Die Kichererbsen  der Señora Dolores - Stevan Paul - E-Book
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Die Kichererbsen der Señora Dolores E-Book

Stevan Paul

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Beschreibung

Eine kochbegeisterte Buchhändlerin verliebt sich in einen Barmann. Ein eigensinniger Postbeamter wagt auf der Suche nach der perfekten Ramen-Suppe die Reise in sein Sehnsuchtsland Japan. Eine gestresste Managerin entspannt sich endlich bei einer Kugel Himbeereis. Ein Hygienekontrolleur der alten Schule macht Bekanntschaft mit der wirkungsvollen Kraft indischer Gewürze. Und Señora Dolores kocht noch einmal ihren berühmten spanischen Eintopf und findet dabei alte Freunde wieder. Stevan Paul nimmt uns in seinen Texten mit auf eine Reise rund um die Welt. Zwischen Japan, Friesland, Italien, Hamburg, Spanien und New York entfalten sich anrührende und humorvolle Geschichten, die alle eins verbindet: Die Leidenschaft für gutes Essen und eine universelle Liebe zur Kulinarik. Und um die Geschmackswelten direkt in die eigene Küche zu holen, gibt es zu jeder Geschichte natürlich das passende Rezept. »Stevan Pauls Texte sind wie seine Gerichte: Sie enthalten immer einen persönlichen Twist, eine Würze und eine besondere Kombination, die sie einzigartig macht. Ein feiner, raffinierter und liebevoller Buchgenuss.« Tim Raue »Kichererbsen tanzen und Noten von Zimt, Butter und Marzipan liegen in der Luft. Wer nur halb so gut kochen kann, wie Stevan Paul schreibt, wird immer ein leckeres Essen haben.« Anja Wasserbäch

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Table of Contents

Die Kichererbsen der Señora Dolores

Rezept: Die Kichererbsen der Señora Dolores

Der Sturm

Rezept: Norddeutscher Kartoffelsalat mit gebratener Makrele

Indien

Rezept: Rote Curry-Linsensuppe mit Gurken-Minz-Joghurt

Die absolute Nase

Rezept: Miso-Grünkohl mit Pfeffer-Birnen

Herr Siebert träumt von Hunden

Rezept: Bojans Currywurst Spezial

Ikigai – von der Kunst, zu lieben, was man tut

Rezept: Nudelsuppe nach Tampopo-Art

meat:io

Rezept: Mushroom-Cheeseburger

Nächstes Mal

Rezept: Erdbeereis

Berlin ruft zurück

Rezept: Blechpizza Berlin

Masażu Bäcker

Rezept: Focaccia

Herzensangelegenheiten

Rezept: Hähnchenherzen-Ragout

Die Rückkehr

Rezept: Chicorée-Salat

Finale

Rezept: Blanquette de veau

Stevan Paul

Impressum

Die Kichererbsen der Señora Dolores

Als Señora Dolores gegen Mittag zum zweiten Mal an diesem Tag erwacht, findet sie sich unter den flirren den Blättern eines Orangenbaumes liegend, seine

duftenden Früchte hängen wie kleine Sonnen über ihr, im Azurblau eines wolkenlosen Himmels. Wie schön die Vögel für sie singen. ¡Dios mío!, diese Hitze. Señora Dolores beschließt, noch ein bisschen liegen zu bleiben. Sie fühlt sich nicht. Ich muss erst mal zu mir kommen, denkt sie. Doch daraus wird nichts, die Stimmen, die sie wecken, kommen näher: »Hola! Señora! Geht es Ihnen gut?«

Señora Dolores blinzelt unauffällig durch ihre zusammengekniffenen Augenlider: Da steht eine junge, hübsche Frau leicht über sie gebeugt und fächelt ihr mit einem aufgeschlagenen Küchenhandtuch Luft zu. Hinter ihr ein ebenso junger Kerl, schmuck sieht er aus, er schaut besorgt durch das tigermustergefleckte Gestell einer Beamtenbrille.

»Wie heißen Sie?«, fragt jetzt die Frau.

