Mars - Ben Bova - E-Book

Mars E-Book

Ben Bova

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Beschreibung

Mission zum Roten Planeten

Wir schreiben das Jahr 2020: Eine aus Astronauten und Wissenschaftlern verschiedenster Nationen bestehende Expedition macht sich auf die lange Reise zum Mars. Dort hoffen sie, auf Spuren außerirdischen Lebens zu stoßen. Doch Meteoriteneinschläge, die lebensfeindlichen Umweltbedingungen auf dem Roten Planeten und eine eigenartige Marskrankheit sowie nicht zuletzt die kulturellen Unterschiede und politische Intrigen auf der Erde bringen die Mission mehr als einmal an den Rand des Scheiterns.

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Seitenzahl: 909

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Das Buch

Jahrhundertelang galt er als der »blutige Planet«, dem magische Kräfte zugeschrieben wurden. Und auch im Zeitalter von Forschung und Wissenschaft umgeben ihn düstere Geheimnisse: den Mars. Ein Planet, der einst wie die Erde von Ozeanen bedeckt war und heute wie eine tote Welt erscheint. Aber womöglich gab es dort einmal Leben – und womöglich hat dieses Leben überdauert. Dies ist das atemberaubende Abenteuer jener fünfundzwanzig Astronauten, die sich aufmachen, um die Geheimnisse des Mars zu lüften. Es ist eine Reise über hundert Millionen Kilometer durch den Weltraum – eine Reise, die die menschliche Geschichte für immer verändern wird …

Der Autor

Ben Bova, 1932 in Philadelphia geboren, ist einer der bekanntesten Science-Fiction-Autoren unserer Zeit. Nach dem Tod von John W. Campbell jr. wurde er 1972 Herausgeber des bekannten SF-Magazins Analog Science Fact & Fiction und gewann insgesamt sechs Hugo Awards als bester Herausgeber. Daneben legte Bova auch zahlreiche Romane vor, insbesondere mit der sogenannten Sonnensystem-Reihe, zu der unter anderem Mars, Venus, Jupiter, Saturn sowie Asteroidenkrieg, Asteroidenfeuer und Asteroidensturm gehören, ist er außerordentlich erfolgreich. Bova lebt mit seiner Familie in Florida.

Mehr zu Ben Bova und seinen Romanen erfahren Sie auf:

Ben Bova

Mars

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Peter Robert

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

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Titel der amerikanischen Originalausgabe MARSTaschenbuchausgabe 6/2016Copyright © 1992 by Ben BovaCopyright © 2016 der deutschen Ausgabe und der Übersetzungby Wilhelm Heyne Verlag, Münchenin der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, Münchenunter Verwendung von shutterstock/imrüSatz: Fotosatz Amann, MemmingenISBN: 978-3-641-15509-4V001www.diezukunft.de

Für Florence und Jerry Nelson

DIE ROTE WELT UND DIE BLAUE

Hört die weisen Worte der Alten:

Die rote Welt und die blaue sind Brüder. Sie wurden gemeinsam in dem brodelnden Mahlstrom aus Staub und Gas geboren, der vom Herzen der riesigen Wolke ausging, die Vater Sonne werden sollte.

Für unermesslich lange Zeiträume versanken beide Welten in endloser Gewalt. Ungeheuer kamen brüllend aus dem Himmel herab und schlugen in einem Inferno schrecklicher Explosionen erbarmungslos auf sie ein. Unter einem solch furchtbaren Bombardement konnte es keinen festen Boden geben; selbst das Gestein bestand aus flüssigem, blubberndem Magma, während unaufhörlich Feuer aus dem Himmel regnete und die neue, strahlende Helligkeit von Vater Sonne durch Dampfwolken verdunkelt wurde, die beide Welten von Pol zu Pol bedeckten.

Langsam, ganz langsam, mit der göttergleichen Geduld der Sterne selbst, kühlten sich ihre Oberflächen ab. Festes Land bildete sich heraus, nackter Stein, hart, rau und leblos. Schlimmer als die Wüste, in der das Volk lebt; viel schlimmer. Es gab keinen Baum, keinen Grashalm, nicht einmal einen Tropfen Wasser.

Tief unter ihren Krusten waren beide Welten immer noch flüssig und heiß von der Energie ihrer gewaltsamen Erschaffung. Wasser, das unter der Oberfläche gefangen war, kochte empor, wurde von der Tiefe ausgeschwitzt wie die Tröpfchen an einem Flaschenkürbis in der Hitze des Sommers. Das Wasser verdunstete zu der dünnen Schicht der Atmosphäre, die beide neugeborenen Welten umhüllte. Kühlender Regen klatschte auf die nackten Felsen, sammelte sich zu Rinnsalen, Strömen und tosenden Sturzbächen, die die Felsen aus ihrem Weg räumten und tiefe Furchen in den Boden gruben.

Auf der größeren der zwei Welten wuchsen mächtige Ozeane heran; tiefe, felsige Becken füllten sich mit Wasser. Auf der kleineren Welt entstanden ausgedehnte, flache Seen, aber sie verdunsteten mit der Zeit in die dünne, kalte Atmosphäre oder versanken unter die Oberfläche.

Dank ihrer glänzenden, weiten Ozeane nahm die größere der zwei Welten eine tiefblaue Färbung an. Die kleinere Welt verwandelte sich langsam in eine staubige, windgepeitschte Wüste, als ihr Wasser im Boden versank. Sie wurde rostrot.

Leben entstand auf der blauen Welt, zuerst in den Meeren, später auch auf dem trockenen Land. Riesige Untiere durchstreiften Wälder und Sümpfe und verschwanden dann für immer. Schließlich kam das Volk auf die blaue Welt – der Erste Mann und die Erste Frau erschienen, standen groß und stolz im hellen Sonnenschein. Ihre Kinder vermehrten sich. Manche von ihnen machten sich Gedanken über die Welt, in der sie lebten, und über die Sterne, die die Nacht sprenkelten.

