Die große Liebe - Hanns-Josef Ortheil - E-Book
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Die große Liebe E-Book

Hanns-Josef Ortheil

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Beschreibung

Ein Roman der ganz großen Gefühle!

Der Beginn einer Obsession: Zwei, die eigentlich mit beiden Beinen im Leben stehen, lernen sich an der italienischen Adria-Küste kennen und verfallen einander. Sie erkennen, dass sie füreinander geschaffen sind – eine Erfahrung, die keiner von beiden vorher gemacht hat. Zuerst langsam, dann mit rapide wachsender Intensität gehen sie ihren Wünschen nach und versuchen ihre Liebe gegen alle inneren und äußeren Widerstände zu behaupten.

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Seitenzahl: 465

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Satz: Filmsatz Schröter, München

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-641-10867-0V004

www.randomhouse.de

1

PLÖTZLICH das Meer, ganz nah, eine graue, stille, beinahe völlig beruhigte Fläche. Ich reckte mich auf und schaute auf die Uhr, zwei, drei Stunden hatte ich vielleicht geschlafen, jetzt war früher Morgen, kurz nach Fünf, ein Juli-Morgen an der italienischen Adria-Küste. Ich hatte das Meer einfach vergessen, jahrelang hatte ich es nicht gesehen, jetzt lag es mir wie eine weite Verheißung zu Füßen, unaufdringlich und groß, als bekäme ich mit ihm zu tun. Noch war die Sonne nicht da, der Himmel noch graublau und fahl, am Strand keine Bewegung, kein einziger Mensch, nur hier und da einige verlassene, verstreut stehende Liegestühle, Kinderspielzeug, Gerümpel, die schiefen, zusammengeklappten Sonnenschirmpilze, Liegengebliebenes … Doch all das reichte schon, mich zu erregen, es war eine meinen ganzen Körper erfassende Erregung, wie sie mich nach langen Nachtfahrten in Zügen oft in der Morgenfrühe befiel.

 

Zwei weitere Fahrgäste teilten das Zugabteil mit mir, ein stiller, keinen Laut von sich gebender Japaner und ein junger Schweizer, der sich in der Nacht umgezogen und schlafen gelegt hatte, als wäre er noch immer ein wenig bei sich zu Haus. Ich kletterte vorsichtig über die steifen, schlafenden Körper und trat auf den Gang, ruhig und schnell glitt der Zug durch die Landschaft, in der Ferne die grünen Olivenhügel des Südens, mit einem Mal spürte ich mein aufgeregt klopfendes, hellwaches Herz. Im Waschraum wusch ich mir durchs Gesicht, dann schaute ich, als müßte ich mich vergewissern, durch das heruntergezogene Fenster der Waggontür noch einmal hinaus. Das Meer! …, ja, das Meer, die Überraschung hielt an, der Eindruck stimmte, am liebsten wäre ich ausgestiegen, um jetzt, sofort, am Meer entlangzugehen, stundenlang, den ganzen Morgen, wie schön wäre es, dachte ich, so anzukommen, irgendwo ausgespuckt und gleich in der Weite verschwindend.

 

Dann blieb der Zug stehen, die Wolken hingen schwer und staubgrau über dem Wasser und verdeckten noch immer die Frühsonne, es war sehr still, die meisten Fahrgäste schliefen, der stehende Zug atmete aus, immer matter und ruhiger. Draußen, auf dem kleinen Dorfbahnsteig, ging das Zugpersonal auf und ab, als hätte alles so seine Ordnung und als befänden wir uns in einem Film der Fünfziger Jahre. Niemand sprach, eine wattige, dichte Wärme drang herein, vollgesogen mit dem Erdgeruch der nahen Umgebung, dann ein Pfiff, das Personal stieg wieder ein, und die Lok zog vorsichtig an, um unerwartet schnell zu beschleunigen. Mit einem Mal erreichte der Zug eine hohe Geschwindigkeit, die Küstenlandschaft raste wie kleingeschnitten vorbei, gefräst oder zerhäckselt von diesem Tempo.

 

Ich ging in den Speisewagen und trank einen starken, schwarzen Kaffee, als ich ins Abteil zurückkam, waren auch die beiden anderen Fahrgäste wach. Der Japaner, der die ganze Nacht unter einem bunten, wie ein Linnen über den Körper gebreiteten Tuch verbracht hatte, verbeugte sich kurz, während der junge Schweizer schon seine Verpflegung auspackte. Ich nahm die kaum handgroße, digitale Kamera, die Rudolf mir mitgegeben hatte, aus meinem Gepäck, setzte mich wieder ans Fenster und filmte das vorbeigleitende Meer. Manchmal drängten sich häßliche Häuser aus unverputztem Beton vor den Anblick, minimale Gerippe auf ein paar dürftigen Fundamenten, aber ich filmte weiter, denn das Meer leuchtete immer wieder zwischen diesen Bauten hervor. Allmählich belebte sich die Kulisse, einzelne Figuren standen am Strand und schauten mit verschränkten Armen in die Weite, manche waren auch in die Hocke gegangen, als wollten sie den Strand abtasten, es waren fast immer Männer, Männer ohne Begleitung oder höchstens zu zweit, tastende, lauschende, schauende Männer, vom Anblick des Meeres in eine seltsam ruhige Andacht versetzt.

 

Das alles erschien auf dem Display meiner Kamera, der kleine Bildschirm verwandelte es sofort in einen strahlenden Film. Der junge Schweizer beugte sich zu mir hinüber und warf einen Blick darauf, aha!, sagte er kurz und erstaunt, als habe er mit soviel Präzision nicht gerechnet. Auch mir erschien die Abbildung auf dem Bildschirm präziser, festlicher und genauer als das Original, erst gestern abend hatte Rudolf mir in München die Funktionen des kleinen Geräts erklärt, schließlich war ich nur ein Amateur, der den Umgang mit solchen Apparaten nicht wirklich beherrschte.

 

Einen kurzen Moment dachte ich daran, wie wir in der Osteria italiana zu Abend gegessen hatten, ich hatte Kohlrabisuppe, Kalbsnieren und Erdbeeren bestellt, und Rudolf hatte lange von allen nur möglichen Kamera-Feinheiten gesprochen, ganz detailliert, er wurde dabei immer verzückter, als habe er selbst diese Technik erfunden, während mir nichts anderes übriggeblieben war, als in der Bedienungsanleitung zu blättern. Ich hatte ihm nicht mehr folgen können, viel zu lange hatte ihn das Thema gepackt, es war mir seltsam vorgekommen, daß er mein Schweigen nicht bemerkt hatte, er hatte immer weitergesprochen, als müßte ich wirklich jede Einzelheit wissen. Rudolf war schon oft mit dieser kleinen Kamera gereist, manchmal kam es mir so vor, als reiste er nur, um sie auszuführen, immerzu dachte er in Einstellungen und Schnitten, der Beruf des Kameramannes prägte seine Wahrnehmung so sehr, daß er überhaupt nicht mehr naiv in die Welt schauen konnte. Ich hatte ihm schließlich nicht mehr zugehört, sondern auf die Geräusche draußen geachtet, manchmal, wenn neue Gäste hereingekommen waren, war ein frischer Windzug durch das Lokal gestreift, und ich hatte eine bittere Erdfeuchtigkeit gerochen, die Feuchtigkeit des leichten Regens, der so sehr zu den breiten Münchener Straßen paßte. Im Taxi zum Bahnhof hatte Rudolf wieder von Technischem gesprochen, als wäre er besorgt, ich könnte die Kamera falsch bedienen, ich hatte ihm sogar versprechen müssen, mich bei eventuellen Problemen zu melden. Jetzt, jenseits der Alpen, erschienen mir seine Beschwörungen wie eine deutsche Marotte, als verstünde er nichts vom schwerelosen, leichteren Leben auf dieser Seite der Berge.

 

Ich stoppte die Aufnahme, ein heller, kurzer Signalton erklang, plötzlich grinsten wir alle drei, sogar der Japaner tat amüsiert. Seit wir zusammen reisten, hatten wir kaum miteinander gesprochen, jeder reiste auf seine Weise, und als folgten wir einer unausgesprochenen Regel, blieben wir stumm und verkehrten miteinander nur pantomimisch, der Japaner schwieg wie ein Meister des Zen, während der junge Schweizer beinahe ununterbrochen werkelte, leise mit sich selbst redend.

