Die Hand der Fatme - Rudolf Stratz - E-Book

Die Hand der Fatme E-Book

Rudolf Stratz

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Beschreibung

Die junge Yvonne Roland hat sich auf eigene Faust auf eine gefährliche Reise nach Südtunesien begeben, um ihren Bruder Gaston zu retten, der als Soldat dort zurückgeblieben ist und jetzt, krank und dem Tod nahe, im Krankenhaus der Oase El-Ariana liegt. Dabei wird sie von ihrem Verlobten Hugo Wallot verfolgt, der ihr die Reise eigentlich strengstens verboten hat und sie nun zurückholen will. Kurz vorm Ziel lernt sie einen geheimnisvollen Fremden kennen, Sidi Frank, genannt "Der Jäger", den ein unglückliches Schicksal nun ruhelos durch die Wüste und über die Salzseen Nordafrikas ziehen lässt. Er schenkt ihr ein seltsames Amulett, das ein Araber verloren hat und das seinem Träger stets Glück bringen soll: Die Hand der Fatme. Und Glück kann Yvonne gebrauchen. Denn sobald Hugo Wallot sie aufgestöbert hat und sie nun merkt, dass sie für Sidi Frank viel mehr empfindet als für ihren so kreuzbraven und biederen Verlobten, überstürzen sich die Ereignisse und die Hand der Fatme scheint Yvonne zunächst einmal nur Aufregung zu bringen ... Stratz' stimmungsvoller nordafrikanischer Liebes- und Abenteuerroman überzeugt nicht zuletzt auch durch seine gelungenen Landschaftsbeschreibungen.-

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Rudolf Stratz

Die Hand der Fatme

Roman

Saga

Die Hand der Fatme

© 1905 Rudolf Stratz

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711507087

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Erstes Kapitel

Im Anfang war alles wüst und leer ... Und leer wie im Anfang aller Dinge war jetzt noch die Wüste — gespenstisch kahl, furchtbar in ihrer Ursprünglichkeit wie am ersten Schöpfungstag. Zerrissene, schwindelnd hoch gezackte Steinkämme, millionenfaches Geröll grosser und kleiner Felsblöcke an ihren Flanken und in den Schuttfeldern der Täler, nur da und dort lederhart gebrannte Büschel des Steppengrases dazwischen. Sonst kein Baum, kein Blatt, kein Wasserplätschern, kein Vogellaut und Menschenruf und Windeswehen, kein Wölkchen an dem fahlblauen Himmel. Nur immer die eine, die Herrin über alles, der Wildnis Leben und Tod zugleich, die glühende Sonne der Sahara da oben in scheitelrechter Mittagssommerhöhe. Zwischen ihr und der verdorrten Erde brannte und flackerte die Luft in unsichtbarem Feuer. Sie zitterte, dass Berg und Fels und Tal mitzuschwingen, als das einzig Lebende in der Runde mitzukeuchen und mitzubeben schienen. Und es war in der Todesstille, als stöhnten die Steine und sänge der Staub durch das flammende Schweigen eintönig, unermüdlich ein feierliches: Im Anfang war alles wüst und leer! Dies hier ist die Welt, nicht was ihr Menschen kennt und bewohnt, nein, dies hier, das Nichts, aus dem ihr kommt, zu dem ihr geht, das immer war und sein wird, aller Dinge Wiege und Grab von Ewigkeit zu Ewigkeit ...

Und wer da atmete und einsam stand und hinausschaute in die Wüste, dem bangte die Frage auf den Lippen: Herr, warum schufst du dies? Und die Wüste schaute in ihn, und aus seinem tiefsten Innern kam die Frage zurück: Und warum schufst du mich? Warum das Sein, das Ringen zum Licht, das Sehnen nach der Sonne, wo doch die Sonne spricht: Wen ich lieb hab’, den verbrenn’ ich! — wo doch die Leidenschaft spricht: Das Herz, das mein ist, wird an mir zur Asche! Und nichts bleibt von all den heissen Flammen als die Wildnis ... die da aussen und die schlimmere da innen — abgestorben, was einst grünte, wie das Gras am Boden, versiegt die Hoffnungen wie die Quellen im Gestein, nichts übrig als die Erinnerung. Und die heisst: die Reue ...

Der Mann, der so dachte und als der einzige Mensch auf viele Stunden im Umkreis auf halber Höhe des urweltlich wilden, mächtigen Felsenkessels stand und vor sich hinstarrte, kam jetzt allmählich aus seinem düsteren Träumen wieder zu sich. Er bückte sich nach der Last, die er von hoch oben, von den äussersten Graten, in stundenlangem Tasten zwischen gleitendem Schotter und wankenden Riesenblöcken auf seinen Schultern herabgetragen hatte. Es war ein Gewirr fahlbraun-rötlicher Haarmassen, die sich an einzelnen Stellen zu langzotteligen Polstern und buschigen Kämmen verdichteten. Zwei halbmondförmige, plump gerippte dicke Säbel ragten daraus hervor und liessen das seltene Wild Südtunesiens, ein junges Mähnenschaf, erkennen.

Die Erlegung eines „Arui“ war verboten. Das wusste auch der Jäger. Jedoch der Arm des Gesetzes reichte kaum bis in diese Einöden des Südens, kein Ohr hatte den Knall des Büchsenschusses vernommen, kein Auge Mensch und Mufflon beisammen gesehen. Und doch suchte sich der Weidmann unwillkürlich in der Deckung der zerrissenen Felsabstürze zu halten, während er mit seiner Beute auf dem Rücken weiter abwärts stieg. Er hätte es kaum nötig gehabt. Schon auf wenige hundert Schritte hob sich seine Gestalt kaum mehr von dem sonnenheissen Grau des Staubes und der Steine ab. Seine abgenutzten Gamaschen, die verschossenen Reithosen, die verblichene Leinwandjacke, die von Sonne und Regen ausgelaugte Mütze mit dem Nackenschleier gehörten ebenso in diese Wildnis wie sein Gesicht. Das war tiefbraun gebrannt, so dunkel, dass nur die Augen darin unruhig leuchteten. Und ebenso sonnensatte Farbe hatten die Hände.

