Die Kolonie - Ben Bova - E-Book

Die Kolonie E-Book

Ben Bova

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Beschreibung

Nur eine kleine Insel im Nichts

David Adams ist der perfekte Mann: Seine Gene wurden sorgsam zusammengestellt, sodass sein Körper Gebrechen gegenüber kaum anfällig ist, und sein Gehirn hat die Aufnahmekapazität eines Großrechners. Doch David ist auch ein Gefangener auf der Raumstation Eiland Eins, die er nicht verlassen darf. Eiland Eins umkreist eine Erde, die kurz vor dem Kollaps steht: Die Rohstoffe sind fast aufgebraucht, die Menschenmassen können nicht mehr versorgt werden; Terrorismus bedroht die schwache Weltregierung. David Adams fasst einen gewagten Plan zur Rettung der Erde …

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BEN BOVA

DIE KOLONIE

Roman

Das Buch

David Adams ist der perfekte Mann: Seine Gene wurden sorgsam zusammengestellt, sodass sein Körper Gebrechen gegenüber kaum anfällig ist, und sein Gehirn hat die Aufnahmekapazität eines Großrechners. Doch David ist auch ein Gefangener auf der Raumstation Eiland Eins, die er nicht verlassen darf. Eiland Eins umkreist eine Erde, die kurz vor dem Kollaps steht: Die Rohstoffe sind fast aufgebraucht, die Menschenmassen können nicht mehr versorgt werden; Terrorismus bedroht die schwache Weltregierung. David Adams fasst einen gewagten Plan zur Rettung der Erde …

Der Autor

Titel der Originalausgabe

COLONY

Aus dem Amerikanischen von Gottfried Feidel

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1978 by Ben Bova

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Das Illustrat, München

Wir befinden uns nicht in einer Krise der Nervosität, nicht in einer Zeit der Schwankungen furchtsamer Seelen, sondern an einem Wendepunkt in der Geschichte wissenschaftlichen Denkens, in einer Krise, die in tausend Jahren nur einmal vorkommt … An diesem Punkt aber, die zukünftigen Möglichkeiten vor Augen, sollten wir uns glücklich schätzen, dass es in dieser Zeit unser Schicksal ist, an der Gestaltung unserer Zukunft teilzunehmen.

– V. I. Vernadskij, 1932

Ich will die Zustände nicht dramatisieren. Aber nach den Informationen, die mir als Generalsekretär der Vereinten Nationen zugehen, haben nach meiner Schätzung die Mitglieder dieses Gremiums noch etwa ein Jahrzehnt zur Verfügung, ihre alten Streitigkeiten zu vergessen und eine weltweite Zusammenarbeit zu beginnen, um das Wettrüsten zu stoppen, den menschlichen Lebensraum zu verbessern, die Bevölkerungsexplosion niedrig zu halten und den notwendigen Impuls zur Entwicklung zu geben. Wenn eine solch weltweite Partnerschaft innerhalb der nächsten zehn Jahre nicht zustande kommt, so werden, fürchte ich, die erwähnten Probleme derartige Ausmaße erreicht haben, dass ihre Bewältigung menschliche Fähigkeiten übersteigt.

– U Thant,

ERSTES BUCH

Im Mai des Jahres 2008 n. Chr.

Erdbevölkerung: 7,25 Milliarden

Das Konzept, der Entwurf, ja selbst die Bezeichnung ›Eiland Eins‹ entstammen jenen Forschungsarbeiten, die Professor Gerard O'Neill in den siebziger Jahren an der alten Universität von Princeton durchgeführt hat. Ursprünglich war Eiland Eins als Weltraumkolonie auf dem Mond-Orbit geplant, die draußen im Weltraum aus Materialien erbaut werden sollte, die an der Mondoberfläche geschürft wurden. Seine Kolonie sollte 10 000 Dauerbewohner aufnehmen können. Nach den Normen der 70er Jahre war dies gewaltig, und den Menschen blieb bei dieser Idee die Luft weg. In Wirklichkeit aber war dieses Eiland Eins nicht viel massiver als jene seefesten Supertanker, die das Öl rund um die Welt beförderten, zu einer Zeit, als es noch Öl zu transportieren gab.

Das war O'Neills Traum, und viele machten sich darüber lustig – nur nicht die Multis. Und als man sich um die Jahrtausendwende entschloss, eine Weltraumkolonie zu bauen, schrumpften O'Neills Vorstellungen zu einem Zwergprojekt.

– S. Cobb

1. Kapitel

»Langsam!«, rief sie. »Ich bin doch ein Stadtkind.«

David Adams blieb stehen und drehte sich nach ihr um. Sie kletterten gerade einen nicht sehr steilen grasbewachsenen Hang hinauf. Alle paar Schritte standen junge, schlanke Ahornbäume und Birken, an denen man sich festhalten und hochziehen konnte.

Doch Evelyn war bereits außer Atem und bekam es allmählich mit der Angst zu tun. Er gibt an, dachte sie. Der kraftstrotzende junge Adam in seinem Garten Eden.

Lachend streckte David eine Hand nach ihr aus. »Sie sagten doch, Sie möchten die ganze Kolonie sehen.«

»Ja«, schnaufte Evelyn, »aber ich möchte mir dabei keinen Herzkollaps holen.«

Er umklammerte fest ihr Handgelenk und zog sie den ansteigenden Pfad hinauf. »Weiter oben geht's leichter. Die Schwerkraft lässt nach. Und die Aussicht ist die Mühe wert.«

Sie nickte, aber sie dachte bei sich: Er weiß, dass er gut aussieht. Ein gutgebauter, muskulöser Körper, ein kräftiger Rücken. Zweifellos war dies der Grund, warum man ihn ausgesucht hatte, um mich zu führen. Er bringt die weiblichen Hormone in Bewegung, weiß Gott.

David erinnerte sie lebhaft an die hawaiianischen Strandläufer, die in letzter Zeit die englischen Badestrände bevölkerten: derselbe kräftige, schlanke Körper, dasselbe breitknochige, gutgeschnittene Gesicht mit dem breiten Lächeln. Er trug eine Art Freizeitkleidung, was Evelyn nicht erwartet hatte: Shorts, ein offenes Freizeithemd, das die glatte, muskulöse Brust freiließ und Wanderstiefel aus weichem Leder. Das kurze Kleid, das sie selbst trug, wäre in jedem Büro, in jedem Restaurant oder an sonst irgendeinem zivilisierten Ort angebracht gewesen, doch hier draußen war es denkbar fehl am Platze. Sie hatte bereits ihre Jacke ausgezogen und in ihrer Schultertasche verstaut, dennoch war es ihr zu heiß, und der Schweiß drang ihr aus allen Poren.

Freilich, sein Lächeln war verwirrend. Und da war noch etwas an ihm, etwas … besonderes. Könnte er derjenige sein?, fragte sie sich. Bin ich bereits über ihn gestolpert? Welch ein Zufall, dass ausgerechnet er mein Führer wurde. Doch eine andere Stimme in ihr warnte: Aufgepasst, es gibt keine Zufälle!

Diese blauen Augen und dieses Goldhaar. Welch eine Kombination. Und der leichte olivfarbene Schimmer seiner Haut, ein südländischer Einschlag. Kann man sogar die Gesichtsfarbe beeinflussen? Trotzdem, da war noch was … Er sieht aus wie ein Filmstar, stellte Evelyn fest. Zu vollkommen. Kein Makel, keine Schramme. Selbst seine Zähne sind ebenmäßig und weiß.

»Vorsichtig«, sagte David. Er legte einen Arm um ihre Taille und half ihr beim Sprung über einen kleinen, murmelnden Bach, der ihren Weg kreuzte.

»Danke«, murmelte Evelyn und befreite sich aus seinem Arm. Er weiß, dass er ein Schlitzohr ist, sagte sie zu sich. Du darfst nicht auf dieses Engelsgesicht hereinfallen, altes Mädchen.

Schweigend stiegen sie durch den lichten Mischwald aus Eichen und Kiefern hinan. Die Bäume standen alle hübsch im gleichen Abstand in Reih und Glied. Wie seine Zähne. Die hätten besser eines dieser verdammten Pfadfindermädchen als einen Reporter rausschicken sollen.

David beobachtete sie, während sie den stetig ansteigenden Pfad hinaufgingen. Warum hat Cobb ausgerechnet mich ausgesucht, um sie herumzuführen?, fragte er sich. Misst er meiner Arbeit so wenig Bedeutung bei, dass ich sie einfach beiseite legen und hier den Fremdenführer markieren soll?

