffnete, salutierte zackig und bedeutete Graumann aufzustehen.
»Geben Sie dem Gefängnisdirektor Ihren vollständigen Namen und Ihre Nummer an.«
Es war halb fünf Uhr an einem grauen November-Nachmittag.
Der Mann hinter dem Schreibtisch blickte zum Wärter hin. »Danke, Herr Stockert. Sie können die Tür hinter sich schließen.«
Graumann blieb vor dem Schreibtisch stehen.
»Eins-sieben-sechs-acht, Jasper Graumann.« Das übliche Herr Direktor ließ er weg.
Der Direktor wies auf einen Stuhl. Er war ein schmächtiger Mann Ende Fünfzig in seinem zerknitterten Tweedanzug. Das letzte Mal war Graumann bei seiner Ankunft im Gefängnis in diesem Büro gewesen. Große Fenster blickten auf die Grünanlagen vor dem Verwaltungsgebäude. Im Kamin brannte ein Kohlefeuer. Der Raum war mit kunstgewerblichen Gegenständen geschmückt, die die Häftlinge hergestellt hatten. Der Teppich war abgetreten, das Mobiliar unscheinbar. Dennoch vermittelte das Zimmer nach der Trostlosigkeit der Zellen und Korridore einen Eindruck von Behaglichkeit und Wärme.
Graumann lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, ein aggressiv wirkender Mann mit rotem Gesicht und eisengrauem Haar. Er trug die Gefängnisuniform aus blauem Flanell und schwere Schuhe dazu.
Der Direktor lächelte. »Der große Tag, wie?«
Graumann verbarg seine Abneigung, gleichzeitig entschlossen, keinesfalls zu kriechen. Wenn er sich nicht eines eklatanten Verstoßes gegen die Gefängnisvorschriften schuldig machte, konnten sie ihm jetzt nichts mehr anhaben. Einen Antrag auf Bewährung hatte er nicht gestellt. Ein korrupter Polizeibeamter hatte da etwa die gleichen Chancen wie ein Kindermörder.
Graumann starrte durch das Fenster in den grauen Tag hinaus, während der Direktor seine Akte aufschlug. Da steht alles drin, dachte Graumann. Das Protokoll des Leidens eines Menschen – so detailliert und umfassend, wie die Schweine es nur fertigzubringen vermochten. Krankengeschichte, Arbeitsbericht, abfällige Bemerkungen vom Pastor und von den Wärtern – all die unnützen Kommentare, die nur dazu da waren, das Gefühl von Autorität zu verstärken.
Direktor Unrath zog seinen Sessel vom Feuer weg.
»Sie geben mir Rätsel auf, Graumann. Sie haben sich gut geführt. Sie haben sich, seit Sie hierhergekommen sind, nicht eine einzige Dummheit geleistet. Aber Sie haben auch keinerlei Interesse an irgendwelchen freiwilligen Aktivitäten gezeigt. Sie haben sich weder für Abendkurse gemeldet noch an organisierten Freizeitprogrammen teilgenommen.«
Graumann verzog den Mund. »Das haben Sie selbst mir doch geraten, als ich ankam. Verhalten Sie sich ruhig und machen Sie keine Dummheiten.«
Der Direktor lächelte ihm zu, von Mann zu Mann.
»Daran haben Sie sich wirklich gehalten; alles, was recht ist. Aber vermutlich sind Sie ein Mensch, der das sowieso getan hätte. Eine Position wie Sie sie bei der Polizei innehatten, erreicht man nicht, wenn man nicht weiß, wo es langgeht.«
»List und Schläue«, betonte Graumann.
Der Gefängnisdirektor schien sich plötzlich unbehaglich zu fühlen.
»Haben Sie irgendwelche Klagen hinsichtlich Ihrer Behandlung hier?«
Graumann grinste. »Da wäre ich wohl ein bisschen spät dran. Beschwerden sind dann fällig, wenn die Dinge passieren. Nein, ich habe keine Klagen.«
»Ich würde den Laden hier auch gern anders führen.« Direktor Unrath war beinahe um einen vertraulichen Tonfall bemüht. »Aber Vorschriften sind nun mal Vorschriften.«
Graumann hob lässig die bulligen Schultern. »Ich habe mir den Aufenthalt hier auch nicht ausgesucht.«
»Nein, wohl nicht. Ich habe das Gefühl, wir reden aneinander vorbei.«
»Sie reden, ich höre zu«, versetzte Graumann gleichgültig.
Der Direktor sann darüber einen Moment lang nach.
»Ja«, stimmte er schließlich zu, »darauf läuft es wohl in etwa hinaus. Wissen Sie, als ich die Laufbahn des Gefängnisdirektors einschlug, hatte ich die besten Absichten. Ich hatte große Reformpläne. Aber ich hatte nicht mit der Renitenz des Systems gerechnet. Es ist de facto unmöglich, ein Gefängnis zu leiten und dabei ein Mensch zu bleiben.«
Graumann genoss die Situation. »Es ist de facto unmöglich, eine Nummer auf dem Ärmel zu tragen und dabei ein Mensch zu bleiben.«
Das Lächeln des Direktors wirkte müde. »Dessen bin ich mir bewusst. Mir geht es darum, Ihnen begreiflich zu machen, dass es mich interessiert, was aus den Menschen wird, die von hier fortgehen.«
»Das dürfte für Sie doch leicht zu erfahren sein«, erwiderte Graumann. »Die meisten kommen doch sowieso zurück.« Er war zweiundsechzig Jahre alt, aber alles in allem hatte er sich in seinem ganzen Leben nicht besser gefühlt. Die letzten achtzehn Monate hatte er im Freien gearbeitet. Ein Gefühl des Wohlbefindens stimmte ihn milde.
Direktor Unrath blätterte wieder in Graumanns Dossier. Draußen im Hof flammten die Lichter auf und warfen harte Schatten auf die Betonmauern. Das erste Kläffen kam aus den Hundezwingern.
»Sie scheinen hier kaum Briefe geschrieben zu haben.« Der Ton des Direktors war verwundert.
»Drei insgesamt«, bemerkte Graumann. Sie waren alle an seinen Anwalt gerichtet gewesen.
Ein Kohlestück fiel im Kamin herunter, und Funken sprühten auf. Der Direktor war bei Graumanns Krankengeschichte angekommen.
»Hier sehe ich eine Empfehlung, einen Herzspezialisten aufzusuchen.«
»Die Empfehlung hätte man mir schon vor vier Jahren geben können. Mein Herz ist heute nicht in schlechterer Verfassung als damals. Mich haut so schnell nichts um.«
Der Direktor klappte die Akte zu. »Warum wollten Sie den Vertreter der Rehabilitationshilfe nicht empfangen?«
»Die Antwort darauf ist einfach«, flüsterte Graumann. »Er hatte mir nichts zu bieten.«
Das Lächeln des Direktors war ein wenig bitter. »Ich habe das starke Gefühl, dass ich hier in die Schranken gewiesen werde. Gerade solche Momente sind es, in denen mir klar wird, dass ich meine Aufgabe nicht richtig erfüllen kann.«
Graumann half ihm nicht. Der Kerl wollte Streicheleinheiten, wollte Absolution.
Nach kurzem Zögern stand Direktor Unrath auf und streckte seine Hand hin. »Auf jeden Fall wünsche ich Ihnen viel Glück.«
»Danke«, antwortete Graumann und übersah die dargebotene Hand.
Häftlinge, deren Entlassung bevorstand, verbrachten ihre letzte Nacht im Verwaltungsflügel, abgeschlossen von den übrigen Bewohnern. Graumann stand nackt in dem Büro, sah seinen hängenden Bauch und seine schlaffe Haut. Der Wärter, der ihn gründlich durchsucht hatte, damit er nicht etwas aus dem Gefängnis nehme, das er nicht selbst hereingebracht hatte, warf ihm ein Leintuch zu. Graumann hatte es eilig, nach Hause zu kommen.
»Erste Zelle rechts«, sagte er. »Werfen Sie das Leintuch raus und legen Sie sich dann hin.«
Graumann schloss die Zellentür. Ein paar Minuten später hörte er das Tor zufallen.
Seine Zivilkleidung lag auf dem Bett, und ein Umschlag auf dem Tisch enthielt seine persönlichen Wertsachen. Es war seltsam, Dinge zu betrachten, die man jahrelang nicht mehr gesehen hatte – jene Gegenstände, die er in seinen Taschen getragen hatte, als er verhaftet worden war. Sein Adressbuch hatte die Polizei behalten. Lächerlich, wenn die glaubten, dass ihnen das jetzt noch etwas nutzte.
Er sah den Rest seiner Sachen durch. Das Haus in Bramfeld war nach der Scheidung seiner Frau zugesprochen worden. So wie er Maren kannte, hatte sie garantiert als erstes sämtliche Schlösser auswechseln lassen. Er lächelte selbst jetzt noch, wenn er sich vorstellte, was für ein Gesicht sie gemacht hatte, als sie erfahren hatte, dass das Haus mit einer Hypothek belastet war.
Er nahm die Kleider vom Bett und streckte sich darauf aus, den Schlüssel zu seinem Haus in der Hand. Wenn man die Untersuchungshaft mitrechnete, hatte er sechsundsechzig Monate im Gefängnis verbracht. Alles, was er geplant und vorbereitet hatte, war innerhalb weniger Tage von einem Mann zunichte gemacht worden. Sein Gefühl hatte ihn hinsichtlich Griefenhagens von Anfang an nicht getrogen. Der Mann war nicht einfach ein studierter Polizist, ein Idiot aus besseren Kreisen; er war ein Irrer, der sich als eine Art Racheengel missverstand.
Graumann verschränkte die Arme unter dem Kopf und schloss die Augen. Von dem Moment seiner Verhaftung an war Griefenhagen seinen Gedanken niemals fern gewesen. Wieder roch er den beißenden Qualm, hörte den falschen Feueralarm, der ihn, nur noch Stunden von der Freiheit entfernt, aus seinem Versteck gescheucht hatte. Seine Lippen wurden schmal. Alles Schlimme, was ihm zugestoßen war, hatte er Griefenhagen zu verdanken.
Ganz gleich, was die Leute sagten... Rache war zweifellos süß. Er war zweiundsechzig Jahre alt, hatte weder Familie noch Freunde, und nichts konnte ihn daran hindern, den Rest seines Lebens Griefenhagens Vernichtung zu widmen. Er hatte den Verstand, ein Ziel und Geld, und er hatte allzu viele Erniedrigungen erlitten, um jetzt lockerzulassen.
Graumann schlief unruhig und erwachte um zwanzig vor sechs.
Nachdem er sich angezogen hatte, saß er in der kalten Zelle und wartete auf das erste Schlüsselklirren.
Einer der Nachtwächter brachte Graumann das Frühstück. Er ließ den Schinken liegen und begnügte sich mit dem heißen Tee.
Die Gefängnisuhr schlug acht, als man ihn durch den mit Kopfsteinen gepflasterten Hof führte.