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Ein Nordseesommer voller Liebe.
Raus aus der Großstadt und ab an die Nordsee heißt es für die Kölnerin Katharina und ihre zehnjährige Tochter Mila. Sechs Wochen werden sie gemeinsam in einer Mutter-Kind-Klinik auf Langeoog verbringen, in der Hoffnung, dass die Kleine an der Meeresluft zu Kräften kommt. Mila ist sogleich begeistert von der autofreien Insel, denn hier gibt es sogar einen Ponyhof, und auch Grundschullehrerin Katharina schließt unverhofft Freundschaft mit einigen Insulanerinnen. Als sie erfährt, dass die Grundschule im Ort vor der Schließung steht, träumt sie erstmals von einem Neuanfang. Und nicht zuletzt ist da auch noch der etwas schüchterne Lehrer Barne. Wenn sie bloß endlich Milas Vater Leo vergessen könnte …
Warmherzig, romantisch und voller Witz – die perfekte Strandkorb-Lektüre!
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Seitenzahl: 283
Raus aus der Großstadt und ab an die Nordsee heißt es für die Kölnerin Katharina und ihre zehnjährige Tochter Mila. Sechs Wochen werden sie gemeinsam in einer Mutter-Kind-Klinik auf Langeoog verbringen, in der Hoffnung, dass die Kleine an der Meeresluft zu Kräften kommt. Mila ist sogleich begeistert von der autofreien Insel, denn hier gibt es sogar einen Ponyhof, und auch Grundschullehrerin Katharina schließt unverhofft Freundschaft mit einigen Insulanerinnen. Als sie erfährt, dass die Grundschule im Ort vor der Schließung steht, träumt sie erstmals von einem Neuanfang. Denn nicht zuletzt ist da auch noch der geheimnisvolle Lehrer Barne – wenn sie bloß endlich Milas Vater Leo vergessen könnte …
Fenna Janssen wurde in Lübeck geboren und wuchs in Hamburg auf. Viele Jahre war sie als Journalistin für diverse Zeitungen tätig. Inzwischen arbeitet sie erfolgreich als Autorin und bleibt auch in ihren Büchern ihrer norddeutschen Heimat treu.Im Aufbau Taschenbuch sind bereits ihre Romane »Der kleine Inselladen«, »Das kleine Eiscafé«, »Die kleine Strandbar« sowie »Die kleine Inseltöpferei« erschienen. Bei Rütten und Loening ist »Ein Sommer in Rimini« lieferbar.
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Fenna Janssen
Die kleine Inselschule
Roman
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21. Kapitel
Impressum
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Mila streckte den Arm aus. »Guck, Mama! Da ist die Insel. Oh, ist das etwa ein Wäldchen? Hast du gewusst, dass es auf Langeoog einen Wald gibt?«
Die Fähre näherte sich dem Hafen, und Katharina entdeckte in einiger Entfernung tatsächlich ein paar Baumkronen.
»Nein«, gestand sie. »Das wusste ich nicht.«
Sie hatte sich vorher überhaupt nicht über Langeoog informiert. Sie war viel zu froh gewesen, dass ihre Mutter-Kind-Kur bewilligt worden war – auf irgendeiner kleinen Insel in der Nordsee. Perfekt für ihre Tochter, und für sie selbst sicherlich auch erholsam. Der Termin war ebenfalls günstig: In Nordrhein-Westfalen hatten vor einer Woche die großen Ferien begonnen.
Ein Wald war allerdings der falsche Ort für Mila. Katharina bedauerte es nun, dass sie sich nicht schlaugemacht hatte. Sie beschloss jedoch, vorerst nichts zu sagen, um ihrer Tochter die Vorfreude zu lassen. Mila hüpfte jetzt wie ein Flummi auf und ab.
»Bitte steh still«, bat Katharina. »Du fällst mir noch ins Wasser.«
In Wahrheit konnte ihre Tochter kaum über die Reling blicken. Sie war klein für ihre zehn Jahre und hatte wenig Kraft.
Als Katharina ihr eine Hand auf die schmale Schulter legte, gehorchte Mila. Katharina hoffte inständig, ihre Tochter würde auf Langeoog an Gewicht zulegen. Mila wünschte sich so sehr, wie andere Kinder zu sein, und sie war todunglücklich, wenn sie wieder einmal nicht auf den Spielplatz gehen durfte, eine Klassenfahrt verpasste oder ausgerechnet ihren Geburtstag im Bett verbringen musste. Es brach Katharina jedes Mal aufs Neue das Herz. Sie wusste, sie setzte womöglich zu große Hoffnungen in diese Kur. In Wahrheit betete sie um ein Wunder.
Leo hatte sie gewarnt. »Die sechs Wochen dort werden unserer Kleinen bestimmt guttun, aber sie wird nicht vollständig geheilt werden. Nach einer Weile zurück in Köln werden ihre Symptome wiederkommen.«
»Seit wann bist du Arzt?«, hatte Katharina gereizt zurückgefragt. Im Umgang mit Milas Vater verspürte sie stets einen schwelenden Zorn, den sie nur mit Mühe unterdrücken konnte. »Für eine Künstlerseele wie dich ist ein Medizinstudium doch sicherlich viel zu lang und anstrengend.«
Leo hatte ihr nur einen dieser Blicke zugeworfen, die sie regelmäßig auf die Palme brachten. Lang und durchdringend, dabei jedoch von einer Zärtlichkeit, die ihr Innerstes erbeben ließ. Wann würde das endlich aufhören? Wann würde dieser Mann seine Macht über sie verlieren?