Er versuchte den verärgerten Ausdruck aus seinem Gesicht zu tilgen, während er zusah, wie sie in ihren zehenfreien Schuhen hinter ihm herstolperte, um mit ihm Schritt zu halten. Einem Impuls gehorchend betätigte er mit der Zunge den Kommunikatorschalter, der in seinem hintersten Backenzahn eingebaut war, und sagte im Flüsterton zu sich selbst, tief unten im Rachen, wo ihn keiner hören konnte außer dem Minisender, der an dieser Stelle implantiert war: »Evelyn Hall, letzte Woche neu eingetroffen. Ihre Daten bitte.«

Nach weiteren vier Schritten über den grasbewachsenen Pfad kam die Antwort aus dem Miniempfänger, der hinter seinem Ohr eingesetzt war: »Evelyn L. Hall. Alter sechsundzwanzig. Geboren im London-Complex. Besuchte die staatlichen Schulen im Londoner Bezirk. Absolventin der Polytechnischen Universität Plymouth. Studium der Journalistik. Arbeitete als Forscherin, später als Reporterin beim International News Syndicate. Keine weiteren Daten über Laufbahn. Physische Daten …«

David schaltete die Computerstimme mit einem kurzen Schnalzer ab. Ihre Lebensdaten brauchte er nicht. Er konnte mit eigenen Augen sehen, dass sie fast so groß war wie er und jene füllige, reife Figur hatte, die ihm verriet, dass sie ständig mit ihren Pfunden wucherte. Ihr dichtes, honigfarbenes Haar fiel bis auf die Schultern, ihre Frisur war im Moment ziemlich verrutscht. Die meergrünen Augen waren lebhaft, intelligent, neugierig. Ein hübsches Gesicht. Sie sah fast aus wie ein unschuldiges Kind, bis auf diese bohrenden, rastlosen Augen. Dennoch war es ein süßes Gesicht, verwundbar, fast zerbrechlich.

»Ich wollte, man hätte mir gesagt, dass mir eine Bergtour bevorsteht«, grollte Evelyn.

David lachte. »Kommen Sie, das ist doch kein Berg. Auf dieser Seite der Kolonie haben wir keine Berge gebaut. Wenn Sie aber wirklich klettern wollen …«

»Schon gut!« Evelyn strich sich eine herabgefallene Strähne aus den Augen.

Sie wusste, dass ihr Kleid ruiniert war, durchgeschwitzt und voller Grasflecken. Dieser Bastard von Cobb, der ›Bürgermeister‹ von Eiland Eins. Das alles war seine Idee.

»Ziehen Sie los und sehen Sie sich die Kolonie an«, polterte der alte Sack, als wollte er ihr eine Standpauke halten. »Ich meine echt anschauen. Stecken Sie Ihre Nase überall rein. Erforschen Sie das Gelände. Ich werde Ihnen jemanden mitgeben, der Sie herumführt …«

Wenn er jeden Neuankömmling so behandelt, so ist es ein Wunder, wenn es jemand hier oben aushält? Aber Evelyn fragte sich auch: Oder verpasst er mir vielleicht eine Sonderbehandlung, weil er vermutet, warum ich da bin? Zum ersten Mal in ihrem Leben stellte sie fest, dass Schnüffelei nicht nur gefährlich, sondern auch verdammt anstrengend sein konnte.

Sie stapfte hinter dem muskulösen jungen Waldmenschen her durch Wiese und Wald, über Stock und Stein. Ihre Kleidung war hoffnungslos in Unordnung, ihre Schuhe waren ruiniert, sie hatte Blasen an den Füßen, die Schultertasche klatschte gegen ihre Hüfte, und ihre Laune verschlechterte sich mit jedem schmerzlichen Schritt.

»Es ist nicht mehr weit«, sagte David. Seine Heiterkeit wirkte aufreizend. »Fühlen Sie sich etwas erleichtert? Die Schwerkraft lässt hier oben ziemlich schnell nach.«

»Nein«, knurrte sie und traute sich nicht mehr zu sagen. Wenn sie ihm gesagt hätte, was sie in Wirklichkeit über all diesen Klimbim dachte, wäre sie mit Sicherheit in die nächste Raumfähre verfrachtet und schnurstracks zur Erde zurückbefördert worden.

David ging neben ihr her. Der Pfad war jetzt bei weitem nicht mehr so steil. Zumindest fiel das Gehen leichter. Evelyn erblickte mannshohe Büsche zu beiden Seiten ihres Weges mit herrlichen, riesigen, kürbisgroßen Blüten in fantastisch vibrierendem Rot, Orange und Gelb.

»Was ist das?«, fragte sie, wobei sie schon fast wieder normal atmete.

Für einen Augenblick verschwand der freundliche Ausdruck von Davids Gesicht. »Nun ja …« Er schnalzte mit der Zunge, während er die Blüten betrachtete.

Irgendein PR-Mann, dachte Evelyn. Er zeigt mir die Sehenswürdigkeiten und weiß nicht …

»Eine Mutation der gewöhnlichen Hortensie«, sagte David. Dabei neigte er den Kopf zur Seite, als lauschte er, während er sprach. »H. macrophylla nurphiensis. Einer der ersten Genetiker der Kolonie war ein Hobbygärtner, der eine neue Generation von Blumen züchten wollte, die nicht nur in neuen spektakulären Farben erstrahlten, sondern sich auch selbst befruchteten. Das ist ihm dann mehr als gut gelungen, und seine modifizierten Hortensiensträucher drohten drei Jahre lang ein Großteil des Ackerlandes unserer Kolonie zu überwuchern. Mit Hilfe eines Spezialteams von Biochemikern und Molekularbiologen wurde der mutierte Busch auf die Hochlandregionen am anderen Ende des Hauptzylinders der Kolonie beschränkt.«

Der rasselt seinen Text herunter wie irgendein verdammter Roboter, dachte Evelyn.

David lächelte ihr zu und sagte in einem normaleren Tonfall: »Übrigens hieß der Amateurgärtner Murphy. Er lehnte es ab, dass die neue Pflanze nach ihm benannt wurde, und daher benannte Dr. Cobb die Pflanze nach dem Murphy'schen Gesetz.«

»Murphy'schen Gesetz?«

»Hat man Ihnen das noch nicht erklärt? ›Alles, was schief gehen kann, geht schief.‹ So lautet das Murphy'sche Gesetz.« Und er setzte etwas ernster hinzu: »Das ist das erste und wichtigste Gesetz für das Leben hier oben. Wenn Sie sich hier niederlassen wollen, müssen Sie stets an das Murphy'sche Gesetz denken. Es könnte Ihnen das Leben retten.«

»Wenn ich mich hier niederlassen will?«, fragte Evelyn entgeistert. »Besteht darüber überhaupt ein Zweifel? Ich denke, mein dauernder Aufenthalt hier ist genehmigt.«

»Sicher«, sagte David mit unschuldigem Blick. »Es war nur eine Redensart.«

Doch Evelyn fragte sich, wie weit er wohl Bescheid wusste?

Sie nahmen ihre Wanderung wieder auf, und die Büsche mit den exotischen Blüten säumten weiter ihren Weg. Der Blütenduft war nicht sehr stark, aber da war etwas anderes, das Evelyn störte … irgendetwas fehlte.

»Keine Insekten!«

»Wie bitte?«, fragte David.

»Ich sehe keine Insekten herumschwirren.«

»Hier oben«, sagte David, »gibt es kaum welche. Natürlich gibt es Bienen und sowas unten im Farmland. Aber wir hatten ziemlich zu tun, um Schädlinge von der Kolonie fernzuhalten. Fliegen, Moskitos … Krankheitsträger. In dem Boden, über den wir gehen, leben Erdwürmer und Käfer, all das Getier, das man braucht, damit der Boden lebt. Dies war zu Beginn eins der größten Probleme der Kolonie. Das Erdreich braucht eine Menge Lebewesen, um fruchtbar zu sein. Es reicht nicht aus, einfach den Schmutz auf dem Mond zusammenzukehren und über die Kolonie zu verteilen. Das Zeug ist unfruchtbar und steril.«

»Wie lange leben Sie denn schon hier?«, fragte Evelyn.

»Seit meiner Geburt«, sagte David.

»Tatsächlich? Sind Sie hier geboren?«

»Ich habe immer hier gelebt«, wiederholte er.

Evelyn lief ein kalter Schauder über den Rücken. Er ist's!