Das weiß sie: »Anamaría Dolores García Pèrez.«

»Und woher kommen Sie? Wie sind Sie eigentlich in unseren Garten gekommen?«

Ja, wenn sie das wüsste.

 

Am Morgen dieses Tages war sie früh erwacht, wie immer. Das Haus lag still und kühl im Morgenrot des aufkommenden Sommertages. Im Zimmer nebenan brummte und schnarchte Señor Mateo und träumte hoffentlich von seinen Bienen. Die vermisst er, jeden Tag erzählt er allen davon. Señora Dolores rieb sich den Schlaf aus den Augen, dreieinhalb Kniebeugen, danach Katzenwäsche im Bad. Sie wählte das elegante, vanillegelbe Sommerkleid mit den roten und weißen Rosenblüten und mit den aufgenähten Taschen, für alles, was eine Dame von Welt braucht, an einem jungen Julimorgen. Ein Spaziergang wäre genau das Richtige jetzt, befand sie, bevor es wieder zu heiß werden würde. Als sie auf dem Weg zum Ausgang am Speisesaal vorbeikam, hatte sie plötzlich Lust auf ein Glas Sherry. Einen kühlen Sherry! Fino. Oder Manzanilla, noch besser, vielleicht sogar ein Gläschen bernstein-funkelnder Oloroso, maravilloso! »Am frühen Morgen, du spinnst ganz schön«, kicherte Señora Dolores selbstkritisch in die Stille. Sie fand den Schlüssel am Nagelbrett im Personalzimmer und trat vor die Tür. Morgens war die Stadt am schönsten. In zartem Rosa leuchteten die historischen Paläste und Kirchen, die über den geduckten Häusern der einfachen Leute in den Morgenhimmel ragten. Sie trugen dieses freundliche Rosa nur in der Früh, und das Licht verschleierte in Unschuld, dass hinter diesen Mauern Geschichte geschrieben, Schicksale besiegelt und Religionen gepredigt wurden. Alles war noch still, nur ihre Schritte auf dem polierten Pflasterstein waren zu hören. Sie verhallten in den engen Gassen, wo die Wäsche der Hausbewohner auf gespannten Leinen trocknete, im leichten Wind, der heute vom Meer kam. Die sonnengelb und weiß gestrichenen Hausmauern hielten noch die Kühle der Nacht. Señora Dolores ließ im Vorbeigehen ihre Fingerkuppen über die raue Farbe streichen. Katzen beendeten ihre nächtlichen Patrouillen, warteten mit glänzendem Fell vor geschlossenen Holztüren, leckten sich auf fleckigen Mauern die Pfötchen. Hinter verwitterten Fensterläden wurde Kaffee gekocht. Señora Dolores überquerte an der blinden Ampel die Calle Arcos, ging über den leeren Platz Romero Martínez, vorbei am Teatro Villamarta, vorbei an den vier dürren Palmen und weiter. Ein Gläschen Sherry, vielleicht ein Mandelgebäck dazu und Kaffee! Richtig. Die Tabanco EL Pasaje hatte noch geschlossen, natürlich. Wie viele freudetrunkene Nächte haben sie in dieser Bar verbracht. Teller mit luftgetrocknetem Schinken vom schwarzen Schwein und dicke Scheiben fetter Wurst wurden aufgetragen und eingelegte Sardellen in Olivenöl mit Zitrone. Noch mehr Sherry! Garnelen, kurz in Meerwasser gekocht, mit ungesalzenem Brot und Mandel-Aioli serviert. Dazu das Wirbeln und Stampfen, die Anmut und die Wut der stolzen Flamenco-Tänzerinnen auf der kleinen Bühne der Bar. Ihre kraftvollen, konzentrierten Bewegungen zu den alten Liedern der Gitanos, Lieder von der Liebe, der Lebensfreude, von der Sehnsucht, dem Schmerz. Moment mal. Die Bodega musste jetzt da die Straße runter liegen, weiter hinten dann nach rechts und zweimal links.