Ich packte die Kamera weg, holte mein schwarzes Notizbuch hervor und begann zu schreiben. Die verhangene Sonne preßte noch eine Weile ein mattes Licht gegen den dichten Wolkenvorhang, dann sah ich die ersten, durch das Grau schießenden Sonnenflecken, sie sprangen über das Meer und zitterten in der Ferne, ich äugte immer wieder dorthin hinaus, während ich schrieb. Zum ersten Mal seit vielen Jahren fahre ich wieder allein, ohne Kollegen, ohne Freunde, ohne eine Frau an meiner Seite. Ich hätte den Billigflug nach Pescara nehmen können, es hätte kaum mehr als eine Stunde gedauert, aber ich wollte noch einmal fahren wie früher, als Schüler und als Student, als es eine Sache der Ehre war, so billig wie möglich zu reisen. So habe ich zwei Stunden mitten in der Nacht auf dem Bahnhof von Bologna verbracht und später versucht, ausgestreckt, auf zwei harten Sitzen eines Zugabteils zu schlafen. Wie früher dehnte sich die Nacht und schien kein Ende zu nehmen, und wie früher war mit der ersten Helligkeit das alles vergessen und die Übermüdung wie weggeblasen. Sogar das alte Glücksgefühl ist wieder da, ein Gefühl, das mit dem Alleinreisen zu tun hat, als bräuchte man zum Alleinreisen Kraft, Überwindung und Ausdauer und als belohnte einen das Glück, wenn man von alledem genug aufbietet. Vielleicht ist das Glück aber auch eine Entspannung,

2

WENIGE STUNDEN später kamen wir in San Benedetto an, unruhig und überstürzt strömten die meisten Reisenden dem Ausgang entgegen, ich ließ mir Zeit und ging den lautstarken Haufen, die sich dann sofort auf die bereits wartenden Autos und Taxis verteilten, langsam hinterher. Draußen vor dem Bahnhofsgebäude standen die blauen Überlandbusse mit laufenden Motoren und weit geöffneten Türen in der gleißenden Sonne, genau gegenüber aber saßen die alten Voyeure auf den weißen Plastikstühlen eines Cafés und beobachteten das Schauspiel. Ich nahm meinen Koffer und ging, den kleinen Rucksack auf dem Rücken, zu ihnen hinüber, ich grüßte freundlich, ließ das Gepäck draußen an einem Tisch stehen, bestellte meinen zweiten schwarzen Kaffee, nahm ihn mit nach draußen und setzte mich.

 

Rudolf hatte von San Benedetto als der Stadt der Palmen gesprochen, ich erinnerte mich daran, als ich die vielen sich aufreckenden Palmwedel auf den schuppig grautrockenen Stämmen sah, die die Straßenzüge entlang paradierten und bis dicht an den Bahnhof reichten. Ich nippte an dem Kaffee und schaute in die Runde, sofort sprach mich einer der Männer an und fragte, woher ich komme. Ich erzählte von München, Monaco, als wäre es ebenfalls eine italienische Stadt, gar nicht weit, er nickte laufend und sprach vom Sommer jetzt. Er sprach ganz präzise, als erinnere er sich an jeden einzelnen Tag im letzten Monat, vier, fünf kurze Regengüsse am Morgen, Temperaturen bereits über vierzig Grad, rasch wieder verziehende Gewitter manchmal in der Nacht, sonst aber die Gleichmäßigkeit ruhiger Tage, ein guter Sommer, zum Glück.

 

Die anderen Männer hörten uns zu, einer fragte, ob ich schon ein Hotel habe, und ich nannte den Namen, ein gutes Hotel, ein Familienhotel mit ausgezeichneter Küche, keine Touristen, antwortete er, als wollte er mir eine Freude machen. Aber ich, sagte ich, ich bin ein Tourist, ich bin ein Fremder. Sie sprechen sehr gut italienisch, Sie sind kein Fremder und auch kein Tourist, entgegnete der Alte, und die anderen stimmten zu, als wäre ich damit aufgenommen in ihren Club. Kommen Sie, sagte einer von ihnen, ich fahre Sie hin, mein Wagen steht dort, und als ich abwehrte und erklärte, lieber ein Taxi nehmen zu wollen, protestierten sie so laut, daß ich das Angebot annahm.

 

Während der Fahrt fielen mir die grünen Palmwedel wieder auf, oft waren die Häuser zu beiden Seiten vor lauter Palmen kaum zu sehen, den breiten Boulevard, der direkt am Meer verlief, schmückten gleich mehrere Reihen. Mein Fahrer drehte sich zu mir um und fragte, wie lange ich Ferien machen wolle, und ich antwortete, daß ich keine Ferien mache, sondern beruflich hier sei, als Journalist. Er tat erstaunt, als habe er etwas Bedeutsames gehört, er nahm an, ich sei für eine Zeitung unterwegs, für eine große Zeitung, setzte er noch hinzu, und ich korrigierte ihn und antwortete, daß ich fürs Fernsehen unterwegs sei und für einen Film recherchiere, einen Film über die Stadt, das Meer und das berühmte meeresbiologische Institut.

Diese Auskunft schien ihn noch munterer zu machen, er strich sich mit der Rechten übers Haar und murmelte etwas wie zur Probe vor sich hin, anscheinend überlegte er bereits, wie er mir helfen könne. Dann sprach er vom Hafen und davon, daß der Hafen das eigentliche Herz dieser Stadt sei, die ganze Stadt sei aus dem Hafen hervorgegangen, und er habe ihn noch genau vor Augen, als er nichts anderes gewesen sei als ein kleiner Fischerhafen, die großen bunten Segel der alten Schiffe gebe es jetzt im Museum zu sehen, im Museum am Hafen, gleich neben dem meeresbiologischen Institut.

 

Ich lehnte mich zurück und hörte ihm zu, ich mochte die liebende, schwärmerische Suada, mit der er erzählte, es hörte sich an, als spräche er ein altes, klares Latein. Als er vor dem Hotel hielt, griff ich nach meinem Gepäck und wollte mich von ihm verabschieden, aber er wehrte ab und begleitete mich hinein. Hinter der Rezeption stand ein Mann seines Alters mit einem Gesicht ewiger Bräune, er breitete die Arme aus, als wollte er uns gleich beide umarmen, trat dann aber ins Foyer, um seinen Freund leicht an der Schulter zu packen, sie schienen sich sehr lange zu kennen und sprachen miteinander in ganz vertraulichem, liebevollem Ton. Ich sagte mir, daß ich besonderes Glück gehabt hatte, von einem guten Freund des Hoteliers hierhergefahren worden zu sein, mein Fahrer erzählte von mir, als hätten wir den halben Morgen miteinander verbracht, schließlich kramte er eine Visitenkarte aus seinem Portemonnaie, überreichte sie mir und ging zur Tür, ich wollte ihm zum Abschied ein Trinkgeld geben, aber er wehrte ab, als wäre ein solches Angebot seiner nicht würdig.

 

Auch als er verschwunden war, hielt sich die gute Stimmung, der Hotelier stellte sich vor, nannte sich aber lediglich Carlo, als sei es ausgemacht, daß wir untereinander nur mit den Vornamen verkehrten. Ich zog gleich mit und deutete, als müßte nicht er mir, sondern ich ihm die Sprache beibringen, auf mich selbst, ich heiße Giovanni, Gio-vanni, sagte ich, und so standen Carlo und Giovanni einander gegenüber, als hätten sie gerade im Eiltempo einige lästige Hürden des Lebens mit Leichtigkeit übersprungen. Ich dachte auch gleich daran, wie hilfreich dieser Mann mir bei meiner Arbeit sein könne, auch bei früheren Reisen hatte ich manches Mal Glück mit Bekanntschaften dieser Art gehabt, die einem die richtigen Auskünfte gaben und oft die besten Wege zu einem Ziel wußten. Hatte man einen solchen zuverlässigen Menschen gefunden, kam man um vieles schneller voran, für kurze Zeit war man mit einem Eingeweihten im Bunde und näherte sich den Geheimnissen der Fremde nicht mehr wie jemand, der jeden Schritt allein tun mußte.

