Kinsman - Ben Bova - E-Book

Kinsman E-Book

Ben Bova

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Beschreibung

Im Vakuum

Schon als kleiner Junge träumt Chet Kinsman davon, Astronaut zu werden. Er will den beengten Verhältnissen, in denen er aufwächst, entkommen, und meldet sich gegen den Willen seiner Eltern zur Air Force. Dort absolviert er seine Ausbildung und wird tatsächlich ins Raumfahrtprogramm aufgenommen. Doch als er endlich sein Ziel, den Weltraum, für ihn Inbegriff von Erhabenheit, Freiheit und Frieden, erreicht hat, muss er erkennen: Auch im Orbit herrschen Gewalt und Brutalität zwischen den Menschen …

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BEN BOVA

KINSMAN

Roman

Das Buch

Schon als kleiner Junge träumt Chet Kinsman davon, Astronaut zu werden. Er will den beengten Verhältnissen, in denen er aufwächst, entkommen, und meldet sich gegen den Willen seiner Eltern zur Air Force. Dort absolviert er seine Ausbildung und wird tatsächlich ins Raumfahrtprogramm aufgenommen. Doch als er endlich sein Ziel, den Weltraum, für ihn Inbegriff von Erhabenheit, Freiheit und Frieden, erreicht hat, muss er erkennen: Auch im Orbit herrschen Gewalt und Brutalität zwischen den Menschen …

Der Autor

Titel der Originalausgabe

KINSMAN

Aus dem Amerikanischen von Gottfried Feidel

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1965, 1967, 1972, 1974, 1979 by Ben Bova

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Das Illustrat, München

Für Mark Chartrand,

Alter: 21 Jahre

Vom Rücksitz der TF-15 aus gesehen machten die Berge von Utah den Eindruck einer graubraunen, unfruchtbaren und zerknitterten Landschaft; sie sah aus wie eine alte, fadenscheinige Bettdecke, die jemand achtlos zu Boden geworfen hatte.

»Wie gefällt es Ihnen hier oben?«, fragte der Pilot.

Chet Kinsman vernahm die Stimme des Flugzeugführers wie ein körperloses Krachen, das im Kopfhörer seines Helms dröhnte. Das schrille Jaulen der Düsenmotoren, die nicht atembare, dünne Luft, die, nur wenige Zentimeter entfernt, auf der anderen Seite des Plastikglas-Kabinendachs vorbeirauschte, waren nichts weiter als Hintergrundmusik, gedämpft und unwichtig zugleich.

»Großartig!«, rief er in Richtung des pilzförmigen weißen Helms, der sich über den Sitz vor ihm wölbte.

Das Cockpit war schmal und eng. Kinsman konnte sich in seinem Sitz kaum rühren, ohne mit seinem Helm gegen das Kabinendach zu stoßen, das sie beide bedeckte. Die Riemen seines Sicherheitsgurts schnitten ihm in die Schulter, weil er sie zu fest angezogen hatte. Der Sauerstoff, den er einatmete, hatte einen kalten, metallischen Geschmack.

Aber er fühlte sich frei.

»Wie hoch können wir gehen?«, fragte er über sein Lippenmikro.

Pause – dann sagte der Pilot: »Hunderttausend Fuß, wenn man ihm die Sporen gibt. Aber dreißigtausend dürften vorerst reichen.«

Kinsman lachte in sich hinein. »Immerhin besser als ein Flugdrache oder ein Segelflugzeug.«

»He, ich mag aber diese Gleiter«, sagte der Pilot.

»Sicher. Aber das ist mit diesem da nicht zu vergleichen. Das hier ist Kraft.«

»Absolut richtig.«

Kraft und Freiheit, sechs Meilen von der müden alten Erde, sechs Meilen von allem und jedem entfernt. Das Vergnügen konnte nicht lange genug dauern.

Vor ihm lagen San Francisco und das Begräbnis seiner Mutter. Vor ihm lagen der Tod und der unversöhnliche Zorn seines Vaters.

Das Leben auf der Luftwaffenakademie war starr und kalt. Von einem Kadetten im ersten Jahr wurde erwartet, allem und jedem zu gehorchen und keine Freundschaften zu schließen, ob man nun älter oder jünger war als die anderen Kadetten. Ein reicher Pinkel, was? Hatte zwei Jahre auf einer prima Vorschule verbracht, was? Also ran, der Herr! Ich möchte vier Klimmzüge sehen, Geldsack, exakt vier!

Dennoch war dies alles noch besser, als nach Hause zu fahren.

Sein Vater hatte es abgelehnt, bei der Akademie eine Zwischenstation einzulegen, als er seine kränkelnde Frau von seinem Besitz in Pennsylvania ins Haus seiner Schwester nach San Francisco brachte. Kinsman seinerseits hatte es vermieden, Urlaub zu nehmen, um seine Mutter zu besuchen. Dafür war später noch Zeit, wenn sein Vater wieder nach dem Osten gefahren war, um seine Bankgeschäfte aufzunehmen.

Dann war sie plötzlich und unerwartet gestorben, aber sein Vater war immer noch da.

Anstatt einen Flug für eine Linienmaschine zu buchen, nahm Kinsman die Gelegenheit wahr, mit einem Kapitän der Luftwaffe mitzufliegen, der in Richtung Westen startete.

Wenn es sein muss, dachte er, soll es so schnell wie möglich geschehen.

Jetzt flog er also, und er war glücklich.

Plötzlich tauchte das Flugzeug ab, und Kinsmans Magen wurde irgendwohin über die rechte Schulter geschleudert. Der Pilot ließ das Flugzeug rollen, wobei die Flügelspitzen im leeren Luftraum volle Kreise beschrieben, während sie auf die Wüste zusteuerten, die diesmal so flach, so hart und so grau aussah wie Stahl. Kinsman musste hart schlucken und spürte, wie sein Puls in allen Teilen seines Körpers dröhnte.

»Versuchen wir mal einen Tiefflug, um einen echten Eindruck von der Geschwindigkeit zu bekommen«, sagte der Pilot.

Kinsman nickte, doch dann fiel ihm ein, dass der Pilot ihn nicht sehen konnte. »Okay. Großartig.«

In weniger als einer Minute fegten sie über die leere Wüste hinweg, mit heulenden Motoren, so schnell, dass Kinsman einzelne Felsen und Büsche nicht ausmachen konnte, nur ein trübes, verschwommenes Graubraun, das direkt unter ihnen vorbeihuschte. Das Dröhnen der Motoren füllte seinen Helm, und das ganze Flugzeug zitterte und bäumte sich auf, als strebte es zurück nach jenen lichten Höhen, zu jener klaren Luft, für die es geschaffen war.

Ihm war, als hätte er im Dunst der Hügel links unter sich einige Gebäude erblickt.

»Achtung, Straße!«

Der Steuerknüppel zwischen Kinsmans Knien schnellte in seinen Schoß zurück. Das Flugzeug stand buchstäblich auf dem Schwanz, die Nachbrenner jaulten, und für den Bruchteil einer Sekunde huschte der Aufbau einer gewaltigen Zugmaschine durch sein Blickfeld. Er spürte die Last des Todes auf seiner Brust, die ihn in seinen Sitz drückte wie auf ein Streckbett. Er konnte weder die Arme aus dem Schoß nehmen noch aufschreien. Es war schon schwer genug, Atem zu schöpfen.

Schließlich ging die Maschine in den Horizontalflug über, Kinsman aber seufzte und schluckte eine große Portion Sauerstoff.

»Diese verflixte Sonne«, bemerkte der Pilot teils ärgerlich, teils entschuldigend. »Diese verdammte Wüste sieht aus wie leergefegt, aber irgendwo kriecht allemal irgendein Laster herum, der sich im Sonnenlicht versteckt.«

»Das war ein ziemlich höllischer Ritt«, brachte Kinsman schließlich hervor.

Der Pilot kicherte. »Ich mag wetten, dass da unten irgendwo ein erschrockener LKW-Fahrer an seinem Funkgerät hängt und etwas über einen UFO-Angriff sabbert.«

Sie flogen weiter nach Westen, der sinkenden Sonne entgegen. Der Pilot überließ Kinsman für eine Weile das Steuer, während sie höher hinaufstiegen, um die heranrückenden Sierras zu überfliegen. Die zerklüfteten Bergkämme waren mit Schnee bedeckt, der bläulich und kalt schimmerte, wie die Wände der Rockies, die über der Akademie hervorlugten, dachte Kinsman.

»Du hast ein Gefühl für's Fliegen, Junge. Wirst einen guten Piloten abgeben.«

»Danke. Ich flog häufig das Flugzeug meines Vaters, einmal war es sogar seine Firmenmaschine.«

»Flugschein schon gemacht?«

»Noch nicht. Ich hoffe, ihn an der Akademie zu machen.«

Der Pilot erwiderte nichts.

»Ich möchte zum Astronautentraining, sobald ich mich dafür qualifizieren kann«, fuhr Kinsman fort.

»Wie? Zu den Astronauten? Naja … Ich fliege lieber ein Flugzeug. Diese verdammten Astronauten sind wie die Roboter. Bei diesen Raketenjockeys geht alles per Fernsteuerung.«

»Doch nicht alles«, protestierte Kinsman.

Er spürte, wie der Pilot den Kopf schüttelte. »Zum Teufel, ich mag wetten, dass die sogar Maschinen für's Bett haben, wenn Sie wissen, was ich meine.«

Es war ein altes Haus auf Russian Hill, anspruchslos, viktorianisch, groß genug, um im Parterre eine Hockeybahn unterzubringen. Der Blick auf die Bucht war spektakulär. Die Leute, die in diesem Teil von San Francisco wohnten, waren einflussreich genug, um sich die Aussicht nicht durch neue Bürohochhäuser und Hoteltürme verbauen zu lassen.

Neal McGrath öffnete die Tür für Kinsman. Sein normalerweise abweisender Gesichtsausdruck wich einem süßsauren Lächeln.

»Hallo, Chet.«

»Neal. Ich habe nicht erwartet, dass du da bist.«

»Er brauchte jemanden, der nach dem Rechten sieht. Es hat ihn ziemlich hart getroffen.«

McGrath erinnerte Kinsman oft an einen Leibwächter, einen hochgewachsenen, breitschultrigen, rothaarigen Wikinger, der seinem Herrn stets zur Seite stand, um ihn vor Mordanschlägen zu schützen. Seine eisblauen Augen waren viel älter als er selbst. Er war kaum 20 Monate älter als Kinsman, doch sein argwöhnischer Blick und seine gutturale Stimme verliehen ihm einen Anflug von innerer Erfahrung und Vorsicht, die die meisten Leute davon abhielt, ihm zu vertrauen und sich auf ihn zu verlassen.

Kinsman kannte ihn seit jener Zeit, als McGrath als Zehnjähriger dem Gärtner beim Rasenmähen geholfen hatte. Nun hatte McGrath eine Schlüsselposition bei seinem Vater eingenommen und galt als Kandidat für einen der Familiensitze im Repräsentantenhaus. Alle Welt wusste, dass er eines Tages Senator werden würde.

Kinsman trat aus dem hellen Sonnenlicht in das abgedunkelte Foyer des alten Hauses und fragte:

»Wo ist sie?«

»Da drin.« McGrath zeigte auf eine große, eichene Flügeltür, die bis an die Decke reichte.

Kinsman stellte seine Flugtasche auf den Marmorboden. »Ist mein Vater …«

»Er ist oben und macht ein Nickerchen. Der Arzt versucht, ihn so ruhig wie möglich zu halten.«

McGrath bückte sich, um Kinsmans Tasche aufzuheben. »Oben ist ein Zimmer gerichtet – wie lange gedenkst du zu bleiben?«

»Wann ist die Beerdigung?«

»Morgen.«

»Ich werde gleich nachher abreisen.«

»Ein Großteil der Familie wird vom Osten eingeflogen. Sie möchten dich gleich nach der Beerdigung sehen.«

Kinsman schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht bleiben.«

»Wenn es um Angelegenheiten geht, die die Akademie betreffen, könnte ich ja mal anrufen …«

»Nein, Neal, bitte nicht.«

McGrath zuckte die Schultern und ging auf das geräumige Treppenhaus aus dunklem Holz zu, während seine Schritte auf dem kühlen Marmorboden in dem Raum widerhallten.

Kinsman ging zur Flügeltür. Gleich neben der Tür hing ein Spiegel, in dem er seine Gestalt und sein Gesicht erblickte. Seine Mutter hätte ihn nicht wiedererkannt. Die blaue Uniform ließ ihn schlanker erscheinen denn je und auch viel größer, obwohl er nicht so groß gewachsen war, wie er es sich als Kind gewünscht hatte. Sein Gesicht war hager, sein dunkles Haar kurz geschnitten, und die blauen Augen trübe vor Schlaflosigkeit. Sein langes Kinn war stoppelig. Seine Mutter hätte darauf bestanden, dass er auf sein Zimmer ging und sich rasierte.

Er schob die Türflügel auseinander und betrat den Raum, der einst eine Bibliothek gewesen sein mochte oder ein Salon jener Art, in dem die Damen einer verblichenen Generation den Tee nahmen.