Die bogen jetzt sorgsam ein paar Zweige auseinander, das einzige Gebüsch weit und breit, im Schatten einer kleinen vorstehenden Felsplatte. Hinter dem Laub gähnte es seltsam schwarz; ein feuchter Modergeruch strömte da in die Glut des Tages hinaus. Er kam aus einem Spalt, der im Berge klaffte, lang wie der Rachen eines Riesen und so niedrig, dass man sich auf den Bauch legen musste, um hindurchzurutschen. Wer da drinnen war, der war geborgen vor Freund und Feind. Die Eingeborenen mieden ängstlich diese Schlünde, die als die Ausgangspforten unterirdischer, von Wasserbrausen und Fledermausgekicher erfüllter Höhlen in das geheimnisvolle, stundenweit verzweigte Innere der Bergwelt lockten und luden. Sie fürchteten sich vor den Geistern von El Mansur. Nur Räuber, Schafdiebe und Salzschmuggler wagten sich in dies Labyrinth und hausten in ihm als sicherem, sagenumwobenem Zufluchtsort. Ab und zu barg ein Jäger das heimlich geschossene Wild in dem kühlenden Schatten seiner Schwelle.

Das hatte der Weidmann jetzt auch getan. Als er wieder hervorrutschte und sich aufrichtete, blendete ihn die Weissglut der Sonne am blauen Wüstenhimmel derart, dass er eine Weile mit halbgeschlossenen Augen seinen Weg zwischen den Steinmassen suchte, vorsichtig, um nicht mit der Hand ihre kochend heissen Aussenflächen zu berühren, und erst wieder aufblickte, als er auf der letzten Felswarte über der Steppe stand.

Weit, weit schaute man da hinaus, in ein gewaltiges Halbrundbild, das rückwärts wie zu den Seiten die allmählich verflachenden, baum- und quellenlosen toten Berge abschlossen. Davor lag verdurstend, zu Staub und Stein gebrannt, ohne einen Strauch, ohne ein Rinnsal Wassers, ohne eine Menschenhütte, nur mit spärlichen Büscheln von Alfagras zwischen dem Geröll bestanden, die Niederung der Wüste und senkte sich immer tiefer und tiefer gen Süden, bis unter die Spiegelhöhe des fernen Meeres, hinab zu dem Land El-Dscherid, dem weiten Palmengarten Tunesiens, der Dattelkammer der Sahara, mit seinen riesigen, still die Einsamkeit mit der Schwermut einstiger Grösse erfüllenden Römertrümmern, mit den Zauberwäldern seiner Oasen und ihren finsteren, staubgebackenen und halbzerfallenen heiligen Städten, mit ihren feindlichen Wellen wandernden Sandes, dem schwefelgelben Reich der Dünen, mit dem Grauen seiner toten Berge und dunklen Geisterhöhlen und mit dem Mittelpunkt des Ganzen, dem unermesslichen Salzmeer.

Eine Weile blickte der Mann vom Felsen stumm auf das Bild, die Augen mit der Hand gegen den Feuerball am Himmel schützend, der schon, zu Beginn des Nachmittags, seine Bahn gegen Westen zu senken begann. Dann tastete er noch einmal, ob das Nackentuch, der Schutz gegen Sonnenstich und Hirnentzündung, auch fest genug sass und dicht die Haut umhüllte. Er stieg durch die kochende, zitternde Luft, in der alle Gegenstände ringsum wie von geisterhaftem, lautlosem Leben erfasst mitzuschwingen und zu atmen schienen, im Chaos des Felskessels hinab ins Tal.

Dort hatte es im Frühjahr, zur Zeit der Wolkenbrüche, Wasser gegeben. Jetzt noch waren die spärlichen Halme des Riedgrases etwas länger, etwas grüner, nicht ganz so leichenhaft erstorben wie in der Steppe. Ein lediger Gaul weidete da und machte zuweilen ein paar ungefüge kurze Sprünge. Aber weit fort konnte er nicht von diesem Platz, wo ihn sein Herr diese Nacht über gelassen hatte. Denn seine Vorderbeine waren gekoppelt. Und ganz in der Nähe, zwischen glühenden Klippen versteckt, lagen auch Sattel und Zaumzeug, die der Jäger jetzt hervorholte und dem Tier auflegte. Er war froh, seinen getreuen Begleiter unversehrt wiederzusehen, und klopfte ihm beim Aufsitzen freundschaftlich auf die Mähne. Panther, die ihn hätten zerreissen können, gab es hier kaum mehr, und Hyäne und Schakal wagten sich nicht an solch einen Vierfüssler. Aber diebische Wüstenbeduinen hätten sich wohl einmal auf ihren Nachtwanderungen nach Weide und Wasser auch hierher verirren können.

So zogen Mann und Ross in die Glut der Steinebene hinaus, deren verdorrte Stauden von Alfragras millionenfach, unbeweglich dastehend, vergeblich des leisesten Lufthauchs, des winzigsten, die nahe Abendkühle verratenden Wehens vom Westen harrten. Nichts rührte sich in dem schwülen Todesschweigen. Kein Mensch, kein Tier, nicht einmal ein Falke, eine Wüstenechse am Weg, ein paar geschäftig rennende Rebhühner, die sonst die Öde belebten, waren sichtbar. Was Blut in sich hatte, barg sich bang im sicheren Schlupfwinkel, bis die Sonne wieder einmal ihren zornigen Tageslauf vollendet und tröstendes, mildes Sterngeglitzer am Nachthimmel aufstieg.

Der Reiter hielt auf eines der überall in der Ebene verstreuten Römerbollwerke zu, in dem wohl einst vor fünfzehnhundert Jahren einer der grossen Grundherren des Landes mit Weib und Kind und Sklavengesinde gehaust hatte. Niemand wusste mehr etwas davon, niemand hatte auch nur einen Namen für dieses Gemäuer oder eines der vielen anderen, die die Ebene bis zum Horizont füllten. Nur ein Wahrzeichen kannte man da: die beiden einsamen, ungebrochenen Säulen, die in der spielerischen Schönheit ihres marmornen Schnitzwerks wie zwei Wegweiser mitten in der Wüste standen. Sie waren ein Richtpunkt. An ihnen vorbei lief der Saumpfad gen Süden.