 

»Darf ich Ihnen aufhelfen, Señora?« Ohne eine Antwort abzuwarten, greift der junge Mann ihr von hinten unter die Arme und zieht sie langsam hoch. Sie steht. Ihr ist ein bisschen blümerant, sie muss sich noch ein wenig festhalten am jungen Mann, der sich jetzt vorstellt: »Ich bin Antonio, und das ist meine Frau Felipa.« Señora Dolores lächelt schief, es ist ihr unangenehm, den jungen Leuten in ihrem eigenen Garten so viele Scherereien zu bereiten. »Haben Sie sich verlaufen?«

Mit Sicherheit, denkt Dolores und nickt.

Felipa hakt nach: »Woher kommen Sie denn, wo wohnen Sie, Señora?«

Wieder so eine Frage. Dolores nickt kurz und sieht sich suchend um. Die Adresse hat sie für alle Fälle neulich auf einem Zettel in ihrer Handtasche notiert. Die Handtasche hat sie aber wohl heute nicht dabei. Sie zuckt mit den Schultern, hoffend, dass die Fragestunde nicht noch länger andauert.

»Jetzt kommen Sie erst mal mit rein ins Haus und raus aus der Hitze«, entscheidet Antonio und hält sie am Arm, während sie durch den gepflegten Garten gehen. Im Haus geht die Fragestunde dann leider doch weiter. Es ist schön kühl hier drinnen, die Klimaanlage klappert leise, Dolores genießt das Glas mit stillem Wasser, das Felipa ihr gereicht hat. Es riecht auch richtig gut aus der Küche, die direkt an das Wohnzimmer mit der Veranda anschließt. »Sie erinnern sich also im Moment nicht, wo Sie wohnen?«, will Antonio wissen.

Und weil das Schulterzucken nichts bringt und sie auch sonst keine Antworten hat, sagt Dolores: »Das riecht aber gut hier!« Sie merkt, dass sie Hunger hat. Sie ist ja auch seit heute früh auf den Beinen. »Ist das Cocido?«

»Cocido de Garbanzos«, sagt Felipa. »Mein Vater kommt gleich zum Mittagessen zu Besuch, er liebt das!«

»Ich liebe das auch!«, erklärt Dolores, steht auf und geht in die Küche. Sie schaut in den Topf, in dem das Fleisch und der Schweinespeck köcheln, auch zwei helle Hühnerschenkel leuchten zwischen tanzenden Kichererbsen. So gehört das! Sie atmet den vertrauten Duft des Eintopfgerichts ein. Die Gemüse sind viel zu klein geschnitten! Und das würzende Paprikapulver schwimmt mit dem Öl obenauf. Das ist schade, sie kocht immer erst die gehackten Tomaten mit dem Pimentón dulce dicklich ein und gibt das Ganze dann zum gegarten Fleisch und den Kichererbsen, so kommt alles zusammen. Auf dem Schneidebrett aus Holz warten schwarz glänzende Blutwürste und ein paar Chorizos. Die Blutwurst kommt immer erst kurz vor Ende der Garzeit rein, da darf dann auch nichts mehr kochen. Aber die Chorizos! Diese Würste sollten längst im Eintopf mitkochen, das gibt doch Geschmack: »Felipa, haben Sie eine Gabel?«

»Ja, Señora.« Felipa öffnet die Besteckschublade und überreicht das Gefragte. Mit einigem Erstaunen sieht sie zu, wie die alte Dame die Chorizowürste energisch mit den Zinken der Gabel perforiert und sie dann in den Eintopf wirft.

»Das gibt den wahren Geschmack!«, ruft die Señora.

Felipa schaut zu Antonio, der jetzt mit seinen Schultern zuckt, und sie müssen lachen, alle drei. Doch schnell wird Dolores wieder ernst, holt einen Esslöffel aus der offen stehenden Besteckschublade, taucht ihn in den Eintopf, pustet, probiert, zieht Luft zwischen die Lippen, kaut und schluckt mit geschlossenen Augen. Sie schüttelt den Kopf, das ist es noch nicht.