Jetzt war es bereits zu dunkel, um die Wände deutlich zu erkennen. Die hohen Fenster waren von dunklen Vorhängen verhüllt. Das einzige Licht im Raum brannte an der Bahre. Da lag Kinsmans Mutter, in weißen Satin gebettet, die Augen friedlich geschlossen, die Hände über einem himmelblauen Gewand gefaltet.

Zunächst erkannte er sie nicht. Der Krebs hatte so viel von ihrem Fleisch weggefressen, dass sich nur eine dünne Haut über ihr Gesicht spannte. Alle Fülle ihres Mundes und ihrer Brauen waren dahin. Sie war nur mehr ein Schatten ihrer selbst, jener Frau, die er einst gekannt.

Ihre Haut sah wächsern und unwirklich aus. Sie ist so winzig. Ich habe nie gewusst, dass sie so klein ist.

Er kniete auf den kleinen hölzernen Betschemel vor dem Katafalk nieder, musste aber feststellen, dass er nichts zu sagen hatte. In seinem Innern spürte er eine absolute Leere: keine Trauer, kein Schuldgefühl, nichts. Aber in Gedanken hörte er ihre Stimme wie früher:

Chester, du kommst augenblicklich von dem Baum herunter, bevor du dir was antust!

Ja, Mama.

Du könntest eine große Karriere als Konzertpianist machen, Chester, wenn du nur fleißig üben würdest, anstatt dich auf diese lächerliche Art fürs Fliegen zu begeistern.

Natürlich, Mama.

Ich wünschte, du würdest mehr Respekt vor deinem Vater haben. Er ist stolz auf das, was er erreicht hat, und möchte dich daran teilhaben lassen.

Ich will's versuchen, Mutter. Ich will's versuchen.

Wenn ich das da unterschreibe, Chester … Wenn ich zulasse, dass du zur Luftwaffe gehst, so wird dein Vater mehr als verärgert sein.

Ich muss fort von ihm, Mutter. Das ist der einzig mögliche Weg. Ich werde mich für das Astronautentraining bewerben. Du wirst sehen, es wird alles gut gehen. Eines Tages wird er stolz auf mich sein.

»Nun bist du endlich da.«

Kinsman wandte den Kopf und erblickte die hochgewachsene, strenge Gestalt seines Vaters im Türrahmen.

Er stand langsam auf. »Ich bin gekommen, so schnell ich konnte.«

»Nicht schnell genug«, meinte sein Vater, während er die Türflügel hinter sich schloss.

Kinsman holte tief Luft. Sie hatten in Gegenwart seiner Mutter so manchen Strauß ausgefochten. Er war ein Narr zu glauben, dass es heute anders wäre.

»Es … sie ist so schnell von uns gegangen«, sagte er.

Sein Vater ging langsam auf ihn zu. »Schließlich und endlich ja. Die Ärzte meinten, es sei eine Gnade gewesen. Aber sie hat monatelang gelitten. Sie wollte dich sehen. Du hättest ihre Schmerzen lindern können.«

Er merkte ganz plötzlich, dass sein Vater alt geworden war und seinerseits Schmerzen litt. Das Haar des alten Mannes war schlohweiß geworden, keine Spur von der früheren Haarfarbe. Seine Augen hatten ihren Glanz verloren.

»Ich habe mit ihr am Telefon gesprochen«, sagte Kinsman und wusste, dass sich seine Entschuldigung schwach und defensiv anhörte. »Fast jeden Abend …«

»Du hättest hier sein müssen, wo du hingehörst.«

»Die Luftwaffe war anderer Meinung.«

»Die Luftwaffe! Dieser schwachsinnige Haufen professioneller Killer!«

»Das stimmt nicht, und du weißt es genau.«

»Ich hätte jeden der vier US-Senatoren dazu bewegen können, dich von deiner kostbaren Akademie loszueisen! Aber nein, du warst viel zu sehr beschäftigt, um hierherzukommen und deiner Mutter die letzten Erdentage zu erleichtern.«

»Keiner von uns konnte wissen, dass ihr Ende so nahe war.«

»Sie war in Not!« Die Stimme des alten Mannes wurde lauter und füllte den fast leeren Raum mit einem harten, zornigen Widerhall.

»Ich konnte nicht kommen«, beteuerte Kinsman.

»Warum nicht?«

»Weil ich dich nicht sehen wollte!«, rief er.

Wenn diese Äußerung seinen Vater überrascht hatte, ließ sich der alte Herr nichts anmerken. Er nickte nur. »Du meinst wohl, du konntest mir nicht in die Augen schauen.«

»Nenne es, wie du willst.«

»Das war's wohl. Hinter meinem Rücken herumschleichen, deine Mutter zu bewegen, diese Papiere zu unterzeichnen, damit du zur Luftwaffe kannst. Der einzige Sohn der prominentesten Quäkerfamilie in Pennsylvania geht zur Luftwaffe! Dorthin, wo er das Killerhandwerk erlernen kann!«

»Ich will keinen umbringen«, erwiderte Kinsman. »Ich bereite mich auf den Astronauteneinsatz vor …«

»Du tust, was sie dir sagen. Du hast deine Seele verkauft, als du diese Uniform angelegt hast. Wenn man dir sagt, du musst töten, dann wirst du töten. Du wirst Städte bombardieren und unschuldige Menschen vernichten. Du wirst Napalmbomben auf Kinder werfen, sooft es dir befohlen wird.«

»Damit will ich nichts zu tun haben!«

»Mein einziges Kind, ein Krieger, ein Killer. Kein Wunder, dass deine Mutter gestorben ist. Du hast sie umgebracht.«

Kinsman spürte feurige Wellen, die seinen Körper durchfluteten. Trotz des Schmerzes, den er empfand, sagte er: »Es ist gemein, mir sowas zu sagen …«

»Es ist die Wahrheit. Du hast sie umgebracht. Sie würde noch leben, wenn das mit dir nicht gewesen wäre.«

Der Schmerz, der ihn durchflutete, war zuviel für ihn. Er stemmte die Fäuste in die Seite, rannte an seinem Vater vorbei und fegte aus dem Zimmer, aus dem Haus, hinaus in die Sonne, hinaus unter den klaren, blauen Himmel, den er weder erblickte noch empfand.

Als er merkte, dass es dunkel wurde, fand er sich in Berkeley wieder. Er war stundenlang gelaufen und war dann, ohne zu überlegen, in einen dieser Züge eingestiegen, die durch einen Tunnel unter der Bucht dahinrasten.

Er saß in einer Bar. Das Schild am Fenster verkündete, es sei ein Café, doch der einzige Kaffee, den er bekommen konnte, war mit irischem Whisky versetzt. Kinsman holte sich ein kaltes Bier und beobachtete durch den Spiegel hinter der Bar ein Mädchen mit einer Gitarre, das ein Lied sang.

Bube, Dame, König As,

Fingerzittern ist kein Spaß.

Rausch und Drogen sind viel mehr,

holt doch gleich den Dealer her.

Durch die große Frontscheibe des Cafés konnte Kinsman beobachten, wie sich die Abendschatten über die Straßen von Berkeley senkten. Studenten, Spaziergänger und Passanten schlenderten über den Gehsteig, die meisten von ihnen in schäbigen Jeans oder in ausgebleichter Khakimontur. Kinsman fühlte sich in seiner fabrikneuen himmelblauen Uniform fast fehl am Platz. Während er zusah, wie sich die Nacht über die Dächer senkte und die Lichter der Bay Bridge einen blinkenden Bogen über das Wasser spannten, wurde ihm bewusst, dass er den größten Teil seines Lebens in Einsamkeit verbracht hatte. Er hatte kein Zuhause. Die Akademie war kalt und unfreundlich. Es gab keinen Platz in dieser Welt, den er sein eigen nennen konnte. Und tief in seinem Innern wusste er, dass seine Seele ebenso verschlossen und leer war wie die seines Vaters. Ich werde eines Tages aussehen wie er, dachte Kinsman, wenn ich nur lange genug lebe.

Nie kannst du dem Rausch entgehen,

nie nach etwas Bessrem streben.

Dieses Leben ist famos,

nie wirst du den Dealer los.

Sie hat eine einschmeichelnde Stimme, dachte er. Wie eine Silberglocke. Wie das Wasser in der Wüste.

Es war eine faszinierende Stimme, die ihn überall hin verfolgte. Und ihr Gesicht, von langem, nachtschwarzem Haar umrahmt, wirkte fein gegliedert und asketisch durch die dunklen Augen. Sie saß auf einem hohen Stuhl, unter einem einsamen Spotlicht, die schlanken Beine in den Blue Jeans gekreuzt, während die Gitarre auf ihren Knien ruhte.

Er saß schweigend da, wobei es ihn drängte, zu ihr hinzugehen, sich vorzustellen, ihr einen Drink anzubieten und ihr zu sagen, wie sehr ihn ihr Gesang erfreute. Doch bevor er sich noch aufrappeln konnte, stürmte ein Dutzend junger Leute in seinem Alter das Lokal. Die Sängerin, die gerade geendet hatte, lächelte und begrüßte sie. Die Gruppe aber umschwärmte sie und nahm sie in ihre Mitte.

Kinsman wandte seine Aufmerksamkeit seinem Bier zu, das langsam warm wurde. Bis er sein Glas ausgetrunken hatte, hatten die Studenten ein paar Tische zusammengeschoben und bestellten lautstark eine Menge Getränke vom Sacred Cows bis zu Seven-up. Die Sängerin war verschwunden, und draußen war es Nacht.

»Bist du allein?«

Kinsman blickte verwundert auf. Sie war's.

»Och … ja.« Er schob den Barhocker umständlich zurück und stand auf.

»Warum kommst du nicht zu uns rüber?«, sagte sie und zeigte auf die Studentengruppe.

»Natürlich. Großartig. Herzlich gern.«

Sie war groß genug, um Kinsman bis zu den Augen zu reichen, und so schlank und biegsam wie eine Gerte. Sie trug einen langärmeligen schwarzen Pullover über den verwaschenen Jeans.

»He, ihr alle, dies ist …« Sie wandte sich mit einem kleinen erwartungsvollen Lächeln nach ihm um. Die anderen hörten auf zu reden und blickten zu ihm auf.

»Kinsman«, sagte er. »Chet Kinsman.«

Irgendwer zauberte zwei Stühle aus der Menge, und plötzlich saß Kinsman zwischen der Sängerin und einem pausbäckigen blonden Mädchen, das sich gerade einen Joint drehte.

Kinsman fühlte sich unbehaglich. Alle starrten ihn wortlos an, bis auf die Blondine. Diese verdammte Uniform, sagte er zu sich. Ebenso gut hätte er einen Sack mit der Aufschrift SPION tragen können.

»Ich heiße Diane«, sagte die Sängerin, als die einzige Bedienung der Bar ein frisches Bier vor ihn hinstellte. »Und das da sind Shirl, John, Carl, Eddie, Dolores …« Sie deutete auf die Tischrunde, Kinsman aber hatte ihre Namen schon vergessen, sobald sie verklungen waren, bis auf Diana.

Sie beäugten ihn immer noch argwöhnisch.

»Bist du bei der Nationalgarde?«

»Nein«, sagte Kinsman. »Luftwaffen-Akademie.«

»Willst du Flieger werden?«

»Ein fliegendes Ferkel«, sagte die Blonde zu seiner Linken.

Kinsman schaute sie an. »Ich möchte zum Astronautentraining.«

»Ein Kreisbahn-Ferkel«, murmelte sie.

»Sowas sagt man doch nicht.«

»Sie ist verärgert«, erklärte Diana. »Wir alle sind heute ein bisschen auf hundertachtzig.«

»Warum?«

»Die Demonstration wurde abgeblasen«, sagte einer aus der Runde. »Dieser verdammte Bürgermeister hat uns im Stich gelassen.«

»Was für eine Demonstration?«

»Das weißt du nicht?« Es klang wie ein Vorwurf.

»Nein. Sollte ich?«

»Du willst wirklich sagen, dass du nicht weißt, was morgen für ein Tag ist?«, fragte ein bebrillter Jüngling über den Tisch hinweg.

»Morgen?« Kinsman war bestürzt.

»Kent State.«

»Es ist der Jahrestag.«

»Sie haben ein Dutzend Studenten niedergemäht.«

»Die beschissene Nationalgarde.«

»Sie haben sie umgebracht!«

»Aber das liegt schon Jahre zurück«, sagte Kinsman.

Alle starrten ihn tadelnd an.

»Wir werden es diesen elenden Hunden schon zeigen«, sagte ein bissiger, reizbarer kleiner Kerl, der ein paar Stühle weiter unten am Tisch saß. Eddie?, versuchte sich Kinsman zu erinnern. Der Bursche sah zart und zerbrechlich aus, doch auf seinem Gesicht lagen Zornesfalten, und seine Lippen waren zusammengepresst. Die gewaltige Intelligenzbrille ließ seine Augen riesig und grimmig erscheinen.

»Richtig«, versetzte das einzige dunkelhäutige Mitglied der Gruppe. »Die können unseren Protestmarsch nicht mir nichts, dir nichts abblasen.«

»Nicht, nachdem sie ihr Wort gegeben haben, dass wir dürfen.«

»Wir werden morgen diesen verdammten Campus auseinandernehmen!«

»Wozu soll das gut sein?«, hörte sich Kinsman fragen.

»Was soll das heißen?«

»Ich meine«, fuhr Kinsman in der Absicht fort, sie etwas von der eigenen Feindseligkeit spüren zu lassen, »was wollt ihr damit erreichen? Ihr wollt den Campus auseinandernehmen, welch eine Leistung! Wo soll das hinführen?«

»Du hast eben keine Ahnung«, schnappte Eddie.

»Und du noch weniger.«

»Du begreifst immer noch nicht«, warf Diane ein. »Wir müssen irgendwas unternehmen. Wir können es nicht einfach hinnehmen, dass sie unseren Protestmarsch abblasen, ohne irgendwie darauf zu reagieren.«

»Ich würde mich an den Gouverneur wenden, oder an einen meiner Senatoren. Man geht nicht zum Hänschen, sondern zum Hans.«

Alle lachten, bis auf Eddie, der noch finsterer vor sich hinblickte.

»Du hast ja keinen Schimmer, wie die Politik funktioniert, was?«, fragte Eddie.

Jetzt hab ich dich! »Nun gut«, erwiderte Kinsman langsam, »einer meiner Onkel ist US-Senator. Mein Großvater Gouverneur von Pennsylvania, und viele andere Familienmitglieder sind im öffentlichen Dienst. Ich habe bei politischen Kampagnen mitgemacht, seit ich alt genug war, ein Plakat zu tragen.«

Es wurde still, als wäre ein Aussätziger in ihren Kreis getreten.

»Gütiger Himmel«, sagte schließlich einer der Jungs. »Er gehört wirklich zum Establishment!«

»Eure Art Politik ist nichts für uns«, meinte Diane. »Das Establishment würde nicht auf uns hören.«

»Wir müssen für unser Recht kämpfen!«

»Wir müssen demonstrieren.«

»Wir müssen das Feuer mit Feuer bekämpfen.«

»Wir müssen handeln!«

»Scheiße«, schnappte Kinsman. »Ihr tut nichts weiter, als der Polizei einen Grund liefern, um euch zu vertrimmen, wenn's reicht. Gewalt zeugt stets Gewalt, Druck erzeugt Gegendruck.«

Der Abend zog sich in die Länge, das Streitgespräch ebenfalls. Man beschwor sich gegenseitig, trank, rauchte und redete sich die Köpfe heiß, bis schließlich alle heiser waren. Kinsman musste feststellen, dass er an all dem Gefallen fand und sich köstlich amüsierte. Diane erhob sich alle Stunden, um für die Gäste zu singen, doch jedes Mal, wenn sie geendet hatte, kam sie wieder und setzte sich zu ihm.

Die Schlacht tobte weiter. Schließlich machte die Bar zu, und Kinsman erhob sich leicht schwankend mit Pudding in den Knien. Doch er folgte ihnen durch eine der dunklen Straßen von Berkeley auf die Bude, vier knarrende Außentreppen hinauf, gestikulierend, argumentierend, einer gegen alle. Diane aber war die ganze Zeit bei ihm.

Schließlich löste sich die Gesellschaft auf, und einer nach dem anderen verließ die Wohnung. Kinsman fand sich auf dem nackten Holzboden wieder, auf halbem Weg zwischen Spülstein und einem offenbar neuen Wasserbett, während er im Sitzen einen Vortrag hielt.

»Schaut, mir gefällt die Sache ebenso wenig wie euch. Doch Gewalt ist ihre Tour. Auf diese Weise könnt ihr nicht gewinnen. Nehmt den ganzen verdammten Campus auseinander, und man wird euch durch die ganze Stadt schleifen, nur um euch fertigzumachen.«

»Was also sollen wir tun?«, fragte Diane.

Kinsman zuckte umständlich die Achseln. »Nun … ihr könnt stets tun, was auch die Quäker tun. Beschämt sie. Zieht morgen in einer Gruppe raus und stellt euch im Campus auf, wo ihr am meisten auffallt. Alle miteinander … alle, die am Protestmarsch teilnehmen wollten. Stellt euch einfach hin und übt einige Stunden lang stummen Protest.«

»Das ist idiotisch«, sagte einer.

»Das ist klug und weise«, gab Kinsman zurück. »Gewaltloser Protest, der ans Gewissen rührt. Sowas zieht die Pressefotografen immer magisch an. Ein alter Quäkertrick.«

Ein Bursche mit stämmigen Schultern, breitem, fleischigem Gesicht und schielenden Augen hockte sich neben Kinsman auf den Fußboden.

»Das ist ja ein Scheißding.«

»Aber es funktioniert.«

»Weißt du, was du bist, du Luftküken? Zickezacke, Hühnerkacke!«

Kinsman zuckte die Achseln und suchte auf dem Boden nach der Bierdose, mit der er sich vorher abgeplagt hatte.

»Alle mal herhören. Ihr spuckt alle große Töne, aber ihr habt einfach Schiss davor, für eure Rechte zu kämpfen.«

Kinsman schaute auf und sah, dass nur noch Diane, die blonde Raucherin und zwei der Burschen übriggeblieben waren, und der Muskelmann, der neben ihm saß.

»Ich werde für meine Rechte kämpfen«, sagte Kinsman äußerst vorsichtig, da er merkte, dass seine Zunge nicht mehr seinem Gehirn folgen wollte. »Und ich werde auch für eure Rechte kämpfen, aber nicht auf irgendeine idiotische Art.«

»Du nennst mich einen Idioten?« Der Bursche erhob sich.

Ein Gewichtheber, schätzte Kinsman. Und er ist drauf und dran, seine Muskeln an mir zu erproben.

»Ich kenn dich nicht gut genug, um dich irgendetwas zu heißen«, meinte Kinsman.

»Na schön, dann nenne ich dich ein Küken, einen gottverfluchten verdammten Feigling, ein Muttersöhnchen.«

Kinsman richtete sich langsam auf, wobei ihm die Wand, an die er sich lehnen konnte, eine willkommene Hilfe war.

»Sir, ich werte Ihre Worte als Herausforderung und Beleidigung«, sagte er, indem er den Betrunkenen mimte, was ihm nicht besonders schwerfiel.

»Verdammt, es ist eine Herausforderung. Du bist wahrscheinlich irgend so ein verdammtes Schwein – Geheimpolizei oder so.«

»Darum trage ich wahrscheinlich diese unauffällige Uniform.«

»Wahrscheinlich, um uns einzuseifen.«

»Komm, sei kein Frosch.«

»Ich werde dir den Schädel einschlagen, Klugscheißer.«

Kinsman hob unsicher den Finger. »Jetzt halt mal die Luft an. Du hast mich herausgefordert, ja? Also habe ich die Wahl der Waffen. Zumindest ist dies nach den guten alten Duellregeln der Brauch.«

»Die Wahl der Waffen?«, sagte der Goliath verwirrt.