Wenn im Wattenmeer Hochhäuser wachsen, gab sie sich selbst die Antwort.
Katharina war jetzt siebenunddreißig Jahre alt, und seit mehr als zwanzig Jahren übte Leo diese Wirkung auf sie aus. Sie war ein Mädchen gewesen, als sie ihm verfallen war. Sie hatte sich weiterentwickelt, war eine selbstbewusste Studentin geworden, eine allseits beliebte Grundschullehrerin und eine liebende Mutter. Bei diesem einen Mann jedoch schrumpfte jeder ihrer Erfolge in sich zusammen, und sie wurde wieder zu dem jungen Ding, das über den Pflastermaler auf der Domplatte stolperte und nach einem Blick in seine kobaltblauen Augen wie ein hypnotisiertes Kaninchen am Rande seiner seltsam traurigen und menschenlosen Bilder hocken blieb und sich nicht mehr rührte, bis er sie spät am Abend heimbrachte.
Sie seufzte auf und blickte sich um. Auf einmal kamen ihr Zweifel. War diese Kur wirklich eine gute Idee? Konnte die Nordseeluft wirklich so heilsam für ihre Tochter sein, wie behauptet wurde? Und wie sollte sie selbst es hier draußen länger als ein paar Tage aushalten? Katharina war ein Großstadtkind durch und durch. Sie fühlte sich inmitten vieler Menschen wohl, sie war an stockenden Verkehr, an Hektik und sogar an den Gestank der Abgase gewöhnt. Leere machte ihr Angst. Wohin sie jetzt aber auch sah, gab es nur Wattenmeer und die schmale lange Insel vor ihnen. Der Himmel wölbte sich hoch und unendlich über ihnen. Geradezu bedrohlich. Nirgends gab es etwas, woran der Blick sich festhalten konnte. Keinen Kölner Dom, keine Häuser, nicht einmal Wolken.
»Ich habe gelesen, dass hier nur selten so schönes Wetter ist«, sagte Mila mit wichtiger Miene. Im Gegensatz zu ihrer Mutter hatte sie jede Information aufgesaugt, die sie über Langeoog gefunden hatte.
»An den allermeisten Tagen weht ein kräftiger Wind aus Nordwest. Dann kann es passieren, dass sich innerhalb von Minuten riesige Wolkentürme aufbauen, und im nächsten Moment schüttet es wie aus Eimern, was den Insulanern aber nichts ausmacht. Für die ist das bloß feuchte Luft. Die sind starke Stürme gewöhnt. Einer, der ganz schlimm sein soll, heißt Blanker Hans, aber das verstehe ich nicht.« Sie wippte nun auf den Fußsohlen auf und ab. Stillstehen war einfach nicht möglich. »Was hat das Wetter denn mit einem Mann zu tun, der Hans heißt?«
»Ich weiß es nicht«, gab Katharina zu.
»Aber du weißt doch sonst alles. Du bist Lehrerin!«
Katharina lächelte und wuschelte ihrer Tochter durch die Locken. Sie waren hellblond wie Leos Haar. Auch seine intensive blaue Augenfarbe hatte er ihr vererbt. Ihre feinen Gesichtszüge, den vollen Mund und die zarte Statur hatte Mila hingegen von Katharina.
»Glück gehabt«, hatte Leo an Milas dritten Geburtstag schmunzelnd gesagt. »Stell dir vor, sie hätte meine breiten Schultern und die großen Hände und Füße abgekriegt. Dann würde sie womöglich auch über eins neunzig groß werden.«
Katharina selbst hatte dickes kastanienbraunes Haar und fast schwarze Augen. Ein Erbe ihres italienischen Vaters. Sie hatte mal irgendwo gelesen, dass sich dunkle Gene immer durchsetzen, aber in ihrem und Leos Fall stimmte die Theorie definitiv nicht. Sogar auf diesem Gebiet war Leo stärker gewesen.
Milas Stimme holte sie aus ihren Erinnerungen. »Hast du Angst vor einen Sturm, Mama?«
Katharina schaute ihre Tochter überrascht an. »Nein, ich glaube nicht.«
Ihre italienischen Vorfahren hatten am Fuße des Ätna auf Sizilien gelebt. Katharina war mit Geschichten über die Furcht vor Vulkanausbrüchen groß geworden. Nordische Stürme waren ihr kein Begriff.
»Außerdem ist doch Juli«, fügte sie hinzu und fragte sich, wen sie damit beruhigen wollte. Ihre Tochter oder sich selbst?
»Das will nichts heißen. Es soll auch im Sommer schon schlimm zugegangen sein. Sogar Sturmfluten hat es gegeben. Aber auf den Ostfriesischen Inseln werden die Dünen und Deiche gut gepflegt. Die halten riesige Wellen aus.«
Mila schaute angestrengt auf das platte Wattenmeer. Offenbar war sie selbst nicht ganz sicher, ob sie Grund zur Sorge hatte. Katharina folgte ihrem Blick. Aus einem Schwarm löste sich eine Möwe, stieß im Sturzflug auf die Wasseroberfläche und kam mit einem kleinen silbernen Fisch im Schnabel wieder hervor.
Nun ging Katharina in die Hocke und nahm ihre Tochter in die Arme. »Es wird uns hier ganz wunderbar gehen, und du wirst zu Kräften kommen.«
»Dann kann ich wie die anderen Kinder sein?«, fragte Mila zaghaft. Auch sie hoffte anscheinend auf ein Wunder. »Werde ich wachsen und stärker werden?«
»Mit der Zeit bestimmt«, erwiderte Katharina vorsichtig.