 

Carlo kratzte sich am Kopf, nahm einen Zimmerschlüssel vom Schlüsselbrett und begleitete mich zum Aufzug, er sagte, daß er mir ein sehr schönes Zimmer im fünften Stock geben werde, ein Zimmer mit Blick auf das Meer und zu den Bergen, er akzentuierte das und ganz besonders, als werde mir eine seltene Auszeichnung zuteil. Ich ging auch gleich auf das Spiel ein, das Meer und die Berge sagte auch ich, als ließe ich mir die Worte auf der Zunge zergehen. Mein Italienisch war nicht perfekt, aber ich besaß eine gute Aussprache, schon früher hatte ich meine Gesprächspartner damit oft so getäuscht, daß sie mich, solange der Vorrat der Wendungen reichte, für einen Italiener gehalten hatten. Auch an Carlo bemerkte ich diese Täuschung, sie war daran zu erkennen, daß er schnell und beiläufig sprach und die Wortenden verschleifte, er setzte voraus, daß ich alles verstand, irgendwann aber würde der Moment kommen, an dem ich diesen guten Glauben mit einem einzigen falschen Wort ins Wanken bringen würde.

 

Wir fuhren zusammen hinauf, oben öffnete er mit einem leichten Ächzen die Zimmertür und ließ mich eintreten. Es war ein großes, helles Zimmer, durch eine schmale Tür betrat man einen ums Eck laufenden Balkon, auf dem Tisch und Stühle standen. Ich blickte hinunter aufs Meer, es war ein überwältigender Anblick, die Strandpartien erschienen durch die Symmetrie der Sonnenschirme und Liegestühle wie breite, monochrome Streifen, die bis hinunter zum Leuchtturm nahe dem Hafen lückenlos dicht aufeinanderfolgten, an diesen bunten Teppich reihten sich die neueren Stadtteile mit ihren Hotels und den rechtwinklig aufeinandertreffenden Straßen, bis das Gelände allmählich zu den ockergelben, mattgrünen Hügeln hin anstieg.

 

Ich ging etwas fassungslos auf dem kleinen Balkon auf und ab, dieses Zimmer war ein richtiger Treffer, ich hätte gern etwas Passendes zu diesem starken Eindruck gesagt, aber vor lauter Glück verhedderte ich mich in Gedanken beim Durchspielen der Sätze, so daß ich nur sichtbar tief und befreit durchatmete, als wäre ich vollkommen hingerissen von dieser Kulisse. Carlo lächelte, als habe er nichts anderes erwartet, mir fiel plötzlich das Wort Wohlgefallen ein, er betrachtet Dich mit Wohlgefallen, dachte ich, das war genau die richtige Wendung, einen Moment suchte ich nach einer entsprechenden italienischen, fand aber wie benommen nichts annähernd Passendes. Er schien auch nichts Besonderes von mir zu erwarten, jedenfalls machte er meiner Verlegenheit ein Ende, indem er vom Mittagessen sprach, das Essen, sagte er, werde in einer halben Stunde serviert, sicher hätte ich Hunger genug, nach der langen, anstrengenden Reise. Ich sagte, daß ich in einer halben Stunde zur Stelle sein werde, ich mußte dabei etwas grinsen, denn meine Antwort kam jetzt sehr schnell und mitten hinein in seinen Satz, als hätte ich den Einsatz in einem Musikstück genau getroffen. Er nickte auch gleich, wünschte mir einen schönen Aufenthalt, bot mir seine Hilfe für alle Fälle an und zog sich mit jener Diskretion zurück, die mir noch einmal beweisen sollte, wie sehr er gerade mich als seinen besonders bevorzugten Gast schätzte.

 

Ich packte Koffer und Rucksack schnell aus, ging kurz unter die Dusche und setzte mich dann noch für einige Minuten nach draußen auf den Balkon. Im Vorgarten des Hotels standen die Gäste in kleinen Gruppen und warteten bereits auf das Essen, die Strände waren leer, kein Wind wehte, das starke Mittagssonnenlicht bleichte die Farben. Beim Verlassen des Zimmers blickte ich auf den kleinen Tisch neben der Garderobe: Die Handkamera, das Fernglas, das schwarze Notizbuch, Stifte aller Art, Zeichenpapier, ein Diktiergerät …, wie ein heutiges Stilleben, dachte ich, wie das Stillleben eines Handwerkers.

 

Unten an der Rezeption drängten sich die Gäste in dichten Trauben vor dem angeschlagenen Speisezettel, der laut vorgelesen und ausführlich kommentiert wurde, Carlo bemerkte mich, kam zu mir und führte mich in den Speisesaal, wo er mir einen kleinen Tisch zuwies. Er fragte, ob ich allein sitzen wolle, doch er wartete meine Antwort nur aus Höflichkeit ab, in Wahrheit rechnete er mit nichts anderem, einer wie ich saß allein, solo, fast hätte ich ihn mit einem solissimo überboten, zum Glück beließ ich es bei einem zustimmenden Nicken. Wenn wie heute alles beinahe ohne mein Zutun gelang, machte sich in meinem Wortschatz manchmal eine gewisse Albernheit breit, ich wußte, daß ich mich davor hüten mußte, es war längst noch nicht klar, ob ein Mann wie Carlo so etwas richtig verstand. Ich nahm Platz, doch das unterdrückte Wort plagte mich wie ein Ohrwurm, solissimo, ging es mir immerzu durch den Kopf, Carlo schaute zu, wie ich mich setzte, schließlich sagte ich, als hätte ich endlich das passende Wort für diese Situation gefunden, ja, genau, bis ich eine attraktive Bekanntschaft gemacht habe, will ich einen Tisch für mich allein. Ich bereute sofort, was ich gesagt hatte, attraktive Bekanntschaft paßte ganz und gar nicht zu mir, so eine Wendung machte mich älter, geradezu häßlich alt, ich hatte mich vergaloppiert, aber Carlo tat so, als hätte ich lediglich etwas Freundliches, Nichtiges gesagt, pure Konversation, wir werden sehen, antwortete er, ich war geradezu erleichtert, wie er über mein Gerede hinwegging.

 

3

ICH ZOG den Korken aus der gut gekühlten Weißweinflasche, schenkte mir ein Glas ein und trank einen Schluck, sofort, ohne jede Verzögerung, spürte ich die Wirkung des Alkohols, als nähme er sich meiner Müdigkeit an, um sie schlagartig zu vertreiben, es war wie ein kurzer, animierender Schock, so daß ich gleich einen zweiten Schluck nahm.

Die Kellner zogen mit den bunten Spaghetti-Bergen durch die Reihen, um sie auf die hingeschobenen großen Teller zu verteilen, die Stimmung im Saal war jetzt beinahe ausgelassen, man hörte die anfeuernden, kommentierenden Rufe der Gäste, wenn sich die Spaghetti-Fäden auf die Teller senkten. Da ich ganz am äußersten Rand des Saales, nahe der großen Fensterfront, saß und so schnell nicht bedient werden würde, schlug ich das meeresbiologische Fachbuch auf, am nächsten Morgen hatte ich meinen ersten Termin im Museum, zumindest einige Grundbegriffe, die ich mir in den letzten Wochen angelesen hatte, wollte ich auffrischen.

 

Am meisten hatten mich die Kapitel über die Lebensräume im Meer interessiert, immer wieder war ich an den Abbildungen dieser Seiten hängengeblieben. Der Algenbereich mit seinen Grün-, Rot- und Brauntönen, mikroskopisch kleine Sträucher, in denen sich die Krebse verfingen. Der graugrüne Sandboden mit den kaum erkennbaren Umrißabdrücken der Plattfische. Der schlammige Grüngrund, pastos, mit bemoosten Muscheln und den Texturen von kleinen fünfarmigen Sternen.

 

Ich starrte mal auf die Bilder, mal hinaus auf den Boulevard, der Blick flog über den Palmwedelteppich des Hotelvorgartens auf die im Sonnenlicht glitzernde Meeresfläche, bis hin zu den Segelbooten am weißen Horizontstreifen. Ich füllte das Wasserglas und leerte es gleich, dann stand der junge Kellner neben mir und bot mir die Pasta an, Spaghettini, sagte er, ich serviere Ihnen spaghettini, mögen Sie spaghettini?