»Du hast mich zum Duell herausgefordert, nicht wahr? Du hast meine Ehre verletzt. Also habe ich die Wahl der Waffen.«

Der Bursche machte eine Faust, so groß wie ein Fußball. »Das ist die einzige Waffe, die ich brauche.«

»Aber es ist nicht die Waffe, die ich gewählt habe«, konterte Kinsman. »Ich glaube, ich werde Säbel wählen. Ich habe im Osten beim Säbelfechten ein paar Medaillen gewonnen. Wo können wir also zu dieser frühen Morgenstunde ein paar Säbel auftreiben …?«

Der Bursche packte Kinsman beim Hemdkragen. »Ich werde dir das verdammte Grinsen aus dem Gesicht wischen.«

»Wahrscheinlich. Aber nicht bevor ich dir beide Kniescheiben zerschmettert habe. Du hast noch nie eine Turnhalle von innen gesehen, Muskelprotz.«

»Nun ist es aber genug, ihr beiden«, schnappte Diane, während sie sich zwischen die beiden Kampfhähne drängte. Der Muskelprotz ließ von Kinsman ab.

»Du gehst besser auf deinen Platz zurück, Ray«, sagte sie mit flacher, harter Stimme. »Du wirst mir hier keinen Krawall machen, damit mich meine Wirtin hinauswirft.«

Ray wies mit seinem dicken, stumpfen Finger auf Kinsman. »Er ist ein Spitzel oder sonst was. Du darfst ihm nicht trauen.«

»Geh nach Hause, Ray. Es ist schon spät.«

»Ich kriege dich noch, Blaujacke«, sagte Ray, »dich erwisch ich noch.«

»Lass mich wissen, wenn du die Säbel aufgetrieben hast«, versetzte Kinsman.

»Halt endlich den Schnabel!«, fuhr ihn Diane an. Er aber grinste.

Sie schob den schwankenden Ray zur Tür hinaus. Die anderen gingen gleich nach ihm, und plötzlich war Kinsman mit Diane allein.

»Ich meine, ich sollte auch gehen«, sagte Kinsman innerlich bebend, jetzt, wo die Gefahr vorüber war. Oder war es der Gedanke, dass er wieder nach Hause musste, der ihn erzittern ließ?

»Wohin?«, fragte Diane.

»Zurück in die Stadt … nach Russian Hill.«

»Mein Gott, du gehörst wirklich zum Establishment!«

»Mit einem Silberlöffel im Mund geboren, oder sowas. Arm oder reich, es zahlt sich stets aus, Geld zu haben. Sie sollen Kuchen essen. Oder war es Kohle?«

»Du bist ziemlich besoffen.«

»Wieso weißt du das?«

»Nun, deine Beine tragen dich noch, doch alles andere schwankt wie ein Baum im Sturm.«

»Ich bin berauscht von deiner Schönheit … und von zehn Hektoliter Bier.«

Diane lachte. »Das letztere nehme ich dir eher ab.«

Kinsman, der nach einem Telefon suchte, fragte: »Wie kann man hier ein Taxi bekommen?«

»Jetzt kaum, nicht zu dieser Stunde. Es fährt auch keine Bahn mehr.«

»Also sitze ich hier fest.«

Sie nickte.

»Das ist Schicksal.« Kinsman sah, dass die Zimmereinrichtung aus einem Regal bestand, das mit Schallplatten vollgepfropft war, aus dem Wasserbett, aus einem Tisch mit Kunststoffplatte, zwei Holzstühlen, die nicht so recht zueinander passten, aus einem Buchstapel, der in einer Ecke lag, einigen bunten Sofakissen, die herumlagen, und aus zwei Gitarren. Und immer wieder das Wasserbett, das stets in den Vordergrund rückte.

»Wir können uns das Bett teilen«, sagte Diane.

Er spürte, dass er rot wurde.

»Hast du auch ehrliche Absichten?«

Sie lachte ihn an. »Der Zustand, in dem du dich befindest, bietet Sicherheit für uns beide.«

»Wenn du dich nur nicht täuschst.«

Aber er schlief sofort ein, sobald er in das kuschelig warme Bett gesunken war. Sein letzter Gedanke war ein geheimes Kichern, eine Art Genugtuung, dass er die Nacht nicht unter einem Dach mit seinem Vater verbringen musste.

Es war irgendwann im verträumten Licht der Morgendämmerung, als er halb wach wurde und spürte, dass sich ihr Körper an den seinen kuschelte. Sie rückten noch schlaftrunken zusammen, langsam, vorsichtig, ohne jede Hast, allein im perlgrauen Dunst, nur fühlend und empfindend, ohne die Notwendigkeit zu denken, vor sich hinmurmelnd, ohne viele Worte zu machen, sich liebend und liebkosend.

Kinsman lag auf dem Rücken und lächelte zufrieden und befriedigt zur rissigen Decke hinauf.

Diane aber streichelte über seinen flachen Bauch und meinte schlaftrunken: »Schlaf jetzt. Ruh dich aus, dann können wir wieder zusammen sein.«

So manche Stunde verging, bis sich Kinsman in der alten Badewanne geduscht und wieder in seine verschwitzte, zerknitterte Uniform gestiegen war. Er schaute in den blinden Spiegel des Badezimmers und fragte sich, was er mit seinem stoppligen Kinn anfangen sollte, als ihm Diane durch die halb offene Tür zurief:

»Kaffee oder Tee?«

»Kaffee bitte.«

Kinsman kam aus dem winzigen Badezimmer und sah, dass sie Toast gemacht und ein Glas Smuckers Traubengelee auf den Tisch am Fenster gestellt hatte. Der Teekessel stand auf dem zweiflammigen Herd, zwei angeschlagene Tassen und eine Dose mit Pulverkaffee standen daneben.

Sie saßen einander gegenüber und spülten den zähen Toast mit dem heißen, bitteren Kaffee herunter. Diane beobachtete die Leute, die unten über die Straße gingen. Kinsman aber schaute zum klaren, hellen Himmel hinauf.

»Wie lange kannst du bleiben?«, fragte sie.

»Ich muss zu einer Beerdigung … in etwa einer Stunde. Ich werde dann am Abend abreisen.«

»Och.«

»Ich muss mich morgen früh wieder in der Akademie melden.«

»Das musst du wohl.«

Er nickte.