»Aber ich habe nur sechs Wochen!« Tränen sammelten sich auf einmal in Milas Augen.
Sie ist so verzweifelt, dachte Katharina und musste hart schlucken. Mein armes Kind.
»Sechs Wochen sind eine ziemlich lange Zeit.«
»Papa hat gesagt, die vergehen wie im Flug.«
Im Stillen verfluchte Katharina Leo, wie sie es oft tat.
Mila stemmte die kleinen Fäuste in die Hüften. »Er meinte, ich würde schnell wieder da sein, und dann würden wir zusammen die neue Lok ausprobieren.« Sie seufzte theatralisch und vergaß für einen Moment ihren Kummer. »Wann wird er endlich begreifen, dass ich kein Baby mehr bin? Seine Spielzeugeisenbahn ist langweilig.«
»Modelleisenbahn«, korrigierte Katharina kichernd. »Und lass ihn das bloß nicht hören. Du weißt, wie wichtig ihm die ist.«
Tatsächlich hatte sie es immer rührend gefunden, wenn Vater und Tochter für Stunden im Keller von Leos Haus verschwunden waren, wo er eine Miniaturlandschaft mit weit vernetzten Gleisen, kurvenreichen Straßen, kleinen Dörfern und winzigen Figuren aufgebaut hatte. Diese Seite an Leo liebte sie sehr.
Ein zweiter Möwenschwarm flog kreischend über sie hinweg. Unwillkürlich duckte sich Katharina.
Mila grinste. »Hast du etwa Angst vor ein paar unschuldigen Vögeln?«
»Besonders unschuldig hören die sich nicht an. Eher angriffslustig.«
Sie lachten beide, und für einen Augenblick war die Welt von Mutter und Tochter in Ordnung.
Dann erklang das Schiffshorn, und die Fähre lief in den Inselhafen ein. Kaum an Land, musste Katharina ihre Tochter erneut bändigen. Sie hatte erwartet, Mila würde von der Zugreise erschöpft sein, aber die neue Umgebung schien bereits Wunder zu wirken. Schon wieder hüpfte sie auf und ab. Diesmal bestand wenigstens keine Gefahr, dass sie ins Wasser fallen könnte.
»Oh, sind sie nicht absolut entzückend?«, rief sie und deutete auf zwei kleine fuchsfarbene Ponys, die geduldig vor einem gummibereiften Wagen standen.
Schon lief sie auf die Ponys zu und kümmerte sich nicht um die Rufe ihrer Mutter. Ein rothaariges Mädchen saß auf dem Kutschbock und hob warnend eine lange Peitsche.
»Stopp!«
Wie vom Donner gerührt, blieb Mila stehen.
Das Mädchen steckte die Peitsche zurück in die Halterung. Es mochte fünfzehn oder sechzehn Jahre alt sein. Sein Gesicht war von Sommersprossen gesprenkelt, und die hellroten Haare trug es zu einem Pferdeschwanz gebunden.
»Beißen sie?«, fragte Mila respektvoll, während Katharina sich beeilte, an ihre Seite zu kommen.
»Nee, aber wenn du sie erschreckst, könnten sie ausschlagen und durchgehen«, kam es ziemlich herablassend zurück.
Katharina hatte keine Ahnung von Ponys, aber diese zwei hier wirkten nicht sonderlich temperamentvoll.
Mila zupfte sie am Ärmel ihres Sommerpullis. »Können wir mit der Kutsche fahren?«
»Nein, Spatz. Wir nehmen die Inselbahn. Die ist in unserem Fahrpreis enthalten.«
Ihre Tochter ließ den Kopf hängen. Sie wirkte auf einmal wie ein Häufchen Elend, und das Mädchen auf dem Kutschbock gab seine überhebliche Haltung auf. Es kletterte zu ihnen herunter, hielt dabei die Fahrleine aber gut fest.
»Sei nicht traurig«, sagte sie freundlich zu Mila. »Wenn du willst, kannst du uns auf dem Ponyhof besuchen. Er heißt ›Kallis Peerstall‹ und liegt gleich am Inselwäldchen. Vielleicht gebe ich dir auch Reitunterricht.«
Prompt leuchteten Milas Augen auf, und obwohl Katharina dem Mädchen für die freundliche Geste dankbar war, so wünschte sie doch, es hätte Mila kein solches Versprechen gemacht.
Wahrscheinlich ist das hier die einzige Insel mit einem verflixten Wald, überlegte sie. Warum mussten wir ausgerechnet hier landen?
»Hallo«, sagte sie schnell, bevor ihrer Tochter noch ein Ausritt durch den Wald angeboten werden konnte. »Wir sind Katharina und Mila Corvara aus Köln.«
»Hi. Ich bin Francesca.« Das Mädchen reicht erst Katharina und dann Mila die Hand. Der Händedruck war fest, und Katharina ahnte, dass Mila einen Schmerzenslaut unterdrückte. Ihre Tochter hatte bereits eine Heldin auf der Insel gefunden und wollte auf keinen Fall schwächlich wirken.
Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass eine junge Frau in Begleitung eines älteren Paares auf sie zukam. Ihr rotes Haar war einen Tick dunkler als Francescas, aber sie war eindeutig ihre Mutter und übertraf sie sogar in der Anzahl von Sommersprossen.