Die dünnen Nudelfäden schlangen sich um dunkle Oliven, Kapern, kleine Tomatenstücke und rosa Anchovis, grüne, spitz zulaufende Blätter lagen mittendrin wie ein zentrales Nest. Was sind das für Blätter? fragte ich. Zitronenblätter, antwortete der Kellner, das sind Zitronenblätter.

Ich nahm noch einen Schluck Wein, als ich die Nudeln mit der Gabel aufzurollen begann, fischte ich in den Tiefen des Meeres. Die zusammengerollten grünen Zitronenblätter erinnerten an die Algenwälder der Abbildungen, das ganze Gericht schmeckte intensiv nach Meer und Fisch.

 

Ich sehe, es schmeckt Ihnen, sagte der ältere Mann am Nebentisch. Wem sollte so etwas nicht schmecken? antwortete ich. Ah, nicht alle mögen Fisch, sagte er, aber wenn man hier keinen Fisch mag, sollte man zu Hause bleiben. Unbedingt, antwortete ich, man sollte in die Berge fahren und sich an fetten Landwürsten mästen.

Nun ja, sagte er, auch fette Landwürste sind nicht zu verachten, kaum eine halbe Stunde von hier ist man schon in den Bergen, wo es sehr gute gibt.

Da er mit seiner Frau kaum ein Wort wechselte, war er anscheinend froh, einen anderen Gesprächspartner gefunden zu haben, sein Gesicht war gerötet, freudig gerötet, dachte ich und überlegte, wie ich ihn auf Distanz halten konnte. Er hob sein Glas und prostete mir zu, salute, sagte er, und ich dachte salute, cum grano salis, salute, wieder war ich in einen leichten Wortwirrwarr geraten.

Was lesen Sie denn da, fragte er, es sieht aus wie ein Kochbuch. O nein nein, antwortete ich, das ist kein Kochbuch, sondern ein meeresbiologisches Fachbuch. Sie sind Meeresbiologe? fragte er sofort nach.

Ich erklärte ihm kurz, was mich nach San Benedetto geführt hatte, er tat beeindruckt, als wäre die Arbeit eines Fernseh-Redakteurs etwas Besonderes, ja Exquisites, ich schenkte mir Wein nach und vertiefte mich mit gespieltem Interesse wieder in mein Fachbuch.

Ich las von Einzellern, Ultra- und Mikro-Plankton, ich betrachtete die Kleinstorganismen, die sich dicht an das, wie es hieß, »Oberflächenhäutchen« des Meeres schmiegten. Unterhalb der schwebenden, kaum beweglichen Schicht gab es schwerere, aber immer noch passiv schwimmende Wesen wie etwa die Veilchenschnecken, die angeblich auf selbstgebauten Schaumflößen dahertrieben, aktiver waren die umherschweifenden Arten, denen es aber auch nicht gelang, gegen die Strömung anzuschwimmen, erst die Fische waren aktive Schwimmer und wechselten ihre Lebensräume aus eigener Kraft.

Winzige Schnecken in leeren Seepockengehäusen …, das Wasserrelief der Kalkausfällungen auf grauen Steinen …, Seeigel- und Molluskenschalen auf schwerem Grobsand – die präzisen Fotografien übten einen so stark ästhetischen Reiz auf mich aus, daß ich gar nicht darauf achtete, was sie mir eigentlich erklären sollten, ich betrachtete sie eher wie kleine Bilder, die mich an eigene Meereseindrücke erinnerten. Worte wie »Seepockengehäuse« oder »Kalkausfällungen« las ich mehrmals, in ihrer anschaulichen Präzision gefielen sie mir besonders, daneben verstärkten sie die Neugierde, ich freute mich auf meinen ersten Gang am Meer entlang, wo ich all das wiederzufinden hoffte.

 

Als ich umblätterte, stand Carlo neben mir und blickte mir über die Schulter, zu Beginn der Mahlzeit hatte er sich allein an einen kleinen Tisch hinter der Tür gesetzt, das schien sein Platz zu sein, der Platz des Beobachters, der alles übersah und kaum etwas aß. In ruhigem Ton fragte er, ob ich zufrieden sei, und ich antwortete, der Wein sei zu gut, ich trinke zuviel davon. Sie werden sich an ihn gewöhnen, sagte er, jedenfalls beneide ich Sie, ich komme weder zum Trinken noch zum Essen, wenn die Gäste zugreifen, verliere ich jeden Appetit.

 

Er sprach sehr leise mit mir, es war ein Flüstern, als wollte er vermeiden, daß noch andere das Gespräch hörten. Wir redeten miteinander, als hätten wir Geheimnisse, es war ein seltsamer Dialog, wie zwischen Eingeweihten, die die anderen links liegen ließen. Ich werde Sie zum Essen einladen, sagte ich schließlich, irgendwo da draußen am Meer, damit Sie einmal etwas von der Welt zu sehen bekommen. Ich danke, Sie sind sehr freundlich, antwortete er grinsend und ging wieder zurück an seinen Tisch.

Während ich ihm hinterherschaute, wußte ich endgültig, daß ich in ihm eine Art Partner gefunden hatte, das Treiben der Gäste schien er mit leichter Ironie zu verfolgen, vielleicht war ich für ihn einer, dem er ebenfalls Distanz und Ironie zutraute, jedenfalls hatte unser Gespräch einen Ton angenommen, als wären wir zwei erfahrene Aufsichtspersonen für einen Haufen verwöhnter Kinder.

 

Nach dem Essen trank ich an der Bar im Foyer des Hotels einen doppelten schwarzen Kaffee und ging hinauf auf mein Zimmer. Die meisten Gäste begaben sich jetzt zur Ruhe, zwei, drei Stunden würden sie während der größten Hitze des Tages in ihren kühlen Zimmern verbringen, auch ich war sehr müde, die beinahe schlaflos verbrachte Nacht im Zug hinterließ ihre Spuren, doch war ich zu neugierig und unruhig, um dem Beispiel der anderen zu folgen.

4

DIE LIEGESTUHLREIHEN waren jetzt am späten Mittag fast leer, nur hier und da döste ein einzelner Schläfer, die Rettungs- und Tretboote kauerten zwischen den Reihen im tieferen Sand, zu jeder Strandpartie gehörte ein kleines Café oder ein Restaurant, weiter hinten, am Boulevard.

Ich ging barfuß am Meer entlang, meine Füße hinterließen im niedrigen Wasser einen prägnanten Abdruck, den die flachen Wellen sofort wieder wegspülten. Ich sah bleiche Schwämme und Flechten, gummiartige Mooshände zwischen Muscheln und Schnecken, fast durchsichtige Krebsskelette lagen neben gestreiften Mövenfedern und gallertigen Trauben leerer Eihülsen, ich fixierte das alles und nahm mir vor, es später einmal zu filmen.

So ging ich, den Blick meist nur auf einen schmalen Uferstreifen gerichtet, bis die feinen Sandstrände aufhörten und, weit draußen, schon am Rande der Stadt, von Steinhalden und einer schwer zugänglichen Steppe abgelöst wurden. Ich trank etwas Wasser und legte mich in einen Felsschatten, meine Augen tränten im beizenden Sonnenlicht vor Überanstrengung, als ich den Kopf ganz zurück, auf den Sand fallenließ, schlief ich sofort ein.

 

Das Keuchen eines Hundes ganz in meiner Nähe weckte mich. Ich hatte beinahe zwei Stunden geschlafen, die Sonne stand über den Hügeln, und die Strandpartien hatten sich längst wieder gefüllt. Ich stand auf und ging den langen Weg zurück, Läufer trabten am Meer entlang, Boccia-, Fußball-und Federballspieler kreuzten den Weg, dazwischen fliegende Händler, mit bunten Tüchern, Uhren und Kokosnüssen. Der gesamte Küstenstreifen war jetzt in Bewegung, wippend und swingend, ein einziges Sport- und Spiele-Terrain, die Windsurfer schossen hinaus aufs Meer, zwischen den Plätzen der Volleyballspieler drehten sich die Trampolinspringer, das Ganze war unterlegt mit Musik, Ansagen und lauter Werbung, wie ein lärmender Schreckensreigen in Filmen von Jacques Tati.