Sie hoben ihre intelligenten Augen zu dem roten Schimmer am Himmel, der ihre Bruderwelt kennzeichnete, und fragten sich, was das war. Sie beobachteten ihn aufmerksam, ebenso wie andere Sterne, und versuchten, die Himmelsmechanismen zu ergründen.

Für das Volk sprachen die Sterne von den endlosen Zyklen der Jahreszeiten, sie sagten ihm, wann es an der Zeit war, etwas zu pflanzen, und wann der Regen kommen würde. Die rote Welt interessierte sie nicht besonders. Sie nannten sie einfach nur »großer Stern«.

Die weißen Eroberer und Mörder hingegen dachten jedes Mal zitternd an Blut und Tod, wenn sie ihre blassen Augen auf den roten Schimmer am Himmel richteten, der ihre Bruderwelt kennzeichnete. Sie benannten die rote Welt nach ihrem Gott des Krieges.

Mars.

SOL 1Morgen

»Touchdown.«

Es wurde zuerst auf Russisch ausgesprochen und dann sofort auf Englisch wiederholt.

Jamie Waterman spürte nicht, wann genau sie auf der Oberfläche des Mars aufsetzten. Das Abstiegsfahrzeug sank so langsam hinunter, dass Jamie und die anderen erst merkten, dass es endlich auf den Boden aufgesetzt hatte, als die Vibration der Bremsraketen erstarb. Neben allem anderen war Wosnesenski auch ein hervorragender Pilot.

Jedes Gefühl von Bewegung hörte auf. Es war völlig still. Durch die dicke Isolation seines Druckanzugs konnte Jamie nur sein eigenes aufgeregtes Atmen hören.

Dann kam Joanna Brumados Stimme durch seinen Kopfhörer, gedämpft und ehrfürchtig: »Wir sind da.«

Vor elf Monaten waren sie noch auf der Erde gewesen, und vor einer halben Stunde noch im Orbit um den Planeten Mars. Dann kam der fürchterliche Landeanflug, bei dem sie sich rüttelnd und mit heftigen Stößen ihren Weg durch die dünne Atmosphäre gebrannt hatten, ein künstlicher Meteor, der eine flammende Spur über den leeren Marshimmel zog. Nach einer Reise von mehr als hundert Millionen Kilometern hatten sie bei diesem Abenteuer, das bereits mehr als vier Jahre ihres Lebens in Anspruch nahm, endlich ihr Ziel erreicht.

Nun saßen sie in benommenem Schweigen da, auf dem Boden einer neuen Welt, vier Wissenschaftler in unförmigen, bunten Druckanzügen, in denen sie aussahen, als wären sie von überdimensionalen Robotern lebendig verschluckt worden.

Abrupt, ohne einen Befehl aus dem Cockpit über ihnen, begannen die vier Wissenschaftler ihre Gurte zu lösen und sich steif und ungelenk von ihren Sitzen zu erheben. Jamie schob das Visier seines Helms hoch, während er sich zwischen Ilona Malater und Tony Reed durchzwängte, um zu der kleinen, runden Aussichtsluke zu kommen, dem einzigen Fenster in ihrem engen Abteil.

Er gelangte ans Fenster und schaute hinaus. Die anderen drei drängten sich um ihn. Ihre hartschaligen Druckanzüge prallten zusammen und glitten aneinander entlang, als wären sie ein Quartett unbeholfener Schildkröten, die ihre Schnäbel in ein und dieselbe winzige, lebenspendende Pfütze zu tauchen versuchten.

Draußen erstreckte sich eine rote, staubige Wüste, so weit das Auge reichte. Rostfarbene Felsblöcke lagen auf dem öden, leicht gewellten Land verstreut wie von einem unachtsamen Kind zurückgelassene Spielsachen. Der unregelmäßige Horizont schien viel zu nah zu sein. Der Himmel war von einem zarten Lachsrosa. Kleine, vom Wind geformte Dünen erhoben sich in präzisen Reihen, und an einigen der größeren Felsbrocken häufte sich der rötliche Sand auf.

Jamie katalogisierte die Szene professionell: Auswürflinge von Impakten, möglicherweise auch vulkanischen Eruptionen, aber wohl eher Meteoriteneinschlägen. Kein Grundgestein zu sehen. Die Dünen sehen stabil aus, sind wahrscheinlich seit dem letzten Staubsturm da, vielleicht noch länger.

»Der Mars«, hauchte Joanna Brumado. Ihr Helm lag praktisch an seinem, als sie durch das Fenster spähten.

»Der Mars«, pflichtete Jamie ihr bei.

»Es sieht so trostlos aus.« Ilona Malater klang enttäuscht, als hätte sie ein Empfangskomitee oder zumindest einen Grashalm erwartet.

»Genau wie auf den Fotos«, sagte Antony Reed.

Für Jamie sah die rote Wüstenwelt draußen vor dem Fenster genauso aus, wie er es erwartet hatte, nämlich wie daheim.

Das erste Mitglied des Teams, das die Landefähre verließ, war der stämmige Bauroboter. Jamie, der sich mit den drei anderen Wissenschaftlern an dem kleinen Beobachtungsfenster drängte, sah zu, wie das knollige Fahrzeug aus blaugrauem Metall auf seinen sechs weich gefederten Rädern über den staubigen roten Sand rollte und ungefähr fünfzig Meter vom Standort ihres Landers entfernt abrupt anhielt.

Während Jamie die eckige Maschine mit den unförmigen Flüssigsauerstofftanks darauf beobachtete, dachte er im Stillen: russische Konstruktion, japanische Elektronik und amerikanische Software. Genau wie alles andere auf dieser Expedition.

Zwei glänzende Metallarme entfalteten sich wie die Beine einer aufstehenden Giraffe aus der Vorderseite des Fahrzeugs und entnahmen einen formlosen Plastikhaufen aus dem großen Transportbehälter an der Seite. Der Roboter legte das Kunststoffgebilde so präzise auf dem Sand aus wie eine Großmutter, die ein Picknick-Tischtuch ausbreitet. Dann schien er innezuhalten, als wollte er das glänzende, gummiartig aussehende Material inspizieren. Langsam begann sich der leblose Kunststoff zu regen, füllte sich mit Luft aus den großen Tanks auf der Oberseite des Roboters. Der Plastikhaufen wuchs und nahm Gestalt an: eine Blase, ein Ballon, schließlich eine steife, halbkugelförmige Kuppel, die den Roboter vollständig vor ihren Blicken verbarg.

Ilona Malater drängte sich dicht an Jamie und sagte leise: »Unser Zuhause auf dem Mars.«

Tony Reed erwiderte: »Sofern es nicht leckt.«

Über eine Stunde lang sahen sie zu, wie der geschäftige kleine Roboter ihre aufblasbare Kuppel errichtete, den Rand fest im staubigen marsianischen Boden verankerte und durch eine mannshohe Klappe hinein und heraus rollte, um metallene Verstrebungen und eine komplette Luftschleusenanlage aus der Ladebucht des Landefahrzeugs zu holen und dann an der richtigen Stelle zu verschweißen.

Sie konnten es alle kaum erwarten, hinauszugehen und ihre gestiefelten Füße auf den rostroten Boden des Mars zu setzen, aber Wosnesenski bestand darauf, dass sie sich bis ins Kleinste an den Missionsplan hielten. »Die Stützkonstruktion muss abkühlen«, rief er aus dem Cockpit zu ihnen herunter, um seine Entscheidung zu begründen. »Der Kuppelbau muss erst fertiggestellt und vollständig auf Normaldruck gebracht sein.«

Wosnesenski war natürlich zu beschäftigt, als dass er mit ihnen an der Aussichtsluke hätte stehen und zuschauen können. Als Kommandant des Bodenteams war er oben im Cockpit und überprüfte sämtliche Systeme des Landers, während er dem Leiter der Mission in einem der Raumschiffe, die sich über ihnen in der Umlaufbahn befanden, und durch ihn den Flugkontrolleuren auf der über hundert Millionen Kilometer entfernten Erde Bericht erstattete.

Pete Connors, der amerikanische Astronaut und Copilot des Landers, saß neben Wosnesenski und überwachte den Bauroboter sowie die Sensoren, die Proben der dünnen Luft draußen nahmen. Nur die vier Wissenschaftler hatten Zeit, der Maschine dabei zuzusehen, wie sie das erste Wohngebäude für Menschen auf der Oberfläche des Mars errichtete.

»Wir sollten unsere Tornister umschnallen«, sagte Joanna Brumado.

»Dafür haben wir noch jede Menge Zeit«, sagte Tony Reed.

Ilona Malater gab ein boshaftes kleines Lachen von sich. »Du willst doch nicht, dass er wütend auf uns wird, nicht wahr, Tony?« Sie zeigte nach oben zum Cockpit.

Reed zog eine Augenbraue hoch und lächelte ihr zu. »Ich glaube, es wäre nicht ratsam, ihn gleich am ersten Tag zu verstimmen, oder?«

Jamie löste seinen Blick von dem hart arbeitenden Roboter, der jetzt eine zweite schwere Luftschleuse aus Metall in die gewölbte Kuppelkonstruktion einsetzte. Wortlos drängte er sich an den drei anderen vorbei und griff nach dem Tornistergerät seines Druckanzugs, das an seinem Gestell am gegenüberliegenden Schott hing. Wie die Anzüge waren auch die Tornister farbig codiert: Der von Jamie war himmelblau. Er trat rücklings davor und spürte, wie die Verschlüsse am Rücken seines Raumanzugs einrasteten. Der Anzug selbst fühlte sich steif an, wie eine neue Jeans, nur schlimmer. Es kostete echte Anstrengung, die Schultergelenke zu bewegen.

Im Jargon des Marsprojekts trug ihre Fähre die Bezeichnung L/AV: landing/ascent vehicle, Abstiegs- und Aufstiegsfahrzeug. Sie war unter dem Gesichtspunkt der Funktionalität konstruiert, nicht unter dem der Bequemlichkeit. Sie war groß, aber der Platz wurde größtenteils von geräumigen Ladebuchten eingenommen, die Ausrüstungsgegenstände und Vorräte für die sechs Forscher beherbergten. Auf der Luftschleusen-Ebene oberhalb der Ladebuchten waren die Raumanzüge und die Tornistergeräte für die Arbeit draußen untergebracht. Auf dieser Ebene gab es vier Klappsitze, aber das Abteil war Jamie schrecklich eng vorgekommen, als er zusammen mit den drei anderen Wissenschaftlern darin saß, erst recht, weil sie in ihren beschwerlichen hartschaligen Anzügen steckten. Über der Luftschleusen-Ebene befand sich das Cockpit mit dem Kosmonauten-Kommandanten und seinem Astronauten-Stellvertreter.

Wenn es sein musste, konnten die sechs Männer und Frauen tagelang in diesem Landefahrzeug bleiben. Der Missionsplan sah zwar vor, dass sie ihre Basis in der aufblasbaren Kuppel einrichteten, die der Roboter gerade baute, aber falls es darauf ankam, konnten sie im Lander überleben.

Vielleicht. Wenn sie nur noch ein paar Stunden länger in diesem engen, klaustrophobischen Abteil eingesperrt blieben, dachte Jamie, würde jemand einen Mord begehen. Auf dem neunmonatigen Flug von der Erde in den viel geräumigeren Modulen der Mutterschiffe war es schon schlimm genug gewesen. Dieses kleine Landefahrzeug würde sich rasch in ein Irrenhaus verwandeln, wenn sie mehrere Tage darin verbringen mussten.

Sie legten die Tornister im Buddy-System an, wie man es ihnen beigebracht hatte, wobei ein Wissenschaftler dem anderen half, alle Verbindungen zu den Batterien, der Heizung und dem Luftaufbereiter des Anzugs zu prüfen. Erst einmal und dann noch ein zweites Mal. Die Tornistergeräte waren so konstruiert, dass sie sich automatisch mit Anschlussbuchsen am Druckanzug verbanden, aber schon ein einziger winziger Fehler konnte draußen auf der Marsoberfläche den sicheren Tod bedeuten.

Dann überprüften sie die Anzüge selbst, von den schweren Stiefeln bis zu den erstaunlich dünnen und flexiblen Handschuhen. Was dort draußen als Luft galt, war dünner als in den höchsten Stratosphärenschichten auf der Erde, eine nicht atembare Mixtur, die hauptsächlich aus Kohlendioxid bestand. Ein ungeschützter Mensch würde bei solch einem niedrigen Druck geradezu explodieren; seine Lungen würden zerreißen, und sein Blut würde buchstäblich kochen.

»Was! Noch nicht fertig!«

Wosnesenskis tiefe Stimme knarrte. Der Russe versuchte, ihr einen halbwegs humorvollen Klang zu verleihen, aber es war klar, dass er keine Geduld mit seinen wissenschaftlichen Untergebenen hatte. Von Kopf bis Fuß von seinem flammend roten Anzug umhüllt, den Tornister wie einen Buckel hinter den Schultern, kam er mit schweren Schritten die Leiter aus dem Cockpit herunter, bereit, den Lander zu verlassen. Connors, der ihm dichtauf folgte, trug ebenfalls seinen sauberen weißen Raumanzug samt Tornister. Jamie fragte sich, welches Genie unter den Verwaltern und Psychologen daheim dem schwarzen Astronauten einen strahlend weißen Anzug zugeteilt hatte.

Jamie hatte Tony Reed geholfen, und nun wandte sich der Engländer von ihm ab und drehte sich zu ihrem Flugkommandanten um.

»Wir sind gleich fertig, Mikhail Andrejewitsch. Bitte haben Sie Geduld mit uns. Wir sind alle ein bisschen nervös, wissen Sie.«

Erst in diesem Moment kam Jamie die ungeheure Tragweite der ganzen Situation zu Bewusstsein. Sie waren im Begriff, dieses metallene Behältnis zu verlassen und ihre gestiefelten Füße auf den roten Boden des Mars zu setzen. Sie waren im Begriff, einen Traum wahr zu machen, der die Menschheit seit Anbeginn ihrer Existenz heimgesucht hatte.

Und ich bin daran beteiligt, sagte sich Jamie. Mag sein, dass es Zufall ist, aber ich bin trotzdem hier. Auf dem Mars!

»Willst du meine ehrliche Meinung hören? Es ist verrückt.«

Jamie und sein Großvater Al wanderten auf dem Kamm des bewaldeten Höhenzugs entlang, von dem aus man auf die frisch getünchte Missionskirche und die zusammengewürfelten Adobe-Häuser des Pueblos hinabschauen konnte. Der erste Schnee hatte die Berge bestäubt, und die weißen Touristen würden bald zur Skisaison eintrudeln. Al trug seinen unförmigen alten Schaffellmantel und den Hut mit der herabhängenden Krempe und dem Silbermünzenband. Jamie war es in der Morgensonne so warm, dass er bereits den Reißverschluss seiner dunkelblauen NASA-Windjacke aufgemacht hatte.

Al Waterman sah wie ein alter Totempfahl aus, groß und knochendürr. Sein kantiges Gesicht hatte die blassbraune Farbe verwitterten Holzes. Jamie war kleiner und stämmiger, hatte ein breiteres Gesicht und eine Haut von fast kupferfarbenem Braun. Die beiden Männer hatten nur eins gemeinsam: Augen, die so schwarz und tief waren wie flüssige Tinte.

»Warum ist es verrückt?«, fragte Jamie.

Al stieß eine Atemwolke aus, drehte sich um und sah seinen mit dem Rücken zur Sonne stehenden Enkel mit zusammengekniffenen Augen an.

»Die Russen schmeißen den Laden, stimmt’s?«

»Es ist eine internationale Mission, Al. Die Vereinigten Staaten sind dabei, die Russen, die Japaner und viele andere Länder.«

»Ja, aber die Russen haben weitgehend das Sagen. Sie versuchen schon seit zwanzig Jahren oder noch länger, zum Mars zu kommen.«

»Aber sie brauchen unsere Hilfe.«

»Und die der Japaner.«

Jamie nickte. »Aber ich verstehe nicht, was das damit zu tun hat.«

»Na ja, die Sache ist die, mein Sohn. Hier in den guten alten Staaten kannst du in die erste Mannschaft kommen, weil du Indianer bist – jetzt werd nicht sauer, Sonny. Ich weiß, du bist ein schlauer Geologe und so weiter. Aber dass du ein roter Mann bist, hat dir bei der NASA und den anderen Weißen von der Regierung nicht gerade geschadet, oder? Gleiche Chancen und das alles.«

Jamie merkte, dass er seinen Großvater angrinste. Al hatte einen Schmuckladen auf der Plaza in Santa Fe und nahm die Touristen schamlos aus. Er hatte nichts gegen die Anglos, hegte keine Feindseligkeit gegen sie, empfand nicht einmal Bitterkeit. Er benutzte einfach seinen Verstand und seinen Charme, um in der Welt zurechtzukommen, genau wie jeder Yankee-Händler oder Immobilienmakler in Florida.

»Okay«, gab Jamie zu, »es hat mir nicht geschadet, dass ich ein amerikanischer Ureinwohner bin. Trotzdem bin ich, verdammt noch mal, der beste Geologe, den sie haben!« Das stimmte nicht ganz, wie er wusste. Aber beinahe. Besonders für Familienangehörige.