»Hallo«, grüßte sie fröhlich. »Ich bin Annabel Michaelis. Interessieren Sie sich für eine Kutschfahrt? Heute sind wir leider reserviert, aber an einem anderen Tag jederzeit.«
Sie half dem älteren Paar in die Kutsche und wandte sich dann wieder um. »Hast du Ricky und Matty getränkt?«
»Klar«, erwiderte Francesca eingeschnappt. »Ich bin ja nicht blöd.«
Sie kletterte wieder auf den Kutschbock und schmollte vor sich hin.
»Pubertät«, raunte Annabel Katharina zu. »Francesca ist dreizehn und mittendrin. Sie haben mit ihrer Lütten ja noch Zeit, aber machen Sie sich schon mal auf harte Jahre gefasst.«
Dreizehn, wiederholte Katharina in Gedanken. Ich hatte sie viel älter geschätzt.
Sie rang sich ein Lächeln ab und fragte sich, wie es sich anfühlen mochte, wenn die eigene Tochter groß und kräftig für ihr Alter war, wenn andere Leute staunten, weil das Kind auch noch überaus klug war. Francesca wirkte auf sie ausgesprochen aufgeweckt. Nicht, dass Mila dumm gewesen wäre. Aber sie hatte schon so oft in der Schule gefehlt, dass es ihr schwerfiel, den Lernstoff aufzuholen.
Annabel schien ihre Stimmung aufzufangen. »Habe ich was Falsches gesagt?«
»Nein, nein, alles in Ordnung. Komm, Mila, wir müssen jetzt los.«
Mila achtete nicht auf sie. »Das sind aber ziemlich komische Namen für Ponys«, sagte sie zu ihrem neuen Idol oben auf dem Bock.
Francesca zuckte mit den Achseln, ließ sich aber zu einer Erklärung herab. »Ricky wurde nach Riccardo benannt, das ist Mamas Freund. Und Matty nach Matteo, seinem Bruder. Und ich habe zwar einen italienischen Vornamen, aber mein Vater ist ein deutscher Kapitän aus Emden.«
»Okay«, meinte Mila, wirkte aber ziemlich verwirrt.
Annabels Gesicht verfinsterte sich, als ihre Tochter den Kapitän erwähnte. Katharina ahnte, dass diese Familiengeschichte ähnlich kompliziert war wie ihre eigene.
»Seid ihr denn auch Italiener?«, wollte Francesca nun wissen.
»Nur mein Opa«, gab Mila fröhlich Auskunft. »Meine Oma ist Kölnerin, und meine Mama auch. Und mein Papa stammt aus dem Saarland.«
Annabel lachte über die beiden Mädchen. Dann fragte sie Katharina: »Sind Sie für eine Mutter-Kind-Kur hier, oder ist Ihr Mann auch dabei?«
Zu ihrer eigenen Überraschung antwortete Katharina: »Zur Kur. Und Milas Vater ist nicht mein Mann.«
Normalerweise breitete sie vor Fremden nicht ihr Privatleben aus, aber diese Annabel mit den roten Locken wirkte gar nicht so fremd auf sie. Außerdem reagierte sie auf die Neuigkeit bloß mit einem Schulterzucken.
»Dafür ist Riccardo nicht Francescas leiblicher Vater. Auf Langeoog geht es manchmal ganz schön drunter und drüber. Riccardo war mal der Inselcasanova, aber dann habe ich ihn mir geschnappt. Gerade noch rechtzeitig, denn Sophie hatte sich voll in ihn verknallt.«
»Sophie?«, fragte Katharina, die nun mindestens ebenso verwirrt wie ihre Tochter war.
»Ist eine liebe Freundin von mir. Sie betreibt ein Eiscafé am Oststrand, der korrekterweise eigentlich Nordstrand heißen müsste, aber so unterscheidet man ihn besser vom Weststrand. Na, egal. Das Eiscafé befindet sich ganz in der Nähe von Saras Strandbar. Und Paulines Strandkorbvermietung ist auch nicht weit. Wenn du magst, stelle ich dir bald mal alle vor. Auch Nella, die letztes Jahr eine Töpferei eröffnet hat.«
Katharina versuchte, all die Informationen in ihren Kopf zu ordnen und fragte schließlich: »Sophie und Sie sind Freundinnen, obwohl Sie ihr den Mann weggenommen haben?« Insgeheim wunderte sie sich auch, dass Annabel sie plötzlich duzte.
Annabel grinste. »War nicht so schlimm. Sie hat zum Glück noch rechtzeitig erkannt, dass Riccardos Bruder Matteo ihre große Liebe ist. Inzwischen sind sie verheiratet und haben eine entzückende kleine Tochter.«
»Ich glaube, ich komme da nicht mehr mit«, erwiderte Katharina mit gerunzelter Stirn.
»Keine Sorge, mit der Zeit wirst du alle kennenlernen und die Geschichten auseinanderhalten.«
Katharina hatte da so ihre Zweifel, nickte aber freundlich.
Irgendwo hinter ihnen ertönte das Signal zum Einsteigen in die Inselbahn. Sie war erleichtert. Ihre neue Bekanntschaft war zwar nett, aber auch recht anstrengend.
»Beeilt euch lieber«, mahnte Annabel. »Ich muss auch fahren. Meine Gäste werden ungeduldig. Hoffentlich sehen wir uns bald wieder.«
»Das wäre schön«, gab Katharina halbherzig zurück. Sie wollte Milas Hand nehmen, aber ihre Tochter marschierte schnell vorneweg. Wahrscheinlich war es ihr peinlich, vor ihrer großen neuen Freundin wie ein Kleinkind behandelt zu werden.
»Nun komm schon, Mama. Sonst müssen wir noch zu Fuß ins Dorf laufen«, sagte sie in einem ernsten Tonfall, den sie sich von Leo abgeguckt hatte.