Den erreichte jetzt der Reiter, und sein Schimmel merkte, dass die Karawanserei nicht mehr fern war. Dieser setzte sich, halbverdurstet wie er war, von selbst in Galopp. Auch hier, auf der hauptsächlich durch Räderspuren im Sand bezeichneten grossen Verkehrsstrasse, war kein Mensch. Nur ganz in der Ferne schimmerte das weisse Sonnendach einer Arabâ, des landesüblichen, federlos zwischen zwei Riesenrädern schaukelnden und von ein paar Maultieren gezogenen Kastens, in denen die reisten, die nicht reiten wollten oder konnten: Frauen, Handelsleute mit Waren, Kranke. Es ging unbequem und langsam genug, sosehr auch der vorn rittlings auf der wippenden Deichsel sitzende braune Fuhrmann die Tiere antrieb. Doch holte, bei der weiten Entfernung zwischen ihnen, der Reiter das Gefährt nicht mehr ein. Das war schon verschwunden, als er endlich von der Höhe einer kleinen Steppenwellung aus die Karawanserei vor sich liegen sah.

Das Rasthaus, ein niedriges, festungsähnlich einen Innenhof umschliessendes steinernes Viereck, war da gebaut, wo es Wasser gab. Und der Brunnen hier stammte noch aus Römerzeiten. Ein langes, rechteckiges Becken war da aus gigantischen Blöcken in die Erde hinein ausgemauert und speiste sich aus einer unterirdischen Quelle. Der Brunnenspiegel war trübe. Eine Staubschicht, tote Tiere, Strohhalme schwammen darauf, Frösche ruderten in ihm umher. Aber es war doch das Nass, das Labsal und die Lebensbedingung der Wüste —, und so hatte sich denn auch auf der anderen Seite der Zisterne, gegenüber der Karawanserei, ein ganzer Beduinenstamm angesiedelt. Ein Dutzend niedriger, rauchgeschwärzter Zelte stand da nebeneinander, in deren erstickend heissem Innern die Männer und Weiber der Nomadentruppe ruhten. Nur ein paar rote und blaue Kleiderfetzen halbwüchsiger Mädchen schimmerten herüber, ein paar Köter bellten, und näher am Wege stand, die äsende Kamelherde bewachend, ein einzelner braungebrannter Hirt mit breitkrempigem Strohhut und in weissem Burnus. Er nickte dem Europäer zu und grinste dann spitzbübisch hinter ihm her.

Der Jäger war inzwischen durch das Tor der Wüstenherberge geritten und sorgte im Hof, in dem schon die eben angekommene Arabâ stand, vor allem für sein Pferd. Erst als das verpflegt war und sich behaglich am Boden wälzte, fragte er den neben ihm stehenden, von der Regierung mit der Aufsicht über die Karawanserei betrauten Araber, ob noch Platz für die Nacht sei. Gewiss, im Schlafraum sei erst ein junger Dattelreisender aus Marseille. Das andere Gemach sei von drei Frauen mit Beschlag belegt, die vorhin eingetroffen seien.

Aber kaum hatte er die Schlafkammer betreten, einen halbdunklen, weissgetünchten, backsteinbelegten Raum, in dem drei eiserne Bettstellen mit Strohsäcken und ein paar Stühle standen, da hörte er den Marseiller, während der sich das Kinn zum Rasieren einseifte, mit schmachtender Stimme singen:

„dites donc, ma belle!

où est votre amant?“

Der elegante, quecksilberne Knirps, der, wie die erste Schwalbe im Frühjahr, seinen Berufsgenossen, den übrigen erst im Herbst zur Zeit der Ernte eintreffenden Dattelreisenden, vorausgeeilt war, um jetzt schon in den Oasen des Südens, im Land El-Dscherid möglichst vorteilhafte Abschlüsse für sein Marseiller Haus zu machen, stellte sich dem Eingetretenen nicht vor — solche Formalitäten gab es hier unter Europäern nicht. Er sagte: „Wissen Sie, wer da nebenan ist?“

Der Jäger tat, als hörte er ihn nicht. Ihn verdross der Mensch. Er stellte sich an die Wand und studierte aufmerksam die ihm längst bekannte, französisch und arabisch lautende Hausordnung, wonach die Reisenden vor Betreten der Karawanserei ihre Waffen zu entladen hatten und Kamele im Hof nur geduldet wurden, soweit sie nicht durch Zahl und Geruch lästig fielen, und vieles andere mehr. Aber der Marseiller, der kleine Mann mit dem Rasiermesser, liess sich nicht so leicht abweisen. Er verkündete triumphierend, wie einer, der sicher ist, mit seiner Neuigkeit gewaltigen Eindruck zu erwecken: „Zwei Mädchen von der Mission sind’s — zwei Engländerinnen! Sie sind von ihrem tunesischen Hauptquartier in Susa abgeschickt! Sie ziehen gegen den Teufel in der Sahara zu Feld! Sie haben es selbst gesagt! Sie wollen die Araber zum Christentum bekehren! Sie haben einen kleinen Kocher mit und eine Gummibadewanne und eine ganze Kiste voll arabischer Bibeln und Traktätchen — und sprechen auch selbst vorzüglich Arabisch — ganz allein ziehen sie durch die Welt. Das sind zwei verrückte Geschöpfe!“

„Ich denke, es sind drei?“ sagte der Jäger kurz, indem er sein Gewehr reinigte, einfettete und in die Ecke stellte. Er achtete kaum auf das Geschwätz. Der andere bestätigte: „Ja, aber die dritte gehört nicht dazu. Sie hat sich den beiden nur unterwegs angeschlossen. Ich glaube, schon an der Küste, weil ihr Begleiter oder ihr Diener, oder wer das nun war, dort krank geworden ist und sie nun ganz allein dastand. Nein, das ist kein Missionsmädchen. Sie ist viel zu hübsch dazu, sehr hübsch! Ich hör’ es durch die Wand: sie spricht nur mühsam mit den beiden anderen Englisch!“

„Jedenfalls belästigen Sie die Damen nicht!“ sagte der Jäger kurz und so schroff und hart, dass der kleine Dattelmensch sich beinahe in sein spitzes Kinn geschnitten hätte, so erschrocken wandte er den Kopf herum. Aber sein Stubengefährte war schon wieder in den Hof hinausgetreten, ging um ein paar dort kauernde Kamele herum und durch den Torweg ins Freie zu dem Beduinenlager.

