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In diesem Künstlertagebuch wird neben einer spannenden Liebesgeschichte das Kunstgeschehen der damaligen Zeit beschrieben. Ein Künstler verliebt sich in eine junge Anfängerin, der er später auch Kunstunterricht gibt. Sie möchte aber zuerst nichts von ihm wissen. Bis er im Krieg verwundet wird und sie versucht, ihn gesund zu pflegen. Alles wird begleitet von einem Gespräch über das aktuelle und vergangene Kunstgeschehen. Weiter sind Fabeln und Gedichte angefügt. Ganz neu und interessant sind die altchinesischen Gedicht-Übersetzungen.
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Seitenzahl: 199
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Volker von Schintling-Horny
DIE HIMMLISCHE UND DIE IRDISCHE LIEBE
Ein Künstlertagebuch
von
Karl von Schintling Staudach im Chiemgau
1866 --- 1944 in Staudach
Impressum:
Verfasser: Karl von Schintling
Herausgeber:
© 2020 LSH Volker von Schintling-Horny
Layout u. Umschlaggestaltung:
Umschlagbilder: Volker von Schintling-Horny
Titelbild: Christopherus, Wikipedia
Buchrückseite: Karl von Schintling
Verlag und Druck: tredition GmbH
Halenreie 42 22359 Hamburg
ISBN
978-3-347-00424-5 (Paperback)
978-3-347-00425-2 (Hardcover)
978-3-347-00426-9 (e-Book)
1. Auflage 2020
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Inhalt
Vorwort
Die Himmlische und die Irdische Liebe
Nachwort
Seltsame Geschichten “Frei Sein”
Fabeln, Gedichte
Chinoiserien Altchinesische Gedichte
Auf, auf → zum Licht
Literatur
DIE IRDISCHE UND DIE HIMMLISCHE LIEBE
Ein Künstlertagebuch
von
Karl von Schintling Staudach am Chiemsee
VORWORT des Verfassers
Beim Ordnen des Nachlasses eines 1914 im Krieg in den Vogesen gefallenen Malers, der mir während langer Jahre ein Freund gewesen ist, fand ich das Manuskript des Tagebuches, von dem ich hier einen Auszug wiedergebe. Ich mußte mich dabei auf das beschränken, was für die Charakteristik des Autors als Mensch und Künstler, wesentlich ist und was im Zusammenhang mit dem Roman steht, den er erlebt hat. Das habe ich herausgeschält, Nebensächliches aber weggelassen. Der Verfasser des Tagebuches hatte keine näheren Angehörigen. Daß die Veröffentlichung heute, da keine der Hauptperson mehr lebt, seinem Willen nicht widerspricht, weiß ich aus gelegentlichen Äußerungen meines armen Freundes.
Karl von Schintling, Staudach 1922. Durchgesehen 1939
VORWORT des Herausgebers
Ein Jahr nach meiner Geburt, hat mein Adoptiv-Großvater Karl dieses Manukript fertiggestellt. Über 80 Jahre hat es nun geschlummert. Dabei fällt mir ein: Ich habe drei Großväter. Den Vater meines Vaters August Horny, den Vater meiner Mutter Georg Lüdeke und den Bruder meiner Goßmutter Marie Horny - Karl von Schintling -. Dieser Karl hat meinen Vater Walter Horny adoptiert weil seine Familie ausgestorben ist. Ich habe nun drei Großväter und einem neuen Namen. Dieser Adoptivgroßvater Karl war Kommandeur des Leibregimentes des letzten Bayrischen Königs Ludwig III in München. Er war ein Natrfrend und auch Imker, ein kluger Kopf. Karl hat viel Geschichten, Gedichte und Fabeln verfaßt. Karl konnte chinesisch, er ging gerne zur Jagd und da er in Bayern am Chiemsee lebte ging er jedes Jahr mit seiner Frau Marie, geb. von Frölich, eine Woche aufs Oktoberfest nach München. Dieses Künstlertagebuch erzählt neben der spannenden Liebesgeschichte eines Malers und einer reichen Offizierstochter von dem Urgrund alles Kunstgeschehens.