 

Ich ließ alles hinter mir und erreichte endlich die Mole, der Lärm verebbte, und die Sonne zog ihr Licht langsam ab, so daß die Farben satter hervortraten, orange, grün und gelb, beinahe metallisch. Die schmale Molenzunge bestand zum Meer hin aus schweren Steinquadern, ich stieg hinauf und tänzelte auf ihnen entlang, bis an ihrem Ende, in Nähe der Hafeneinfahrt, eine Sprossenleiter hinauf zu dem Ausguck neben dem blinkenden Laternenlicht führte. Von oben sah ich das Panorama der Küste, es sah aus wie ein schimmernder Halbreif, eingefaßt von den Flutlichtzonen der Strandrestaurants. Ich konnte kaum glauben, daß ich in den letzten Stunden diese ganze Strecke zurückgelegt hatte, schon reihten sich die stärksten Bilder zu einer Folge, wie ich sie mir als eine Sequenz in dem späteren Film gut vorstellen konnte. Ein Schwenk vom Balkon meines Hotels, die Küste entlang, ein paar Standbilder am Mittag zwischen den leeren Liegestuhlreihen, eine Totale von hier oben am Abend …, von einem so sonnigen Tag wie dem heutigen würde das eine gute Vorstellung ergeben.

 

Wieder hinabgestiegen, sah ich unten, daß jemand auf den schweren, dunkelroten Betonsockel des Ausgucks in blauer Schrift Il rumore del mare gesprüht hatte, auch das mußte ich filmen, vielleicht eignete sich die naive Buchstabendramatik dieses Blaus sogar als Filmtitel. Während ich auf den Steinquadern der Mole zurücklief, begegnete ich einigen Anglern, die stumm aufs dunkle Meer hinausschauten. Hier draußen, nahe dem Hafen, befand ich mich in einem stillen, geschützten Bereich, es war die Zone der einsamen Radfahrer und Liebespaare, die allein und unbeobachtet sein wollten.

 

Erst jetzt fiel mir die kleine Trattoria am Anfang der Mole auf, deren gläserner Kubus von allen Seiten einzusehen war, er stand direkt neben einigen aufgebockten Schiffen, die zur Reparatur auf eine weite, öde Strandfläche gebracht worden waren. In der Küche begannen gerade die Kochvorbereitungen, die Tische drinnen waren bereits gedeckt, bei diesem Anblick befiel mich ein jäher Hunger.

Ich ging hinein, die meisten Plätze waren reserviert, aber ich bekam noch einen freien Tisch in einer Ecke. So bestellte ich wenig später als erster, schon den ganzen Nachmittag hatte ich an gegrillten Fisch gedacht, eine gegrillte Brasse wollte ich essen, eine gegrillte Brasse mit viel Zitrone, dazu etwas Salat, das würde reichen.

 

Ich blätterte noch etwas in dem meeresbiologischen Fachbuch, ich trank leichten Weißwein, doch als sich das Lokal immer mehr füllte, sehnte ich mich plötzlich nach einem Gegenüber. Auf vielen Reisen war ich allein gewesen, meine Arbeit brachte das mit sich, so daß ich mich auskannte mit dem Alleinsein und wußte, wie ich mit seinen überfallartigen Melancholien umgehen mußte. Ich durfte nicht allzuviel trinken, auf keinen Fall, und ich mußte mich ablenken, durch ein paar Notizen oder einfach dadurch, daß ich meine Umgebung beobachtete.

An diesem Abend aber fühlte ich mich zu schwach für solche Ablenkungsmanöver, ich wollte gerade eine weitere Karaffe Wein bestellen, als der Fisch serviert wurde. Durch die große Hitze war seine silberne Haut an den Rändern transparent geworden und ließ das weiße Fleisch durchscheinen, neben dem Auge trat das Skelett des Kiemendeckels hervor. Als ich ihn zu filetieren begann, legte sich meine Unruhe und wich der Lust auf das Essen. Ich ließ mir den größten verfügbaren Teller geben und drapierte die leicht angebräunten Fischstreifen nebeneinander, dann beträufelte ich alles mit Zitronensaft, nippte noch einmal an meinem Weinglas und begann die Mahlzeit.

Während ich aß, füllte sich das Lokal rasch, und bald tobte in ihm ein beinahe höllischer Lärm. Die großen Gruppen, die die Tische bevölkerten, sprachen ungeniert laut miteinander und riefen den Kellnern immerzu etwas hinterher, während ich mich ganz im Abseits befand, in der einzigen toten Ecke. Ich hörte noch eine Weile zu, aber als ich den Fisch verzehrt hatte, beeilte ich mich mit der Bezahlung. Ich wäre gern noch sitzen geblieben, aber an diesem ersten Abend fühlte ich mich zu mutlos und zu allein, um noch Freude an diesem Spektakel zu haben. Einen Moment dachte ich daran, mit Rudolf zu telefonieren, um wenigstens mit ihm ein wenig zu plaudern, doch als ich mir den Beginn unseres Gespräches vorstellte, ließ ich diesen Gedanken gleich wieder fallen. Rudolf war nicht mein Freund, Rudolf war mein Kameramann, beruflich waren wir oft zusammen unterwegs und verstanden uns gut, aber ich konnte und wollte ihm nichts allzu Privates erzählen. So packte ich meine Sachen zusammen, zahlte vorn an der Kasse und quetschte mich an den überfüllten Stuhlreihen vorbei nach draußen, niemand beachtete mich.

 

Ich ging zurück ans Meer, ich wollte noch einmal den Strand entlang durch das tiefe Dunkel zu meinem Hotel, als ich eine leichte Windbrise spürte. Ich setzte mich seitlich auf das vordere Teil eines Liegestuhls, eigentlich hatte ich erst am nächsten Tag ins Meer gehen wollen, doch jetzt erschien mir ein nächtliches Bad wie eine große Verlockung, die mir über meine abendliche Ermüdung vielleicht hinweghelfen würde. Ich zog mich aus, verstaute meine Sachen unter dem Liegestuhl und lief rasch ins Wasser. Als wollte ich ganz verschwinden, tauchte ich sofort ab, ich hörte nichts mehr, keine Geräusche, nicht den geringsten störenden Ton, nach dem Aufenthalt im Lokal war es eine richtige Wohltat. Solange ich konnte, blieb ich unten, für einen Moment glaubte ich die bunten Szenen des meeresbiologischen Buches zu sehen, kurze Blitze, dicht hinter der Netzhaut, angesaugt von der dunklen Flut.

 

Ich schwamm einige hundert Meter hinaus, sehr rasch, die meiste Zeit unter Wasser, dann drehte ich, warf noch einen kurzen Blick auf die Küste und tauchte langsam zurück. Der leere Strand war in der Dunkelheit von besonderer Schönheit, an einigen Stellen brannten kleine Feuer, ich hörte gedämpfte Stimmen und Gesang, wie stille und trotzige Gegenhymnen zum lauten Tagesprogramm. Ich kleidete mich wieder an und legte mich in den Liegestuhl, ich wollte noch ein paar Minuten hier verbringen, doch dann dachte ich daran, daß es gefährlich sein könnte, an einem solchen Ort einzuschlafen.

 

Als ich im Hotel ankam, stand Carlo noch an der Rezeption. Ich sehe, Sie kommen ohne attraktive Bekanntschaft, sagte er. Ich hatte geahnt, daß er sich diese Wendung merken würde, es war mir peinlich, sie jetzt aus seinem Mund zu hören. Ich habe eine Brasse verzehrt, antwortete ich, als wäre das eine Antwort auf seine Bemerkung. Er erkundigte sich, wo ich gegessen hatte, und begann, von den Fischrestaurants am Meer zu erzählen, er holte einen kleinen Stadtplan heraus und zeichnete die Lage der besten mit einem Bleistift ein. Bitte verstehen Sie richtig, sagte ich, Ihr Mittagessen war ausgezeichnet, ich bin aber nicht als Tourist hier, sondern muß mich überall umsehen, um die besten Bilder zu finden. Keine Sorge, antwortete er, ich verstehe Sie richtig, Sie brauchen mir das nicht zu erklären, und Eifersucht gehört in meinem Alter nicht mehr zu den ganz großen Themen. Wir redeten noch eine Weile und tranken zum Schluß einen Averna, dann ging ich hinauf auf mein Zimmer.