»Klar bist du das«, stimmte sein Großvater zu, ohne eine Miene zu verziehen. »Aber die Russen werden dich in ihrem Schiff nicht bis zum Mars mitnehmen, nur weil du ein roter Mann bist. Sie werden sich einen von ihren eigenen Leuten aussuchen, und dann hast du zwei oder drei Jahre umsonst trainiert.«

Jamie rieb sich unbewusst die Nase. »Tja, kann sein. Möglich wär’s. Eine Menge guter Geologen aus anderen Ländern bewerben sich für die Mission.«

»Wozu reißt du dir dann ein Bein aus? Warum schenkst du ihnen Jahre deines Lebens, wenn die Chancen hundert zu eins gegen dich stehen?«

Jamie schaute an den dunkelgrünen Goldkiefern vorbei zu den zerklüfteten, wettergefurchten Felsen hinüber, in denen seine Vorfahren vor tausend Jahren ihre Behausungen gebaut hatten. Als er sich wieder zu seinem Großvater umdrehte, stellte er fest, dass Als Gesicht ebenso verwittert und gefurcht war wie diese Klippen. Seine Haut hatte fast das gleiche gebleichte Braun.

»Weil er mich anzieht«, sagte er. Seine Stimme war leise, aber so fest wie die Berge selbst. »Der Mars zieht mich zu sich hin.«

Al warf ihm einen verwirrten Blick zu.

»Ich meine«, versuchte Jamie zu erklären, »wer bin ich, Al? Was bin ich? Ein Wissenschaftler, ein weißer Mann, ein Navajo – ich weiß eigentlich noch gar nicht, wer ich bin. Ich bin fast dreißig Jahre alt, und ich bin ein Niemand. Nur ein x-beliebiger Assistenzprofessor, der Steine ausbuddelt. Es gibt eine Million Typen wie mich.«

»Höllisch langer Weg bis zum Mars.«

Jamie nickte. »Ich muss aber hin. Ich muss rausfinden, ob ich was aus meinem Leben machen kann. Was Echtes. Was Wichtiges.«

Ein Lächeln kroch über das ledrige Gesicht seines Großvaters, ein Lächeln, das seine Augenwinkel fältelte und seine Wangen zerknitterte.

»Na ja, jeder muss seinen eigenen Weg im Leben finden. Man muss im Gleichgewicht mit der Welt um einen herum leben. Vielleicht führt dich dein Weg bis zum Mars.«

»Ich glaube, so ist es, Großvater.«

Al legte seinem Enkel die Hand auf die Schulter. »Dann geh in Schönheit, mein Sohn.«

Jamie erwiderte sein Lächeln. Er wusste, dass sein Großvater ihn verstehen würde. Jetzt musste er es noch seinen Eltern in Berkeley beibringen.

Wosnesenski überprüfte persönlich den Raumanzug und das Tornistergerät jedes Wissenschaftlers. Erst als er zufrieden war, schob er das transparente Visier seines eigenen Helms herunter und verriegelte es.

»Endlich ist es so weit«, sagte er in fast akzentfreiem Englisch. Es klang wie die Stimmsynthese eines Computers.

Die anderen verriegelten ihre Visiere ebenfalls. Connors, der an dem schweren metallenen Lukendeckel stand, legte einen behandschuhten Finger auf den Knopf, der die Luftpumpen aktivierte. Durch die dicken Sohlen seiner Stiefel spürte Jamie, wie sie zu arbeiten begannen, und er sah, wie das Lämpchen an der Kontrolltafel der Luftschleuse von Grün zu Bernstein wechselte.

Die Zeit schien stillzustehen. Die Pumpen liefen eine Ewigkeit, während die sechs Forscher reglos und stumm in ihren bunten Raumanzügen dastanden. Da sie die Visiere herabgelassen hatten, konnte Jamie die Gesichter der anderen nicht sehen, aber er erkannte alle seine Kollegen und Kolleginnen an der Farbe ihrer Anzüge: Joanna trug Neon-Orange, Ilona leuchtendes Grün, Tony Reed Kanariengelb.

Das Vibrieren der Pumpen verebbte, während die Luft aus dem Abteil gesaugt wurde, bis Jamie nichts mehr hören konnte, nicht einmal seinen eigenen Atem, weil er vor Spannung die Luft anhielt.

Die Pumpen hörten auf zu arbeiten. Das Anzeigelämpchen an der Tafel neben der Luke wurde rot. Connors zog an dem Hebel, und der Lukendeckel öffnete sich einen Spalt. Wosnesenski stieß ihn ganz auf.

Jamie war ein wenig benommen, als wäre er zu schnell auf einen Berg gestiegen oder in der dünnen Luft der Berge ein paar Meilen weit gelaufen. Er stieß den Atem aus und sog die Anzugluft tief ein. Sie schmeckte kalt und metallisch trocken. Der Mars lag vor ihm, von der ovalen Luke umrahmt, leuchtend rosa, rot und kastanienbraun wie das trockene Hochland, in dem er die Sommer seiner Kindheit verbracht hatte.

Wosnesenski machte sich an den Abstieg auf der Leiter. Als Nächster kam Connors, gefolgt von Joanna, dann Tony, Ilona und schließlich er selbst. Wie im Traum stieg Jamie langsam die Leiter hinunter, einen gestiefelten Fuß nach dem anderen; die behandschuhten Hände glitten an den glänzenden Metallgeländern entlang, die zwischen zwei aufgefaltete Blütenblätter der Aerobremse hinabführten. Deren mit Keramik überzogene Legierung hatte die Gluthitze ihres feurigen Eintritts in die Marsatmosphäre absorbiert. Das Metallgeflecht schien jetzt völlig erkaltet zu sein.

Jamie trat von der letzten Sprosse der leichten Leiter herunter. Er stand auf dem sandigen Boden des Mars.

Er fühlte sich total allein. Die fünf menschlichen Gestalten neben ihm konnten eigentlich keine Menschen sein; sie sahen wie seltsame fremde Totems aus. Dann erkannte er, dass sie Fremde waren, genauso wie er selbst. Hier auf dem Mars sind wir alle fremde Eindringlinge, sagte sich Jamie.

Er überlegte, ob Marsianer zwischen den Felsen versteckt lagen, unsichtbar für ihre Augen, und sie beobachteten, wie rote Männer die ersten Weißen beobachtet hatten, als diese vor Jahrhunderten in ihrem Reich an Land gegangen waren. Er fragte sich, was sie gegen diese Invasion aus dem All unternehmen würden, und was die Invasoren tun würden, falls sie einheimische Lebensformen fänden.

Im Helmkopfhörer hörte Jamie, wie der russische Teamleiter sich mit dem Kommandanten der Expedition oben in dem kreisenden Raumschiff unterhielt. Seine tiefe Stimme hatte noch nie so erregt geklungen. Connors überprüfte die vorn auf dem nunmehr reglosen Bauroboter montierte Fernsehkamera.

Schließlich wandte sich Wosnesenski an seine fünf Schutzbefohlenen, die in einem Halbkreis um ihn Aufstellung nahmen. »Es ist alles bereit. Unsere nächsten Worte werden von sämtlichen Menschen auf der Erde gehört werden.«

Wie abgesprochen, standen sie mit dem Rücken zum Landefahrzeug, während sich die Kamera des Roboters auf sie richtete. Später würden sie die Kamera schwenken und die soeben errichtete Kuppel sowie die trostlose Marsebene zeigen, auf die sie den Fuß gesetzt hatten.

Wosnesenski hob eine behandschuhte Hand, fast wie ein Operndirigent, trat befangen einen halben Schritt vor und verkündete: »Im Namen von Konstantin Eduardowitsch Ziolkowski, Sergei Pawlowitsch Koroljow, Juri Alexejewitsch Gagarin und aller anderen Pioniere und Helden der Raumfahrt kommen wir in Frieden und zum Nutzen aller Völker der Menschheit zum Mars.«

Er sagte es zunächst auf Russisch und dann auf Englisch. Erst danach wurden die anderen gebeten, ihre kleinen, vorher niedergeschriebenen Ansprachen zu halten.

Pete Connors deklamierte mit dem leichten texanischen Akzent, den er sich während seiner Jahre in Houston erworben hatte: »Das ist der größte Tag in der Geschichte der menschlichen Forschung, ein stolzer Tag für alle Menschen in den Vereinigten Staaten, dem russischen Staatenbund und der ganzen Welt.«

Joanna Brumado sprach in brasilianischem Portugiesisch und danach auf Englisch. »Mögen alle Völker der Erde durch das, was wir hier auf dem Mars lernen, klüger und weiser werden.«

Ilona Malater, auf Hebräisch und dann auf Englisch: »Wir kommen zum Mars, um den menschlichen Geist zu erweitern und zu preisen.«

Antony Reed, in seinem besten ruhigen, fast gelangweilten Oxford-Englisch: »An Seine Majestät, den König, an die Menschen des Vereinigten Königreichs und des britischen Commonwealth, an die Menschen der Europäischen Gemeinschaft und der ganzen Welt – der heutige Tag ist euer Triumph. Wir fühlen zutiefst, dass wir nur eure Stellvertreter auf dieser fernen Welt sind.«

Schließlich war Jamie an der Reihe. Er war auf einmal müde, der Posen und schwülstigen Phrasen überdrüssig, erschöpft von den Jahren der Anstrengung und der Opfer. Die Erregung, die er gerade eben noch gespürt hatte, war verflogen, verdunstet. Da waren sie nun hundert Millionen Kilometer von der Erde entfernt und trieben immer noch die alten Spielchen um Nationen und Bündnisse. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand eine ungeheure Last auf die Schultern gelegt.

Die anderen drehten sich alle zu ihm um, fünf gesichtslose Gestalten in Raumanzügen mit golden getönten Visieren. Jamie sah seinen eigenen gesichtslosen Helm, fünffach gespiegelt. Die Zeilen, die vor hundert Millionen Kilometern für ihn aufgeschrieben worden waren, hatte er bereits vergessen.

Er sagte einfach nur: »Ya’aa’tey.«

ERDE

RIODEJANEIRO: Es war ein noch größeres Fest als der Karneval. Trotz der sengenden Nachmittagssonne standen die Menschen in der Innenstadt dicht an dicht, vom Teatro Municipal bis hin zu den Mosaikbürgersteigen der Avenida Rio Branco, vorbei am Praça Pio X und der prächtigen alten Candelaria-Kirche, bis hinaus auf die Avenida Presidente Vargas. Kein Wagen kam durch, nicht einmal ein Fahrrad. Die Straßen waren buchstäblich ausgelegt mit Cariocas, die Samba tanzten, schwitzten, lachten, in der Hitze taumelten und die größte spontane Freudenkundgebung zelebrierten, die die Stadt je erlebt hatte.

Sie drängten sich auf den von Bäumen beschatteten Platz, auf dem riesige Fernsehschirme vor Wohnhochhäusern mit Glasfassaden aufgestellt worden waren. Sie standen auf den Bänken des Platzes und kletterten auf die Bäume, um einen besseren Blick auf die Bildschirme zu haben. Sie jubelten und schrien und brüllten, während sie zusahen, wie die Forscher in ihren Raumanzügen einer nach dem anderen die Leiter hinunterstiegen und auf diesen öden, steinigen Wüstenboden unter dem seltsamen rosafarbenen Himmel traten.

Als Joanna Brumado ihre kurzen Worte sprach, wurde der Jubel so laut, dass die kleinen Ansprachen derjenigen, die nach ihr an die Reihe kamen, darin untergingen.

Dann begannen die Sprechchöre: »Brumado – Brumado – Bru-ma-do! Bru-ma-do! Bru-ma-do!«

In der Wohnung, die man ihm für diesen Anlass überlassen hatte, lächelte Alberto Brumado seine Freunde und Kollegen kläglich an. Mit einer Mischung aus väterlichem Stolz und Nervosität, die ihm Tränen in die Augenwinkel trieb, hatte er zugesehen, wie seine Tochter den Boden des Mars betreten hatte.