Durchgesehen, Hörschhausen im August 1996 und Ratingen im Januar 2020
Volker von Schintling-Horny
DIE HIMMLISCHE UND DIE IRDISCHE LIEBE
Irgendwo las ich einmal, der Körper des Menschen erneuere sich fortwährend; nach etwa sieben Jahren - ich glaube, so hieß es, bestehe kein Organ mehr aus demselben Stoff wie ehedem. Meine Seele und mein Geist haben sich also nun bereits drei- bis viermal ein neues Gewand machen lassen - oder selbst gemacht? Ich bin nicht mehr derselbe, der ich in meiner Jugend war, und nach etwa sieben Jahren habe ich einen neuen Körper. Nun denn, an diesen Andern will ich schreiben und ihm erzählen, was sein Vorgänger erlebt und gedacht hat, vielleicht weiß er nicht mehr viel davon. Doch der Geist? Der wird mit dem Körper nicht ausgewechselt! Schließlich schreibst du dir da überflüssigerweise lauter bekannte Sachen? Mag sein, aber wenn ich versuche, mir meinen Geisteszustand als Kind zu vergegenwärtigen, so sage ich mir zwar einerseits: ja, gewiß, das bin ich noch, aber dann auch wieder: nein, so ganz bin ich das denn doch nicht mehr. Nicht nur körperlich vermag ich mich nicht mehr mit jenem schwächlichen, ängstlichen Bübchen zu identifizieren, das sich von jedem derb knochigeren Lümmel hänseln und prügeln lassen mußte, ich bin auch psychisch nicht mehr mit dem dummen, unerfahrenen Jungen zu vergleichen, der wehr und ratlos war, wenn ihn talentlose Pädagogen schuhriegelten und blödsinnig bestraften. Die sollten sich heute noch einmal an mich heranwagen! Ich würde ihnen zeigen, daß nicht nur mein Körper eine zur Abwehr tauglichere Maschinerie geworden ist, sondern daß sich auch mein Geist derart gewappnet hat, daß ihre Mistgabeln schmählich zersplittern, sofern ich sie ihnen nicht schon aus der Hand schlage, ehe sie meinen seelischen Panzer erreichen. Also hat sich mein Geist doch auch mit seinem Wohngehäuse verändert, und beide, Leib und Seele verhalten sich zu ihren früheren Zuständen etwa so, wie das ausgeführte Gemälde zur Skizze. Dabei trifft auch das zu, daß sich die Skizze gewöhnlich gegenüber dem fertigen Bild durch stärkere Originalität und einen frischeren Schmiß auszeichnet, was nicht gerade in vorteilhaftem Sinn für meinen jetzigen Zustand spricht. Sonach ist es also kein müßiges Beginnen, wenn ich für mein späteres Ich aufzeichne, was sein Vorläufer, oder seine Skizze, oder wie man das sonst nennen will, erfahren, getan gewollt und ersehnt und vielleicht auch gelitten hat. Welche Empfindungen das Abgetane einst ausgelöst, vermag man in späteren Jahren ja doch nicht mehr so zu fühlen, wie damals, als die Eindrücke noch frisch waren, auch wenn die Begebenheiten selbst noch nicht ganz verblaßt sind. Die Farben eines alten Gemäldes sind verändert, die Formen nicht. Der trübe Firnis und die Patina mildern das Grelle. Wenn ich dereinst meine irdische Hülle abgestreift haben werde, und man sie in den Schrein legt, sollen meinetwegen auch andere, denen meine Aufzeichnungen unter die Hände kommen, sie lesen. Mögen sie sich dann denken, ich hätte mein Leben besser anders einrichten sollen, oder was sie sonst wollen, mir kann's gleich sein.
Das ich die Laune habe, einmal den Pinsel mit der Feder zu vertauschen, erklärt sich wohl daraus, das seit meiner Erkrankung in meiner Seele keine Gesichtsvorstellungen mehr nach Gestaltung drängen. Ich bin wie ausgepumpt. Ein Blatt Papier oder eine Leinwand kann ich anstarren, ohne dass sie sich mit Figuren beleben wie ehemals. Mir ist, als hätte ich niemals Stift und Pinsel geführt. Vielleicht hat sich mein Organismus während meiner Krankheit mit einem Ruck geändert, und das bisschen Bildnertalent ist mit dem Krankheitsstoff ausgestoßen worden? Sonderbar! Ich bin darüber weder bestürzt, traurig noch beunruhigt. Selbst wenn ich mir vorstelle, dass mir niemals wieder ein Strich gelingen wird, ist mir's gleich.