5

AM NÄCHSTEN Morgen erreichte ich kurz vor Neun das Meeresmuseum, es befand sich im ersten Stock eines unauffälligen Backsteinbaus neben der großen Fischmarkthalle im Hafen. Von oben hatte man einen weiten Blick über das Hafengelände, die Fischkutter kauerten dicht gedrängt nebeneinander im Rund des Hauptbeckens, daneben lag der kleinere Yachthafen.

Ich betrat das Museum und kam in einen büroartigen Vorraum, ein Wärter hielt mich auf, ich stellte mich vor und erklärte, warum ich gekommen sei. Er ließ mich draußen auf dem Flur stehen, verschwand im Büro, setzte sich hinter den Schreibtisch, rückte seine Krawatte zurecht und telefonierte. Seine Erklärungen hörten sich an, als sei mir gegenüber ein gewisses Mißtrauen angebracht, er sagte, jemand sei wegen eines »angeblichen« Termins hier, nach dem Ende seines viel zu langen Telefonats kam er aber mit sichtbarem Widerwillen zurück, um mir zu verkünden, daß die Dottoressa gleich kommen werde. Die Dottoressa? fragte ich nach. Ja, die Direktorin, Dottoressa Franca, erklärte er mit wichtigtuerischer Miene. Jetzt verstehe ich, antwortete ich und nahm mir vor, noch einmal auf das Fax zu schauen, auf dem der Termin schriftlich bestätigt worden war. Der Wärter aber ließ mich erneut stehen, murmelte etwas Höhnisches und verschwand im Büro.

 

Die Tür zu den Ausstellungssälen war weit geöffnet, ich trat ein, um einen ersten Blick auf die Vitrinen zu werfen. Kaum hatte ich einige Schritte getan, war der Wärter bereits wieder hinter mir her und befahl mir in strengem Ton, die Säle sofort zu verlassen. Ich deutete auf die geöffneten Türen, die Türen sind weit geöffnet, sagte ich ruhig, warum sollte ich da nicht eintreten? Die Türen, entgegnete er scharf, sind für die Angestellten, nicht für die Besucher geöffnet, das Museum ist noch geschlossen. Ich bemühte mich, weiter ruhig zu bleiben, ich legte mir meine Sätze zurecht, dann sagte ich ihm sehr gelassen und so, als wäre nicht von ihm, sondern von einem anderen Menschen die Rede, ich fände seine Ausführungen idiotisch, die Türen seien geöffnet, basta, ob nun für Angestellte oder für Besucher, das sei doch völlig egal.

Er protestierte und wurde laut, ich verstand nicht mehr alles, was er hervorbrachte, ich tat, als hörte ich ihn nicht und als wäre mir sein Gerede vollkommen gleichgültig, ich ging weiter an den Vitrinen entlang, blieb vor einem Schaukasten mit kleinen Algenformationen stehen und beugte mich scheinbar beflissen darüber. Als sich von der Treppe her Schritte näherten, schien er der Person sofort entgegenzueilen, er sprach von meinem unmöglichen Benehmen, vom Widerstand gegen eine Amtsperson und davon, daß er das auf gar keinen Fall hinnehmen werde.

 

Ich stand noch immer mit dem Rücken zu ihm, als ich eine weibliche Stimme antworten hörte, sie klang sehr ruhig, vollkommen sicher und war von einer melodisch klingenden Art, die mich sofort aufhorchen ließ. Ich hörte, daß sie dem Schimpfenden dankte, doch ich verstand nicht deutlich wofür, es schien auch weniger auf den Dank selbst als auf den Ton anzukommen, es war ein unmißverständlich abwiegelnder, die Angelegenheit herunterspielender Ton. Dann aber wurde sie leiser und bat, noch um eine Spur weicher und noch etwas melodischer, um den Gefallen, ihr unten eine Zeitung und ein Päckchen Zigaretten zu besorgen, zwei Kaffee seien auch nicht schlecht, zwei, ach nein, drei … Sofort schien die Stimmung zu kippen und sich zu entkrampfen, denn ich hörte, daß mein Verfolger sich erfreut gab, als gebe es nichts Schöneres, als der Dottoressa einen Gefallen zu tun, anscheinend machte er sich auch gleich auf und davon, eine Tür wurde geschlagen, das Geräusch war so heftig, daß ich mich umdrehte.

 

Sie war ungewöhnlich groß und hatte langes, blondes Haar, mit einem Stich ins Rötliche, sie trug ein langes, grünes Kleid, mit dessen Schlichtheit die beiden einzigen goldenen Schmuckstücke, eine Halskette und ein Ring, kontrastierten. Als sie mich erkannte, fuhr sie sich mit der Rechten durchs Haar, es war eine leicht verlegene Geste, als wollte sie das, was sie gerade gesagt hatte, gleich korrigieren. Ich aber kam ihr zuvor, ich sprang geradezu in die Unterhaltung und entschuldigte mich, als hätte ich nur darauf gewartet, zugeben zu dürfen, daß ich mich danebenbenommen hatte. Ich bitte Sie, antwortete sie, natürlich war es richtig von Ihnen, die Säle zu betreten, was hätten Sie denn tun sollen, warten etwa und kostbare Zeit vergeuden? Es war richtig von Ihnen, aber ich durfte es Antonio gegenüber nicht zugeben, Menschen wie er leben von den kleinen Gesetzen des Alltags. Deshalb habe ich ihn nach draußen geschickt, er hört nicht, was ich jetzt sage, und damit hat sich das Problem erledigt.

 

Sie hatte ihre Selbstsicherheit wiedergefunden und sprach, als habe sie auf alles, ohne lange überlegen zu müssen, genau die richtige Antwort, sie bat mich zurück in das Büro, wir setzten uns einander gegenüber ans Fenster, sie stützte sich mit den Ellbogen leicht auf die Schreibtischplatte und fragte, wie sie mir bei meinem Filmvorhaben helfen könne. Ihr offener, neugieriger Blick und ihr direktes Fragen irritierten mich, sie beherrschte den Raum so stark, daß ich unwillkürlich begann, in meinen Taschen nach dem Fax zu suchen. Was aber wollte ich damit? Wir kannten beide die mageren Zeilen, die sie und ich gewechselt hatten, ich brauchte sie nicht noch einmal vorzulesen, jetzt mußte mir ein neuer, besserer Text einfallen, um diese Situation zu bestehen.

 

Ich schaute durchs Fenster auf das Hafengelände, als fände ich draußen Hilfe, in der Nähe des Anlegeplatzes der Fischkutter stand mein Verfolger und unterhielt sich angeregt mit einem Bekannten. Schauen Sie mal, sagte ich, sollte Ihr Angestellter nicht Kaffee und Zigaretten holen? Sie schaute nach draußen und wiegelte ab, er müsse sich Luft verschaffen und das Geschehene zunächst mindestens drei Freunden erzählen, dann habe er den Kopf frei für den Kaffee und die Zigaretten. Die drei Fassungen würde ich gern mal zu hören bekommen, sagte ich, das würde mich interessieren. Sie stockte einen Moment, als horche sie auf, irgend etwas ging ihr durch den Kopf, ich spürte förmlich, daß sie sich gerade zwischen zwei Alternativen entschied. Dann beugte sie sich etwas nach vorn und ging auf mein Spiel ein, ich hörte völlig verblüfft zu, wie sie loslegte. Fassung 1 ist erregt, hochdramatisch, sagte sie, und Antonio erscheint darin als der starke Gewinner, Fassung 2 ist gefaßter und zeigt ihn als geschickten Taktierer, und in Fassung 3 ist er ganz souverän, der liebe Gott, dem all diese Dinge nichts anhaben können, man könnte die drei Fassungen als Erregungsabbau verstehen.