Und sie fragte: »Und jetzt arbeiten Sie für die PR-Gruppe?«

»PR. Was ist das?«

Sie blinzelte ihn an. »Public Relations. Wissen Sie denn nicht …«

»Ach, das!« Er grinste. »Ich bin nicht bei der PR-Gruppe. Wir haben eigentlich gar keine, außer Dr. Cobb selbst.«

»Dann sind Sie also eine Art Fremdenführer?«

»Nein. Ich bin ein Wahrsager … oder versuche es zumindest.«

»Ein Wahrsager? Aber was in Gottes Namen …«

Doch ihre Frage blieb ungehört, als sie um die letzte Ecke bogen, und das Panorama sich vor ihnen auftat.

Sie standen fast an einem hohen Berggrat. In dieser Höhe musste normalerweise ein leichter Wind gehen, doch Evelyn spürte keine Brise. Die Büsche, die ihren Weg gesäumt hatten, lagen nun hinter ihnen, und sie konnte die ganze Kolonie überblicken, die vor ihr ausgebreitet lag.

Eiland Eins.

Von der Hügelkuppe aus erblickte Evelyn das fruchtbare, grüne Land, das vor ihr lag, bewaldetes Hügelland, das sich weit dahinzog, leicht sich dahinwindende Flüsse, grasige Lichtungen, kleine Wälder und Baumgruppen, weit verstreute Gebäude und blaue Seen, die im Sonnenlicht glitzerten. Sie meinte zu fallen, und instinktiv trat sie einen Schritt zurück beim Anblick dieser endlosen Grünfläche, die sich irgendwo in der Ferne in Dunst auflöste.

Sie erblickte die dichtgedrängten Dächer einer Siedlung und die weißen Segel von Booten, die auf einem der großen Seen kreuzten. Hier spannte sich eine Brücke im hohen Bogen über einen Fluss, dort glitten Sommerfäden schwingengleich durch die klare, saubere Luft. In weiter dunstiger Ferne lagen Äcker und Wiesen hübsch ausgerichtet in Reih und Glied.

Sie wusste, dass Eiland Eins ein riesiger Zylinder war, der im Weltraum schwebte. Sie wusste, dass sie im Innern eines langen, weiten Rohres stand, das von Menschenhand geschaffen war. Und durch ihren Kopf schwirrten irgendwelche Zahlen, die sie sich irgendwann erarbeitet hatte. Die Kolonie war zwanzig Kilometer lang und vier im Durchmesser. Sie drehte sich alle paar Minuten um die eigene Achse, um im Innern des Zylinders eine Art künstlicher Schwerkraft aufrechtzuerhalten, um den Bewohnern ein erdähnliches Gefühl zu vermitteln. Doch die Zahlen waren bedeutungslos. Das alles war zu groß, zu offen, zu gewaltig. Dies hier war eine Welt, ein reiches, blühendes Land voller Schönheit und Frieden, das jedem Maß und jeder Beschreibung spottete.

Eine ganze Welt! Grün, offen, sauber – voller Hoffnung und Raum, zum Wandern, zum Atmen, zum Spielen und zum Lachen, ähnlich wie Cornwall und Devon einst gewesen, bevor die grauen Tentakeln von Großstädten die grünen Hänge überwucherten.

Evelyn spürte, wie sie erzitterte. Da war kein Horizont! Das Land krümmte sich nach oben, breitete sich nach oben aus, hinauf in schwindelnde Höhen. Sie hob den Kopf und erblickte durch den bläulichen, wolkenbetupften Himmel weiteres Land, direkt über ihrem Kopf. Eine Hohlwelt. Atemberaubend. Sie schwankte.

Über dem offenen, grünen Land lagen lange, flirrende Lichtstreifen, ein helles, gleißendes Land, die Solarfenster. Sie liefen am Zylinder der Kolonie entlang, in Stahlrahmen gefasstes Glas, durch die das Sonnenlicht einfiel, das durch die Riesenspiegel reflektiert wurde, die außerhalb des röhrenförmigen Mammutrumpfes der Kolonie angebracht waren.

Das alles war viel zu gewaltig, um es zu begreifen. Hügel, Bäume, Farmen, Siedlungen, die sich überkopf in den dunstigen blauen Himmel schwangen, immer höher hinauf in einer geschlossenen Rundung, Grünland, glitzernde Scheiben und wieder grünendes Land …

Sie spürte Davids Arm um ihre Schultern.

»Ihnen ist schwindlig geworden. Ich dachte schon, Sie würden stürzen.«

Und Evelyn erwiderte leise und dankbar: »Es ist … überwältigend, nicht wahr?«

Er nickte, lächelte sie an, und sie wurde plötzlich wieder böse. Du nicht! Dir imponiert das alles nicht. Du kennst das alles, seit du auf der Welt bist. Du warst nie gezwungen, dir deinen Weg durch den Stau in einer Großstadt zu bahnen oder eine Atemmaske aufzusetzen, um lebend durch die Straßen zu kommen …

»Sicher, es ist ein atemberaubender Anblick«, meinte David, und das mit der Ruhe eines Nachrichtensprechers, der die Wettervorhersage verliest. »Keine Abbildung der Welt kann jemand auf diesen Anblick vorbereiten.«

Sie kicherte. »Columbus! Diese Welt hätte Columbus verrückt gemacht! Es war ihm schon schwer gefallen, den Menschen beizubringen, dass die Erde rund ist. Aber wenn er dies hier gesehen hätte, diese Welt – es ist eine Hohlwelt!«

David, der Kenner, sagte: »Ich habe ein Teleskop an meinem Arbeitsplatz, wenn Sie wirklich Leute sehen wollen, wenn Sie Leute sehen wollen, die über Ihnen mit dem Kopf nach unten hängen.«

»Nein«, erwiderte Evelyn schnell, »ich glaube, auf so was bin ich noch nicht vorbereitet.«

Sie standen am Rande des steilen Abhangs. Tiefe Stille umgab sie. Kein Vogel zwitscherte, keine Lastwagen donnerten über die Straße, die in der Nähe vorbeiführte. Evelyn zwang sich, wieder nach oben zu schauen und das Land zu betrachten, das sich über ihrem Kopf wölbte, sie zwang sich dazu, zu begreifen, dass sie im Innern eines von Menschenhand erbauten Zylinders stand, der über 20 Kilometer lang war, ein riesiges Rohr, das fast eine halbe Million Kilometer von der Erde entfernt im Weltraum hing, voll landschaftlicher Reize, mit Luft gefüllt, ein künstliches Paradies, in dem eine Elite von wenigen immens reichen Leuten lebte – während auf der ausgepowerten, überbevölkerten Erde Milliarden im Elend lebten.

»Wünschen Sie noch einige statistische Angaben über die Kolonie?«, fragte David. »Sie ist fast so lang wie die Insel Manhattan, aber da wir fast die ganze Innenfläche des Zylinders nutzen können, verfügen wir etwa über das Vierfache der Fläche von Manhattan …«

»Für ein Hundertstel der Bevölkerung!«

Wenn sich David durch ihre Reaktion verletzt fühlte, ließ er sich zumindest nichts anmerken. »Einer der Vorteile des Lebens hier draußen besteht in der geringen Bevölkerungsdichte«, sagte er glatt. »Wir möchten uns nicht in jene Situation hineinmanövrieren, in die sich die Städte auf der Erde gebracht haben.«

»Was wissen Sie eigentlich über die Städte der Erde?«, fragte sie.

Er antwortete mit einem Achselzucken: »Nicht viel, glaube ich.«

Sie verfielen erneut in Schweigen. Evelyn wandte sich um und betrachtete die Aussicht. So viel Platz. Die könnten mindestens eine Million Menschen aufnehmen, wenn nicht mehr.

Schließlich streckte David die Hand nach ihr aus. »Kommen Sie«, sagte er. »Das war ein schwerer Tag für Sie. Wir wollen etwas trinken und ausruhen.«

Sie schaute ihn an. Vielleicht ist er doch ein menschliches Wesen. Und sie lächelte ihn an, trotz ihrer Zweifel.

»Hier entlang.« Er zeigte auf einen Pfad, der sich zwischen den Bäumen emporschlängelte.

»Noch eine Klettertour?«

Er lachte. »Nein. Es ist nicht mehr weit und meistens geht's bergab. Sie können Ihre Schuhe ausziehen, wenn Sie wollen.«

Evelyn streifte dankbar die Schuhe von ihren brennenden Füßen und hängte sie mit den Absätzen an die Riemen ihrer Schultertasche. Das Gras fühlte sich weich und kühl an. David führte sie über einen gewundenen Pfad, vorbei an den sonderbaren, flammenden Hortensienbüschen und am Ufer eines Flusses entlang, der in Richtung Wald talwärts floss, durch den sie geklettert waren.