Schmunzelnd folgte Katharina ihr.
Die Inselbahn wartete bereits auf ihre Gäste. Schmunzelnd bemerkte Katharina, dass jeder Waggon in einer anderen Farbe gestrichen war. Von knalligem Gelb bis zu tiefdunklem Violett. Offenbar sollte die Bahn bei Langeoogs Feriengäste von Anfang an gute Laune verbreiten.
»Papa würde sie lieben«, erklärte Mila, als sie sich zusammen mit den anderen Passagieren zum Einsteigen bereit machten. »Aber vielleicht würde er schimpfen, weil die Bahn nicht von einer zünftigen alten Dampflokomotive gezogen wird. Das wäre viel stimmungsvoller.« Sie legte nachdenklich den Kopf schief. »Wahrscheinlich lohnt es sich nicht. Die Strecke ist nur zweieinhalb Kilometer lang, und wir brauchen bloß sieben Minuten bis ins Dorf.«
»Was du alles weißt«, sagte Katharina staunend.
Ihre Tochter winkte bescheiden ab. »Ich habe nur ein bisschen was gelesen. Papa hat mir dabei geholfen. Kann ich Fotos machen?«
»Klar.«
Sie drückte Mila ihr Smartphone in die Hand. Bisher besaß ihre Tochter nur ein einfaches Handy, mit dem sie im Notfall ihre Eltern anrufen konnte. Das war ein neuer Streitpunkt zwischen Katharina und Leo. Er wollte Mila ein Smartphone schenken, sie war dagegen, weil sie meinte, das Kind sei dafür noch zu jung.
Katharina betrachtete den orangefarbenen Triebwagen und fragte sich, warum sie ausgerechnet am Tag ihrer Ankunft auf Langeoog ständig an Leo denken musste. Sie hatte gehofft, der räumliche Abstand würde ihr helfen, sich auch innerlich von ihm frei zu machen. So, wie es zwischen ihnen lief, konnte es nicht mehr weitergehen, und Katharina war klar, dass sie bald eine Entscheidung treffen musste. Es würde hart werden, und womöglich würde sie ihre Familie zerstören, doch sie sah keinen anderen Ausweg.
Ihr Herz krampfte sich zusammen, aber sie ließ sich nichts anmerken. Mila war ein sensibles Kind, das schnell ihre Stimmungen aufnahm. Zum Glück war die Zehnjährige damit beschäftigt, die bunte Inselbahn aus allen Ecken abzulichten. Dann kam sie zurückgelaufen, die ersten Passagiere waren bereits einstiegen.
»Schicken wir die Fotos gleich Papa?«
Katharina zögerte, tat ihrer Tochter dann aber den Gefallen.
»Und schreib ihm, dass wir ihn vermissen.«
Sie blickte auf. »Du hast ihn doch erst gestern zuletzt gesehen.«
»Ja, aber ich stelle mir vor, wie es sechs Wochen ohne ihn sein wird. Ich war noch nie so lange von ihm getrennt.«
Es schien, als hätte sich plötzlich eine schwarze Wolke vor die Sonne geschoben. Sogar das Möwengeschrei klang dunkler – ganz so, als würden sich die Tiere jetzt wirklich zu einem Angriff formieren. In Milas Augen glitzerten Tränen.
Katharina musste schlucken. Ihre Tochter hing so sehr an ihrem Vater, und ihr größter Wunsch war es, dass sie eine richtige Familie wurden. Doch dieser Wunsch würde für immer unerfüllt bleiben.
Rasch sandte Katharina ihm auch das letzte Foto und schrieb, er fehle bereits seiner Tochter.
Innerhalb von Sekunden kam die Rückfrage: Dir etwa nicht?
Als hätte er seit Stunden auf sein Smartphone gestarrt und darauf gewartet, dass sie sich meldeten.
Noch bevor sie reagieren konnte, rief er schon an. Per Videoanruf, was typisch für ihn war. Wie sie das hasste!
Normale Telefonate gab es für Leo nicht mehr. Er behauptete, er könne sich besser auf den Gesprächspartner konzentrieren, wenn er ihn auch sähe. Katharina zog es meistens vor, solche Anrufe zu ignorieren. Sie mochte derlei Überraschungen nicht, vor allem dann nicht, wenn sie gerade mit nassen Haaren aus der Dusche kam, mit hochrotem Gesicht vor dem Backofen hockte, oder im Schlabber-T-Shirt schnell den Müll rausgebracht hatte. Und selbst wenn sie frisch gestylt war, fühlte sie sich gezwungen, zu lächeln und den Rücken durchzudrücken.
Aber nun kam sie nicht drumherum. Mila hatte das Display nicht aus den Augen gelassen, und hüpfte schon wieder auf und ab. »Geh ran, geh ran! Dann sieht Papa, wie schön wir es hier haben!«
Katharina fragte sich, woher ihr Tochter diese ganze Energie nahm. Was sie selbst betraf, so war sie inzwischen hundemüde.
Um zwei Uhr nachts waren sie aufgestanden und hatten um vier Uhr den Zug ab Kölner Hauptbahnhof genommen. Während der siebeneinhalb Stunden Fahrt hatte keine von ihnen viel geschlafen. Mila war viel zu aufgeregt gewesen, und Katharina hatte zwischen Sorge und Hoffnung geschwankt und war höchstens mal für ein paar Minuten zur Ruhe gekommen. Die anschließende Überfahrt mit dem Schiff war für sie beide etwas Neues gewesen, und sie hatten lieber oben an der Reling gestanden, während andere Passagiere unter Deck ein Nickerchen hielten.