 

Ich konnte ihrem Blick nicht standhalten, ich schaute noch einmal hinaus, als suchte ich draußen nach einer Bestätigung ihrer Worte, sie hatte sehr schnell und ohne Pause gesprochen, als habe sie sich das alles schon vor langer Zeit überlegt. Ich war irritiert, sie mußte doch spüren, daß ich sie abzulenken versuchte, andererseits schien sie das alles hier nicht als Ablenkung zu verstehen, sondern tat so, als bereite es ihr Vergnügen, mit mir gemeinsam über dies und das nachzudenken. Genau dazu aber, mit ihr über dies und das nachzudenken, hatte ich plötzlich große Lust, das eigentliche Thema unseres Termins war mir beinahe gefährlich egal, ich hätte gewettet, daß ihr zu den absonderlichsten Themen etwas Verblüffendes eingefallen wäre, sie machte auf mich diesen Eindruck, den Eindruck einer sehr weiblichen, umweglosen, scharfen Intelligenz.

 

Und als wären wir längst auf einem persönlichen Terrain gelandet, beugte nun wiederum ich mich zu ihr vor und fragte, ob sie in San Benedetto geboren, ob sie von hier sei. Noch während ich die Frage stellte, wurde mir heiß, als ginge ich ein besonderes Risiko ein. Unüberlegt, nur von einem unbestimmten Instinkt getrieben, war ich über das Ziel unseres Gesprächs hinausgeschossen, ich hätte mir auf die Zunge beißen können, so peinlich war mir dieser Sprung ins Private. Sie tat aber weder erstaunt noch irritiert, sondern antwortete sehr rasch, daß sie hier geboren und aufgewachsen sei, einen Teil ihrer Jugend aber in Südtirol bei einer Großmutter verbracht habe. Ah, erwiderte ich und bemühte mich, ebenso schnell zu reagieren, das habe ich beinahe vermutet, aber fragen Sie mich nicht, wie ich darauf komme. Ich frage Sie nicht, sagte sie, aber ich frage Sie, ob es Ihnen lieber ist, wenn wir Deutsch miteinander sprechen. Es wäre mir lieber, entgegnete ich, es wäre sogar geradezu ideal, dann käme ich bei den fachlichen Details nicht in Verlegenheit.

 

Genau in diesem Moment kam Antonio, der Wärter, herein. Er stellte das Tablett mit den beiden Kaffeetassen auf den Tisch, schob die Zeitung daneben und legte die Zigarettenschachtel obenauf. Sie bedankte sich kurz, wechselte dann aber den Ton und fragte mich in beinahe offizieller Manier, was sie genau für mich tun könne. Ich räusperte mich, lehnte mich im Stuhl zurück und sprach von einem Film über die italienische Adria-Küste, nichts Touristischem, nichts Kulturellem, sondern einem Film über das Meer, an dem sich die deutschen Touristen ja bekanntlich wochenlang aufhielten. Der Film solle vom Meer erzählen, nicht auf spektakuläre Weise, sondern ganz einfach, mit Hilfe von guten, genauen Beobachtungen, Fische, Pflanzen, der Strand, am besten fände ich es, das Terrain meeresbiologisch zu erkunden, auf angenehm lehrreiche Art. Angenehm lehrreich …, wiederholte sie gleich. Ja, antwortete ich, am liebsten würde ich die Kamera an einem ganz normalen Strandstück aufbauen, da, wo alle entlanglaufen. Woraus besteht der Sand? Wie unterscheiden sich die Wellenbewegungen? Welche Lebensräume gibt es in fünfzig Zentimeter Tiefe, welche in hundert?

 

Sie hörte mir, wie es mir schien, leicht belustigt zu, jedenfalls behielt sie ihr Lächeln bei, als ahnte sie, daß ich von alledem kaum eine Ahnung hatte. Während ich weiterredete und den Film ausmalte, schob sie mir einen Kaffee zu und nippte an dem ihren, ich hätte den Raum jetzt gern verlassen, um ein paar Schritte zu tun, aber ich trank gehorsam und erging mich in Wiederholungen, es war ein unpräzises, kreisendes Reden, als suchte ich noch nach einem Zentrum. Ich kann Ihnen hier nur skizzieren, was ich vorhabe, endete ich schließlich, das Beste fällt einem meist erst während der Dreharbeiten ein. Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, antwortete sie, ich habe verstanden, was Sie vorhaben, kommen Sie, gehen wir ein paar Schritte durch das Museum. Ich hatte eine der üblichen Kurzführungen erwartet, einige Worte über die Gründung und den Bau des Museums, einen knappen Rundgang, der mir einen Überblick verschaffen sollte, doch es kam dann ganz anders. Sie führte mich anscheinend ohne System oder Plan durch die Räume, wir begannen irgendwo in der Mitte, gingen wieder in die Nähe des Eingangs, sahen uns weiter hinten, in den dunkleren Zonen um, jedes Mal ging es um einen einzigen Fund, ein Fischskelett, eine Schnecke, winzige Algenspuren auf weißem Grund. Sie sprach knapp und ganz detailliert von all diesen Objekten, sie erklärte sie nicht und erwähnte ihre Eigenarten mit keinem Wort, statt dessen deutete sie nur auf ein paar kaum sichtbare Besonderheiten, die Färbung einer Außenlippe, die Wölbung einer hornigen Außenschicht, die Durchsichtigkeit von geöhrten Tentakeln. Es war eine Art Schau, ein begeistertes Sehen, auch ihr Tonfall vermittelte diese Begeisterung, eine Verliebtheit in den Anblick von Schönheit, als ginge es hier nicht um Gegenstände der Forschung, sondern um rein ästhetische Reize.

 

Hilflos und etwas ohnmächtig ging ich neben ihr her, es wäre mir wie eine Pietätlosigkeit vorgekommen, sie zu unterbrechen, ich hatte jetzt keine Fragen zu stellen, ich durfte mich im Grunde nicht einmal bemerkbar machen, sonst hätte ich alles verdorben. Je länger wir gingen, um so mehr wuchs meine Anspannung, ihre Begeisterung sprang auf mich über, am liebsten hätte ich mich dann und wann als gelehriger Schüler erwiesen und selbst einmal mit irgendeinem kurzen Hinweis geglänzt, aber ich wußte genau, es war dafür zu früh. Was geht hier vor, dachte ich nur, als müßte mir ein gutes Wort dazu einfallen, und dann kam ich auf Verzücktheit, plötzlich drehte sich dieses altmodische Wort in meinem Kopf, sie ist verzückt, und sie macht mich verzückt, dachte ich und hätte, um zumindest irgendeinen zustimmenden Laut von mir zu geben, beinahe laut zu summen begonnen.

Die gefleckten Antennen der Langusten, die Augenstiele der Krebse, die stacheligen Höcker der Seespinnen – sie benannte das alles sehr genau, ich begriff, daß ich nur hinschauen und mich wundern sollte, es war wie ein kleiner Grundkurs in Aufmerksamkeit, am liebsten hätte ich sie dabei gefilmt. Aber ich wagte nicht einmal, sie von der Seite anzuschauen, nur für einen kurzen Moment sah ich ihr Gesicht in einem Spiegel, es war leicht, kaum merklich gerötet, als versuchte sie, ihre Begeisterung nicht zu verraten.

 

So zogen wir, ohne irgendwo länger zu verweilen, durch alle Räume, ihre Führung hatte beinahe etwas von der Art eines Kindes, das sich nur auf die schönsten und hervorstechendsten Dinge beschränkt und sich an ihnen nicht satt sehen kann. Am Ende kamen wir wieder in ihrem Büro an, atemlos, dachte ich und sagte nach der langen, schweigsam verbrachten Zeit nur, daß mir die Schönheit all dieser Lebewesen noch nie so gegenwärtig gewesen sei. Was glauben Sie, warum ich mich damit beschäftige, antwortete sie, genau deshalb, aus keinem anderen Grund. Sie sagte das wie zum Abschluß und als sagte sie es nur so dahin, aber ich spürte, daß es in Wahrheit die Antwort auf mein Gestammel gewesen war, sie hatte mir, ohne sich aufzuhalten, das eigentliche Thema gezeigt.