Sie hat sich die Schulter wundgerieben, dachte er im Gehen. Natürlich war sie auf diesen Weg nicht vorbereitet. Cobb hat uns beide überrascht. Er steckt überhaupt voller Überraschungen.

Dann rief er sich ihren Gesichtsausdruck ins Gedächtnis zurück, als sie das erste Mal die ganze Kolonie überblickte. Das war alle ihre Klagen wert. Überraschung, Verwunderung, Ehrfurcht. Das war es wert, dass er seinen ganzen Arbeitstag geopfert hatte. Doch warum hat mich Cobb zu dieser Tagestour abkommandiert. Ich bin so nahe daran, alles zusammenzufügen, zu begreifen, wo dies alles hinführt … er aber befiehlt mir, einen Tag in den Wäldern zu vergeuden.

Evelyn beobachtete David. Er schien so gelassen, so selbstsicher. Sie hätte ihm am liebsten ein Bein gestellt oder ihm einen Käfer auf den Rücken gesetzt, nur um zu sehen, wie er reagierte.

Er glaubt nicht, dass es sich lohnt, dachte David. Er hat nie viel von Vorhersagen gehalten. Trotzdem hat er früher nichts gegen meine Studien einzuwenden gehabt. Warum gerade jetzt, wo ich so nahe dran bin, all die Wechselbeziehungen zusammenzufügen? Befürchtet er vielleicht, dass ich auf etwas stoßen könnte, was ich nicht wissen soll?

Die Bäume standen jetzt nicht mehr so dicht beieinander, hauptsächlich Pinien, mit vereinzelten schwarzweiß getupften Birken dazwischen. Kiefernduft lag in der Luft. Aus dem fetten Gras schauten jetzt immer öfter graugesprenkelte Felsen hervor. Viele der Felsen waren schulterhoch, die meisten aber etwas niedriger.

»Diese Felsen sehen recht sonderbar aus«, meinte Evelyn.

»Wie bitte?« David schreckte aus seinen Gedanken hoch.

»Diese Felsen … sie sehen merkwürdig aus.«

»Die stammen vom Mond.«

»Aber die ganze Kolonie ist doch aus Mondgestein erbaut, nicht wahr?«

»Das stimmt. Fast jedes Gramm Stoff hier – vom Außenmantel bis zum Sauerstoff, den wir atmen. Alles wurde an der Mondoberfläche geschürft und hier in unseren Schmelzanlagen aufbereitet. Doch diese Felsbrocken wurden nicht bearbeitet. Unsere Landschaftsexperten waren der Meinung, der Boden würde auf diese Weise interessanter aussehen.«

»Das müssen japanische Gärtner gewesen sein«, meinte Evelyn.

»Woher wissen Sie das?«

Sie lachte und schüttelte den Kopf. Eins zu null für mich!

»Schön, wir sind da«, sagte David einen Augenblick später.

»Wo?«

»Zu Hause.« Er breitete die Arme aus und drehte sich um. »Hier lebe ich.«

»Im Freien?«

Sie standen an einem großen See, in den der Fluss, dem sie gefolgt waren, sein Wasser ergoss, bevor er weiterströmte in Richtung Wald. Etwas weiter entfernt standen Birken und Kiefern. Der Boden war mit weichem Gras und Farn bedeckt, wenn auch hie und da Felsen hervorschauten. Rechts von David stand ein gewaltiger Brocken, weitaus größer als er.

David zeigte darauf. »Das ist mein Haus. Kunststoff, auf Felsen getrimmt. Es ist zwar nicht sehr geräumig, aber ich brauche wenig Platz.«

Dieser hinterhältige Kerl hat mich zu seiner Wohnung gelotst!

David missverstand ihre Miene. »Sicher, ich bin die meiste Zeit nicht im Haus. Warum auch nicht? Hierzulande regnet es nie, sofern wir nicht zwei Tage vorher gewarnt werden. Die Temperatur sinkt hier nie unter fünfzehn Grad.«

Evelyn schaute sich unsicher um. »Schlafen Sie hier draußen?«

»Manchmal. Doch meistens schlafe ich drinnen. Wir sind keine Neandertaler.«

Ja, und ich mag wetten, dass dein Bett breit genug für zwei ist.

»Schauen Sie«, meinte er, »wie wäre es mit einem hübschen Bad zur Entspannung? Inzwischen könnte ich Ihre Kleider waschen und was zum Trinken vorbereiten.«

Evelyn versuchte die Möglichkeiten abzuwägen. Der Gedanke an ein heißes Bad war verlockend. Ihre brennenden Füße würden es ihr nie verzeihen, wenn sie so eine Gelegenheit nicht wahrnehmen würde.

»Das mit dem Bad hört sich gut an«, sagte sie. Und nachher, wenn ich meine Kleider wiederhabe, können wir über einen Drink reden. Ihr Magen meldete sich und erinnerte sie daran, dass seit dem Frühstück bereits geraume Zeit vergangen war.

David führte sie um die Felsenattrappe. Im Vorderteil war eine Kunststofftür so geschickt eingelassen, dass sie Mühe hatte, die feinen Umrisse zu erkennen.

Innen verbarg sich eine Art Einzimmer-Junggesellenwohnung. Dicke, rotgoldene Teppiche, cremefarbene, gebogene Wände. Keine Fenster, dafür aber zwei blanke Bildschirme, die über einem Tisch neben dem Eingang hingen.

Eine offene Feuerstelle mit einer Art Kamin nahm die Mitte des Raumes ein: außen rot, innen rußgeschwärzt. Auf der anderen Seite der Feuerstelle stand ein mächtiges, niedriges Bett.

Aha, dachte Evelyn, ein Wasserbett, was sonst.

Da war auch eine kleine Küchennische, ein kleiner, runder Tisch mit zwei steiflehnigen Stühlen, und auf dem Fußboden lagen einige übergroße orientalische Kissen verstreut.

Alles war hübsch und sauber, aber irgendwie spartanisch. Alles am richtigen Platz. Wie seine verdammten Zähne. Kein Buch, kein Stück Papier war zu entdecken.

David trat ans Bett und berührte die Wand. Eine Tür sprang auf und gab den Blick frei in einen Schrank. Er stöberte im Schrank herum, holte ein formloses graues Gewand heraus und warf es Evelyn zu. Sie erhaschte das Kleid im Flug.

»Hübscher Fang«, meinte er.

Das würde dir so passen, dachte sie.

»Das Badezimmer ist da drüben.« Er deutete auf eine weitere kaum sichtbare Tür. »Werfen Sie nachher Ihre Kleider hier raus, ich gebe sie in den Reiniger.«

Evelyn nickte und begab sich ins Bad. David aber ging in die Küche, und fragte sich: Warum ist sie so unnahbar? Er öffnete den Schrank über der Spüle.

Die Badezimmertür schwang auf, Evelyn kam heraus und starrte ihn wütend an. »Da ist ja keine Badewanne, keine Dusche, nichts!«

David schaute sie bestürzt an. »Um Himmelswillen, Sie sollen doch nicht in der Toilette baden. Dafür ist der Teich da.«

»Wie bitte?«

Nun war er selbst bestürzt und erklärte: »Sie sollen sich mit dem Vibrator säubern – das ist dieses glänzende Metallding, das an der flexiblen Schlauchleitung an der Wand hängt. Der Körper wird mit Hilfe von Schallwellen gesäubert und der Schmutz abgesogen. Ihre Kleidung wird mit einem ähnlichen Apparat gereinigt.« Er tippte gegen den Ultraschallreiniger, der sich in einem Schrank unter der Spüle befand. »Wasser ist zu kostbar zum Waschen.«

»In meiner Unterkunft haben wir Wannen und Duschen«, sagte sie.

»Sie waren bisher in den Quarantäneunterkünften untergebracht. Heute früh wurden Sie in Ihre ständige Wohnung umquartiert, und dort gibt es weder Wannen noch Duschen. Sie werden sehen.«

Evelyn schaute ihn verwirrt an. »Aber Sie sagten doch, ich könnte ein Bad nehmen …«

»Im Becken – nachdem Sie sauber sind.«

»Ich habe aber keinen Badeanzug.«

»Ich auch nicht. Da ist weit und breit kein Mensch, um uns zuzusehen. Der nächste Nachbar wohnt mehr als fünf Kilometer entfernt.«

Sie runzelte die Stirn. »Und was ist mit Ihnen?«

»Ich habe schon nackte Mädchen gesehen. Und Sie nackte Männer, nicht wahr?«

»Aber Sie haben mich noch nicht nackt gesehen! Und ich kümmere mich einen feuchten Kehricht um Ihre biblischen Gepflogenheiten in Ihrem neuen Garten Eden. Ich werde hier nicht herumsteigen und mich zur Schau stellen!«

Teufel auch, dachte David. Eine prüde Engländerin! »Schon gut, schon gut«, beschwichtigte er sie und unterstrich seine Worte mit entsprechenden Gesten. »Ich will Ihnen sagen, wie wir's machen. Sie reichen mir Ihre Kleider durch die Badezimmertür …«

Sie blickte genauso misstrauisch drein wie Dr. Cobb, so oft eine Delegation von der Erde hier antanzte, um die Kolonie zu »inspizieren«.

»… und ich gebe sie in den Reiniger. Dann geh' ich hinaus und hüpfe in den Teich.«

»Wie Gott Sie schuf?«

»Verzeihung, ich verstehe nicht …«

»Also nackt.«

Er zuckte die Achseln.

»Wenn es Sie beruhigt, werde ich meine Shorts anbehalten. Darf ich wenigstens meine Schuhe ausziehen? Die Umweltschützer können recht sauer werden, wenn man in schmutzigen Stiefeln zum Schwimmen geht.«

Sie nickte, aber ihre Miene veränderte sich nicht.

So ein kalter Fisch! »Also gut. Ich werde mich mit dem Vibrator außer Haus säubern und dann ins Wasser gehen. Rufen Sie mich, wenn Sie fertig sind. Ich werde mich abwenden, die Augen schließen, die Augen mit den Händen verdecken und untertauchen. Gut so? Dann, wenn Sie sicher gelandet sind und ich noch nicht ertrunken bin, können wir uns beim Schwimmen entspannen. Das Wasser ist stets warm, wissen Sie. Und ich werde zweihundert Meter Abstand halten. In Ordnung?«

Evelyn spürte, wie sich ein Lächeln in ihre Mundwinkel stahl. »Dieser Teich ist keine zweihundert Meter breit.«

»Schön, ich werde mein Bestes tun«, meinte er.

Er sieht so verdammt seriös aus. »Ich möchte nicht prüde erscheinen«, sagte sie, »aber bei uns daheim pflegen wir einfach nicht mit Fremden nackt zu baden.«

»Sie haben ein Recht darauf, Ihren Gewohnheiten zu frönen«, meinte David. »Hier wird allerseits nackt gebadet. Aber ich will daran denken, dass es Sie schockiert.«

Evelyn kam sich zwar dumm vor, aber sie hatte noch immer ihre Bedenken. Sie kehrte ins Badezimmer zurück, machte die Tür fest zu und begann, ihre verschwitzten Kleider abzustreifen.

Was sind denn das für Skrupel, die mich stören?, fragte sie sich. Seine oder meine?

Doch dann sagte sie zu sich selbst, dass es einerlei sei. Sie war hier, um eine Story darüber zu schreiben, und sobald sie sie hatte, würde sie Eiland Eins verlassen.

Und schließlich lächelte sie. Es würde eine weit bessere Story geben, wenn ich wüsste, wie er ohne diese komischen Shorts aussieht.

Unsere Schlussfolgerungen lauten:

1. Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht. Mit großer Wahrscheinlichkeit führt dies zu einem ziemlich raschen und nicht aufhaltbaren Absinken der Bevölkerungszahl und der industriellen Kapazität.

Dennis Meadows, Donalla Meadows, Erich Zahn, Peter Milling,

Die Grenzen des Wachstums.

2. Kapitel

Dennis McCormick stemmte die Fäuste in die Hüften und schaute grimmig auf den staubigen Parkplatz. Auch die letzten Laster und Personenwagen hatten bereits den Platz geräumt.

Verdammt!, sagte er zu sich. Ich dachte schon, diese Schleicher würden mich allmählich mögen.

Die blutrote Sonne von Bagdad berührte den Horizont und verwandelte den wolkenlosen Himmel in eine Schüssel von geschmolzenem Kupfer. Heiß genug, um Kupfer zu schmelzen, hübsch nah, dachte Denny, während er sich den Schweiß von der Stirn wischte. Normalerweise machte ihm die Hitze nichts aus, doch jetzt war er verärgert, weil ihm seine Arbeitsbrigade kein Fahrzeug dagelassen hatte – nicht einmal ein Elektrorad –, mit dem er zum Hotel hätte zurückfahren können. Nun musste er durch die Hitze eines sich neigenden Bagdader Tages zu Fuß laufen.

Zumindest hatte der Shamal aufgehört, seinen Gluthauch über die Baustelle zu blasen. Die Luft war reglos und wüstentrocken im heißen Sonnenuntergang.

»Gottverdammich!«, murmelte er. »Ich werde Abdul das Genick brechen. Er weiß ganz genau, dass er mich nicht einfach sitzen lassen darf.«

Was ihn wirklich enttäuschte, war der Umstand, dass er sich eingeredet hatte, die arabischen Arbeiter hätten ihn schließlich akzeptiert. Während der vergangenen Wochen waren sie allmählich freundlicher geworden. Vielleicht haben sie's einfach vergessen, sagte er zu sich. Schließlich ist es nicht ihre Aufgabe, sich um den Kraftfahrzeugpark zu kümmern.

Er blickte auf die Baustelle zurück. Der Palast begann allmählich Gestalt anzunehmen. Selbst die Frauen, die jeden Tag zum Flussufer hinuntergingen, um ihre Arbeit zu verrichten und ein Schwätzchen zu halten, konnten erkennen, dass da etwas Wunderbares entstand. Sie konnten stundenlang herumstehen und den Fortgang der Arbeiten beobachten. Zumindest war jetzt die Seite zum Fluss hin fertiggestellt, hoch und leicht gewölbt. Die Türme an den beiden Enden würden noch vor Ende der Woche mit Dächern versehen sein.

Mit einem Seufzer, der halb Zufriedenheit und halb Ärger ausdrückte bei dem Gedanken, zu Fuß zum Hotel zurückgehen zu müssen, wischte sich Denny erneut den Schweiß ab und ging auf die Brücke zu, die den Tigris überspannte. Der Schweiß rann ihm in seinen roten Bart und über seinen Hals und tropfte auf seinen Brustkorb. Doch bald würde die Sonne untergegangen sein und die gesegnete Abendkühle einsetzen, die Erleichterung brachte.

Während er die staubige, öde Baustelle überquerte, begann er Zahlen auf den Tasten seines Armbandkommunikators zu tippen. Sein Blick streifte das kleine Anzeigefenster. Es hielt sich alles einigermaßen in Grenzen. Zwar überschritt das Projekt bereits geringfügig die vorgesehenen Mittel, doch wenn man berücksichtigte, wie es angefangen hatte, so lief doch alles tatsächlich ziemlich glatt.

Der irakische Bautrupp hatte gegrollt und geschmollt, weil er unter der Leitung eines Fremden arbeiten musste. (Nicht nur eines Fremden, Inschallah, sondern eines Ungläubigen, eines Christen – eines Iren!) Allmählich hatten sich die Leute aber dazu durchgerungen, ihn zu respektieren, und mit der Zeit hörten auch die Witze, die sie über ihn rissen und das Geflüster hinter seinem Rücken auf. Wahrscheinlich waren sie nie in der Lage zu begreifen, dass ein Mann irischer Abstammung Kanadier sein konnte. Für sie war er der Eirisch, der Ire, doch mit der Zeit nannten sie ihn den Architekten des Kalifen, einen Suleiman unter den Baumeistern.

»Aber wenn sie dich so gern haben«, sprach Denny zu den sonnengeröteten Dachfirsten und den Turmspitzen jenseits des Flusses, »wie kommt es dann, dass sie dir keinen Wagen zur Heimfahrt dagelassen haben?«

Doch die Leute hatten bald gemerkt, dass ihre Arbeit eine solide, schöne Realität zu produzieren begann und hatten darauf mit arabischem Stolz und Enthusiasmus reagiert.

»Den Palast des Harun al Raschid neu erbauen?«, hatte er seinem Chef zu bedenken gegeben. »Aber kein Mensch weiß doch, wie er ausgesehen hat.«

»Das soll dich nicht stören, mein Sohn. Die Eierköpfe von der Archäologie werden dich leiten, und es wird eine Menge ›Experten‹ am Platze geben, die froh sein werden, dir mit Hinweisen zu dienen.«

»Geh, Russ, das ist verrückt …«

»Nein, das ist Politik. Die Weltregierung möchte etwas für die haschemitische Seite der arabischen Welt tun, ebenso wie wir den Saudis helfen wollen. Ansonsten kriegen wir Schwierigkeiten in der Wüste. Bagdad braucht eine Art kosmetischer Operation, neuen Kapitalzufluss, eine neue Industrie.«

»Dann lasst uns einen Industriekomplex für sie errichten, ähnlich wie wir es in Dacca gemacht haben.«

»Nicht jetzt. Sie müssen den Palast von Harun al Raschid wieder erbauen, des Kalifen aus Tausendundeiner Nacht. Das ist der Schlüssel, um ihre Industrie zu revitalisieren, genau nach den Computer-Vorhersagen.«

»Das soll heißen, dass Bagdad ebenfalls zu einem glorifizierten Vergnügungspark umgebaut werden soll wie Elsinore.«

»Denny, Junge, mach das Projekt nicht madig. Es bringt die Touristen ins Land und mehr Geschäft als eine industrielle Entwicklung gleich welcher Art, mit der die Einheimischen nichts anzufangen wissen. Mach's gut, und der nächste Auftrag fällt dir automatisch in den Schoß.«

»Und was wäre das?«

»Babylon. Die Hängenden Gärten und all der Zauber. Wir werden die ganze antike Stadt wieder aufbauen, auf die gleiche Weise, wie die Griechen ihre Akropolis neu erstehen ließen.«

Und Dennis McCormick lief das Wasser im Mund zusammen, so wie es sein Boss erwartet hatte. Denny war bitter enttäuscht, dass die griechische Regierung keine Fremden am Akropolis-Projekt mitwirken ließ, obwohl die Weltregierung das Projekt finanzierte.

»Babylon«, wiederholte der Chef. »Neuerdings sind die Iraker sehr stolz auf ihre Kulturgeschichte. Sie möchten den Glanz vergangener Zeiten wiedererstehen sehen. Mach's gut mit dem Palast des Kalifen, und man wird sich darum reißen, dass wir das Babylon-Projekt auf die Beine stellen.«

Die Zahlen, die über Dennys Gerät flimmerten, wurden automatisch über Satellit an das Hauptquartier der Weltregierung in Messina übertragen. Wir werden hier bis zum Jahresende fertig sein, dachte Denny. Dann kommt Babylon. Und nachher das größte Projekt aller Zeiten: Troja.

Er blickte auf den Palast zurück, den er gerade erbaute. Die sinkende Sonne übergoss die neuen Mauern mit blutrotem Licht. Denny hob den Arm über den Kopf und beobachtete die langen Schatten seiner Finger, die bis zu den Füßen der Mauer reichten.

Er wandte sich um in Richtung Brücke und hin zum träge dahinfließenden Tigris. Die Altstadt von Bagdad lag am anderen Ufer. Durch die reglose, stickige Luft drang der hohe, langgezogene Ruf des Muezzins, der die Gläubigen zum Abendgebet aufforderte – verstärkt durch krächzende Lautsprecher. »Auf ihr Gläubigen zum Gebet, auf ihr Gläubigen zum Gebet … kommt her zum Hause des Lobes und der Ehre. Allah ist groß, Allah ist allmächtig. Außer Allah gibt es keinen Gott …«

Die terrassenförmig gebauten Türme des Hotel International ragten über die niedrigen, bunten Ziegeldächer und Kuppeln der Altstadt. Dort warteten eine Dusche, frische Kleidung und – das Beste von allem – einige eisgekühlte Bierchen auf Denny.

Der kürzeste Weg zum Hotel führte durch den Suq, durch diesen lauten, stinkenden, überfüllten, wundervollen Bazar, der schon lange vor der Zeit Harun al Raschids den Mittelpunkt des Lebens von Bagdad bildete. Es war ein gefährlicher Ort für Fremde, wo man leicht abhandenkommen konnte und wo es noch leichter war, seine Brieftasche loszuwerden. Doch Denny war hier schon oft durchgegangen und alle Welt wusste, dass er selten mehr als ein paar Fils bei sich trug.

Dennoch, so mancher war bereits wegen ein paar Fils oder auch weniger umgebracht worden.

Unter den hochgewölbten Arkaden des Bazars war es kühler. Selbst dort, wo der Weg nicht von Mauerwerk oder farbigem Glas überdacht war, hielten alte Zeltplanen das Tageslicht und die Hitze fern. Aber die schmutzigen Straßen stanken nach Schweiß, Urin und tierischen Exkrementen.

Doch der übliche Menschenauflauf schien jetzt dünner, und es schien auch stiller zu sein.

Es ist die Stunde des Gebets, sagte sich Denny. Und die meisten Leute eilten heim zum Abendessen.

Alle Läden waren wie gewöhnlich geöffnet. Diese Läden waren immer offen. Die Kaufleute verzehrten ihre Mahlzeit, wo sie gerade saßen, oder gingen kurz die Treppe hinauf, um von ihren unsichtbar bleibenden Frauen versorgt zu werden. Denny ging die schmale, gewundene Straße der Schmiede hinunter und passte seinen Schritt unbewusst dem klopfenden Rhythmus der Hämmer an, deren ohrenbetäubendes Geklingel die Luft erzittern ließ. Vor den Geschäften lagen die Waren auf der Straße ausgebreitet. Riesige kupferne Kaffeekannen – die zehn Liter fassenden Gum-Gums – beherrschten das Bild.

Auch die Bettler saßen an ihren gewohnten Plätzen, an jeder Ecke, an jeder Wand, junge und alte Leute, die im Straßenschmutz herumkrochen und deren nasaler Ruf nach Almosen im Namen Allahs sich anhörte wie eine schlechte Tonbandaufnahme.

Kaum eine Leiche oder ein Aas in den Straßen, registrierte Denny. Dies schien ein günstigerer Tag zu sein als üblich. Auch die üblichen Kinderbanden waren nicht zu entdecken. Gewöhnlich umschwärmten sie jeden Fremden in dem unerschütterlichen Glauben, alle Fremden seien reich. Sie bettelten um Zigaretten oder Münzen, boten sich als Fremdenführer an, als Diener, als Beschützer, als Strichjungen. Nun schienen sie alle wie vom Erdboden verschluckt.

Denny hatte ein ungutes Gefühl – wie bei einer oft frequentierten Brücke, bei der ein Pfeiler fehlt, eine Diskrepanz, die man auf den ersten Blick nicht bewusst wahrnimmt, wobei man aber irgendwie ahnt, dass etwas nicht stimmt.

An der Straßenecke der Obstverkäufer tanzte ein Zigeunermädchen. An der gleichen Ecke befand sich die unvermeidliche Teestube, eines von Dennys bevorzugten Lokalen. So holte er sich einen Stuhl und setzte sich an einen Tisch vors Haus.

Das Mädchen war jung, kaum älter als fünfzehn, und die weiblichen Formen, sofern es schon welche besaß, waren unter dem wirbelnden Dischdascha gut versteckt. Das Gesicht war unverschleiert und bemerkenswert hübsch, wie so oft bei den Orientalinnen in diesem vorüberfliegenden Alter zwischen Kind und Frau.

Es drehte und wand sich, tanzte barfüßig auf der schmutzigen Straße zum Klang einer einsamen Holzflöte, die ein Junge blies, ein milchbärtiger Bursche, der eher jünger war als das Mädchen und der sich im Schneidersitz gegen die Wand der Teestube lehnte. Auf der anderen Straßenseite standen ein paar Männer und schauten zu. Außer Denny saß niemand an den Tischen vor dem Haus.

»Der Baumeister des Kalifen!«, sagte der raubärtige alte Mann, der die Teestube führte. »Was darf ich Ihnen heute bringen?« Bereits vor Monaten hatte er sich entschlossen, mit Denny radebrechend Englisch zu reden, weil dessen Arabisch für geübte Ohren eine Qual war.

»Bier«, sagte Denny, obwohl er wusste, dass es hoffnungslos war.

»Och, Allah«, sagte der Besitzer, der nun seine Rolle in ihrem üblichen Spiel übernahm. »Allah hat in seiner Weisheit den zivilisierten Menschen vor Trunksucht bewahrt.«

Denny lächelte, ohne seinen Blick von dem tanzenden Mädchen zu wenden. »Tja, aber ich bin nun mal kein zivilisierter Mensch. Ich bin ein Barbar aus einem fernen, finsteren nordischen Land, wo die Kälte den Menschen dazu zwingt, alkoholische Getränke zu sich zu nehmen.«

»Haben Sie demnach ein schweres Leben?«

»Ich muss mich gelegentlich beklagen. Doch sage mir, ist es wahr, dass der Koran den Kindern des Islam verbietet, den Saft der Weinrebe zu trinken?«

»Ganz entschieden.« Auch der alte Mann betrachtete das tanzende Mädchen, doch sein runzliges Gesicht zeigte keine Erregung.