Ich habe kein anderes Verlangen als die wonnige Ruhe zu genießen; sie ist auch wohltuend, nicht nur das Schaffen; ja, ich habe geradezu das Bedürfnis, nicht mehr in Bildern, Formen und Farben zu denken. So will ich's also mit dem Wort ersuchen.
So muß den Abgeschiedenen zumut sein, wenn sie aus einer besseren Welt zurückblicken auf das irdische Getriebe, das sie nichts mehr angeht. Sie lächeln über ihre einstigen Sorgen, Leiden und Wünsche. Wieder ein gründlich verfaulenzter Tag!
Nichts getan, rein gar nichts. Das hätte ich früher nicht fertiggebracht, als noch alles in mir brodelte und gärte. Dabei ist die Welt hier so farbenprächtig, und auf Schritt und Tritt spricht einen ein malerisches Motiv an, ja, schreit geradezu: nimm mich mit! nimm mich mit! Aber ich bin hartherzig und antworte: bleibt nur, ihr Berge, Hügel und Wälder und Wiesen, wo euch der Schöpfer hingeschaffen hat, in eurem Naturraum, und für euch, ihr Blüten, ist es besser, ihr entwickelt euch zu braven Äpfeln, Birnen und Pflaumen, als dass euch ein armseliger Maler zu einem Bild verwurstet und dabei vergeblich unserem Herrgott Konkurrenz zu machen versucht. Ich will mich an Teurer Pracht und an purem Duft erfreuen, aber lasst mich sonst ungeschoren! Der Schmetterling und die Bienen wollen auch nichts anderes von euch als den Genuss eurer Süßigkeit. Und ihr, ihr grünen Matten, lasst euch von den Kühen auffressen, auf dass euch die Bäuerin verbuttern kann, das ist nützlicher, als gemalt zu werden. Und euch Bäume sehe ich schon im Geist wie lange, abgeschälte Stämme auf dem Lastwagen hinausrollen ins Land, damit sich der Händler, der euch als Werkholz verschachert, die fetten Hände reiben kann vor Freude über den schönen Profit. Ein Porträt von euch wäre keine so gute Ware. Das entspricht auch mehr dem Zeitgeist, als wenn euch ein Maler auf der Leinwand verunstaltet, und ihm dann die Kritiker die Haut abziehen, wie euch der Waldarbeiter die Rinde. Ich will mich zum Spießbürger wandeln. Für diesen herrlichen Faulheitsgenuß bin ich dem seligen Blasius Ignatius Grasmaier innigen Dank schuldig. Ich werde morgen ihn auf dem Friedhof besuchen und ihm schöne Blumen aus meinem Garten aufs Grab legen. Wenn ich frömmer wäre, würde ich auch ein paar Vaterunser für sein Seelenheil beten. Ich denke jedoch, das hat er gar nicht nötig, denn für die wundervolle Idee, das idyllische Landhaus testamentarisch erholungs bedürftigen Künstlern als Freistatt zur Verfügung zu stellen, sind ihm sicherlich die Pforten des Paradieses auch ohne Fürbitte sperrangelweit offen gestanden und ihm seine etwaigen Sünden in Bausch und Bogen vergeben worden. Ich will meinen Zimmernachbarn, den Dichter, dazu anstiften, seine langweiligen Manuskripte einmal beiseite zu legen und einen Lobhymnus auf Blasius Ignatius zu dichten, und der dürre Musikus, der im Zimmer über uns beständig an seiner Violine kratzt, soll's vertonen; während er im Garten seinen Rheumatismus durch Sonnenbäder loszuwerden sucht, hat er Zeit dazu. Das sind die beiden dem Andenken des Wackeren schuldig. Dass wir ihn immer nur Blasius Ignatius Grasmaier nennen, wird uns der alte Herr nicht posthum übelnehmen; ich bin sicher, dass er genügend Humor hatte, sonst wäre er den Künsten und den Künstlern nicht so wohlgesinnt gewesen. Eigentlich hieß er Konrad von Schellendorff und war ein Reiteroberst, der sich nach seiner Pensionierung hier in dem stillen Winkel am Fuß der Berge sein Nest gebaut hat. Und dabei hat er keinen schlechten Geschmack bewiesen. Schon die Lage! Abseits von der staubigen Landstraße, dicht am Bergwald, liegt das Haus inmitten eines Gartens, der einst ein Stück des Walds gewesen ist. Die schönsten und ältesten Bäume, riesige Tannen, Buchen, Eichen und Ahorn sowie ein paar Föhren, alles wild durcheinanderwachsend, hat der Oberst stehen lassen. Nur so viel ist ausgerodet, als für das Gebäude und für einen kleinen Obst und Gemüsegarten an Platz notwendig war. Von dem höhergelegenen Teil des Waldgartens aus blickt man hinaus, weit über das Moos, bis hinüber zum See, den man in einer halben Stunde erreichen kann. Auf der anderen Seite hat man einen wundervollen Blick auf die Berge. Außen ist das Haus einfach, aber nett und freundlich; innen ist alles altertümlich ausgestattet, die Diele, mit Zirbenholz getäfelt, schmücken alte Renaissanceschränke und italienische geschnitzte Truhen, ferner alte, echte Teppiche, und einige vortreffliche alte Ölgemälde von guten Meistern. Man hat alles so lassen müssen, wie es zu Lebzeiten des Stifters war. Daneben liegt das Musikzimmer im Zopfstil, worin ein wunderschöner Blüthner-Flügel steht, den unser Komponist eifrig bearbeitet, solange er nicht geigt. Von da gelangt man in das Speisezimmer, von uns auch Grasmaier-Zimmer genannt. Es ist nämlich hier eine hübsche, aus einem alten Tiroler Wirtshaus stammende Täfelung nebst Holzplafond eingebaut, und eine Inschrift in Holzintarsia über der Türe künden den Namen des Wirtes: GRASMAIER Nur die vier Wohnzimmer in den oberen Stockwerken sind modern ausgestattet, ganz einfach, aber komfortabel und praktisch. Sie dienen jetzt den Künstlergästen als Schlafstuben. Unten wohnt ein Hausmeisterehepaar, das Haus Garten und die Gäste zu versorgen hat, wofür dem Künstler Unterstützungsverein von dem Obersten ein Kapital als Legat überwiesen worden ist. Die braven Leute waren schon lange Zeit in seinem Dienst gewesen. Meine drei Mitgäste stören mich nicht im geringsten; ich sehe sie eigentlich nur bei den Mahlzeiten. Außer dem Schriftsteller und dem Musikus ist noch ein Maler da, ein blasser, stiller, junger Mensch, der fleißig arbeitet. Ich hüte mich, ihm zuzusehen. Ich habe wieder einen Rückfall gehabt. Zwei Tage lang hat es ununterbrochen geregnet und gestürmt. Ich lag die meiste Zeit zu Bett und kam nicht aus dem geheizten Zimmer. Man hat mir das Essen heraufgebracht, ich habe es aber kaum angerührt. Merkwürdig was das Wetter für einen Einfluß auf die Stimmung hat. Nicht einmal lesen wollte ich, nur stumpfsinnig vor mich hinstarren. Trübselig wie draußen sah es in meinem Innern aus. Das alte Elend ist wieder über mich gekommen. Ich mußte viel an Resa denken, trotz meines ernstlichen Vorsatzes, sie zu vergessen. Ob sie wohl schon Hochzeit gemacht hat. Aber nein! Ich will mir diese Gedanken einfür allemal aus dem Kopf schlagen. Ich will! Ich darf nicht mehr an das Vergangene denken, es ist abgetan. Es war eine Eselei von mir, daß ich nicht gleich gemerkt habe, ihr Herz gehöre bereits einem anderen, und ihre Gefühle für mich seien nur Freundschaft, nichts weiter. Aus! Nachtfrost. Die ganze Blütenpracht ist dahin. Traurig hängen die kürzlich noch so jugendfrischen Blüten an den Zweigen. Die Bienen, die sie umschwärmen, fliegen enttäuscht wieder davon, ohne in die Kelche zu schlüpfen. Nur ein paar Hummeln suchen dennoch beharrlich nach Nektar. Es wird heuer wenig Ost geben, sagen die Bauern. Es ist ein Jammer, die Blüte war doch so vielversprechend, aber so geht's auf Erden. Auf den Bergen liegt Neuschnee bis tief herunter. Ich hätte nicht gedacht, daß das Vergessen so schwer ist. Hoffentlich muß ich damit nicht warten, bis sich mein Körper nach sieben Jahren oder mehr abermals erneuert haben wird. Heute scheint die Sonne wieder. Seit dem frühen Morgen hört man aus dem Wald Kuckucksruf. Die Burschen sind wie toll. Einer ist dabei, der sich nicht mit dem gewöhnlichen Ruf begnügt, er balzt: kuckuckuck. Der muß beson ders verliebt sein; er glaubt gewiß, seiner Schönen durch Absonderlichkeit imponieren zu müssen. Ich will in den Wald hinausgehen; vielleicht bekomme ich einen der Kuckucke zu sehen. Aus der wohlbestellten Grasmaier'schen Bibliothek nehme ich mir einen Band Goethe mit. Abends: Ich habe den Kuckuck nicht zu Gesicht bekommen. Als ich eine Weile im Moos unter den Bäumen gelegen und geträumt hatte, kam unser Musikus des