 

Unschlüssig blieb ich neben ihr stehen und überlegte, wie ich einen Übergang zu den praktischen Fragen finden konnte, doch sie kam mir zuvor, indem sie mich fragte, wie lange ich bleiben könne. Eine Woche, antwortete ich, zehn Tage wären das Maximum, aber zehn Tage wären gegenüber der Redaktion nur schwer zu vertreten. Sie lächelte wieder, als hätte ich gerade einen ganz unsinnig kurzen Zeitraum genannt, eine Sekunde lang dachte ich daran, hier noch einige Ferientage zu verbringen, im Grunde war das aber doch ausgeschlossen, ich hatte gar keine Zeit für Ferien, ich mußte zurück nach München, viele Termine dort waren längst fest vereinbart.

Noch etwas benommen hörte ich zu, wie sie selbst begann, Vorschläge zu machen und alles auf eine feste Basis zu stellen, sie selbst, sagte sie, könne mich nicht nach draußen, zu den eigentlichen Schauplätzen, begleiten, als Direktorin des Instituts müsse sie tagsüber erreichbar sein. Statt dessen werde Dottore Alberti sich Gedanken machen, sie werde ihn instruieren und bitten, morgen früh mit mir eine Außenvisite zu machen, Außenvisite, sagte sie wahrhaftig, es hörte sich an, als sollten wir der hohen Herrschaft des Meeres unsere Aufwartung machen.

 

Ich bedankte mich und notierte auf ihre Bitte hin meine Handy-Nummer auf einem gelben Block, es fiel mir sehr schwer, jetzt hinauszugehen, am liebsten hätte ich den gerade unternommenen Gang noch einmal für mich selbst, allein, wiederholt. Wie zu Beginn unserer Unterhaltung schaute ich noch einmal hilfesuchend aus dem Fenster, sie folgte meinem Blick und deutete hinaus auf den kleinen Yachthafen, in dessen Mitte sich eine Art schwimmende Insel befand. Sehen Sie die kleine Bar dort, das Ristorante, fragte sie, sehen Sie es, das ist etwas für Sie. Sie hatte diesen Satz beinahe geflüstert, als gehörte er nicht mehr zu unserem Programm, und ich fragte sie, ob diese Bar, dieses Ristorante, etwas für den Film sei, für den Film also oder für mich? Etwas für Sie, antwortete sie, und einen Augenblick kam es mir so vor, als wollte sie meinen kurzen Ausflug ins Private zu Beginn unseres Gesprächs durch diese kleine Korrektur ausgleichen.

 

Ich spürte geradezu, wie es mich danach drängte, sie einzuladen, haben Sie Zeit, mich zu begleiten, hätte ich am liebsten gefragt, doch das wäre eine ausnehmend dumme Frage gewesen, hatte sie mir doch noch gerade gesagt, daß Außenvisiten für sie nicht in Frage kamen. Wollen Sie nicht gegen Mittag dorthin kommen, ich möchte Sie zum Essen einladen, schoß mir gleich eine weitere Variante durch den Kopf, es wäre einfach gewesen, so etwas zu sagen oder leichthin zu murmeln, ich hätte es hinter mir gehabt, und meine Aufregung hätte sich gelegt, ja oder nein, sie hätte antworten und mir ein Zeichen geben müssen, darauf wartete ich doch längst, ich wartete auf ein Zeichen von ihrer Seite, plötzlich wurde mir das klar, und ich verbot mir sofort, irgend etwas zu unternehmen.

 

Gut, sagte ich nur und noch ein zweites Mal, gut, mein Herumstehen und Abwarten hatte etwas beinahe Hirnloses. Als sie eine kurze Drehung zur Tür hin machte, gab ich mir endlich einen Ruck, ich verabschiedete mich, vielleicht werde ich sie überhaupt nicht mehr zu sehen bekommen, dachte ich und wußte sofort, daß ich das niemals hinnehmen

6

DRAUSSEN, im Hafengelände, blieb ich stehen und überlegte, ob ich sofort zu der kleinen Bar gehen sollte, die sie mir gezeigt hatte. Das ist etwas für Sie – ich hatte es noch immer im Ohr und kam nicht davon los, natürlich bildete ich mir ein, daß dieser Satz eine besondere Bedeutung hatte, er mußte sich auf etwas beziehen, das sie an mir beobachtet hatte. Hatte sie, hatte sie wirklich irgendeine Besonderheit an mir entdeckt? Ich konnte es mir nicht vorstellen, sie hatte sich jedenfalls nichts anmerken lassen, die ganze Führung über hatte sie mich kaum beachtet, sondern sich ausschließlich auf die kunstvoll angestrahlten, leuchtenden Objekte konzentriert.

 

Die Versuchung war groß, gleich den Weg zur Bar einzuschlagen, mich hinsetzen, mir Gedanken machen, etwas notieren wollte ich doch sowieso, warum also nicht in der Bar, die kaum ein paar hundert Meter entfernt war? Ich kam an der Fischmarkthalle vorbei und entschloß mich sofort, dort hineinzugehen, schnell trat ich durch das breite Tor ein, und als mich drinnen die schneidende Kälte der zerstoßenen Eisbrocken überfiel, auf denen die Fischberge drapiert waren, schien ich auf diesen Schlag hin zur Besinnung zu kommen. Klar und deutlich war mir jedenfalls plötzlich, daß ich während meiner ersten Schritte durchs Hafengelände insgeheim mit ihrer heimlichen Beobachtung gerechnet hatte, nur aus diesem Grund war ich so steif und verhalten gegangen, ich hatte ihren Blick aus dem höher gelegenen Fenster zu spüren geglaubt oder herbeigewünscht, ich hatte wirklich angenommen, daß ihr Blick während meines Hafengangs aus irgendeinem Grund auf mir ruhte. Als ich das begriff, schüttelte ich nur den Kopf, ich trieb mich an, von Fischstand zu Fischstand zu gehen, unbedingt brauchte ich eine Ablenkung. Während ich mir aber noch einredete, die jetzt lebendigen Schnecken und Garnelen endlich in Ruhe betrachten zu müssen, bekam ich große Lust, sie zu berühren, einfach mit offener Hand hineinzufassen in diese Berge, sie durch meine Finger gleiten zu lassen, sie auszuwählen, mitzunehmen, sie zu kochen und zu verzehren. Von überall kamen auch gleich die Angebote, meine Kauflust war anscheinend nicht zu übersehen, und so riefen die Marktfrauen mir ihre Preise zu, sich gegenseitig unterbietend und mit einem Gelächter, als ob der nicht zu überhörende Preissturz etwas Obszönes sei.

 

Diese Aufdringlichkeit störte mich, ich wollte allein und in Ruhe gelassen werden, deshalb beschleunigte ich wieder und verließ mit schnellen Schritten die Halle, um nun wiederum in der großen Morgenhitze im Freien zu stehen, ich konnte hier unmöglich bleiben, niemand bewegte sich in diesem Gelände, selbst die meisten Hafenarbeiter hatten sich einen schattigen Platz auf einem der vielen Fischkutter gesucht.

Ganz kurz überlegte ich wahrhaftig noch, ob ich mich umblicken und zu einem bestimmten Fenster des Museums hinaufschauen sollte, dann aber ging ich langsam hinüber zum Yachthafen, es war doch ausgeschlossen, daß sie noch immer am Fenster stand, was bildete ich mir denn die ganze Zeit ein? Ich erreichte ein kleines Tor, eigentlich war der Zutritt nur Bootsbesitzern gestattet, die Aufschrift auf der Verbotstafel scherte mich jedoch nicht, nichts hätte mich jetzt aufhalten können, und so ging ich über einen schmalen Steg zwischen den Booten entlang auf die schwimmende Insel zu. Die Bar war leer, ich griff nach der Karte und setzte mich dann an einen Tisch, ich setzte mich so, daß ich das Museum im Auge behielt, mit meinem Fernglas hätte ich sogar ein gewisses Fenster leicht ins Blickfeld rücken können.

 

Ich bestellte einen Eistee, als das Getränk serviert wurde, kramte ich mein schwarzes Notizbuch hervor, die ganze Zeit hatte ich es bereits aufschlagen wollen, ich wollte selbst zu Wort kommen, endlich, ich mußte schreiben, vielleicht gelang es so, der Unruhe Herr zu werden: