Die grünen Fensterläden - Georges Simenon - E-Book

Die grünen Fensterläden E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Émile Maugin kommt aus einfachen Verhältnissen, heute prangt sein Name in fetten Buchstaben auf den Pariser Litfaßsäulen. Er ist nicht irgendein Schauspieler, er ist »der große Maugin«. Und sein Herz? Das, bescheinigt Maugins Arzt ihm wenige Tage vor seinem sechzigsten Geburtstag, befindet sich im Zustand eines Fünfundsiebzigjährigen. Nur wenn Maugin sich schone, bleibe ihm noch Zeit. Doch wünscht er sich überhaupt einen Aufschub? Wer ist er, außer den Rollen, die er spielt? Drei Ehefrauen hatte er, doch hat eine ihn auch geliebt? Und sein unehelicher Sohn, der abends vor seiner Garderobe steht, um Geld zu schnorren? Ist Maugin je irgendwo angekommen? Die Geschichte eines Mannes, der ins Antlitz des Todes blickt und sich fragt, wie er mit dem Leben fertig werden soll.

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Band 70

 

 

Certes, ils préfèrent que je ne voie pas

certaines choses. Mais ce qu’il ne faut surtout pas,

c’est que je leur en raconte d’autres.

– Vous direz tout?

– Et vous?

– J’essaierai. Si je n’y parviens pas,

je m’en voudrais toute ma vie

 

Peuples qui ont faim, 1934

Georges Simenon

Die grünen Fensterläden

Roman

Mit einem Nachwort von Wolfgang Matz

Aus dem Französischen von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz

Kampa

Vorbemerkung

Freunde, die den Roman in Druckfahnen gelesen haben, lassen mich befürchten, Dummköpfe, boshafte Menschen oder einfach nur solche, die sich für gut unterrichtet halten, könnten in meinem Buch tatsächlich oder vorgeblich einen Schlüsselroman sehen und in der Figur des Maugin das Abbild von diesem oder jenem berühmten Schauspieler.

Die altbekannte Formel: »Diese Geschichte ist frei erfunden, und jede Ähnlichkeit usw. usf.« genügt nicht mehr.

Es ist mir wichtig, am Anfang dieses Buches, dem ich zu Recht oder zu Unrecht eine gewisse Bedeutung beimesse, kategorisch zu erklären, Maugin ist weder ein Porträt von Raimu noch von Michel Simon, weder von W.C. Fields noch von Charlie Chaplin, die ich als die größten Schauspieler unserer Zeit betrachte.

Doch gerade wegen ihrer Größe ist es unmöglich, einen Mann von ihrem Format zu erschaffen, in ihrem Metier, ohne dass er gewisse Charakterzüge, gewisse Ticks von dem einen oder anderen entlehnt.

Alles Übrige, so versichere ich, ist reine Fiktion, egal, ob es sich um den Charakter meines Helden handelt, um seine familiäre Herkunft, seine Kindheit, Episoden seiner Laufbahn, um Einzelheiten aus seinem öffentlichen oder privaten Leben und um seinen Tod.

Maugin ist weder dieser noch jener. Er ist Maugin, ganz einfach, mit den guten wie schlechten Eigenschaften, die nur ihm gehören und für die einzig und allein ich verantwortlich bin.

Ich schreibe diese Zeilen nicht, um einem Prozess vorzubeugen, wie er mir schon gemacht wurde, sondern aus Sorge um die Wahrheit, aus Sorge um das Andenken an die oben Genannten, die tot sind, um die Persönlichkeit derer, die noch leben.

Georges Simenon

11. Mai 1950

Erster Teil

1

Es war seltsam: Die Dunkelheit, die ihn umgab, war nicht die unbewegte, stofflose, negative Dunkelheit, die jeder kennt. Sie erinnerte ihn vielmehr an die fast greifbare Dunkelheit gewisser Alpträume in seiner Kindheit, an eine böse Dunkelheit, die ihn während mancher Nächte in Wellen überfiel oder zu ersticken suchte.

»Sie können sich entspannen.«

Doch er konnte sich nicht rühren. Bloß atmen, und das war schon eine Erleichterung. Sein Rücken lehnte an einer glatten Wand, deren Material ihm unbestimmbar schien, und gegen seine nackte Brust drückte der Schirm, in dessen Lichtschein er das Gesicht des Doktors ahnte. Vielleicht lag es an diesem Licht, dass die Dunkelheit ringsum wirkte, als bestehe sie aus weichen, einhüllenden Wolken?

Warum musste er so lange in dieser unbequemen Haltung verharren, ohne dass jemand ein Wort zu ihm sagte? Vorhin, auf dem schwarzen Ledersofa im Sprechzimmer, da war sein Kopf noch frei gewesen, da sprach er mit seiner normalen Stimme, seiner dröhnenden, bärbeißigen Bühnen- und Stadtstimme, hatte seinen Spaß daran, Biguet zu beobachten, den berühmten Biguet, der die meisten Prominenten behandelt hatte oder noch behandelte.

Ein Mann wie er selbst, ungefähr in seinem Alter, gekommen ebenfalls aus dem Nichts, ein Bauer, und seine Mutter war Magd gewesen, auf einem Hof im Zentralmassiv.

Er hatte nicht die Stimme von Maugin, auch nicht seine Größe, seine Statur, sein breites kantiges Maul, aber er roch, mit dem stämmigen Wuchs und dem struppigen Haar, noch immer nach Acker, und er rollte das R.

»Können Sie ein paar Minuten genau so bleiben?«

Maugin musste sich räuspern, dann sagte er Ja. Obwohl er halbnackt war und den kalten Schirm berührte, perlten ihm Schweißtropfen auf der Haut.

»Rauchen Sie viel?«

Er hatte den Eindruck, der Professor stellte die Frage ohne Notwendigkeit, ohne Überzeugung, bloß um ihn ein wenig aufzumuntern, und er war gespannt, ob nicht noch eine folgen würde, eine wichtigere, auf die er seit Beginn der Untersuchung wartete.

Das hier war nicht irgendein Termin. Es war sieben Uhr abends und die Sekretärin längst weg.

Maugin kannte Biguet, er war ihm zwei-, dreimal begegnet, bei Premieren oder Empfängen. Obwohl er seit Monaten dran dachte, hatte er sich vorhin ganz plötzlich entschlossen und ihn angerufen.

»Würde es Ihnen was ausmachen, wenn Sie mal einen Blick auf mein Herz werfen?«

»Sie spielen gerade, oder?«

»Jeden Abend, außerdem die Nachmittagsvorstellung Samstag und Sonntag.«

»Drehen Sie?«

»Jeden Tag, in den Studios Buttes-Chaumont.«

»Passt es Ihnen, wenn Sie zwischen halb sieben und sieben vorbeischauen?«

Er hatte sich mit dem Auto der Filmgesellschaft hinbringen lassen, wie üblich. Die Klausel stand in jedem seiner Verträge und sparte ihm die Kosten für Wagen und Chauffeur, denn er selbst hatte nie fahren gelernt.

»Zu Fouquet’s, Monsieur Émile?«

Alle, die regelmäßig mit ihm zu tun hatten, hielten es für schlau, ihn Monsieur Émile zu nennen, als wäre der Name Maugin zu klobig für ihren Hals. Und war ihm jemand auch nur zweimal begegnet, dann rief er, sobald die Rede auf ihn kam:

»Ach, ja! Émile!«

Geantwortet hatte er: »Nein.« Es regnete. Tief ins Wagenpolster gedrückt, betrachtete er mit trübem Blick die nassen Straßen, die von der Scheibe verzerrten Lichter, erst die Schaufenster in den Arbeitervierteln, armselig, von hässlicher Banalität, Milchläden, Bäckereien, Lebensmittelhändler und Bistrots, vor allem Bistrots, dann die funkelnderen Geschäfte im Zentrum.

»Setz mich ab am Boulevard Haussmann, Ecke Rue de Courcelles.«

Wie zufällig, gerade als sie die Place Saint-Augustin überquerten, wurde der Regen dichter, dicke, aufspritzende Tropfen, und das Pflaster glich bald der Oberfläche eines Sees.

Er hatte gezögert. Er konnte den Wagen einfach vor dem Haus des Professors halten lassen. Doch er wusste, genau das würde er nicht tun. Es war sechs, als er in seiner Studiogarderobe zwei Glas Wein getrunken hatte, und sofort war ihm wieder unwohl, ein Schwindel, eine Beklemmung in der Brust, wie früher, wenn der Hunger kam.

»Sie steigen hier aus?«

Der Chauffeur war überrascht. An der Straßenecke befand sich nur das Geschäft eines Schneiders, mit geschlossenen Läden. Doch ein paar Häuser weiter, in der Rue de Courcelles, erkannte Maugin die schwach beleuchtete Fensterfront eines Taxifahrer-Bistrots.

Er wollte nicht vor Alfreds Augen da hinein, wartete einen Moment an der Ecke zum Boulevard, aufrecht, riesig, schon füllte Wasser die hochgebogene Hutkrempe und rann ihm auf die Schultern.

Das Auto entfernte sich, hielt jedoch nach ein paar Metern ausgerechnet vor dem Bistrot, und Alfred rannte mit hochgezogenen Schultern hinein.

Auch er hatte sicher Durst oder brauchte Zigaretten? Beim Aufstoßen der Tür wandte er sich in Richtung Maugin, und der ging anstandshalber zur erstbesten Toreinfahrt, als habe er da zu tun, wartete in der dunklen Einfahrt, bis das Auto wieder verschwand.

Danach betrat er die Kneipe, wo die Gespräche sofort verstummten, alles starrte schweigend auf den großen Maugin, der mit grämlicher Miene und rauer Stimme knurrte:

»Einen Roten!«

»Einen Bordeaux, Monsieur Maugin?«

»Ich hab gesagt einen Roten. Gibt’s hier keinen einfachen Roten?«

Er trank zwei Gläser. Er trank immer zwei hintereinander, jedes in einem Zug, und er hatte seinen Mantel aufknöpfen müssen, suchte in der Tasche nach Kleingeld.

Hatte Dr. Biguet seinen Atem gerochen, gerade eben, beim Abhören? Würde er ihn, wie die andern, danach fragen?

War ihm eigentlich bewusst, dass sie beide, seit Maugins Oberkörper eingeklemmt war zwischen zwei festen Platten und die Dunkelheit ihn zum Blinden machte, nicht mehr auf gleichem Fuße standen?

Bestimmt war er es gewohnt. Die anderen, der Premierminister, die großen Industriekapitäne, die Akademiemitglieder, die Politiker und ausländischen Fürsten, die angereist kamen, um ihn zu konsultieren – waren die nicht aus dem gleichem Holz?

»Atmen Sie normal, ohne Anstrengung. Vor allem den Brustkorb nicht bewegen.«

Zunächst waren da nur zwei Geräusche im Raum, der regelmäßige Atem des Arztes und das Ticken seiner Uhr in der Westentasche. Jetzt hörte man im Universum des schwarzen Gewölks ein merkwürdiges Schaben, das Maugin nicht sogleich einordnen konnte, doch es erinnerte ihn an die quietschende Kreide auf der Schiefertafel in seiner Dorfschule. Vorsichtig beugte er den Kopf, erblickte, einem Ektoplasma gleich, das konzentrierte Gesicht, die milchweiße Hand des Professors und verstand, dass der gerade auf dem Leuchtschirm zeichnete oder auf einer darübergelegten durchsichtigen Folie.

»Ihnen ist nicht kalt?«

»Nein.«

»Sind Sie vom Land?«

»Aus der Vendée.«

»Bocage oder Marais?«

»Sumpfigstes Sumpfland. Marais.«

Kurz davor, im Sprechzimmer, wäre die Sache wohl anders gelaufen. Maugin war ziemlich neugierig gewesen auf den Professor, der in seinem Wirkungsbereich ungefähr so bedeutend war wie er in seinem eigenen.

Es war ohne Absicht, doch er hatte in der Toreinfahrt kurz gezögert und einen Blick in die Loge der Concierge geworfen. (Denn hier gab es eine Concierge, bei ihm dagegen, in der Avenue George V, einen Mann in aufgedonnerter Uniform.)

Er war in diesem Moment noch ganz unbekümmert, sogar ein bisschen allzu unbekümmert, vielleicht wollte er sich beweisen, dass er sich keine großen Sorgen machte um sein Herz.

Schon dass einer am Boulevard Haussmann wohnte, war ein Zeichen. Das roch bereits sehr nach echter, nach jener soliden Bourgeoisie, die niemandem Sand in die Augen streuen muss, die sich mehr um ihre Bequemlichkeit kümmert als um den schönen Schein. In der Eingangshalle gab es keine korinthischen Säulen, und die Treppe war nicht aus weißem Marmor, sondern aus alter Eiche und darüber ein dicker roter Teppich.

Allein im Fahrstuhl, hatte er den Augenblick genutzt und in die hohlen Hände gehaucht, dann tief eingeatmet, zur Kontrolle, ob er nicht allzu sehr nach Wein roch.

Es war ein Ausdruck von Hochachtung, dass Biguet ihm außerhalb der üblichen Sprechstunde einen Termin gegeben hatte, ohne seine Sekretärin, ohne seine Sprechstundenhilfe. Hatte er begriffen, dass Maugin nicht Gefahr laufen wollte, am nächsten Tag in den Zeitungen zu lesen, er sei schwerkrank?

Auch hatte kein Hausmädchen ihm die Tür geöffnet, vielmehr der Doktor höchstpersönlich, der in seiner schwarzsamtenen Hausjacke wirkte, als empfange er einen Freund. Eine einzige Lampe erhellte den Salon, wo friedlich Holzscheite brannten.

»Wie geht es Ihnen, Maugin?«

Er sagte nicht Monsieur, und das war auch wieder sehr gut, denn sie beide hatten dieses Stadium hinter sich.

»Ich vermute, das Theater ruft nach Ihnen und Sie haben nicht viel Zeit für mich. Wenn Sie möchten, gehen wir sofort ins Sprechzimmer.«

Aus dem Augenwinkel hatte er einen Flügel gesehen, Blumen in einer Vase, das Porträt eines Mädchens im Silberrahmen. Und hinter den geschlossenen Türen aus dunkler Eiche ahnte er das geordnete, ruhige Leben einer richtigen Familie.

»Legen Sie Jacke und Hemd ab.«

Es war wirklich keine Uhrzeit für eine Konsultation, und der Professor musste eigenhändig den Gasofen anzünden.

Er hatte keine Karteikarte ausgefüllt, ersparte ihm auch das übliche Verhör.

»Donnerwetter!«, hatte er beim Abtasten von Maugins Muskeln gerufen, als dieser auf dem schwarzen Sofa lag. »Ich wusste, Sie sind robust, aber darauf war ich nicht gefasst.«

Hatte er selbst nicht genauso viel davon unterm Samt seiner Jacke?

»Einatmen.«

Er stellte keine Fragen. Muss man jemandem Fragen stellen, der Biguet aufsucht?

»Ausatmen.«

Das Stethoskop wanderte eiskalt über den dicht behaarten Oberkörper.

»Haben Sie Probleme beim Pinkeln? Müssen Sie nachts oft aufstehen?«

Und nicht bloß der mächtige Brustkasten interessierte ihn, nicht bloß Maugins Leib und die Eingeweide, die er umschloss, sondern der Mann … dessen Legende er kannte wie alle Welt. Er saß vor ihm, die Knie gespreizt, vorgebeugt, und der Schauspieler musterte ihn mit ungefähr ebenso großer Neugier.

»Ich möchte mit dem Fluoroskop einen Blick da reinwerfen. Ziehen Sie sich nicht an. Ich hoffe, nebenan ist es nicht zu kalt.«

Ganz im Gegenteil, es war stickig.

Jetzt quietschte sein Stift oder seine Kreide in der Stille, im Takt von ihren Atemzügen. Paris, der Regen in den Straßen, das Sternenlicht der Laternen, das Theater da drüben, vor dem die Leute bestimmt schon Schlange standen, alles war versunken in einem Abgrund, zurück blieb nur diese Dunkelheit, die Maugin immer stärker bedrängte, und am liebsten wäre er geflüchtet.

»Sechzig?«

»Neunundfünfzig.«

»Starker Bumser?«

»Früher. Heute nur noch manchmal, wenn’s mich packt.«

Nach wie vor sagte er nichts vom Trinken, auch nichts über sein Herz oder all das, was er in einer halben Stunde womöglich entdeckt hatte, denn so lange dauerte die Untersuchung schon.

»Viele Filme in Aussicht?«

»Fünf dieses Jahr.«

Es war Januar. Der, den er jetzt zu Ende drehte, zählte laut Vertrag noch zum Vorjahr.

»Und im Theater?«

»Wir spielen Baradel & Co. bis zum 15. März.«

Seit vier Jahren wurde das Stück jeden Winter wiederaufgenommen, es war über die tausendste Vorstellung hinaus.

»Lässt Ihnen das noch Zeit zum Leben?«

Ein bisschen fand er zurück zu seiner normalen Stimme, mürrisch und aggressiv, er brummte:

»Und Sie?«

Hatte Biguet Zeit zum Leben, außerhalb von seinen Vorlesungen, vom Krankenhaus, von den vier oder fünf Kliniken, wo die Patienten lagen, und außerhalb von seinem Sprechzimmer?

»Ihr Vater ist jung gestorben?«

»Mit vierzig.«

»Herz?«

»Alles.«

»Ihre Mutter?«

»Fünfundfünfzig oder sechzig, ich weiß nicht mehr, im Spital, im großen Krankensaal.«

War es das Haus am Boulevard Haussmann, die Pförtnerloge mit den polierten Möbeln, der Salon samt Kaminfeuer und Flügel und sogar die Samtjacke des Doktors, was ihm auf den Magen schlug? Verübelte er Biguet, dass der aus Taktgefühl weder Wein noch Schnaps ansprach?

Oder ärgerte ihn einfach nur das Schweigen des Professors, seine Ruhe, seine scheinbare Gelassenheit, oder auch sein Glück, dass er da drüben saß, auf der andern Seite des Schirms?

Auf jeden Fall hatte er das Gefühl, er wolle sich für irgendetwas rächen, als er sagte:

»Möchten Sie wissen, wie mein Vater gestorben ist?«

Rührte seine ganze Bitternis, diese Bösartigkeit, die seine Stimme grob machte, nicht vielleicht her von dem Zwischenfall mit Alfred, von den demütigenden Minuten in der Toreinfahrt, von dem Warten, bis der Weg frei war zum Bistrot, von den zwei Gläsern Wein, runtergekippt, während sein Blick die erstarrten Gäste herausforderte?

»Ich müsste sagen: ›Wie er krepiert ist‹, denn es war wie bei einem Tier. Schlimmer als bei einem Tier.«

»Senken Sie ein bisschen die linke Schulter.«

»Darf ich reden?«

»Wenn Sie Ihre Position nicht verändern.«

»Interessiert Sie das?«

»Ich war mehrmals in der Vendée, im Marais.«

»Dann wissen Sie, was man dort eine ›Cabane‹ nennt. Manche Hütte im afrikanischen Dorf auf der Kolonialausstellung war komfortabler und zivilisierter. Sind Sie mal im Winter hingekommen?«

»Nein.«

»Dann hätten Sie verstanden, warum in der Vendée die Betten so hoch sind, dass man zum Reinklettern einen Schemel braucht. Wenn das Wasser aus den Kanälen die Felder überschwemmt, dringt es auch in jede Cabane, und manchmal haben wir ganze Wochen im Bett verbracht, meine Schwestern und ich, wir konnten nicht raus, ringsum war überall Wasser. Die Leute im Marais sind arm. Aber in unserm Weiler und eine Meile im Umkreis gab es nur einen einzigen Mann, der von der Gemeindefürsorge lebte: mein Vater.«

Es schien, als fügte er hinzu:

»Und jetzt erzähl du bloß noch von deiner Mutter, der Dienstmagd!«

»Sie haben die linke Schulter bewegt.«

»So?«

»Etwas höher. Gut.«

»Geh ich Ihnen auf die Nerven?«

»Kein bisschen.«

»Er war Tagelöhner, fand aber selten Arbeit, kaum stand nämlich die Sonne am Himmel, war er betrunken. In der ganzen Gegend wurde er bald zu einer Art Witzfigur, und man gab ihm Geld zum Trinken, aus lauter Jux. Ich sage ›mein Vater‹, aber eigentlich hab ich keine Ahnung, denn alle besuchten meine Mutter, so wie man ins Bordell geht, bloß dass es näher war und billiger als in Luçon.«

»Ist er in seinem Bett gestorben?«

»In einer Pfütze, im Januar, ein paar Schritt von der Kneipe, wo er vollgetankt hatte. Er ist mit dem Gesicht in den Dreck gefallen und kam nicht wieder hoch. Ich war damals vierzehn. Überall stand Wasser. Meine Mutter hat mich losgeschickt, ihn suchen, mit der Laterne. Der Wind kam von der Küste. Ich hab ein Licht gesehen auf dem Kanal, den Schatten von einem Boot. Ich hab Stimmen gehört. Ich hab gerufen und jemand hat geantwortet. Männer brachten meinen Vater, sie waren über ihn gestolpert, als sie rausgingen aus der Kneipe.

Ich habe was Kaltes berührt unten in dem flachen Kahn und gefragt:

›Ist er hinüber?‹

Da haben sie sich angeschaut, gefeixt.

›Nicht wirklich hinüber‹, hat einer gesagt.

›Er ist ganz kalt.‹

›Kalt oder nicht kalt, ist seine Sache, aber für uns ist er nicht tot, bis wir nicht rüber sind über die Grenze. Der stirbt in seinem Dorf, Bürschchen, nicht in unserm. Wir haben keine Lust und zahlen hier bei uns nicht das Begräbnis für fremdes Pack.‹

Bloß als sie ihn dann bei uns abladen wollten, haben die Leute sich aufgeregt.

›Schafft ihn dahin, wo er gestorben ist.‹

›Wer sagt denn, der ist tot? Hat ihn der Arzt schon gesehen?‹«

Das war seine berühmte Stimme. Diesen Tonfall, den gab es nirgendwo sonst, der gehörte nur ihm. Nie zuvor hatten seine Worte auf der Bühne so gewichtig geklungen, so eindringlich und dabei so schlicht und hart.

»In derselben Nacht bin ich weg. Ich weiß nicht, wo sie ihn hingetan haben.«

»Mit vierzehn?«

»In meiner Tasche steckten fünf Sou, die hatte Nicou mir gegeben, dafür, dass er meine Schwester streicheln durfte.«

Kurz kamen ihm Bedenken, denn das stimmte nicht ganz, aber er hätte zu viel erklären müssen, und die Sache verlor dann an Wirkung.

Gaston Nicou, ungefähr im gleichen Alter wie er, hatte eine Schwester, Adrienne, fünfzehn, mit blödem Gesicht und einem feisten, schrundigen Körper.

»Gib mir fünf Sou«, hatte Nicou einmal gesagt, »und ich lass dich mit meiner Schwester spielen. Für zehn Sou darfst du sie bespringen, aber ich weiß, die zehn Sou kriegst du nie zusammen!«

Maugin hatte sie gestohlen, und mehr als einmal. Er nahm das Mädchen, unter dem gleichgültigen Blick seines Kumpels, der die Münzen in der Tasche klimpern ließ.

Er war nicht auf den Gedanken gekommen, dass seine ältere Schwester, Hortense, im gleichen Alter war wie Adrienne und er das ausnutzen konnte. Erst als er sie, den Rock hochgeschoben bis zum Bauch, mit Nicou erwischt hatte, erwachte sein Gerechtigkeitssinn, und er verlangte Geld.

»Fünf Sou, mehr nicht«, hatte sein Kumpel ihm zugestanden. »Mit der geht’s nicht richtig. Keine Ahnung, was die da für’n Ding hat.«

Schweiß rann ihm über die Haut. Das Gesicht des Doktors in seiner Aureole wurde deutlicher, wie auf dem Mattglas eines Fotoapparats, den man scharf stellt, eine weiße Hand löste ein Klicken aus, und plötzlich blendete sie beide grelles Licht.

»Wir können wieder nach nebenan.«

Biguet hielt ein dickes durchsichtiges Blatt in der Hand, darauf kräftige Striche mit blauem Stift. Vermied er absichtlich, Maugin anzuschauen, oder hatte er kein Interesse mehr an seinem Äußeren, nach der eben durchgeführten Untersuchung?

Er bedeutete ihm, sich wieder anzuziehen, setzte sich an den Schreibtisch, unter die Lampe, suchte nach einem Lineal, zog neue Striche.

»Schlimm?«

Endlich blickte er hoch zu dem Schauspieler, der vor ihm stand, riesig, so, wie alle Welt ihn kannte, mit seinem breiten Gesicht, den Zügen eines römischen Kaisers, den großen runden Augen, aus denen wie vor Überdruss nur ein regloser Blick fiel, seine typische Grimasse schließlich, die an eine bissige Dogge erinnerte und zugleich an ein enttäuschtes Kind.