»Doch das Bier, mein Freund, wird nicht aus Trauben gemacht. Dürfte dann ein Barbar – oder selbst ein zivilisierter Mensch – seine Vorzüge nicht genießen?«

Der alte Mann blickte auf Denny hinab und grinste. Seine Zähne waren vom Tee belegt und vom Zucker zerstört. »Ich will sehen, was sich machen lässt.« Und er enteilte in seinen Laden.

Da Denny wusste, dass dieses ›was sich machen lässt‹ sich als ein Glas gesüßter Tee entpuppen würde, folgte er dem Besitzer mit den Augen. Er sah, dass mehrere Männer durch die dicht verhangenen Fenster des Ladens lugten. Und er hatte das Gefühl, dass sie eher ihn als das Mädchen beobachteten.

Die Flöte setzte ihre Melodie fort, und das Mädchen tanzte weiter. Sein Gesicht war schweißgebadet. Doch kein Mensch warf auch nur eine Münze, und keiner der Zuschauer schenkte ihm ein Lächeln.

Der Wirt kehrte mit einem Kupfertablett zurück, auf dem eine einsame Bierflasche stand, bereits geöffnet, nebst einem hohen Glas, in dem gewöhnlich Tee serviert wurde.

»Allah hat es für richtig gehalten, dass ich dir ein Bier bringe«, sagte er, während er das Bier und das Glas auf Dennys Tisch stellte.

Denny war viel zu sehr überrascht, um zu fragen, wo das Bier plötzlich herkam. Im Bazar gab es üblicherweise kein Bier, zumindest war dies früher nicht der Fall gewesen.

»Allah sei gelobt«, sagte er. »Und du auch.«

Der alte Mann verneigte sich leicht und zog sich dann in seinen Laden zurück. Denny schenkte ein und kostete. Es war ein ungekühltes, osteuropäisches Bier.

Immerhin ist es Bier, dachte er dankbar und schluckte.

Das Mädchen beendete seinen Tanz mit einem Wirbel und sank dann in der typischen Pose einer Bettlerin auf die Knie. Die Araber auf der anderen Straßenseite gingen einfach weg und übersahen sie. Das Mädchen blickte auf den Flötenspieler – vermutlich ihr jüngerer Bruder, dachte Denny – und sein Blick war traurig. Dann erhob es sich langsam und strich eine schweißgetränkte Locke aus der Stirn.

»Komm her!«, rief Denny ihm zu.

Das Mädchen drehte sich zögernd um. Denny winkte ihm mit dem Finger.

»Komm her und setz dich!« Er klopfte auf den Stuhl neben sich, falls die Kleine kein Englisch verstehen sollte.

Sie trat an den Tisch Denny gegenüber und sah verwirrt, fast ängstlich aus.

»Sprichst du englisch?«, fragte er und versuchte zu lächeln, damit sie sich nicht vor ihm fürchtete.

»Ja.«

Es war die Stimme eines Kindes, dünn und unsicher. Ihr Gesicht wäre noch hübscher gewesen, wenn es sauber gewesen wäre. Große, dunkle Augen, lange Wimpern, volle, sinnliche Lippen. Doch alles verklebt vom Straßendreck.

»Setz dich. Du hast schwer gearbeitet. Möchtest du ein Glas Tee?«

Sie setzte sich auf den Stuhl neben Denny, nahe genug, dass ihm ihr bitterer Körpergeruch in die Nase stieg. Ihr jüngerer Bruder blieb mitten auf der verschmutzten Straße sitzen.

Der Alte tauchte wieder auf, und Denny bestellte Tee für das Mädchen. »Hast du noch ein Bier?«

»Ich will sehen.«

»Und etwas für unsere Tänzerin zu essen – vielleicht einen süßen Kuchen.«

Das Mädchen lächelte nicht und bedankte sich auch in keiner Weise für Tee und Kuchen, das er ihm anbot. Doch die Augen der Kleinen wanderten dauernd zwischen Denny und ihrem jüngeren Bruder hin und her.

»Wie heißt du?«

»Medina.«

»Ist das dein Bruder? Er sieht dir ähnlich.«

»Ja, er ist mein Bruder.«

»Ich möchte dir etwas für deine Darbietung schenken.« Er griff in seine Hosentasche.

»Nein.« Ihre Augen weiteten sich. »Bitte!«

»Es ist nur für deine Darbietung«, sagte Denny. »Ich will nicht, dass du sonst was für mich tust.«

Er holte eine zerknitterte Banknote aus der Tasche und legte sie auf den Tisch.

»Nein«, sagte sie und schaute immer noch erschrocken. »Ich darf nicht. Das bringt nichts Gutes.«

»Warum hast du dann getanzt? Wolltest du nicht, dass man dir Geld gibt?«

»Schon.«

»Dann nimm das da.«

»Das bringt nichts Gutes«, flüsterte sie mit Entschiedenheit. Aber eher um sich selbst, als um jemand anderen zu überzeugen, dachte Denny. Er sah, wie ihre magere Hand mit den abgebrochenen, schmutzigen Fingernägeln auf die zerknüllte Banknote zukroch, die auf dem Tisch lag, als gehorchte sie ihrem eigenen Willen.

»Warum soll das nichts Gutes bringen?«, fragte Denny.

»Da liegt der Tod drauf … auf Ihnen.«

Er spürte, wie sich seine Augenbrauen hoben. »Der Tod? Was meinst du damit?«

Sie löste den Blick vom Geld und schaute ihm direkt in die Augen. Sie könnte mit ihrer tiefen, dunklen Schönheit so manches Herz brechen, dachte Denny.

»Man hört so manches im Bazar.«

»Zum Beispiel?«

»Es wird ein hochgewachsener Christ kommen mit einem roten Bart, ein Fremder, der den Palast des Kalifen baut …«

Denny nickte. »Das bin ich.«

Sie blickte verzweifelt um sich, die Straße hinunter, die jetzt wie ausgestorben da lag, sie schaute hinter sich auf ihren Bruder, der geduldig und regungslos dasaß, sie schaute in die trüben Fensterscheiben der Teestube, hinter der neugierige Augen hervorschauten.

»Wir werden den Bazar nicht lebend verlassen.«

»Wie? Was meinst du?«

»Man flüstert es sich zu, alle Welt weiß es, ich habe es heute früh gehört. Der hochgewachsene Christ mit dem roten Bart wird den Bazar nicht lebend verlassen.«

Er versuchte zu lachen, aber er musste feststellen, dass seine Kehle merklich trocken war. »Das ist Unsinn«, sagte Denny und langte nach seiner Bierflasche. Sie war leer.

»Es ist die Wahrheit«, flüsterte sie.

»Aber wer will mich denn töten? Und warum?«

Sie aber wusste keine Antwort auf seine Frage.

Denny wurde plötzlich ungeduldig und knallte die leere Flasche auf den Tisch. »Wirt!«, rief er. »Wo bleiben die Drinks?«

Der alte Mann kam mit leeren Händen aus dem Laden. Jetzt lächelte er nicht mehr. Er rief dem Mädchen etwas auf Arabisch zu. Denny verstand die ersten Worte: »Pack dich, Zigeunerin!« und irgendetwas das sich auf den Eirisch bezog. Das Mädchen lief davon, und ihr Bruder folgte ihm durch die gewundene Straße.

»Sir, Sie sollten nicht zulassen, dass man Sie ausnutzt. Man betört Sie mit fantastischen Märchen und stiehlt Ihr ganzes Geld.«

Denny sprang auf die Füße. Er zerrte die restlichen Banknoten aus der Tasche und warf sie auf den Tisch. »Das ist alles, was ich habe. Sie hätte nicht viel ergattert.«

Der Alte starrte eine Weile die Banknoten und dann Denny an. Seine Augen waren rot gerändert und blickten böse unter den weißen Brauen. »Vielleicht ist es besser, wenn Sie umkehren und diesmal nicht durch den Bazar gehen. Es ist eine schlimme Zeit mit schlechten Vorzeichen.«

Der weiß ebenfalls Bescheid! »Vielleicht hast du recht«, sagte Denny. Er trat vom Tisch zurück.

»Ihr Geld«, rief der Besitzer.