»Haben Sie vielleicht freundlicherweise ein Glas Sherry für mich?«, fragt Señora Dolores.

»Nicht offen«, antwortet Antonio. Seine Frau sieht verärgert zu ihm hinüber, nickt ihm kurz und energisch zu, er versteht: »Aber hier …«, Antonio geht zum Kühlschrank und wählt einen Fino-Sherry, »…der hier ist ganz wunderbar!«

Felipa schüttet Salzmandeln aus einer Tüte in eine Schale und schiebt sie über den Küchentresen. Antonio öffnet den Sherry, der hellgelb ins Weinglas fließt, das sogleich kühl beschlägt. Señora Dolores dankt, nimmt das Glas und riecht hinein, ein Lächeln im Gesicht: »Ah! Bodegas Lustau! Der gute Puerto Fino, ich danke!«

Antonio und Felipa stehen und staunen, Dolores nimmt einen winzigen Schluck, der ihren Mund reich füllt mit dem Geschmack von Mandeln und Hefebrot, kühlen Birnen und Zitrone, dem Aroma grüner Oliven, später Kamille und einer Idee von Salz. Und sofort ist alles wieder da, sie schließt die Augen und steht im Keller ihrer alten Bodega, atmet den vertrauten Geruch der knochenbleichen Erde, es riecht nach Kreide und warmem Holz, nach süßen Rosinen und reifen Orangen. Sie steht zwischen den schwarzen Fässern, die sich übereinanderstapeln, ein leichter Wind geht durch die schweren Bastmatten vor den Fensterbögen, die Mittagshitze bleibt draußen. Gleich müsste eigentlich ihr Mann um die Ecke kommen, der stolze Kellermeister, in der Hand die langstielige Kelle schwenkend, den Schalk im Blick: »Na, kleine Fassprobe für meine geliebte Loli?« Dolores vermisst ihren Mann. Sie haben sich lange nicht mehr gesehen. Apropos. Wo treibt der sich eigentlich rum?

»Señora?«

Sie schrickt aus ihren Gedanken hoch, zurück in die Küche der jungen Leute: »Ja, großartiger Tropfen, ein Genuss!« Schnell nimmt sie noch einen zweiten kleinen Schluck. Dann gießt sie den übrigen Sherry im Glas in den Eintopf.

»Halt!«, ruft Felipa und eilt zum Kochtopf, blickt hinein, als wäre da vielleicht noch was zu machen: »Was machen Sie denn da?«

Die alte Dame lächelt ungerührt: »Das ist mein Kichererbsen-Geheimnis, Liebes!« Den jungen Leuten stehen die Münder offen. »Der gute Schluck Sherry gegen Ende, er belebt den Cocido! Das gibt eine richtige Frische und Tiefe. Mein Mann Joaquín liebt das!«

»Ihr Mann? Können wir den anrufen? Wo arbeitet der denn?«

Señora Dolores gähnt. Fragen über Fragen, der junge Mann ist wirklich sehr liebenswert und eifrig: »In der Bodega natürlich!«

»In welcher denn?«

Sie kommt nicht drauf und schüttelt den Kopf. Sie ist plötzlich unendlich müde, zeigt auf das Sofa im angrenzenden Wohnzimmer: »Dürfte ich mich vielleicht bitte kurz auf Ihrem Sofa ausruhen?«

»Selbstverständlich!« Felipa nickt. »Antonio, holst du noch ein Kissen aus dem Schlafzimmer?«

Schnell liegt sie wie aufgebahrt auf dem Sofa der jungen Leute, das tut gut jetzt: »Danke, ich danke euch! Es tut mir so leid, die Umstände, Entschuldigung, das ist schrecklich mit dem Alter, nur ein kleines Nickerchen, dann gehe ich auch!«

»Wenn wir nur wüssten, wohin«, murmelt Antonio im Hintergrund, während Felipa das Kissen unter ihrem Kopf gerade zieht: »Nachher gibt es erst mal Mittagessen zur Stärkung, und dann sehen wir weiter.«

Die zugelaufene Señora schläft jetzt schon seit einer halben Stunde tief und fest, Felipa reicht Antonio einen Probierlöffel vom Cocido: »Probier mal, Tuco. Die Señora hatte recht, schmeckt wirklich sensationell!« Sie schüttelt ungläubig den Kopf, nimmt selbst nochmal vom Eintopf. Einfach sensationell, würzig und trotzdem so frisch.« Es klingelt an der Tür, und Antonio lässt seinen Schwiegervater herein.