Inzwischen war es ein Uhr mittags, und die Müdigkeit griff mit bleierner Schwere nach ihr.
»Wir haben keine Zeit«, sagte sie zu Leo, nachdem sie den Anruf angenommen hatte.
»Das ist ja eine reizende Begrüßung.« Sein durchdringender Blick traf sie, hatte aber durchs Telefon nicht die übliche Wirkung auf sie. Zum Glück. Katharina widerstand der Versuchung, sich die Haare glatt zu streichen. Auf der Fähre waren sie ordentlich durchgeweht worden, und nun standen sie ihr wild vom Kopf ab.
Sie reichte Mila ihr Smartphone. »Nur kurz, Spatz. Sonst fährt der Zug ohne uns ab.«
Mila ließ einen Wortschwall auf ihren Vater niederprasseln. Katharina hörte nicht richtig zu und sah sich um. Sie gehörten nun wirklich zu den letzten Gästen, die noch einsteigen sollten. Hinter ihnen war nur noch eine weißhaarige kleine Frau, die vom Hafen herbeigelaufen kam und zwei große Plastiktüten mit sich schleppte.
Ganz schön sportlich für ihr Alter, dachte Katharina und nahm ihrer Tochter das Smartphone aus der Hand. »Tschüss, Leo. Du kannst Mila heute Abend noch mal sprechen. Wenn wir angekommen sind und uns ausgeruht haben.«
»Ciao, Amore mio!«, rief er.
Auch das hasste sie. Nur weil sie sizilianische Verwandte hatte, musste er noch lange nicht so reden. Früher einmal hatte sie es geliebt, wenn er sie auf Italienisch Liebling oder Schatz nannte. »Amore« oder »Tesoro« klangen ja auch viel romantischer. Er hatte sich von ihrem Vater die Koseworte extra beibringen lassen. Aber früher war sehr lange her.
Sie drückte ohne eine Erwiderung das Gespräch weg. Mila schaute sie fragend an, hob aber auf ihr Schweigen hin nur kurz die Schultern. Erwachsene waren in ihren Augen vermutlich allzu merkwürdige Wesen.
In ihrem Waggon ergatterten sie Fensterplätze auf zwei gegenüberliegenden Holzbänken. Es war Hochsaison, aber der Zug war trotzdem halb leer. Wahrscheinlich zogen es viele Gäste vor, zu Fuß in den Ort zu laufen, um sich nach einer langen Anreise die Beine zu vertreten.
Sekunden vor der Abfahrt stolperte noch die alte Frau mit den Plastiktüten herein. Sie ließ sich neben Mila auf die Bank plumpsen, obwohl ein Stück weiter durchaus noch reichlich Platz gewesen wäre.
»Keinen Meter weiter schleppe ich diese verdammten Krabben«, schimpfte sie und stellte die Tüten auf dem Boden ab. »Wenn Sara mich noch mal um einen Gefallen bittet, sage ich einfach Nein. ’ne alte Frau ist doch kein Packesel.«
Katharina fragte sich, ob sie es hier mit einer Verrückten zu hatte. Einer, die ziemlich streng nach Fisch und noch nach etwas anderem roch, das sie nicht einordnen konnte.
Sara?, überlegte sie. Hat Annabel vorhin nicht etwas von einer Sara und ihrer Strandbar erzählt?
»Als hätte ich mit meinen Strandkörben nicht genug zu tun!«, murrte die alte Frau weiter.
Aha! Dann war dies hier Pauline.
Mila starrte die Frau halb begeistert, halb ängstlich von der Seite an.
»Sperr den Mund zu, Lütte, sonst fliegt dir gleich ’ne Schwalbe rein.«
»Das geht nicht, die Fenster sind geschlossen, und es ist keine Schwalbe mit reingekommen, als wir eingestiegen sind.«
»Kiek mol einer an. Bist wohl ’ne kleine Klugschnackerin, wat?«
»Eine was?«
»Egal.« Pauline richtete ihre Aufmerksamkeit nun auf Katharina. »Frisch vom Festland?«
»Ähm, ja.« Sie machte sich möglichst klein. Diese Frau war ihr nicht geheuer.
»Warum lässt du die Schultern so hängen? Und wo ist dein Mann?«
Herrgott! Waren auf Langeoog alle Leute so neugierig?
Sie stotterte herum, bis Pauline abwinkte. »Egal. Kriege ich sowieso noch raus. Kur oder Ferien?«
»Kur«, erwiderte Katharina matt.
Die Frau nickte. »Wegen der Lütten hier. Die ist zu lütt für ihr Alter.«
»Woher wissen Sie das?«
»Kannst mich duzen, ich bin die Pauline. Fischer mit Nachnamen, interessiert aber keinen. Und ich habe einen guten Blick für Menschen. Auch für kleine Menschen.«
»Ich bin überhaupt nicht klein!«, protestierte Mila.
»Ist schon gut. Bald wirste groß und stark wie mein Neffe Keno. Der misst locker zwei Meter und hat Hände wie ’n Hai Flossen.«
»Ein Hai?«, flüsterte Mila und vergaß glatt, dass sie eigentlich beleidigt war.