Das hatte sich inzwischen belebt. Man rüstete zum Aufbruch. Die Zelte waren verpackt und verstaut, die Herden zusammengetrieben, die Kinder und Hunde eingefangen. Nur der riesige, viele Zentner schwere Stammesteppich, der allein eine ganze Kamellast ausmachte, wurde noch eben von den Männern unter grossem Geschrei zusammengerollt. Die Weiber und Mädchen befanden sich hoch zu Kamel über dem Gewimmel der Schafe und Ziegen. Sie sassen rittlings, die braunen Beine zu beiden Seiten herabbaumeln lassend, auf den gepolsterten Höckern. Sie hatten die schönen, grossäugigen, ernst blickenden Kinder auf dem Rücken oder in Körben rechts und links. Ihre blauen und roten Hemden leuchteten, und unter den scharlach- und blaufarbigen Kopftüchern lachten die harten, aber hübschen Züge und zeigten unter den blauen Tätowierstrichen der braunen Haut ihre weissen Zähne. Beim Anblick des Europäers hatte die Heiterkeit der Naturkinder sie alle ergriffen. Plötzlich lenkte die eine ihr Kamel herum und trieb es hinaus in die Wüste. Die anderen folgten ihr in lachender Flucht, dass Staubwolken hinter den Fussballen der Trampeltiere aufwirbelten und die Reiterinnen sich ducken und festklammern mussten, um nicht hinunterzufallen. Der Gold- und Silberschmuck, den sie nach Nomadenbrauch als den Hauptreichtum der Familien am Leibe trugen, tanzte und klirrte.

Der Scheich des Tribus, ein gelassener Weissbart in weissem Mantel, ritt langsam hinterdrein. Der Jäger hielt ihn durch einen halblauten Zuruf an. Die beiden, Europäer und Beduine, kannten sich und gaben sich die Hand. Dann sprach der Jäger einige arabische Worte und wies nach den fernen Bergen, von denen er gekommen war. Damit war der Handel schon erledigt. Das Fleisch des Mufflons, das dort in der Höhle lag und in der Hitze doch sonst verderben würde, sollte als ein Geschenk des Jägers dem Stamme der Masghuna gehören. Dafür aber sollte der Scheich Fell und Gehörn aufbewahren und bei Gelegenheit die Beute nach Süden schicken, tief in die Sahara, wo das Haus des Jägers stand.

Der Jäger nickte lässig mit dem braunen Kopf als Abschiedsgruss und dankte für das Salem des Wüstenhäuptlings, dann drehte er sich um und schritt wieder der Karawanserei zu.

Dort schimmerten ein paar scharlachrote Jacken. Zwei Offiziere von den Spahis, der Eingeborenenreiterei, trabten auf Rappen durch das Tor. Der eine war mager, sehr elegant, mit scharfen, vornehmen Zügen, die besser auf die Pariser Boulevards als hier in die Wüste passten. Der andere war ein grauköpfiger, älterer Araber, wie jede Schwadron einen unter ihren Leutnants besass. Sie mochten auf einer Dienstreise begriffen sein. Ihre Burschen und Tragtiere waren noch weit zurück. Während der Pariser sich aus dem Sattel schwang, lief plötzlich ein angenehmes Erstaunen über sein bis dahin von der Hitze und dem langen Ritt ganz teilnahmlos gewordenes Gesicht. Er sagte halblaut zu seinem Gefährten: „Sehen Sie mal, Sidi Mussa ... welch ein hübsches Mädchen da drinnen im Hofe steht.“

Der alte Unterleutnant Si Mussa ben El Hadschi Achmed war seit vielen Jahren ein Freund und Waffengenosse der Christen. Aber so weit war er doch noch in seinem Empfinden Moslem geblieben, dass er eine fremde Frau nicht so bewundernd musterte, wie dies sein Kamerad, der Leutnant de Castaing de Laprade, tat. Und der neben diesen beiden am Torweg stehende Jäger, der in das Innere der Karawanserei nicht sehen konnte, dachte sich: Das konnte keines von den beiden Missionsmädchen sein. Man hörte ja auch die beiden Engländerinnen deutlich in ihrer Kammer sprechen und mit Konservenbüchsen und Teekessel klappern. Das war wahrscheinlich die dritte, die Begleiterin, die sich ihnen unterwegs angeschlossen hatte. Schliesslich war es ja auch ganz gleich. Der Jäger hatte gar keine Lust, in den Hof zwischen die dort rastenden und kauenden Kamele zu treten und sich die Fremde anzusehen. Im Gegenteil, er schlenderte langsam trotz der Glut des Spätnachmittags wieder in das Freie hinaus.

Er schritt längs des römischen Wasserbeckens dahin und betrachtete zerstreut ein paar Frösche, die sich an ein in den Teich gefallenes und ertrunkenes junges Huhn geklammert hatten und mit ihm wie auf einem Fahrzeug über den trüben, staubbedeckten Spiegel dahintrieben. Dann stiess er weitergehend mit dem Fuss gegen die halb im verdorrten Gras verborgenen Reste einer Puffotter, der bösen, armdicken und armlangen Giftschlange der Sahara, die den Menschen angreift. Irgend jemand hatte, wohl schon vor langer Zeit, dem Scheusal den Garaus gemacht. Es waren eigentlich nur noch Skelett und Hautfetzen übrig. Über die weg ging der Jäger weiter, einen kleinen Hügel hinan und hinab zu dem Platz, wo vorhin der Beduinenstamm gerastet hatte. Jetzt war da alles öde und leer. Aschenstellen, geschwärzte Steine, Hammelknochen, zertretene Büschel von Alfagras — das allein war übriggeblieben.

Und wie er da stand und vor sich hinschaute, da hörte er hinter sich leise ein paar Steinchen rollen. Irgend jemand kam den Hügel herauf. Er wandte sich um und erblickte die Fremde, von der vorhin der Dattelreisende und der elegante Leutnant gesprochen hatten. Sie war auffallend hübsch. Nicht viel über zwanzig und nicht viel über Mittelmass, aber durch ihre Schlankheit grösser aussehend, in grauem Staubkleid, auf dem Kopf einen weissen Tropenhelm, der schiefsitzend die Stirne tief beschattete. Das gab zusammen mit dem Hintergrund von Weiss, das der ausgespannte Sonnenschirm und der die braunen Haare nonnenhaft einrahmende lichte Nackenschleier boten, dem länglichen bräunlichen Gesichtchen etwas Sonnenverbranntes, Abenteuerliches. Und ebenso schauten auch die hellen Augen ein wenig verdutzt durch die ungewohnte Umgebung und dabei erwartungsvoll, als müsste sich in nächster Zeit etwas ganz Besonderes ereignen — und nichts Erfreuliches. Es war ein bisschen Bangen in dem Blick.