»Na, ihr Lieben, beide wieder im Homeoffice fleißig?« Er lacht. »Das duftet ja toll hier! Feliiii!« Gregorio drückt seine Tochter fest an sich, nur mühsam kann die sich aus der Vaterliebe winden: »Oh Papá, dein Bart kratzt echt wie Sau. Wozu haben wir dir eigentlich zum Geburtstag den Rasierer geschenkt?« Ihr Vater schaut gespielt betreten, Felipa küsst tröstend das Feuermal auf seiner Stirn: »Ich hab Cocido für dich gekocht.« Der Vater strahlt, schaut in den Topf und klatscht vorfreudig in die Hände. Pssst!, machen die Kinder wie einstudiert, sein Schwiegersohn zeigt zum Wohnzimmer. Feli nimmt den Zeigfinger wieder vom Mund und erzählt flüsternd von der Señora, die sie im Garten gefunden haben.

»Und die Dame weiß nicht, wo sie wohnt?«, hakt Gregorio nach, die Kinder schütteln den Kopf.

»Sie kennt sich ziemlich gut mit Sherry aus und erwähnte, dass ihr Mann in einer Bodega arbeitet.«

»Vielleicht fragt man mal bei der Polizei, was in so einem Fall zu tun ist?« Gregorio ist aufgestanden und sieht zu, wie seine Tochter die Blutwurst in den heißen Eintopf taucht. »Darf ich mal probieren, Feli?« Er nimmt einen Löffel vom Eintopf, pustet, kaut und schluckt, die Augen werden groß: »Das schmeckt ja sagenhaft gut, wie hast du denn …?« Fragend sieht er seine Tochter an und nimmt noch einen Löffel. »Dieser Geschmack. Das ist einzigartig. Warte!« Noch einmal kaut er konzentriert, schmeckt den Aromen und Gewürzen hinterher: »So. Genauso schmeckten immer die Kichererbsen der Señora Dolores.« Gregorio richtet sich auf, hält kurz inne, dreht den Kopf und sieht hinüber zum Wohnzimmer: »Dolores?«

»So heißt die Dame, ja«, bestätigt sein Schwiegersohn.

 

Der kleine Mittagsschlummer hat Dolores so richtig gutgetan. Gleich gibt es Mittagessen, und es könnte alles so schön sein, wäre da nicht ihr neues Problem: dieser große Mann mit dem Feuermal auf der Stirn und dem ungepflegten Drahthaarbart. Der stellt noch mehr Fragen als der Junge und ist auch leider nicht davon abzubringen, dass sie sich kennen. Da. Jetzt schon wieder: »So war es, Señora Dolores, ich habe bei Ihnen in der Bodega gearbeitet, mit Ihrem verstorbenen Mann Joaquín. Und mittags haben Sie immer für alle gekocht, und was war das immer gut. Wir beide kannten uns schon, da war ich noch so!« Er hält eine Handfläche in Hüfthöhe über den Boden. Der unverschämte Kerl. Jetzt soll also auch noch ihr Joaquín tot sein, das wird ja immer bunter hier. Sie beschließt, den Trickbetrüger schweigend zu ignorieren, den ungehobelten Klotz. Einladend nickt sie der jungen Frau zu: »Danke, gerne, ich habe wirklich einen Riesenhunger!«