Weges. Ich war zunächst unwillig über die Störung und wollte ihn mit inem kurzen Gruß abfertigen, aber er setzte sich zu mir und begann ein Gespräch, und bald merkte ich, daß er gar nicht so uninteressant ist wie, ich glaubte. Wir sprachen über Kunst. Ich verstehe nichts von Musik, aber längst war mir eine Ahnung aufgedämmert, daß die Prinzipien des künstlerischen Schaffens in allen Zweigen der Kunst die gleichen sein müßten. Durch das, was mir der Komponist über die Musik zu erklären versuchte, fand ich meine Vermutung bestätigt. Auch in der bilden den Kunst ist Rhythmus alles. Motivische Abwandlung, sogar kontrapunktische Lösung gibt's hier wie dort. Aber um wieviel besser ist der Musiker daran! Ihn binden nicht die Fesseln an Naturtatsachen, die von uns armen Malern nie und nimmer gesprengt werden können, wollen wir nicht den Boden verlassen, auf dem die bildende Kunst nun einmal zu wurzeln verdammt ist. Sie ist zu einem guten Teil von dieser Welt. Die Musik ist viel überirdischer. Natur, wie sie Gott geschaffen hat, und künstlerisches Gestalten nach unserem eigenen Sinn mit einander in Einklang zu bringen, ist das uns gestellte Problem, und es ist unlösbar, wenigstens nicht restlos lösbar, gleich der Quadratur des Zirkels. Nach der einen oder anderen Seite hin müssen wir Konzessionen machen, oder nach beiden Seiten hin. Wir brauchen Erdnahrung und himmlischen Tau und Himmelslicht zugleich. Das ist unser Fluch. Die Prometheuse, die mit Linien und Formen und Farben ganz frei musizieren zu können glauben und dabei auf unseres Herrgotts Schöpfung pfeifen, sind auf dem Holzweg. Sie haben sich von ihren Wurzeln losgerissen und werden bald verdorren wie eine abgeschnittene Blume. Ich kann mir auch nicht denken, daß ein Schriftsteller was Gescheites schreiben kann, wenn er es nicht erlebt hat, was er dichterisch verarbeitet. Goethe hat nur Erlebtes künstlerisch gestaltet. Dabei verstehe ich "Erleben" sowenig plump sinnlich, wie beim Malen das "Erschauen". Man kann auch einfühlend erleben und erschauen, so wie zum Beispiel Shakespeare seine Dichtun gen "erlebt" hat. Julius Caesar und König Lear und den Hamlet hat er natürlich auch nicht gerade persönlich gekannt, und hat sie dennoch "erlebt". Ich meine nur, auf etwas Reales muß sich die künstlerische Inspiration schließlich stützen, sie kann nicht lediglich auf Nervenzuckungen beruhen. Wie beneide ich den Musiker um die Freiheit seines Höhenflugs! Noch eines haben beide Künste gemeinsam, und mir scheint, auch die dritte Schwester, die Dichtkunst, an dem gleichen Übel zu kranken: die Luft unserer materialistischen Epoche bekommt der zarten Pflanze Kunst nicht gut. Man lasse sich nicht durch die Masse der Kunstproduktion unserer Zeit täuschen. Das Niveau der Leistungen ist auf keinem Gebiet ein sehr hohes. Wir sitzen arg auf dem Trockenen. Die Quellen sind versiegt. Wir müssen ganz neue suchen, aber es wird schwer halten, sie zu finden, und lang wird's dauern. Der ganze Zeitgeist muß erst ein anderer werden, ehe uns der Kastalische Quell wieder zu sprudeln beginnt. Kunst ist ja eine der Ausdrucksformen der Kultur überhaupt, und unsere Kunst ist also auch danach. Das alles empfindet auch unser Musikus, und er ist recht unbefriedigt von seinem Schaffen. Das nimmt mich für ihn ein. Nachdenklich und bedrückt kam ich nach Hause. Der Dichter saß auf der Bank im Garten und schrieb eifrig. Er scheint unter der Dürftigkeit der Zeit nicht zu leiden, der glückliche Unglückliche. Nach dem Abendessen zeigte mir der junge Maler etwas verschämt aber mit schlecht verhülltem Stolz sein Skizzenbuch und einige Entwürfe zu Figurenbildern. O glücklich, wer noch hoffen kann, aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen! Ich wollte den Ärmsten nicht durch eine abfällige Bemerkung kränken und sagte nur ein paar gleichgültige Worte. Er ist schwindsüchtig wie seine Kunst. Möge sie ihm ein Trost bleiben auf seinem Weg zum Grabe.