Jetzt ruhte der Blick auf dem Boden, wo das Steppenlager gestanden hatte. Ein Gegenstand blinkte da, etwas Glitzerndes, ein Schmuckstück, das eines der Beduinenmädchen bei ihrem Kamelgalopp verloren haben musste. Sie sah das silberne Ding wohl, aber sie machte keine Bewegung, es aufzuheben. Da trat der Jäger hinzu und nahm es aus dem Staube. Und in der Gemeinschaft, die der Fund zwischen ihnen gesponnen hatte, sagte er, die kleine Silberhand mit den fünf aufgereckten Fingern vorweisend: „Die Hand der Fatme zu verlieren — das wird einen Jammer geben ...“

Da sie ihn schweigend anschaute und er merkte, dass sie offenbar ganz fremd hier im Lande war, erklärte er: „Die Hand der Fatme ist ein heiliges Zeichen für den ganzen Islam. Fatme war die einzige Tochter Mohammeds. Die Hand bringt Glück.“

Nun erwiderte sie, offenbar nur, um ihn nicht ganz ohne Antwort zu lassen: „Aber dem doch nicht, der sie verliert?“

„Nein, aber dem, der sie findet! In diesem Fall also Ihnen!“

Sie blieb stumm, unschlüssig, ohne das Auge von ihm zu lassen. Dass er sie angeredet hatte, das konnte sie nicht so befremden! Das war hier unter Europäern erlaubt, fast selbstverständlich. So viel hatte sie jedenfalls auf ihrer Reise schon von des Landes Brauch gemerkt. Es musste etwas anderes sein, was sie auf dem Herzen, fast auf den Lippen hatte, während sie ihn im langsamen Weitergehen mit einem Seitenblick musterte und offenbar mit einem Entschluss rang. Vielleicht wollte sie die Hand der Fatme besitzen? Er ging ihr nach und bot sie ihr an. „Nehmen Sie sie nur! Ich kenne den Scheich des Stammes. Wenn ich ihn wiederseh’, werde ich ihn dafür entschädigen. Das Ding ist ohnedies nur aus Silberblech. Kaum einen Franc wert.“

Zu seinem Erstaunen schüttelte sie den Kopf und sagte beklommen: „Danke! Ich möchte Sie nicht berauben!“ Er hielt ihr das Spielzeug immer noch hin: „Mir rauben Sie nichts! Ich brauche keine Glückszeichen!“

Das war gleichgültig gesprochen, halb lächelnd. Aber wie er dastand: verwittert, halb verwildert, in sonnen- und regengebleichten Kleidern und mit verbranntem Antlitz, ein Mann aus der Einsamkeit der Berge, da hatte es seinen besonderen Klang. Und auch ihr schmales braunes Mädchengesicht unter dem weissen Tropenhelm wurde ganz ernst, während sie sagte: „Nein, lassen Sie nur! ... Ich würde Sie gerne um etwas anderes bitten, um eine Auskunft! Ich bin allein hier. Und Sie sehen so aus, als ob Sie hier in der Gegend genau Bescheid wüssten ...“

Er nickte nur und harrte ihrer Fragen. Sie wies in die Ferne, gegen Süden. „Nicht wahr, dort, in dieser Richtung, liegt El-Ariana?“

„Die Oase El-Ariana? Ja.“

„Und wie weit ist’s noch bis dahin?“

„Ein kleiner Tagesmarsch!“

„Und dort steht ein Regiment der Truppe?“

Er hob den Kopf, sah sie einen Augenblick an und sagte dann langsam: „Nein, Madame — nur Spahis. Aber ein Bataillon war vor einem Jahr auf dem Durchmarsch dort.“

„Wo ist es denn dann hingezogen?“

„Noch tiefer in den Süden, zu einer Expedition gegen die Dschambas, wegen der Ermordung eines Forschungsreisenden. Jetzt ist es lange wieder nach El-Ariana und von da nach Algier zurück. Jetzt halten da unten die arabischen Kamelreiter die Grenzwache!“

„Ich danke sehr, Monsieur!“ Die Fremde ging weiter. Aber nach ein paar Schritten blieb sie schon wieder stehen. Sie kämpfte mit sich. Er merkte: sie fühlte sich vereinsamt und von einer heimlichen Sorge gequält, dass sie wider Willen das Gespräch mit ihm von neuem anknüpfen musste. Sie fragte: „Ist Ihnen das vielleicht bekannt: hat das Bataillon, während es hier in Tunesien war, niemand zurückgelassen?“

„Das Bataillon lässt überall, wo es war, ein paar Grabkreuze hinter sich!“ sagte er ruhig.

„Ja ... und die, die krank werden?“ Jetzt brach deutlich die Angst in ihrer Stimme durch: „... sind nicht auch Kranke vom Bataillon in El-Ariana zurückgeblieben?“

„Einer liegt jetzt noch dort ... schon seit einem Vierteljahr ... Ein junger Soldat aus dem Elsass ...“

„Und ist das vielleicht ...“ Sie trat auf ihn zu. Ihre Augen waren gross vor Angst. „... Ich bin nämlich seine Schwester ... für den Fall, dass er Gaston Roland heisst ... Wir entstammen einer elsässischen Familie ...“

Er erwiderte: „Jawohl, Mademoiselle Roland — das ist Ihr Bruder, den ich meine ...“

„Und Sie kennen ihn?“

„Ich kenne ihn und besuche ihn zuweilen, wenn ich in diese Oase komme, weil mir der arme Mensch leid tut. Ich war erst vorgestern bei ihm.“

„Und wie geht es ihm?“

Der Jäger zögerte eine Weile mit der Antwort. Dann sagte er langsam: „Nicht sehr gut, Mademoiselle Roland. Den Typhus hat er ja so ziemlich überstanden. Aber es ist keine rechte Lebenskraft in ihm. Er wird schwächer und schwächer — ohne dass man viel dagegen tun kann.“