»Ihr Herz hat keine Läsion.«

Das war die gute Nachricht. Und? Die schlechte?

»Die Aorta ist zwar etwas dick, aber ausreichend geschmeidig.«

»Also keine Angina pectoris.«

»Vorläufig nicht. Das Elektrokardiogramm wird es bestätigen.«

Dann sagte er laut und gab sich keinerlei Mühe, gleichgültig zu wirken:

»Sie sind neunundfünfzig, Maugin. Haben Sie mir eben gesagt. Gesehen habe ich das Herz eines Fünfundsiebzigjährigen.«

Man hörte kein Geräusch. Da war nur eine Luftblase in der Kehle von Maugin, der sich nicht rührte, nicht zusammenzuckte, unverändert reglos.

»Verstehe.«

»Wohlgemerkt, ein Fünfundsiebzigjähriger hat noch Zeit vor sich, manchmal viel Zeit.«

»Ich weiß. Ab und zu ist in der Zeitung das Foto eines Hundertjährigen.«

Biguet musterte ihn ernst, ohne geheucheltes Mitleid.

»Anders ausgedrückt, ich kann weiterleben, vorausgesetzt, ich bin vernünftig.«

»Ja.«

»Schlage nicht über die Stränge.«

»Leben nicht in Höchstgeschwindigkeit.«

»Halte mich an Vorsichtsmaßregeln.«

»Ein paar.«

»Ist das die Kur, die Sie mir verschreiben? Keine Frauen, kein Tabak, kein Alkohol. Und ich vermute, auch nicht allzu viel Arbeit oder Aufregung?«

»Ich verordne Ihnen überhaupt keine Kur. Der Umriss hier ist Ihr Herz. Dieser Beutel ist die linke Kammer, und da sehen Sie in Rot, wie die sein müsste, in Ihrem Alter. Sie sind ein erstaunlicher Mann, Maugin.«

»Keine Pillen, keine Mittelchen?«

Die Vorhänge an den Fenstern waren sicher dick, denn sie ließen nichts durch vom Leben draußen, man ahnte es nicht einmal, doch auf der andern Seite wogte Paris.

»Sie haben fünf Filme vor sich, haben Sie gesagt. Und das Stück spielt noch bis zum 15. März. Was können Sie ändern an Ihrer Lebensführung?«

»Nichts!«

»Ich für mein Teil, was in meiner Macht steht, ich kann Ihnen nur Schmerzen ersparen oder die Unannehmlichkeiten der Krämpfe.«

Er notierte ein Rezept auf seinem Block, riss das Blatt ab und reichte es ihm.

»Glauben Sie nicht, Sie haben sich ausreichend Revanche verschafft?«

Er hatte alles verstanden. Auch er hatte sie sich verschaffen müssen, wahrscheinlich aber hatte er die Sache an dem Tag für erledigt betrachtet, als er mit achtundzwanzig jüngster Professor der Medizin wurde.

Was hatten sie sich noch zu sagen? Keiner von beiden schaute auf die Uhr. Maugin konnte den Professor nicht fragen, wie viel er ihm schuldete. Jenseits der schweren und gut geölten Türen erwartete ihn das Abendessen, und vielleicht wurde die Köchin langsam ungeduldig, weil der Braten zerfiel?

»Ein Mann von fünfundsiebzig ist nicht unbedingt am Ende.«

Es war besser zu gehen. Sonst landeten sie zwangsläufig bei Banalitäten.

»Ich danke Ihnen, Biguet.«

Zum ersten Mal nannte er ihn so, und das fiel ihm schwerer als seinem Gegenüber, ihn Maugin zu nennen, vielleicht, weil man gewohnt war, den Namen des Schauspielers ohne das Monsieur zu sehen, in Zeitungen, auf Plakaten.

Ein rascher Händedruck, beinah schroff, aus Scham, aus Zurückhaltung.

»Rufen Sie mich an, jederzeit.«

Er schlug nicht vor, dass man sich bei andrer Gelegenheit treffen könne, beispielsweise zum Abendessen. Das war gut so.

Als sie in der Tür standen, klopfte er ihm nur auf die Schulter und sagte:

»Sie sind ein Teufelskerl, Maugin!«

Er wartete nicht ab, bis die schwere Gestalt beim Fahrstuhl war und auf den Knopf drückte, eine Gestalt, in diesem Hausflur am Boulevard Haussmann plötzlich ebenso einsam wie in der beklemmenden Öde des Weltraums.

Wenig später drückte eine feuchte Hand die Türklinke des Bistrots in der Rue de Courcelles, und der Wirt hinter seiner Theke, bemüht, nicht überrascht zu wirken, fragte etwas zu hastig:

»Einen Roten, Monsieur Maugin?«

Er behielt die Flasche in der Hand, nachdem er eingegossen hatte, als kenne er seine Gewohnheiten, dabei war der Schauspieler an diesem Tag zum ersten Mal hier eingekehrt, und Maugin starrte unverwandt auf die Flasche.