»Aber heute Abend hast du frei?«

»Nach dem Begräbnis, ja.«

»Komm mit mir zum Campus«, sagte Diane ermunternd. »Ich werde deine Idee ausprobieren … Ich will versuchen, sie zu bewegen, sich einfach aufzustellen wie die Quäker. Du kannst uns helfen.«

»Ich?«

»Sicher! Es war doch deine Idee, nicht wahr?«

»Ja, aber …«

Sie langte über den Tisch und nahm seine freie Hand in beide Hände. »Chet … bitte. Nicht meinetwegen. Tu es für dich selbst. Ich will nicht an dich denken, wie an einen, den man aussendet, um zu kämpfen und Menschen umzubringen oder selbst getötet zu werden. Lass dich nicht zum Mörder machen.«

»Aber ich gehe doch zum Astronauten-Training.«

»Du glaubst doch selbst nicht, dass du wirklich bekommen wirst, was du dir wünschst. Man wird dich als Kanonenfutter benutzen, ebenso wie die anderen. Der Mittlere Osten, Afrika, Südamerika … Man wird dich in ein Kampfflugzeug setzen und dir befehlen, Menschen zu töten.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht …«

»Nein, du verstehst nicht«, sagte sie ernst. Kinsman sah die Leidenschaft und die Hingabe in ihren Augen. Macht sie sich wirklich solche Sorgen um mich?, fragte er sich. Plötzlich durchfuhr ihn ein Gedanke, und er stutzte. Ist er … Ist mein Vater …

»Komm mit uns, Chet«, bat sie. »Steh uns bei, hilf uns in unserem Kampf gegen das Machtgefüge. Nur für eine Stunde.«

»In dieser Uniform? Deine Freunde würden mich in der Luft zerreißen.«

»Das werden sie nicht. Es wird einen gewaltigen Eindruck machen, wenn wir einen Uniformierten dabei haben. Wir wollen versuchen, ein paar Vietnam-Veteranen zu bewegen, sich in Uniform zu zeigen.«

»Ich kann nicht«, sagte Kinsman. »Ich muss zur Beerdigung, und dann muss ich zusehen, wie ich wieder zur Akademie komme.«

»Ist das alles wichtiger als die Freiheit, wichtiger als die Gerechtigkeit?«

Er aber wusste nichts zu erwidern.

»Chet … bitte. Tu es für mich. Wenn du es deinetwegen oder für das Volk nicht tun willst, dann tu es für mich. Bitte.«

Er wandte den Blick von ihr ab und ließ ihn durch das schäbige, ungepflegte Zimmer schweifen, über die geborstene Spüle, die verblichenen Tapeten, die ungerahmten Poster, die mit Klebeband an den Wänden befestigt waren, über das Wasserbett und das zerknüllte Bettlaken, das auf den Boden herunterhing.

Er dachte an die Akademie, an die kalten, grauen Berge und an die Reihe von Uniformierten, die mechanisch über den gefrorenen Boden des Exerzierplatzes marschierten, an die entsetzlich zweckmäßigen Unterrichtsräume, die seelenlose, unpersönliche Architektur.

Und er dachte an seinen Vater: kalt, unpersönlich … Waren es Stolz und Zorn, die ihn trieben, oder war es vielleicht die Angst?

Dann wandte er sich wieder um, schaute über das Mädchen auf der anderen Seite des Tisches hinweg, wobei sein Blick erneut den Himmel streifte. Ein schief hängender Mond, bleich wie ein Gespenst, grinste ihn an.

»Ich kann nicht mit dir gehen«, sagte er ruhig und endgültig. »Irgendeiner muss für die Sicherheit der Nation sorgen, während ihr auszieht, um euer Recht zu verteidigen.«

Diane schwieg einen Augenblick, dann sagte sie: »Du versuchst, schwerwiegende Dinge auf die leichte Schulter zu nehmen.«

»Ich meine es ernst«, sagte er. »Da draußen wird es eine Menge Demonstranten geben. Aber irgendwer muss euch schützen, während ihr für eure Freiheit demonstriert.«

»Unsere eigene Regierung ist es, vor der wir uns schützen müssen!«

»Ihr werdet es schon schaffen. Nur muss ich da etwas vorsichtiger vorgehen. Es ist besser, wenn ich fliege. Wir sind da oben nicht so zahlreich vertreten.«

Diane schüttelte den Kopf. »Du bist ein hoffnungsloser Fall.«

Er aber zuckte die Achseln.

»Ich hätte dir vorgeschlagen zu bleiben … wenn du den Dienst bei der Luftwaffe quittieren wolltest.«

»Den Dienst quittieren?«

»Sofern du ein Dach über dem Kopf haben willst … oder wenn du auch nur bei mir bleiben möchtest.«

Er wollte etwas erwidern, doch sein Mund war plötzlich trocken. Er schluckte und sagte dann mit fast brüchiger Stimme: »Hör zu, Diane. Ich war noch nicht einmal ein Teenager, als der erste Mensch seinen Fuß auf den Mond setzte. Und von diesem Augenblick wollte ich selbst dort oben sein. Es gilt, neue Welten zu entdecken, und ich möchte dabei sein, möchte diese neuen Welten sehen.«

»Aber das heißt doch, dieser Welt den Rücken zu kehren!«

»Verdammt richtig.« Er rückte den Stuhl vom Tisch weg und stand auf. »Es gibt nicht viel auf dieser Welt, was einer Überlegung wert wäre. Zumindest für mich nicht.«

An der Tür drehte er sich noch einmal nach ihr um. Sie saß immer noch am Tisch. »Tut mir leid, dass ich dich enttäuscht habe. Und übrigens … vielen Dank für alles.«

Sie erhob sich, huschte leichtfüßig durch das winzige Zimmer und küsste ihn leicht auf die Lippen.

»Ganz meinerseits, General.«

Er grinste. »Zum Teufel, ich bin noch nicht einmal Leutnant.«

»Eines Tages wirst du General sein.«

»Das glaube ich kaum.«

»Heute hättest du ein Held sein können.«

»Ich bin nicht besonders heldenhaft.«

»Das bist du wohl.« Sie lächelte ihm zu. »Nur weißt du es noch nicht.«

Unrasiert stand Kinsman in seiner schäbigen Uniform bei der Trauerfeier an der Seite seines Vaters, saß während des Trauerzugs schweigend im Wagen, als sie zum Friedhof fuhren und beobachtete all die Trauergäste, die einer nach dem anderen am Sarg vorbeizogen und eine Blume auf den Sarg legten, Blumen, die seine Mutter ihr Leben lang verabscheut hatte.

Als sie in dem mit Samt ausgeschlagenen, sargähnlichen Wagen nach Russian Hill zurückfuhren, wandte sich Kinsman an seinen Vater, der mit steinernem Gesicht wortlos neben ihm saß.

»Ich weiß, dass ich dich enttäuscht habe«, sagte Kinsman mit ruhiger, sanfter Stimme, »und ich weiß auch, dass du mir nicht so gram wärst, wenn du mich nicht lieben und dich nicht um mich sorgen würdest.«

Sein Vater aber starrte unbeweglich geradeaus.