Katharina fand, es war Zeit, dazwischenzugehen. »Guten Tag. Ich bin Katharina Corvara und das ist meine Tochter Mila.«
»Nun mal nicht so steif. Wir sind hier nicht beim Käpt’nsdinner. Kleines Schlückchen zur Begrüßung gefällig?«
Damit holte sie einen Flachmann aus ihrer Jackentasche und schraubte ihn auf. Ein stechender Geruch stieg Katharina in die Nase. Besorgt schaute sie zu Mila. Ihre Tochter bekam leicht einen Niesanfall, wenn sie strengen Gerüchen ausgesetzt war. Das konnte bis zur Atemnot gehen. Aber Mila war viel zu fasziniert von ihrer Banknachbarin, um etwas zu bemerken. Oder die gesunde Nordseeluft zeigte in der kurzen Zeit schon ihre Wirkung.
»Bester Aquavit«, erklärte die alte Frau. »Lasse ich mir extra aus Dänemark liefern. Schmeckt gut, macht die Leute redselig und hilft auch bei Arthrose. Bin ich letzten Winter drauf gekommen. Meinen armen alten Gelenken geht es viel besser, seit ich mich damit auch einreibe.«
»Igitt«, entfuhr es Katharina.
»Wat biste denn so etepetete? Wohl aus der Großstadt, wat?«
»Aus Köln.«
»Das sind die Schlimmsten. Trinken eine Plörre, die sie Kölsch nennen. Soll angeblich Bier sein.«
Katharina verzichtete auf eine Antwort, dafür zupfte Mila die alte Frau am Ärmel. »Ich habe noch nie Krabben gegessen. Wie schmecken die?«
»Ganz lecker, meine Lütte. Sara serviert sie in einer süß-pikanten rosaroten Soße, aber sie will mir auf Dübel komm raus nicht verraten, woraus die zusammengerührt ist.«
»Mein Papa ist ein guter Handwerker«, gab Mila altklug zurück.«
»Hä?«
»Na, der kann gut mit der Bohrmaschine, mit Dübeln und Schrauben umgehen. Solche Sachen halt.«
Die alte Frau prustete los. »Der Dübel ist bei uns der Teufel«, erklärte sie dann.
»Ach so«, meinte Mila kleinlaut.
»Wirst schon noch plattdütsch lernen. Wo war ich? Ach ja, bei den Krabben in der leckeren Soße. Allerdings müssen die Viecher erst gepult werden. Wenn du mich nachher mit deiner Mama besuchen kommst, zeige ich dir, wie das geht. Ihr müsst nur über die Dünen zum Oststrand laufen. Dann findet ihr mich schon. Jeder auf Langeoog kennt Paulines Strandkorbverleih.«
»Oh, danke.«
Katharina unterdrückte ein Stöhnen. Ihr Plan für diesen Nachmittag beinhaltete keinerlei Ausflug. Sie wollte einfach nur schlafen.
Milas bittender Blick jedoch ließ sie halbwegs nachgeben. »Wenn wir nicht zu müde sind, können wir ja vielleicht einen Spaziergang machen.«
Pauline brummte etwas, das Katharina nicht verstand, doch es klang recht abfällig. Den Menschen aus der Großstadt brachte sie offenbar nicht sonderlich viel Respekt entgegen.
Während die Inselbahn nun langsam anrollte, war Mila bereits beim nächsten Thema. »Können Sie mir erklären, warum der Blanke Hans so heißt? Und ist der wirklich gefährlich? Und kann der auch im Sommer passieren?«
Pauline rollte mit den Augen und nahm schnell einen weiteren Schluck aus ihrem Flachmann. Sie bereute es wohl, nicht doch noch ein paar Meter weitergegangen zu sein. Nun war es zu spät. Kein Mensch konnte diesen großen kobaltblauen Kinderaugen widerstehen.
»Tja, so ganz genau weiß niemand, woher der Name kommt«, sagte sie auf einmal in bestem Hochdeutsch. »Könnte sein, dass sich blank auf die weiße Gischt bezieht, die bei hohen Wellen entsteht. Aber es heißt auch, ein Deichgraf hätte vor vielen Jahrhunderten Hans mit Vornamen geheißen. Der hatte einen großen Deich entlang der Küste bauen lassen, der jedoch schon wenig später bei einer großen Sturmflut brach.«
»Sind … viele Leute gestorben?«, fragte Mila mit zitternder Stimme.
Katharina schaute Pauline bittend an. Die verstand und strich dem Kind übers Haar. »Das ist alles schon sehr, sehr lange her. Heute haben wir sehr hohe und gut gepflegte Deiche und Dünen. Da passiert nichts. Schon gar nicht im Sommer. Der Blanke Hans besucht uns höchstens mal im Winter.«
Mila nickte vorsichtig, war allerdings noch nicht ganz überzeugt.
»Außerdem musst du wissen, dass Langeoog genau in der Mitte der Ostfriesischen Inseln liegt. Wir sind hier also am sichersten von allen.«
Sie verließen nun den Hafen und fuhren an Salzwiesen, Schafweiden und dem Inselwäldchen vorbei.
Mila hatte genug vom Blanken Hans und erklärte Pauline aufgeregt, sie habe schon Francesca kennengelernt und werde bald auf Ponys reiten.
»Soso«, murmelte die alte Frau nur. Diesmal war sie es, die Katharina einen Blick zuwarf. Sie schien zu wissen, dass mit der Gesundheit der Kleinen einiges im Argen lag.
Als Mila entzückt beim Anblick eines Schwarms großer schwarz-weißer und brauner Vögel juchzte, nutzte Pauline die Gelegenheit, um Katharina zu fragen: »Wie alt ist sie?«
»Zehn«, sagte sie leise.
Die alte Frau nahm schnell noch einen Schluck von ihrem Aquavit. Fast hätte Katharina sie gebeten, ihr auch den Flachmann zu reichen. Sie konnte sich gerade noch bremsen.