Ich habe ein Erlebnis gehabt. Ich wollte nach Greifenstein gehen, den schönen Waldweg, der am Fuß des Schwarzenbergs entlangführt, um mir die alte Burg anzusehen. Plötzlich stellte sich mir ein Schäferhund in den Weg und knurrte. Eine weibliche Stimme rief: "Juno!" und da erblickte ich hinter einem Busch ein weißes Kleid und eine Staffelei mit einer Malleinwand darauf. Ich mußte, um vorbeizukommen, etwas vom schmalen Fußweg abbiegen. "Entschuldigen Sie vielmals", sagte eine wohlklingende Stimme. Ich blickte in das liebliche Antlitz einer etwa zwanzigjährigen Blondine, die, mit Palette und Pinsel in den Händen, den Hund abwehrte, der sich noch immer nicht über mein Erscheinen beruhigt hatte. Dabei ließ die Dame einen der Pinsel fallen. Ich sprang herzu, ihn aufzuhe ben, worauf der Hund, der meine Bewegung falsch auffaßte, Miene machte, mich anzugreifen. So daß seine Herrin rasch auch die Palette und die übrigen Pinsel auf den Boden legte, um das wütend bellende Tier am Halsband packen zu können. Ich hob nun die Sachen auf und über reichte sie der Dame, die mittlerweile den Hund durch ein paar strenge Worte beruhigt hatte. "Danke! Hoffentlich haben Sie sich nicht mit den Farben beschmutzt!" sagte sie, worauf ich erwiderte: "Nein, ich weiß mit dergleichen umzugehen, ich bin nämlich auch von der Zunft." "So, so" meinte das Mädchen, "dann schauen Sie nur ja mein Geschmier nicht an, ich bin nämlich nicht von der Zunft, sondern bloß Dilettantin." Ich sagte: "Ich weiß zwar nur allzu gut, daß nichts störender ist, als wenn einem die Leute beim Malen zugucken, aber es würde mich doch interessieren, wie Sie dieses Motiv auffassen, das ich mir selbst schon wiederholt auf ein Bild hin angesehen habe. Darf ich?" Die Dame wandte nun zwar ein, man könne noch nicht viel sehen, weil die Arbeit noch nicht weit genug gediehen sein, sie zierte sich jedoch nicht lange und ließ mich einen Blick auf das Gemälde tun. Es war die Aussicht durch die Bäume auf das auf einem Felsvorsprung gelegene alte Schloß. Wie die Sache im Entwurf angepackt war, das verriet immerhin einiges Talent, wenn auch des technische Können sichtlich hinter dem durchaus nicht kleinlichen Wollen zurück stand. Ich fragte, ob sie sich schon lange mit der Malerei befasse und bei wem sie gelernt hätte, und so kamen wir in ein Gespräch. Mein Name, den ich ihr nannte, war ihr nicht unbekannt; sie erinnerte sich, einige meiner Arbeiten im Kunstverein gesehen zu haben. Auf Ihre Bitte hin gab ich ihr einige Winke für die weitere Ausarbeitung des Motivs. Sie wurden dankbar angenommen, und schließlich bat mich die junge Dame, ihre Malerei in ein paar Tagen, wenn sie mehr fortgeschritten sei, gelegentlich nochmals anzusehen, was ich gern zusagte. Auf den Greifenstein bin ich nicht mehr gekommen, es war zu spät geworden; ich werde ein andermal hingehen. Herr Konrad von Schellendorff, alias Grasmaier, hat wirklich Humor besessen. Es liegt hier eine Hauschronik auf, die das beweist. Der alte Herr hat sie vom Jahr 1872 an, als er das Haus gebaut hatte, bis zu seinem Tod im Jahr 1901 sorgfältig geführt. Alle Gäste, die er die Zeit über bei sich beherbergt hatte, haben sich da ein geschrieben. Es sind manche berühmte Namen von Künstlern und Schriftstellern