„Sie meinen, sein Leben ist in Gefahr?“

„Ich bin kein Arzt, sondern nur Bauer und Jäger. Aber ich glaube, so wie die Dinge liegen, sollten Sie sich beeilen, nach El-Ariana zu kommen.“

Das hübsche Mädchengesicht, das sich so bräunlich von dem weissen Dämmern der Sonnenhüllen abgehoben hatte, war jetzt sehr blass geworden. Einen Augenblick stand sie stumm und sorgenvoll da, dann sagte sie mit schwankender Stimme: „Ich danke Ihnen sehr für Ihre Auskunft, Monsieur!“ Und er erwiderte: „Tragen Sie es mir, bitte, nicht nach, dass sie nicht besser lauten konnte.“

Sie hörte seine Worte kaum noch. Sie war trotz der Gluthitze in die Karawanserei und in das Zimmer ihrer Reisegefährtinnen zurückgeeilt. Dort sassen die beiden Missionarinnen, zwei sommersprossige, rotbackige Engländerinnen zwischen dreissig und vierzig Jahren, auf ihrer Bibelkiste neben dem Aluminiumkocher und unterhandelten eben in fliessendem Arabisch und unter erbittertem Gebärden- und Mienenspiel mit dem vor ihnen stehenden Karawansereiwächter über den Ankauf eines Kaninchens, als die junge Französin hereintrat und hastig in ihrem gebrochenen Englisch bat: „Fragen Sie doch, bitte, den Mann, ob er den Europäer kennt, mit dem ich eben gesprochen habe. Es ist ein Jäger. Er hat ein weisses Pferd im Stall ...“

„Gewiss ...“ Der lange finstere Kerl im Burnus nickte. Er kannte den Steppenreiter wohl.

„Und ist der zuverlässig? Kann man alles glauben, was er sagt?“ Wieder bejahte der Moslem. Das sei einer der eingesessenen Franzosen, zu dem sogar die Einheimischen Zutrauen hätten.

„Und wer ist es denn?“

Der Burnusträger zuckte die Achseln und machte mit den ausholenden Armen eine jener vielsagenden orientalischen Bewegungen, die etwa ausdrücken mochte: Wissen wir, woher ihr alle kommt, ihr Europäer? — Dieser da war als Soldat ins Land gekommen. Hier war seine Dienstzeit zu Ende gewesen. Da hatte er seinen Abschied genommen. Seitdem lebte er da unten am Salzmeer. Er kam zuweilen auf der Jagd bis hierher nach Norden herauf. Seine Kugel war gut. Einen Panther hatte er schon geschossen, zur Freude der Hirtenstämme der Wüste. Mit denen war er gut Freund. Sidi Frank hiessen sie ihn.

Nun stellte Yvonne Roland ihre letzte Frage, viel ruhiger als bisher, wie jemand, der mit einem Entschluss ganz ins reine gekommen ist: Gab es eine Möglichkeit, jetzt bald aufzubrechen und die Nacht hindurch weiter nach El-Ariana zu reisen, um so rasch wie möglich dort zu sein?

Der Araber rief einen in der Nähe am Boden kauernden Moslem an und verhandelte mit ihm: Ja — dieser greise Achmed oder Soliman, der heute früh mit Maultier und leerem Karren aus jener Oase gekommen war, sei bereit, auch wieder dorthin zurückzukehren. Nur erwartete er natürlich ein besonders hohes Backschisch, in Anbetracht der Nachtfahrt durch die Wüste, die doch immerhin etwas Ungewöhnliches, selten Unternommenes sei.

Und zugleich erhoben auch die anderen Besucher der Karawanserei, die sich in ihrer Langeweile um Yvonne Roland gruppiert und zugehört hatten, ihre warnenden Stimmen. Auf englisch, französisch und arabisch redeten sie gleichzeitig auf sie ein, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Die beiden britischen Missionarinnen, die Land und Leute genau kannten, gaben ihr das Versprechen, sie würden mit ihr um vier Uhr morgens, noch vor Sonnenaufgang, aufbrechen, der Leutnant de Castaing de Laprade bot sich für diesen Fall sofort zur Begleitung an, und sein mohammedanischer Waffengenosse erzählte, nachdem er einige Worte in seiner Muttersprache mit dem Stationswächter gewechselt hatte, in gutem Französisch die Geschichte von einem Reisenden, der vor einigen Wochen eben auf diesem Wege ermordet worden war.

„Schlimm genug, wenn Sie nicht besser für die Sicherheit der Strassen sorgen!“ sagte das junge Mädchen zu den Offizieren, die nichts Rechtes darauf zu erwidern wussten. Denn tatsächlich waren, dank der Strenge der tunesischen Regierung, diese Gegenden nördlich des Salzmeeres ganz sicher. Für Europäer war hier keine Gefahr. Die begann erst am Südrand des Salzsees El-Dscherid, wo die Oasen unter Militärverwaltung standen und niemand gern ohne Waffen ausging. Aber trotzdem warnte der elegante Spahileutnant, der seinen Blick gar nicht von der Fremden, ihrer schlanken Gestalt, ihrem schmalen Antlitz wenden konnte und sich dachte, dass eine derartige Gelegenheit unter vier Augen wie solch ein langer einsamer Wüstenabend in der Karawanserei nie wiederkehrte, noch einmal: „Lassen Sie sich bereden, Madame! Fahren Sie nicht allein mit dem Araber in die Nacht hinein. Man kann diesen Leuten nie trauen!“ Und der Dattelreisende fügte hinzu: „Ich tät’ es nicht! Nicht für fünfhundert Francs! Und ich komm’ dies Jahr schon zum zehntenmal von Marseille herüber!“

Yvonne Roland war einen Kopf grösser als das schmächtige, gelbliche, quecksilberne Südfranzöslein. Sie antwortete ihm gar nicht, sondern sagte über ihn hinweg zu dem Leutnant de Castaing, dem einzigen aus diesem ganzen Kreis von Unglücksraben, den sie ernst nahm: „Sehen Sie sich doch den Karrenführer an! Das ist doch ein ganz alter, gebrechlicher Mann. Ich bin stärker als er!“

„Aber er kann Spiessgesellen haben, Madame!“

Darauf griff sie in die Tasche und holte, während sie in die Arabâ kletterte und unter dem Sonnendach Platz nahm, einen Revolver heraus.