»Und in welche Klasse geht sie?«
»Sie hat die Grundschule abgeschlossen. Obwohl sie oft gefehlt hat, ist sie nie sitzengeblieben.«
»Plietsches kleines Ding.«
Katharina nahm an, das hieße klug.
»Und was machst du beruflich? Oder kannst du wegen ihr nicht arbeiten gehen?«
»Doch, doch. Ich bin Grundschullehrerin.«
»Plietsche Mama«, sagte Pauline und wirkte auf einmal sehr nachdenklich. Bevor sich Katharina darauf einen Reim machen konnte, fuhren sie in den Langeooger Bahnhof ein.
»Das ging ja wirklich schnell«, sagte sie.
Pauline erklärte Mila gerade, die Vögel eben seien Eiderenten gewesen, aber da sprang das Kind schon auf und hüpfte in den Gang.
»Vorsicht!«, rief Pauline. »Oder willst du Matschkrabben essen?«
»Matschkrabben!«, wiederholte Mila und brach in vergnügtes Gelächter aus. »Matschkrabben, Matschkrabben, Matschkrabben!«
Katharina und Pauline sahen sich an. Beide mussten grinsen, und auf einmal freute sich Katharina wie verrückt auf ihre Zeit auf Langeoog. Sie spürte, es ging nicht nur um Mila, sondern auch um sie selbst.
Hatte sie bislang stets geleugnet, ihr chronisch krankes Kind könne eine Belastung für sie sein, so merkte sie nun, dass ein schweres Gewicht auf ihren Schultern ein wenig leichter wurde. Die Begegnungen erst mit Annabel und dann mit dieser seltsamen alten Frau hatten sie aufgeheitert. Zu sehen, wie fröhlich und abenteuerlustig Mila war, ließ sie frische Hoffnung schöpfen.
Alles wird gut, sagte sie sich und stand ebenfalls auf. Mila und ich werden uns wunderbar erholen, und wenn wir wieder heimfahren, werden sich die Probleme mit Leo wie von selbst lösen.
Letzteres war natürlich ein dummer Wunschtraum, aber im Moment wollte sie einfach optimistisch sein.
Sie hob die Krabbentüten hoch, die tatsächlich sehr schwer waren.
»Dass du dir bloß keinen Bruch hebst«, meinte Pauline schmunzelnd.
»Entschuldigung, aber warum duzen Sie mich eigentlich die ganze Zeit? Das hat Annabel Michaelis vorhin auch schon gemacht.«
»Ist hier so üblich. Und nu’ komm in die Pötte. Euer Gepäck wird mit einem Elektrokarren direkt in die Klinik geliefert, also kannst du mir ruhig helfen.«
Eine Dankeschön hätte vollauf genügt, dachte Katharina, aber dieser Pauline konnte man einfach nicht böse sein.
Mila sprang auf den Bahnsteig, streckte die Arme aus und drehte sich im Kreis. »Oh, ist das wunderschön hier!«
Pauline stieß ein meckerndes Lachen aus. »Und das ist bloß der Bahnhof.«
Sie wandte sich an Katharina. »So, her mit den Tüten, bevor du noch zusammenbrichst.«
Weg war sie, und zwar in einer Geschwindigkeit, die Katharina wieder nur bewundern konnte.
Sie schaute sich um, ob jemand sie abholte, aber dann fiel ihr ein, dass die Klinik knapp zehn Minuten zu Fuß vom Bahnhof entfernt war. Sie nahm ihr Handy zur Orientierung und rief nach Mila. Ihre Tochter hatte auf einmal genug von ihren Kreiselbewegung und kam folgsam mit.
»Warum gehen wir wieder zurück, Mama?«, fragte sie nach einer kurzen Weile.
Tatsächlich liefen sie die Hafenstraße in Richtung Süden. Aber nach ein paar weiteren hundert Metern, bogen sie nach Westen ab und erreichten im Norden des Inselwäldchens die Klinik. Es war ein gemütlich wirkender roter Backsteinbau, aber Mila interessierte sich nicht für die Architektur.
»Das ist ja toll!«, rief sie aus. »Dann bin ich ganz in der Nähe von Francesca und den Ponys.«
Und den vielen Bäumen, fügte Katharina im Geist mit einem flauen Gefühl in der Magengegend hinzu.
Wenig später bezogen sie ein großes Doppelzimmer, in dem bereits ihr Gepäck auf sie wartete. Mila redete in einem fort, bis sie sich auf ihr Bett setzte, im nächsten Moment zur Seite kippte und fest einschlief. Liebevoll zog Katharina ihr die Schuhe aus und deckte sie zu. Das war alles ein bisschen viel gewesen für ein schwächliches Kind. Dann trat sie auf ihren Balkon, der nach Norden wies, blickte in den strahlenden wolkenlosen Nachmittagshimmel und gähnte herzhaft.
Das Abendessen war vorüber. Während Mila die letzten Reste aus ihrem Eisbecher kratzte, nippte Katharina an ihrem Espresso. Zwar war sie nur zur Hälfte Italienerin, aber ihr Vater Fabio hatte sie auf den Geschmack gebracht. Ein Kaffee nach einer Mahlzeit rundete das Essen ab. Katharina war überrascht gewesen, dass es in dieser Klinik auch Espresso gab, und sie hatte ihn dankbar angenommen.
»Was meinst du?«, fragte sie ihre Tochter. »Wollen wir gleich noch einen Spaziergang machen? Vielleicht nur durchs Dorf?«