Er hatte nicht wahrgenommen, ob der Regen aufgehört hatte oder nicht, doch das feine Tuch seines Mantels war voller Tröpfchen. Er hatte keine Zeit gehabt fürs Abendessen. Er hatte auch später keine Zeit mehr. Die ersten Zuschauer suchten bestimmt schon nach ihrem Platz in den noch leeren Sitzreihen des Theaters, wo ihre Stimmen widerhallten.

»Noch eins?«

Er hob die Augen zu dem Mann mit dem rotnarbigen, bläulichen Gesicht, auch er ein Bauer, wahrscheinlich als Kutscher nach Paris gekommen oder als Dienstbote.

In seiner Miene lag komplizenhafte Vertraulichkeit. Er war hässlich. Sein Gesichtsausdruck voll Niedertracht. Man spürte, er war stolz, dass er hier stand, dass er er war, die Flasche in der Hand, und dass er jetzt einschenkte, dem großen Maugin mit dem trüben Blick.

»Ha!«, würde er nachher rufen, kaum fiel die Tür ins Schloss. »Habt ihr den gesehen! Er war’s, jawohl. So ist der. Jeden Abend das Gleiche. Die Leute im Saal merken nichts. Anscheinend kann er anders nicht spielen.«

Maugin ballte die Faust auf dem Tresen, ballte sie so fest, dass die Knöchel weiß wurden, denn diese Hand war nahe dran, dem Kerl die Flasche aus den Fingern zu reißen, sie zu zertrümmern auf seinem Schädel.

Das war schon einmal passiert. Die Polizei geriet in arge Verlegenheit. Der kleine Jouve, sein Sekretär, war von einer Zeitungsredaktion in die andre gerannt, damit der Vorfall nicht unter die Leute kam.

Der Wirt fragte sich, warum er so reglos dastand, ins Leere blickend, schwer atmend, und seufzte erleichtert, als er das Glas in einem Zug leerte, sein zweites Glas, es ihm dann wieder hinstreckte.

»Ist er gut?«

Sogar diese Frage, begleitet von einem schleimigen Lächeln, blieb ihm nicht erspart!

Er trank das dritte Glas mit geschlossenen Augen. Er trank ein viertes, und erst dann reckte er sich zu voller Größe, wölbte die Brust, blähte die Backen, wurde der, den man zu sehen gewohnt war.

Er musterte ringsum die Gesichter, die im Dunst schwammen, um seine Lippen spielte die berühmte Grimasse, grausam und übellaunig, und schließlich zeigte sie Wirkung, brachte alle zum Lachen, wie in den Theatersälen, ein nervöses Lachen wie bei Leuten, die gerade ein bisschen Angst verspürt hatten.

Er ließ jetzt nichts aus von seiner Legende, auch nicht seinen Geiz, und als wollte er ihnen eine Freude machen, zeigen, was er konnte, fischte er Kleingeld aus der Tasche, zählte jede Münze einzeln hin, als trenne er sich von ihr nur widerwillig.

Der kleine trübe Tropfen, der an seinen Wimpern hing, als er vorhin den Kopf gehoben hatte, war inzwischen getrocknet, und keiner hatte ihn bemerkt.

Wie auf der Bühne rief er lauthals in den Raum:

»Taxi!«

Und ein Fahrer, der in der Ecke Calvados trank, griff nach seiner Mütze und sprang auf.

»Zu Diensten, Monsieur Maugin.«

Es regnete noch immer. Er war allein, im Dunkel, auf der Rückbank des Taxis, und die Scheiben verzerrten die Lichter zu scharfen Strichen, die sich kreuzten, zu Pfeilen und manchmal zu Sternbündeln.

Auf allen Litfaßsäulen sah er jetzt die fetten schwarzen Buchstaben der aufgeweichten Plakate: »Maugin« … »Maugin« … Und wieder »Maugin« auf der nächsten. »Maugin«, noch größer, an einem Lattenzaun.

Endlich »Maugin« in Leuchtschrift auf dem Vordach des Theaters.

»Ihre Post, Monsieur Maugin …«, sagte der Concierge am Künstlereingang.

»Guten Abend, Monsieur Maugin …«, scharwenzelte der Bühnenmeister.

Die Mädchen, die in der dritten Szene die Stenotypistinnen spielten, traten beiseite und folgten ihm mit Blicken.

»Guten Abend, Monsieur Maugin …«

Der junge Béhar mit den langen Haaren, der frisch von der Schauspielschule kam und bei jedem seiner drei Einsätze zitterte, sobald er die Bühne betrat, grüßte ergriffen.

»Guten Abend, Monsieur Maugin …«

Maria, seine Garderobiere, klein, rund wie ein Kreisel, sagte nicht guten Abend, tat, als würdige sie ihn keines Blicks, kramte weiter im Raum herum, und Beachtung schenkte sie erst seinem Spiegelbild, als er am Schminktisch saß.

»Schön schauen Sie aus, wirklich. Wo haben Sie sich bloß wieder rumgetrieben?«

Sie waren gleich alt und verbrachten ihre Tage damit, sich zu zanken wie Schulkinder. Von Zeit zu Zeit setzte er sie vor die Tür, engagierte eine andere Garderobiere, hielt drei, vier Tage durch, und hatte er dann zu Ende geschmollt, schickte er Jouve zu Maria, damit er sie zurückholte, um jeden Preis.