Dolores rührt mit dem Löffel im Teller, genießt den Duft, der aufsteigt, das hat sie gut gemacht, die junge Frau! Sie nimmt einen Löffel, das Fleisch und die Kichererbsen sind zart, der Kohl ist weich, der Eintopf jetzt wirklich cremig, dicklich eingekocht, so wie sie es mag. Gut, die Möhren sind wirklich arg klein geschnitten, aber vielleicht ist das ja jetzt modern. Sie nickt der jungen Frau anerkennend zu. Sie genießt jeden Löffel. Schaut vom Teller auf und stellt überrascht fest, dass der bärtige Mann verschwunden ist. An seiner Stelle sitzt ein kleiner Junge auf dem Stuhl, eben groß genug, um über den Tisch zu langen. Die dichten schwarzen Haare stehen nach allen Seiten ab, als wären sie nicht zu bändigen, sie verdecken nur knapp das purpurne Feuermal auf der Stirn des Jungen. Er trägt ein fleckiges Leinenhemd unter Hosenträgern. Er beobachtet sie unablässig, während er mit großem Appetit isst, Löffel für Löffel, er scheint kaum zu kauen, löffelt immer weiter rein mit seinen dreckigen Fingernägeln, er lächelt sie an.

»Nicht so schlingen, Goyo, es isst dir niemand was weg!«

Der kleine Goyo. Sie erinnert sich, er stand eines Morgens im Torbogen der Bodega, im November 1975 war das, sie weiß das so genau, weil kurz zuvor General Franco gestorben war. Er stand da mit nichts als den Kleidern am Leib. Der Junge sprach nur das Nötigste, ein stiller Chico mit einer alten Seele, treu und anhänglich. Ihre Bemühungen, die Eltern des Jungen zu finden, verliefen sich schnell. Niemand wusste etwas, niemand redetet gerne damals. Das ganze Land gelähmt im Schweigen einer Diktatur, eine einzige große Stille, kaum ein Wort über geraubte Kinder, verschwundene Väter und verstoßene Mütter. Als der Junge einen Namen bekommen sollte, hatte sie sich gegen ihren Mann durchgesetzt, Esposito, der Ausgesetzte, das sei zwar naheliegend, ihr gefalle aber Gregorio besser. Der Wachsame, ein trefflicher Name für den Jungen, der die Bodega nie verließ und alles Treiben still beobachtete. Er lernte schnell und konnte anpacken, auch die Arbeitskollegen schätzten die ruhige, besonnene Art des Jungen. Wenn die Sonne hoch brannte, trafen sich alle unter der Kühle der geflochtenen Weinlaubdecke im Innenhof, und Dolores servierte ein kräftigendes Mittagessen, das sie jeden Vormittag zubereitete. Cocido de Garbanzos oder geschmortes Kaninchen mit Orangen und Kräutern aus dem Ofen, ihre beliebten Albondigas con salsa al Jerez ‒ Fleischbällchen in dunkler Amontillado-Sherrysauce. Freitags gab es Stockfisch mit Knoblauch oder gegrilltes Brot in heißer Tomatensauce getränkt, mit gehobeltem Manchego-Käse und Spiegelei. Unter dem Weinlaub wurde auch viel gefeiert. Ende der 1990er-Jahre heiratete Goyo die schöne Pilar Rodrigo Díaz, und die Leute zerredeten sich ihre Schandmäuler, mutmaßten, was eine stolze Schönheit wie Pilar wohl an diesem groben Kerl fände. Dolores kannte damals längst die Antwort: das größte Herz Andalusiens. Und schaffen konnte Goyo. Schon mit fünfzehn war er in die Lehre zum Fassbinder gegangen und wurde schnell einer der begabtesten Toneleros zwischen Jerez de la Frontera, Puerto de Santa María und Sanlúcar de Barrameda. Er baute Fässer nicht nur für ihre Bodega, sondern auch im Auftrag für andere. Schnell verdiente er gutes Geld, an dem vielleicht auch die schöne Pilar Interesse gefunden hatte, tratschten die Neider. Stolz schnitzte Goyo seine Initialen in jedes fertige Fass, rieb das Holz sorgfältig mit Kohle und Essig ein, bis es mattschwarz glänzte. Das hielt die Holzwürmer fern, und feucht funkelnde Spuren im Schwarz des Holzes verrieten dem Kellermeister, wo ein Fass leck geworden war. Goyos Fässer leckten nie.

