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Günther flieht vor dem Kind seiner Frau, weil dieses Kind ihm Angst macht. Jahre später, heimgekehrt, sucht er bei einem der namenlosen Gräber Trost und einen Ort, an der er an seine Frau denken kann, die kurz nachdem er fortgegangen war, gestorben ist. Eines Tages bemerkt er, dass ihn graue Kieselsteinaugen beobachten. Die Frau mag etwa sechzig sein, vielleicht auch noch nicht ganz. Beim besten Willen, ihr Alter kann man nicht schätzen. Sie setzt ihre große Sonnenbrille auf und steuert die Bank an. Günther rutscht ein wenig zur Seite. Beide schweigen. Die Frau greift sich an die Schläfe. Sie hat das Gefühl, dass man ihre Gedanken hören kann und sie weiß, wenn sie den Mund aufmacht, wird es aus ihr herausplatzen. Um sich abzulenken kneift sie sich ins Bein. Günther bemerkt die Unruhe der Frau und fühlt sich unbehaglich.
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Seitenzahl: 16
Impressum
Bildquelle Cover Pixabay
Verantwortlich für Inhalt und Text
Carola Käpernick
Covergestaltung
Carola Käpernick
Veröffentlichung
Verlag: Selbstverlag über Epubli
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Die Gräber der Namenlosen
Carola Käpernick
Der alte Mann geht jeden Tag zum Friedhof. Zielstrebig schlurft er auf das gepflegte Grab zu, an dem er seine Blumen nieder legen will. Er zupft ein paar trockene Blätter aus den Efeuranken, ordnet die Blumen, harkt und steuert die kleine Holzbank mit den schmiedeeisernen Armlehnen an. Gedankenverloren sitzt er oft stundenlang hier und denkt über sein Leben nach. Günther Preikschat ist 82 Jahre alt. In seinem Leben lief es nicht immer so erfreulich, wie er es sich gewünscht hätte:
Mit sechzehn zieht Günther in den Krieg. Seine Mutter steht in schwarzen Kleidern am Zaun und sieht ihm weinend nach, als er voller Tatendrang zum Bahnhof stürmt. Der Vater war vor vier Monaten gefallen. Angst und Sorge um den Sohn stehen Elfriede Preikschat ins Gesicht geschrieben. Lange hat sie versucht, ihrem Günni das auszureden, aber er spricht von Rache und dass er es seinem Vater schuldig sei.
Hätte Günther damals schon geahnt, dass die zwei härtesten Jahre des Krieges vor ihm lagen, wäre er bei seiner Mutter geblieben. Er sollte seine Mutter nämlich niemals wieder sehen. Sie starb bei einem Bombenangriff. Niemand konnte ihm sagen, wo oder ob sie überhaupt beerdigt worden war.
Als einer der letzten Kriegsgefangenen kam Günther erst Anfang der fünfziger Jahre aus Russland zurück. Ein Fremder in der Heimat. Fünfundzwanzig Jahre alt und im wahrsten Sinne des Wortes mutterseelenallein.