»Monsieur Cadot war hier, vor ein paar Minuten. Er konnte nicht warten, seine Frau ist krank. Anscheinend ist es diesmal wirklich ernst. Er will’s versuchen und schaut gegen Ende des Abends noch mal vorbei.«

Mit Fingern voll fettiger weißer Schminke massierte er sich langsam das Gesicht, und seine Augen starrten auf seine Augen im Spiegel.

2

Dreimal, viermal verbeugte er sich griesgrämig, hatte es eilig, die Sache hinter sich zu bringen, und das Publikum, das er durch ein Lächeln irritiert hätte, trampelte wilder und wilder. Wie jeden Abend holte er Lydia Nerval zurück auf die Bühne, und seine Geste, die einen Teil des Beifalls auf sie lenken sollte, war eine fast zynische Parodie der üblichen Geste.

Wozu heucheln? Waren die Zuschauer ihretwegen hier oder seinetwegen? Sie war ein x-beliebiges Frauenzimmer, nervtötend, machte ständig zu viel Wind, sprach mit affektiert hoher Stimme, hielt sich darum für erfolgreich. Am Anfang versuchte sie ihn zu bezirzen. Einmal hatte sie ihn in ihre Garderobe gelockt und ohne Umschweife gefragt:

»Also, ja oder nein?«

Und weil er sein Dämelgesicht machte, sein sogenanntes Elefantengesicht:

»Gefall ich dir nicht, Émile?«

Er hatte ihr den Nippel befummelt, als wär’s eine Vorhangtroddel.

»Dein Fleisch ist schlapp, Kleine!«

Seit diesem Vorfall sprach sie mit ihm nur noch auf der Bühne, und war der Vorhang gefallen, wurden sie füreinander Luft.

»Jemand wartet vor der Garderobe, Monsieur Émile!«

Das war nach dem zweiten Akt, der im Bagno spielte. Er trug den gestreiften Sträflingsanzug, und eine Perücke mit kurzgeschorenem Haar betonte seine wie aus Hartholz geschnitzten Züge.

»Für Feinheiten war keine Zeit!«, hatte ein Spaßvogel gesagt.

»Jemand für Sie, Monsieur Émile!«

»Ich weiß, Kleiner.«

Jeden Tag das alte Lied. Die Leute trommelten bereits an der Eisentür zum Zuschauerraum, und irgendwann würde jemand öffnen. Alle hatten beeindruckende Visitenkarten, waren etwas Wichtiges in der Provinz oder im Ausland, denn die meisten Pariser waren hier schon längst durchmarschiert.

Er stieg die Wendeltreppe hinab, erkannte Cadot, der ängstlich vor der Garderobentür wartete und den Mund schon aufriss, als er ihn kommen sah. Eine Handbewegung und seine Stimme brachten ihn zum Schweigen.

»Später!«

Er trat ein, drehte hinter sich den Schlüssel im Schloss, sagte, ohne Maria zu suchen, denn er wusste, sie war da:

»Die Flasche!«

Genauso unfreundlich wie er ging sie zum Schrank und brachte den Cognac mit angewiderter Miene. Er brauchte kein Glas, und das wusste sie. Ihr gegenüber kannte er keine Hemmungen, im Gegenteil, offenbar trank er sogar mit Absicht aus der Flasche, abstoßend, fast obszön, denn er wollte sie anekeln und hören, wie sie vor sich hin murrte:

»Ist das ein Jammer!«

An diesem Abend fügte sie noch hinzu:

»Mein Mann ist dran zugrunde gegangen, aber wenigstens hatte er eine Entschuldigung, hat den ganzen Tag aufm Weinmarkt gearbeitet.«

Am Anfang, monatelang, hatte er sich Mühe gegeben und die Flasche versteckt, die er in der zweiten Pause brauchte, manchmal schon in der ersten. Er hatte sie überall deponiert, nicht nur in der Garderobe, auch im Souterrain, in den Taschen seiner Kleidung und seiner Bühnenkostüme, in den Schubladen unter der Wäsche, im Papierkorb und sogar draußen auf dem Fensterbrett der Luke, die hinausging auf eine Sackgasse, und er wartete mit dem Trinken, bis er hinter dem Vorhang war, der die Garderobe in zwei Hälften teilte, vermied jedes Geräusch mit dem Korken, jedes Gluckern.

Bald fand er die Flasche allabendlich gut sichtbar auf seinem Schminktisch. Er tat, als merke er nichts, und Maria entschloss sich als Erste zum Reden.

»Wollen Sie noch lange Versteck spielen wie ein kleines Kind? Wie blöd stehen wir da, wir zwei?«

Schon mehrmals hatte es diskret geklopft. Jemand versuchte, die Tür zu öffnen. Er kippte einen letzten Schluck und hielt die Flasche wortlos ins Leere. Maria wusste, was das hieß, und versteckte sie, während er einen mit Schminke verschmierten Frisiermantel überwarf.

»Mach auf!«