»Nun … Ich liebe dich auch, Vater.«

Der alte Herr blinzelte. Dann sagte er, ohne sich einen Millimeter seinem Sohn zuzuwenden: »Du bist unmöglich. Machst die ganze Nacht durch und tauchst hier auf wie ein Landstreicher. Je schneller du wieder verschwindest, um so besser!«

Kinsman lehnte sich in seinem Sitz zurück. Danke, Vater, sagte er zu sich. Du hast es mir immer leicht gemacht.

Neal McGrath fuhr ihn über die 101. Straße zum Marinestützpunkt, wobei er den Triumph durch das Verkehrsgewühl an schnaufenden Dieseltraktoren vorbeisteuerte.

»Bist du sicher, dass du einen Flug nach Boulder erwischst?«, fragte McGrath.

»Ganz sicher«, rief Kinsman, wobei er versuchte, den Verkehrslärm zu übertönen. »Der Bursche, mit dem ich hierher geflogen bin, sagte mir, dass er am späten Nachmittag zurückfliegt.«

McGrath schüttelte den Kopf, während er den Blinker einschaltete und vorsichtig einen Schulbus überholte.

»Die Familie wird es dir übelnehmen, dass du nicht zum Essen geblieben bist.«

»Mein Vater wird weniger enttäuscht sein. Er hat mich hinausgeworfen.«

McGrath räusperte sich. »Du weißt, dass es nicht so gemeint war.«

»Natürlich nicht.«

»Wo zum Teufel hast du die ganze Nacht gesteckt? Du siehst aus, als hättest du auf einer Parkbank geschlafen.«

»Dürfte stimmen.« Kinsman erzählte ihm von Diane und ihren Campusbrüdern, während der Triumph über die Autobahn rauschte.

»Na sowas! War sie wenigstens gut?«

»Ich kann mich nicht beklagen.«

Sie näherten sich der Abzweigung, die zum Flughafen führte, und McGrath ordnete sich rechts ein.

»Neal … Ich weiß nicht einmal ihren Familiennamen.«

»Na und?«

»Würdest du vielleicht nach ihr schauen? Vielleicht kann ihr die Familie etwas helfen … ich meine ihre Karriere als Sängerin.«

»Ich bin ein verheirateter Mann, mein Junge«, meinte McGrath grinsend.

Kinsman legte die Stirn in Falten. »Du brauchst dich nicht zu kompromittieren. Aber sie ist eine gute Sängerin. Vielleicht kann sie jemand aus der Familie unter seine Fittiche nehmen und für bessere Engagements sorgen …«

»Du willst sie wohl umfunktionieren, was? Willst du sie zu einem Lackaffen des Establishment machen?«

»Tja, warum eigentlich nicht?« Kinsman schaute auf McGrath, der vor sich hinschmunzelte. Du hast immer noch nichts begriffen, Neal.

Am späten Nachmittag, 40 000 Fuß über Sacramento Valley, die Sonne im Rücken, spürte Kinsman, wie die Sorgen und Nöte dieser Erde von ihm abfielen.

»Wie war's in Frisco?«, fragte der Pilot.

»Ich habe wenig davon gesehen«, sprach Kinsman in sein Lippenmikrophon.

»Es war ein kurzer Aufenthalt.«

»Für jeden von uns.«

Die Stimme des Piloten im Kopfhörer ging in ein leises Kichern über. »Es hat gereicht, Freund. Für manche Leute kann die Nacht sehr lang werden.«

Kinsman nickte vor sich hin.

Das Flugzeug kletterte immer höher. Kinsman beobachtete die untergehende Sonne, die immer längere Schatten über die zerklüfteten Kämme der Sierra zog.

»Sir?«, fragte er nach einer langen, nachdenklichen Pause. »Meinen Sie wirklich, dass das Astronautentraining den Menschen in einen Roboter verwandelt?«

Er konnte die Umrisse des Fliegeranzuges des Piloten und die unpersönliche weiße Kurve seines Helms sehen. Er hatte nichts Menschliches an sich.

»Hör mal zu, mein Sohn. Jede Art militärische Ausbildung zielt darauf ab, den Betreffenden in einen Roboter zu verwandeln. Das ist der Sinn der Sache.«

»Aber …«

»Aber du darfst ihnen das Vergnügen nicht gönnen«, sagte der Pilot fast genussvoll. »Bleib standhaft. Hauptsache ist, hier heraufzukommen … ihnen zu entfliehen … fliegen, nichts als fliegen. Hier oben kann man uns nichts anhaben. Hier oben sind wir frei.«

»Auf der Akademie sind sie ziemlich streng«, sagte Kinsman. »Man sieht es gern, wenn man nach ihrer Pfeife tanzt.«

»Erzähl mir was darüber. Ich selbst bin ein West-Point-Mann. Doch man kann stets auf sein Seelenheil bedacht sein, Junge. Du kannst so tun, als würdest du nach ihrer Pfeife tanzen, doch innerlich kannst du doch du selbst sein. Es ist zwar nicht leicht, aber machbar.«

Kinsman nickte vor sich hin. Er schaute nach oben, und durch das durchsichtige Kabinendach erblickte er den Mond, der eben in der Ferne am Horizont aufging. Klar und nahe stand er am dämmerigen Abendhimmel.

Ich kann es, sagte er zu sich, ich kann es schaffen.

Alter: 25 Jahre

Er flog wieder gen Westen, die Sonne im Rücken. Zwei Jahre »Friedenswache« im launischen Mittleren Osten, wo er ein Kampfflugzeug geflogen hatte, waren vergangen, ohne dass er auch nur einen Schuss abfeuern musste. Und es hatte noch fast weitere zwei Jahre gedauert, bis er schließlich fürs Astronautentraining abgestellt wurde.

Doch jetzt war Kinsman entspannt und glücklich, während er das zweistrahlige Düsenflugzeug steuerte. Monate des Trainings im komplizierten Simulator der Raumfähre lagen hinter ihm, und nun hatte er sein eigentliches Ziel vor Augen: den Einsatz im Weltraum.

Er saß auf dem rechten Sitz im kompakten Cockpit des Düsenflugzeugs. Der angebliche Pilot des Flugzeugs, Major Joseph Tenny, schien in seinem Pilotensitz eingenickt zu sein.

Weit unter ihnen lag die leere, braune Wüste von New Mexico. Sie waren bei Sonnenaufgang im Raumfahrtzentrum Johnson nach Houston gestartet und sollten zur Frühstückszeit auf der Luftwaffenbasis Vandenberg in Südkalifornien landen.

Das Flugzeug war so hübsch und so willig wie ein weibliches Wesen. Williger als die meisten, dachte Kinsman. Die leiseste Berührung des sichelförmigen Steuers ließ das Flugzeug hinabstoßen oder in Kurvenlage gehen, und das mit einer Grazie und einer Kraft, die ihm Schauer des Entzückens über den Rücken jagte.