»Goyo?« Dolores sieht hinüber zum Jungen. Da sitzt wieder der bärtige Mann. »Bist du es, Gregorio?«

Goyo nickt und lächelt freundlich, er steht auf und breitet die Arme aus.

 

»Möchten Sie noch Nachschlag, Señora Dolores?«

»Danke, ich bin vergnügt!«, zwinkert die alte Dame fröhlich. Felipa und Antonio räumen den Mittagstisch ab und kochen Kaffee, während Dolores und Goyo sich unterhalten, Erinnerungen teilen und vergleichen. Zum Kaffee mit Honig-Gebäck erinnert sich Dolores an die Bienen des Señor Mateo, der sicher nicht ihr Mann ist, Gott bewahre, und an den Speisesaal und dass sie wohl in einer Residencia de ancianos untergebracht ist, nur den Namen der Einrichtung erinnert sie im Moment nicht. Antonio liest ihr aus seinem kleinen Telefon die Namen der Altenheime der Stadt vor, Dolores guckt entschuldigend in ihre Kaffeetasse.

»Ich geh mal rumtelefonieren, wer Sie vermisst, Señora«, sagt Antonio und geht auf die Veranda.

In die satte Stille hinein fragt Goyo: »Warum habt ihr die Bodega eigentlich damals verkauft?«

»Wir waren ja immer Almacenistas, eine kleine Bodega, unabhängig, so lang und gut es eben ging. Das große Geld war nie drin im Geschäft. Darum waren wir eigentlich ganz froh, als wir die Bodega Ende der 1990er-Jahre verkaufen konnten, so blieben Joaquín und mir wenigstens ein paar Pesetas für den Lebensabend. Und ihr konntet weiter für die neuen Herren arbeiten. Noch heute gehe ich durch den Supermercado, und wenn ich die Sherryflaschen der berühmten Bodega sehe, freue ich mich jedes Mal, dass etwas von unserem Handwerk darin hinaus in die Welt reist.«

Goyo nickt und fährt sich durchs dichte Haar: »Wir arbeiten ja heute noch für die große Bodega, aber es ist nicht dasselbe. Wir bauen mittlerweile auch Fässer für schottische Whiskyhersteller, die wir für sie vorab für ein paar Monate mit Sherry füllen und aromatisieren. Auf zwei klassische Sherryfässer kommt mittlerweile ein Fass für die Schotten.« Goyo zuckt mit den Schultern: »Aber es bringt ein Einkommen, und ich kann die Hochzeit der Kinder bezahlen!«

»Papá!« Felipa schaut streng zum Vater rüber: »Antonio und ich, wir bezahlen die Band und die Blumen! Für beides hast du auch zu wenig Geschmack!« Dolores lächelt, sie kennt den bestimmten Ton und erkennt in diesem Moment auch die Mutter Pilar im Gesicht des Mädchens.

»Wie geht es Pilar?«, fragt Dolores.

»Gut! Sie arbeitet jetzt in der Verwaltung der großen Bodega, als Rechnungsprüferin. Alle haben Angst vor ihr!« Goyo lacht und nimmt noch eine Mandelrolle vom Tablett. »Super! Mit Honig- und Dattelfüllung, das sind die besten!«

Auch Dolores nimmt ein Stück vom Gebäck auf ihren Ku­chenteller. »Joaquín ist nicht gut zurechtgekommen mit dem Ruhestand.«

Goyo grinst kauend. »Ja, jeden Tag ist er in die Bodega gekommen und hat mit angepackt. Oder ist nur rumgestanden.«

»Mit seinem wichtigen Gesicht!«, sagt Dolores, und beide lachen.