„Ich habe meine Pflicht getan, Madame, und Sie auf alle Möglichkeiten aufmerksam gemacht.“

„Mein Bruder liegt todkrank in El-Ariana. Man hat mir gesagt, wie bedrohlich es um ihn steht. Ich bin nicht deswegen aus Strassburg übers Meer und nach Afrika gereist, um jetzt, im letzten Augenblick vor dem Ziel, unnütz haltzumachen. Glauben Sie mir: ich hab’ schon ganz andere Schwierigkeiten überwinden müssen, bis ich bis hierher gekommen bin!“

Sie nickte heftig bejahend auf die stumme Gebärdenfrage des greisen Achmed oder Soliman, ob sie zur Abfahrt bereit sei. Der schwang sich vor ihr auf die Deichsel und mahnte mit seltsamen Gurgeltönen die beiden Maultiere an ihre Pflicht. Während diese die langen Ohren spitzten und anzogen, knarrte und ächzte das Räderpaar. Die Arabâ schwankte langsam durch Staub und Morast des Hofes und unter dem Torweg hinaus ins Freie.

Dort kam eben Sidi Frank, der Jäger, nach der Karawanserei zurück. Er stand etwa zwanzig Schritte von der Wüstenkarawanserei, als der Wagen, scharf vom Purpur der sinkenden Sonne mit Mann, Maultieren und Mädchen sich abzeichnend, vorüberfuhr. Er sah sich rasch und aufmerksam, auch mit einem Schatten von Besorgnis auf den verbrannten Zügen, die Insassin der Arabâ an. Die hatte es sich bequem gemacht, so gut oder so schlecht es ging. Sie kauerte auf einem Koffer in dem zwischen den federlosen Rädern schaukelnden backtrogähnlichen Holzkasten, der viel zu kurz für sie war, so dass sie die Knie hoch heraufziehen musste und die Hände darüber verschlang. Die schaute nicht hinüber, wo der Jäger stand. Sie sah unablässig, mit halbgeschlossenen Augen gegen die schrägen, langen Sonnenstrahlen anblinzelnd, geradeaus in die Richtung, wo in unsichtbarer Ferne El-Ariana lag. Dahin wollte sie ...

Aber wenn ihr nun unterwegs doch etwas geschah? Als der Jäger in das Innenviereck der Karawanserei trat, stritt man noch immer darüber. Der Spahileutnant sagte eben, sich eine Zigarette anbrennend, das Reitstöckchen schief unter dem Ärmel seiner scharlachroten Jacke: „Es wird nichts übrigbleiben, man muss ihr nachreiten und sie begleiten!“

Er hätte das für sein Leben gern getan und fühlte sich, sehnig und mager wie sein Gesicht und sein ganzer Körper war, auch gar nicht zu müde dazu. Aber anders stand es mit seinem Pferd und dem seines arabischen Kameraden Si Mussa. Die Tiere waren zu erschöpft von dem heutigen Ritt. Sie hatten auch schlecht gefressen und lagen jetzt, alle viere ausgestreckt, stumpfsinnig, wie verendet, in dem heissen Staub des Bodens. Der elegante Leutnant sah sich das ärgerlich an und sagte: „Eine verwünschte Sache! Ich möchte nur wissen, wer ihr zu dieser Nachtreise geraten hat!“

„Ich!“ sagte der Jäger kurz, zog seinen Gaul ohne viel Umstände an der Wassertrense hoch und begann ihn zu satteln.

„Sehr schön, Monsieur! Und wer wird nun das Vergnügen haben, womöglich ein Pferd im Wert von ein paar hundert Francs zu ruinieren, um die Dame auf dieser abenteuerlichen Fahrt zu schützen?“

„Ich!“ wiederholte der Jäger gelassen und schnallte den Bauchgurt seines Pferdes fester. „Übrigens — meinem Schimmel macht das nichts! Ich hab’ ihm schon anderes zugemutet!“

Die Stute bot denn auch, nachdem er sie in zwei Minuten reitfertig gemacht hatte, bereitwillig den Rücken und ging unter ihm im stelzenden Schritt des Vollbluts nach dem Tor. Die anderen schauten hinterher und wussten nichts mehr zu sagen. Schliesslich war es ja so das Beste. Und der Jäger sah auch nicht aus wie ein Mann, der sich durch die Reden anderer viel in seinen Entschlüssen beirren liess.

Als draussen die weite Steppe im letzten Abendgold glühte und flimmerte und ein erster, noch fast unmerklich kühlender Hauch die vertrockneten Alfabüschel fächelte und über die brennend heissen Steinblöcke und Geröllbrocken strich, richtete er sich in den Steigbügeln auf und spähte. Ganz in der Ferne kroch da etwas Weisses langsam dem Sonnenuntergang zu. Das war der Leinwandplan der Arabâ. In einer halben Stunde tüchtigen Trabs konnte er sie erreichen. Aber er tat es nicht. Er wollte unbemerkt bleiben, seine Gesellschaft und seinen Schutz nicht aufdrängen.

Mitten in der Ebene stand ein mächtiger Steinblock. Unwahrscheinlich grosse, bemooste und verwitterte Quadern bildeten die finstere Römerwarte, das Mal versunkener Zeiten. Es gab eine Stelle, wo man von aussen, vorstehende Steine als Stufen benutzend, das schrägliegende, auf der einen Seite tief in die Erde gesunkene Gemäuer erklimmen konnte. Da band der Reiter sein Pferd an und stieg hinauf. Die bröckelige, mit winzigen blauen Blümchen und Halmen bewachsene Fläche oben war noch sengend warm von dem langen Sommertag, der auf ihr gebrannt hatte. Aber zugleich bot sie auch einen Ausblick wie von einem Adlernest in die Weite. Nur im Norden hemmten die hohen, jetzt mit tiefviolett getönten Zacken im Dämmern verschwimmenden Gebirge die Fernsicht. Überall sonst aber verlor sich das Auge in unbestimmten, unendlichen Übergängen.

Wie die Vorposten der eigentlichen Sahara schoben sich ihre ersten kleinen Sandinseln bis weit in die Steppe vor. Wehe dem Fahrzeug, das sie mit langsam mahlenden Rädern durchmessen musste. Es kam kaum von der Stelle. Und eben jetzt war der weisse Punkt in der Ferne, den der Mann auf dem Römerturm nicht aus den Augen liess, in den ersten sandigen Dünenstrich geraten. Es schien, als stünde die Arabâ still. Man musste schon die Augen des Wüstenwanderers haben, um zu erkennen, dass das Fahrzeug sich Zoll für Zoll weiterbewegte. Wer jetzt da nachritt, brauchte sein Pferd nicht zu spornen und war doch, wenn es Nacht und dunkel war, dem Karren nahe, ungesehen und doch bereit, wenn Not am Mann, mit ein paar Sprüngen heranzugaloppieren.