»Sie müssen hinausgehen, Alberto«, sagte der Bürgermeister von Rio. »Vorher werden sie bestimmt nicht aufhören.«

Man hatte große Fernsehgeräte in die vier Ecken des geräumigen, hohen Wohnzimmers gerollt. Nur ein Dutzend Personen waren eingeladen worden, diesen Augenblick des Triumphs mit ihrem berühmten Landsmann zu teilen, aber mehr als vierzig weitere hatten sich in den Raum gedrängt. Viele der Männer trugen Abendkleidung; die Frauen trugen ihre besten Kleider und ihren schönsten Schmuck. Später würde man Brumado und das ausgewählte Dutzend per Hubschrauber zum Flughafen und von dort nach Brasilia bringen, wo sie vom Präsidenten der Republik empfangen werden würden.

Draußen donnerten die Menschen von Rio: »Bru-ma-do! Bru-ma-do!«

Alberto Brumado war ein kleiner, schmächtiger Mann von weit über sechzig Jahren. Sein rundes Gesicht wurde von einem sauber gestutzten grauen Bart und kurzem grauem Haar umrahmt, das immer zerzaust aussah, als hätte er gerade irgendwelche anstrengenden Aktivitäten hinter sich. Es war ein freundliches, lächelndes Gesicht, auf dem nun ein Ausdruck der Verblüffung über das plötzliche, beharrliche Drängen der Menge draußen lag. Brumado war mehr an die Ruhe und Stille der Seminarräume an der Universität oder die gedämpfte Betriebsamkeit der Büros der Großen und Mächtigen gewöhnt.

Wenn die Regierungen der Industrienationen das lenkende Gehirn des Marsprojekts waren und die multinationalen Konzerne seine Muskeln, dann war Alberto Brumado das Herz der Mission. Nein, mehr noch: Brumado war ihre Seele.

Über dreißig Jahre lang war er in der Welt herumgereist und hatte den Mächtigen in den Ohren gelegen, sie sollten eine bemannte Forschungsmission zum Mars schicken. In all diesen Jahren war er zumeist auf kalte Gleichgültigkeit oder unverhüllte Feindseligkeit gestoßen. Man hatte ihm erklärt, eine Expedition zum Mars sei zu teuer, es gebe nichts, was Menschen auf dem Mars tun könnten, was nicht auch von automatischen Robotermaschinen erledigt werden könne, und der Mars könne noch ein Jahrzehnt, eine Generation oder ein Jahrhundert warten. Auf der Erde gebe es genug Probleme, die einer Lösung bedürften, sagten sie. Menschen verhungerten. Krankheit, Unwissenheit und Armut hielten mehr als die Hälfte der Welt in ihrem erbarmungslosen, eisernen Griff.

Alberto Brumado gab nicht nach. Selbst ein Kind der Armut und des Hungers, geboren in einer Hütte aus Pappkartons auf einem schlammigen, vom Regen gepeitschten Hügel mit einem guten Blick auf die noblen residências von Rio de Janeiro, hatte Alberto Brumado verbissen die staatliche Schule und das College absolviert und eine brillante Karriere als Astronom und Lehrer gemacht. Der Kampf war ihm nicht fremd.

Der Mars wurde zu seiner fixen Idee. »Mein einziges Laster«, pflegte er bescheiden über sich zu sagen.

Als die ersten unbemannten Raumsonden auf dem Mars landeten und keine Spuren von Leben fanden, behauptete Brumado hartnäckig, ihre automatisierte Ausrüstung sei zu simpel, um aussagekräftige Tests durchzuführen. Als eine ganze Reihe russischer und später auch amerikanischer Sonden Steine und Bodenproben mitbrachte, die nichts Komplexeres enthielten als simple organische Stoffe, wies Brumado darauf hin, dass sie kaum ein Milliardstel der Oberfläche jenes Planeten angekratzt hatten.

Er tauchte auf den wissenschaftlichen Kongressen und industriellen Konferenzen der Welt auf und zeigte die Marsfotos vor, auf denen riesige Vulkane, ungeheuer tiefe Grabenbrüche und Schluchten zu sehen waren, die aussahen, als wären sie von enormen Wasserfluten geformt worden.

»Es muss Wasser auf dem Mars geben«, sagte er immer wieder. »Und wo es Wasser gibt, da gibt es auch Leben.«

Er brauchte nahezu zwanzig Jahre, um zu erkennen, dass er mit den falschen Leuten sprach. Was Wissenschaftler dachten oder wollten, war irrelevant. Auf die Politiker kam es an, jene Männer und Frauen, die über die Staatsfinanzen geboten. Und auf die Bevölkerung, die Wähler, die diese Finanzen mit ihren Steuergeldern auffüllten.

Immer mehr verkehrte er in den Hallen der Macht – und in den Sitzungssälen der Konzerne, wo die Politiker vor dem Geld buckelten, das sie wählte. Er wurde zu einer Medienberühmtheit, indem er – unterstützt von talentierten Studenten mit strahlenden Augen – Fernsehshows kreierte, die die Menschen überall auf der Welt in Staunen und Ehrfurcht über das majestätische Universum versetzten, das darauf wartete, von Männern und Frauen erforscht zu werden, die an etwas glaubten, die eine Vision hatten.

Und er hörte zu. Statt den Führern und Entscheidungsträgern der Welt zu erzählen, was sie tun sollten, hörte er sich an, was sie wollten, worauf sie hofften und wovor sie sich fürchteten. Er hörte zu, stellte sich auf sie ein und schmiedete allmählich mit List und Geschick einen Plan, der ihnen allen gefallen musste.

Er stellte fest, dass jede Pressure-group, jede Organisation der Regierung, der Industrie oder der ganz normalen Bürger ihre eigenen Ziele, Bestrebungen und Ängste hatte.

Die Wissenschaftler wollten aus Neugier zum Mars fliegen. Für sie war die Erforschung des Universums ein Ziel an sich.

Die Visionäre wollten zum Mars fliegen, weil er da war. Sie betrachteten die Expansion der Menschheit in den Weltraum mit religiösem Eifer.