»Irgendwann kam er nicht mehr in den Keller.«

Dolores nickt: »Er ist ja bald auch krank geworden, vom Rumstehen, vom Nicht-mehr-gebraucht-werden. Erst eine Erkältung, dann eine Lungenentzündung und dann wechselten die Krankheiten wie der Sherry im Solera-System: zum Alten kam immer etwas Neues dazu.«

»Wann ist Joaquín denn noch mal gestorben, in welchem Jahr?«, fragt Goyo. Dolores sieht ihren Mann im Bett liegen, ganz dünn war er am Ende, wie ein Kind unter der viel zu großen Decke. An diesem Nachmittag hatte sie ihm eine Portion Kichererbseneintopf im Mixer ganz fein püriert, aber es ging nicht mehr, der Husten war zu schlimm, das Ringen nach Atem zwischen jedem Löffel, ein Kampf, Joaquín mit Tränen der Anstrengung in den Augen. Sie hatte ein Stofftuch mit seinem Lieblings-Sherry getränkt und ihm die spröden Lippen damit befeuchtet. Er lächelte, und sie sahen sich in die Augen mit der tröstlichen Gewissheit, dieses eine schöne, wilde Leben miteinander gegangen zu sein. Sie nickten einander zu, es war wie ein stiller Dank, und dann konnte er gehen. »Ich weiß nicht, ist schon ewig her, ich bin schon so lange allein.« Felipa reicht ihr eine Papierserviette rüber. »Wenigstens vergesse ich jetzt immer mehr. Eine Gnade ist das. Wenn man die schlechten Zeiten vergisst, kommt man zur Ruhe. Und wenn man die guten Zeiten vergisst, schmerzt es weniger.«

Goyo pustet nachdenklich Wellen in seinen Kaffee. »Bei der Beerdigung haben wir uns das letzte Mal gesehen, Señora Dolores. Sie sind dann ja nach Cádiz gezogen, zu Ihrer Schwester, hörte ich?«

Dolores nickt, schüttelt dann den Kopf: »Wir haben uns dann doch nicht so gut verstanden, meine Schwester und ich. Sie hatte vielleicht einfach auch weniger Glück mit ihrem Mann.« Sie nimmt einen Schluck vom Kaffee, stellt die Tasse vorsichtig wieder auf der Untertasse ab. »Ich bin dann zurück und hier in Jerez ins Altenheim. Ich mag es, meine Straßen und Wege zu kennen, auch wenn die sich mir immer öfter verleugnen.«

Antonio ist zurück von der Veranda: »Ihre Residenz ist die Casa el Sol y el Viento! Die haben sich gefreut, von Ihnen zu hören, Señora Dolores!« Antonio steckt grinsend das Smartphone ein.

Dolores schüttelt den Kopf: »Sonne und Wind! Dass ich nicht lache. Den ganzen Tag sitzen wir im Dunkeln wegen der Hitze, ich sterbe vor Langeweile, die Küche ist zumindest diskutabel, und jedes Glas Sherry muss ich mir erst vom Arzt genehmigen lassen!«

Goyo klatscht in die Hände, er hat eine Idee: »Señora Dolores! Was halten Sie davon: Ich fahre Sie jetzt gleich mal zurück in Ihre Residenz, das war ja ein aufregender Tag. Und morgen hole ich Sie ab und wir machen einen Ausflug. In die alte Bodega! Ich zeige Ihnen mal, was sich alles geändert hat, wir essen ein bisschen Schinken und suchen uns ein Sherryfass, das Joaquín noch befüllt hat, was meinen Sie?«

Dolores’ Augen füllen sich mit Tränen, sie dankt dem Herrgott, der sie an diesem Morgen unter den Orangenbaum in diesen Garten gelegt hat, und jetzt weint sie nur, weil alles so schön ist. Und weil sie weiß, dass die Dunkelheit wiederkommt, wenn alles verschwimmt und farblos wird, wenn die Angst zurück ist, jetzt. »Das ist großartig, ich danke dir, Goyo. Aber was ist …« Dolores greift zur Papierserviette, sie muss mal ausschnäuzen: »… wenn ich dich morgen nicht mehr erkenne?«