darunter. Auch jetzt noch soll, seiner Bestimmung zufolge, jeder, der die Wohltat seines Vermächtnisses genießt, seinen Namen eintragen. Außerdem stehen allerhand lustige Sachen in dem Buch, und auch ernste, wies gerade gekommen ist. Es muß oft fröhlich hergegangen sein zu Lebzeiten des Alten. Er scheint ein guter Weinkenner gewesen zu sein, schade daß von seinem Keller nichts mehr übriggeblieben ist als das leere Gewölbe. Seine Freunde haben den Obersten auch bereits Grasmaier genannt, wie aus mehreren Einträgen in der Chronik in Prosa und poetischer Form hervorgeht. Man hat ihn auch auf manchem Blatt trefflich karikiert. Beides hat er offenbar nicht übelgenommen. Er scheint ein philosophischer Kopf gewesen zu sein, hat sich sogar selbst poetisch betätigt, und sich mit Naturwissenschaften, besonders mit Geologie befaßt. In seiner Bibliothek finden sich zahlreiche Werke dieser Art. Die Bergwelt, in der er hier lebte, hat ihn wohl darauf gebracht. Ein Gedicht, von seiner eigenen Hand unter einer Landschaftsskizze eines befreundeten Malers eingetragen, lautet: Hier, wo der Berg in blaue Lüfte ragt, hat einst, vor vielen, vielen tausend Jahren das Meer gebraust. Du kannst es noch gewahren an den Korallen, dort am Fels, benagt vorzeiten von der wilden Brandung Gischt, die feindlich das Korallenriff umzischt'. Dann, als die Wasser mählich abgeflossen, in unausdenkbar langen Zeitenräumen, war hier, wo jetzt die Berggewässer schäumen, das Land mit starrem Eise übergossen. Die Sonnenstrahlen schmolzen Eis und Schnee, und in der Eb'ne dort entstand der See. Die Landschaft, die dein Auge jetzt erschaut, sie wird sich wandeln auch, im Lauf der Zeiten; nicht hat Natur für alle Ewigkeiten die Felsen und die Berge aufgebaut. Und du, o Mensch, du lächerlicher Zwerg, verschwindest noch viel früher als der Berg!
Da liegt er nun draußen auf dem stillen Dorffriedhof und ist in seinem Hause selber nichts als ein vorübergehen der Gast gewesen, nur für etwas längere Zeit als wir. Was ist doch irdischer Besitz? Ein vergänglich Ding! Was ist denn im Grund für ein Unterschied zwischen Eigentum und Nutznießung? Ich will mich die paar Wochen über, die ich hier weile, in die Rolle des Besitzers hineinträumen. Grasmaiers seliges Erbe! Der junge schwindsüchtige Kollege scheint auch seelisch krank zu sein, er hat eine unglückliche Liebe, die für ihn noch keine so abgeschlossene Episode ist, wie für mich meine eselhafte, mißglückte Jugendschwärmerei. Als ich gestern abend mit ihm am Wirtshaus vorbeiging, in dem die Dorfjugend sich mit Schuhplattln vergnügte, sahen wir in einer dunklen Ecke des Gartens ein Pärchen stehen, das sich eng umschlungen hielt. Er seufzte, und ich bemerkte, daß der Schimmer der hellerleuchteten Fen ster sich in seinen Augen auffallend stark widerspiegelte; auch war er von dem Augenblick ab sehr einsilbig. Soll man solche Gefühle Neid nennen?
Bei mir löste die Szene ein Lächeln aus, was ich als ein Symptom der beginnenden Gesundung betrachte. Meine schöne Maldilettantin habe ich noch nicht wiedergesehen. Ich bin nun schon zweimal den Waldweg gegangen, aber kein Schäferhund fiel mich kläffend an. Als ich heute morgen den Weg zur Burg Greifenstein hin aufging, um mir das alte, aus dem fünfzehnten Jahrhundert