Die Sonne war am Wüstenrand verschwunden. Nur ein letztes blutiges Leuchten zeigte noch ihren Zorn. Es ging wie ein Aufatmen über das ganze lechzende Land. Ein leiser Wind flüsterte und zischelte durch das Alfagestrüpp, kleine Staubwolken stiegen auf und drehten sich lautlos wie schattenhafte Gnomen tanzend durch das Dämmerlicht. Seltsame Vogelstimmen, Rascheln am Boden, verflogene Rufe der Steppe wurden wach, dickköpfige schwarze Fledermäuse krochen aus den Fugen des Römerturms und gaukelten und geisterten in Nacht und Tau und Sterngeglitzer. Da verliess auch der Jäger seine Warte. Er schwang sich behutsam, keinen Stein lockernd, um nicht unversehens auf einen Skorpion zu treten, an dem Mauergeklüft hinab zu seinem Pferd. Und als er wieder auf dem Schimmel sass, da klopfte er dem mit langen Zügeln auf den Hals und schnalzte einmal mit der Zunge. Das Zeichen kannte die Stute. Sie wieherte kurz und setzte sich in Galopp. Ross und Reiter flogen in langen Sätzen über die finster gewordene Steppe dahin, dem weissen Wagen in der Ferne nach ...

Zweites Kapitel

Die ganze Nacht durch holperte und rumpelte die Arabâ durch die Wüste weiter, und hinter ihr hörte man durch die totenstille, jetzt ganz kühle Luft einen regelmässigen Laut — das Trappeln eines im Schritt gehenden Pferdes. Die Huffchläge klangen in gleicher Entfernung. Sie blieben nie zurück, ob auch Stunde um Stunde der eintönigen Fahrt verrann; sie kamen aber auch nie näher.

Der alte arabische Karrenführer schaute sich zuweilen um. Yvonne Roland war nach kurzer Fahrt ermattet eingeschlafen und wurde zuweilen durch einen unsanften Puff des Wagens halb zum Bewusstsein gebracht. Sie schlummerte dann aber noch fester ein. Sie hörte das Trapp-Trapp des Reiters und träumte allerhand Räubergeschichten, die immer wilder und bunter wurden, je mehr die ursprüngliche Müdigkeit schwand und einer Art fieberigen, unruhigen Dämmerns zwischen Wachen und Schlafen Platz machte. Schliesslich war ihr ganz deutlich, als ob eine vielköpfige Horde von Arabern mit rauhen Stimmen sich näherte. Mit einem hellen Schrei setzte sie sich auf. Der Morgen graute schon stark, einen klaren Tag verheissend; über den ewigen Steinen und spärlich gewordenen Alfabüscheln und breiten Sandflächen brauten die letzten Nachtnebel. Neben der Arabâ hielt hoch zu Esel das erste lebende Wesen, das sie seit dem Verlassen der Karawanserei zu Gesicht bekommen hatte — der arabische Postreiter aus der Oase El-Ariana, langbärtig, die Kapuze seines braunen Burnus gnomenhaft über den Kopf gezogen, die Ledermappe mit den Briefschaften umgehängt. Er hatte mit dem Fuhrmann bei der Begegnung ein paar Worte gewechselt, die hatten Yvonne aufgeweckt. Er ritt nun, sich nach morgenländischem Brauch auf dem letzten Rückenwirbel seines Grautieres im Gleichgewicht haltend, in entgegengesetzter Richtung davon.

Und da vorne standen im fliessenden, feuchtkühlen Silbergrau des Morgens Pappeln, ganz gewöhnliche Pappeln wie daheim. Und zwischen ihnen ein einzelner riesiger Feigenbaum, von dessen Ästchen Hunderte und aber Hunderte von bunten Fetzen und Lappen aller Art wehten, und der in seinem Fastnachtsputz ein Marabu, ein heiliges Ding war. Gleich hinter ihm war schon das erste Ölwäldchen, seltsam knorrige, zart taubenfarben beblätterte Stämme, von stacheligen, mannshohen Kaktusstauden umschlossen. Und über dem hier beginnenden Gras blähte es sich im Wüstenwind auf geschuppten, kurzen, braunhaarigen Säulen von breitem, gelblichem Gefächer und Gefieder. Hier war die Grenze des Reiches der Palmen. Der Fuhrmann wies darauf hin, auf schwärzliche, niedere, weit entfernte Massen, wie von Unkraut oder Farnwedeln. Allmählich begriff Yvonne, dass das alles wohl Dattelbäume sein müssten, Tausende und Zehntausende. Und wenn man weiter in die Ebene hinaussah, dann zogen sich dort dieselben blauschwarzen Mauern und Flächen hin und säumten den Horizont mit neuen dunkeln Kronen und zeigten dem, der durch die Wildnis kam, dass er El-Dscherid erreicht hatte, das gelobte Land, den Garten Tunesiens.

Weidevieh quoll dem Fahrzeug aus den Toren von El-Ariana entgegen. Erst als man in die Strassen des Araberfleckens einbog, verloren sich die Herden. Hier war es mit einem Male ganz still. Tot, wie ausgestorben standen zu beiden Seiten der schmalen Hauptstrasse die fensterlosen Hausfronten, ihre weisse Tünche nur an einer Stelle von der festverschlossenen Tür durchbrochen. Manche der aus ungebranntem Lehm zusammengebackenen Gebäude lagen, wie in all diesen Saharastädten, halb oder ganz in Trümmern und bildeten verödete Schutthaufen. Bei vielen anderen der düsteren, geheimnisvollen, überall am Eingang mit korinthischen Säulen und Riesenquadern der Römerzeit gestützten Eulennester wusste man nicht: waren sie nie fertig geworden oder schon wieder zerfallen, waren sie noch bewohnt oder bereits wieder gleich einem morsch und löcherig gewordenen Zelt in der Wüste unbenutzt ihrem Schicksal überlassen?