»Behalt's!«, sagte Denny, »für das Bier … und für den Hinweis.«

Er entfernte sich festen Schrittes von der Teestube, ließ den Alten einfach stehen und ging zurück durch die Straße der Schmiede. Während er über die Schulter zurückblickte, konnte er gerade noch drei finstere Gestalten erblicken, in schwarzen Dischdaschas und karierten um den Kopf geschlungenen Tüchern, die am Teehausbesitzer vorbeigingen und ihm folgten.

Selbst das übliche Hämmern der Schmiede war jetzt verstummt. Die Sonne war längst untergegangen, und entlang der schmalen Bazarstraße waren einige wenige Lampen angezündet worden. Es sah finster und unheimlich aus.

Geschieht dies alles wirklich, oder lasse ich die Legenden, die diese Stätte umranken, auf mich einwirken?, fragte sich Denny. Ich plaudere mit einem Zigeunermädchen, und dann werden meine Hände unsicher.

Doch als er zurückschaute, sah er, dass ihm die drei Männer immer noch folgten.

Warum gerade ich? Was zum Teufel geht hier vor?

Im Gehen tippte er die Nummer seines Büros auf dem Kommunikator. Der Computer antwortete, indem er rote Buchstaben auf seinen kleinen Bildschirm warf: BITTE HINTERLASSEN SIE IHREN NAMEN, UHRZEIT UND RUFNUMMER, UNTER DER SIE ERREICHBAR SIND. WIR RUFEN MORGEN FRÜH ZURÜCK.

Denny stieß einen Fluch aus, während die Nachricht auch in arabischer Schrift erschien.

Es wäre witzlos, die Ortspolizei anzurufen. Die kam nie ins Bazarviertel, sofern nicht bereits eine Leiche im Straßengraben lag.

Er beschleunigte seine Schritte und wählte die Nummer seines Vorarbeiters. Keine Antwort. Dann das Büro für Altertümer, das die Arbeiten am Palast beaufsichtigte. Wieder nur der automatische Anrufbeantworter.

Die Männer hinter ihm hatten ihre Schritte ebenfalls beschleunigt. Sie kamen näher. Und Denny stellte fest, dass sie ihn nur noch eher kriegen würden, wenn er versuchte, wieder auf die Baustelle zuzulaufen. Sie konnten ihn auf der Brücke oder auf der Baustelle umbringen. Sie konnten ihn unter seinen eigenen Mauern verscharren, und kein Mensch würde ihn jemals finden.

Er begann zu laufen, wobei ihm der Schweiß aus allen Poren drang und wählte die Nummer der Büros der Weltregierung am Platze. Die roten Buchstaben auf dem Bildschirm des Kommunikators antworteten mit JA?

Er hielt das elektronische Armband an den Mund und keuchte ins Minimikrofon: »Sicherheitsabteilung, Notdienst!«

Sofort antwortete eine tiefe männliche Stimme: »Sicherheitsabteilung.«

Zumindest ein menschliches Wesen!

»Hier Dennis McCormick von …«

Er bremste, und beinahe wäre er ausgeglitten und in einer Pfütze auf der schmutzigen Straße gelandet. Vor ihm standen drei weitere Männer und blockierten die Straße.

»Ja, Mr. McCormick?«, drang die leise Stimme von seinem Arm in sein Ohr. »Was können wir für Sie tun?«

Nichts!, durchfuhr es Denny.

Er schaute sich um und erblickte eine uralte Steintreppe, die an der Front des Hauses zu seiner Linken hinaufführte. Die Männer rannten auf ihn zu.

Denny kletterte bis aufs Hausdach und begann zu laufen. Er kam nicht weit, weil das Dach nach etwa 30 Meter an einer kahlen Mauer endete, die eines der Gewölbe stützte, welche die Straße unter ihm überspannten.

Er rannte zu der Wand, drehte sich um und sah, dass alle sechs Männer auf ihn zurasten. Das heißt wohl, dass die Straße unten frei ist. Er sprang, ohne auch nur einen Augenblick zu überlegen. Es war ein Sprung aus zwei Stockwerken Höhe, doch der Straßenschmutz war weich, und Denny rollte sich gekonnt ab, um die Heftigkeit des Aufpralls zu mindern.

Dann lief er los, aber nicht in Richtung Baustelle, sondern tiefer hinein ins Bazarviertel.

Der Alte, dachte er wütend, während er um sein Leben lief. Hat er das alles eingefädelt?

Denny tauchte in der Dunkelheit der gewundenen Straßen unter. Er konnte keinen seiner Verfolger mehr erblicken.

Wenn ich nur die Straße der Schmiede finden könnte … oder auch die Straße der Teppichhändler …

Doch die Straßen waren dunkel, und die Läden verschlossen. Weit und breit keine Menschenseele. Denny hatte noch nie erlebt, dass der Bazar geschlossen war. Die ganze Gegend sah aus, als wäre sie verlassen. Aber er wusste, dass sie alle da waren, hinter den verschlossenen Türen, sie warteten auf das Ende, sie warteten darauf, dass er sein Leben aushauchte. Und keiner würde auch nur einen Finger rühren, um ihm, dem Fremden, zu helfen, dem Mann, der zum Tode verurteilt war.

Er hätte seinen Zorn hinausschreien mögen, doch er beherrschte sich und schlich leise und vorsichtig durch die leeren Straßen.

Dann sah er die Männer, die sich in einiger Entfernung an die Wand drückten. Instinktiv rannte Denny in eine Querstraße und tauchte in den ersten dunklen Torbogen, der sich vor ihm auftat. Dann wartete er mit klopfendem Herzen.

Nun kamen sie näher, die langen Messer mit der gewellten Klinge in der Hand.

Denny glitt aus dem Torbogen und begann die Straße zurückzulaufen, aus der er gekommen war. Sein Blick schweifte über die Dächer und erhaschte noch ein kariertes Kopftuch, das langsam untertauchte, so dass er es noch deutlich sehen konnte.

Heiliger Himmel! Die sind überall!

Er zögerte, als er sich der nächsten Straße näherte, und warf einen Blick hinter sich: keiner zu sehen. Er drückte sich gegen die raue Wand und lugte vorsichtig in die Querstraße. Dieselben beiden Männer, denen er vor wenigen Augenblicken ausgewichen war, kamen auf ihn zu. Einer von ihnen schaute in die Torbögen, der andere ging schnurstracks die Straße entlang auf die Ecke zu, wo ihm Denny auflauerte. Der Araber trug ein kleines Funkgerät, das er sich ans Ohr hielt.

Denny holte tief Luft, ballte die Fäuste und wartete. Das sieht nicht nach einem Geplänkel zwischen Baustellentrupps aus, sagte er sich. Diese Männer sind gekommen, um dich zu töten.

Jetzt hatte der Araber die Straßenecke erreicht. Denny holte aus und boxte ihn in die Lenden. Der Mann heulte auf und krümmte sich. Denny hieb ihm die Faust in den Nacken, bevor der Mann zu Boden sank. Dann hob er das Messer auf.

Der zweite Mann begann schreiend auf ihn zuzulaufen. Denny hielt die Stellung, ja er trat seinem Gegner sogar einen Schritt entgegen. Der Mann blieb plötzlich einige Schritte entfernt mit gezogenem Messer stehen.

Natürlich willst du abwarten, bis deine Freunde kommen und dir helfen, die Gans zu schlachten, nicht wahr?

Mit einer Mordswut im Bauch, der er sich nicht einmal bewusst wurde, attackierte Denny den Kerl. Der Araber versuchte nach hinten auszuweichen, doch Denny zog ihm die Beine weg und versenkte das Messer in der Schulter des Mannes. Der schrie auf und ließ sein Messer fallen.

Für einen Augenblick schwebte Dennys Messer über der Kehle des Arabers. Er sah die Augen des Mannes, die von Schmerz und Angst geweitet waren.

Denny spuckte ihm ins Gesicht, nahm sein Messer und rannte über die Straße davon. Ich wollte, ich hätte genug Gälisch gelernt, um sie alle nach Strich und Faden zu verfluchen!

Er fegte blind um eine Ecke und rannte, bis er das Gefühl hatte, seine Brust müsste zerspringen. Dann hielt er an, beugte sich vor, die Hände auf den Knien – in jeder Hand ein Messer – und keuchte schwer, während er nach Atem rang.

Er blickte auf, und durch die Bögen entlang der Wand zu seiner Rechten sah er den fast vollen Mond, der am dunklen Himmel hing. Lach mich nicht aus, sagte er zu dem Mann im Mond. Hoch über ihm stieg der stets gleich helle Stern, Eiland Eins, zum Zenit hinauf.

Vielleicht gelingt es mir jetzt, einen Ruf durchzugeben …

ENDE DER LESEPROBE