Die Militärs waren der Meinung, es habe keinen Sinn, zum Mars zu fliegen; der Planet sei so weit entfernt, dass er keine militärische Funktion hatte.

Die Industriellen erkannten, dass eine bemannte Marsmission als Stimulus zur Entwicklung neuer Techniken dienen würde – mit risikolosem Geld, das von der Regierung zur Verfügung gestellt wurde.

Die Vertreter der Armen beklagten sich, dass man die Milliarden, die in die Marsmission fließen würden, lieber für die Nahrungsmittelproduktion, für Wohnungen und Bildung ausgeben sollte.

Brumado hörte ihnen allen zu und begann dann, leise und ruhig mit ihnen zu sprechen, und zwar in Worten, die sie verstehen und akzeptieren konnten. In seiner Reaktion spielte er auf der Klaviatur ihrer Ängste und Träume und manipulierte sie so geschickt, dass er ihre Aufmerksamkeit auf sein Vorhaben lenkte. Er orchestrierte ihre Sehnsüchte, bis sie selbst zu glauben begannen, dass der Mars das logische Ziel ihrer eigenen Pläne und Bestrebungen sei.

Mit der Zeit begannen die Makler der Macht in aller Welt vorherzusagen, dass der Mars die erste Probe des neuen Jahrhunderts auf die Kraft, Entschlossenheit und Stärke einer Nation sein werde. Medienexperten sprachen ernste Warnungen aus, dass es für die Wettbewerbsposition eines Staates auf dem Weltmarkt kostspieliger sein könnte, nicht zum Mars zu fliegen, als es zu tun.

Staatsmänner erkannten allmählich, dass der Mars als Symbol einer neuen Ära weltweiter Zusammenarbeit bei friedlichen Unternehmungen dienen und dadurch die Herzen und Köpfe der ganzen Welt erobern konnte.

Die Politiker in Moskau und Washington, Tokio und Paris, Rio und Beijing hörten ihren Beratern aufmerksam zu und trafen dann eine Entscheidung. Ihre Berater waren Brumados Zauber erlegen.

»Wir fliegen nicht aus Stolz, des Prestiges oder der Macht wegen zum Mars«, sagte der amerikanische Präsident zum Kongress, »sondern im Geist der neuen pragmatischen Kooperation zwischen den Völkern der Welt. Wir fliegen nicht als Amerikaner, Russen oder Japaner zum Mars, sondern als Menschen, als Repräsentanten des Planeten Erde.«

Der Präsident der russischen Föderation erklärte seinem Volk: »Der Mars ist nicht nur das Symbol unseres unerschütterlichen Willens, das Universum zu erforschen und zu erobern, sondern auch das Symbol der Kooperation, die zwischen Ost und West möglich ist. Der Mars ist das Emblem für den unaufhaltsamen Fortschritt des menschlichen Geistes.«

Der Flug zum Mars würde die Krönung einer neuen Ära internationaler Zusammenarbeit sein. Nach einem Jahrhundert voller Kriege, Terrorismus und Massenmord verwandelte eine kosmische Ironie den blutroten Planeten, der nach dem Gott des Krieges benannt war, zum segensreichen Symbol friedlicher Zusammenarbeit im neuen Jahrhundert.

Für die Menschen der reichen Staaten war der Mars eine Quelle der Ehrfurcht, ein größeres Ziel als irgendetwas auf der Erde, eine neue Herausforderung, die der Jugend als Ansporn dienen und ihre Leidenschaften auf eine gesunde, produktive Weise stimulieren konnte.

Für die Menschen der armen Staaten – nun, Alberto Brumado erklärte ihnen, dass er selbst ein Kind der Armut sei, und wenn der Gedanke an den Mars ihn mit Begeisterung erfülle, warum sollten sie dann nicht ebenfalls imstande sein, den Blick über das Elend ihres täglichen Daseins zu erheben und große Träume zu träumen?

Natürlich hatte es seinen Preis. Brumado hatte die Politiker erfolgreich umworben, aber das bedeutete, dass sein geliebtes Ziel – der Mars – das Kind ihrer Ehe war. Folglich wurde die erste Expedition zum Mars nicht so durchgeführt, wie die Wissenschaftler es wollten, nicht einmal so, wie die Ingenieure und Planer der diversen nationalen Raumfahrtagenturen es wollten. Die ersten Menschen, die zum Mars flogen, taten es so, wie die Politiker es wollten: so schnell und so billig wie möglich.

Das unausgesprochene Grundprinzip der ersten Expedition lautete: erst die Politik, dann die Wissenschaft – mit weitem Abstand dazwischen. Es sollte eine ›Fahnen und Fußabdrücke‹-Mission sein, ganz gleich, wie sehr die Wissenschaftler sich wünschten, Forschung betreiben zu können.

Effizienz lag mit noch größerem Abstand auf dem dritten Rang, wie meistens, wenn politische Erwägungen an erster Stelle stehen. Den Politikern fiel es leichter, die erforderlichen Ausgaben vor sich zu begründen, wenn das Projekt schnell abgeschlossen wurde, bevor eine Oppositionspartei die Chance erhielt, an die Macht zu gelangen und sich ihren Erfolg auf die Fahnen zu schreiben. Die Eile bedeutete zwar nicht automatisch, dass alles schiefging, aber sie zwang die Administratoren, eine Mission zu planen, die alles andere als effizient war.

Hunderte von Wissenschaftlern, Kosmonauten und Astronauten wurden für das Marsprojekt rekrutiert, dazu Tausende von Ingenieuren, Technikern, Flugkontrolleuren und Verwaltungskräften. Sie verbrachten zehn Jahre mit der Planung und drei weitere mit dem Training für die Mission, die ihrerseits zwei Jahre dauern sollte. Alles, damit fünfundzwanzig Männer und Frauen sechzig Tage auf dem Mars verbringen konnten. Acht lumpige Wochen auf dem Mars, und dann wieder ab nach Hause. Das war der Missionsplan. Das war das Ziel, für das Tausende dreizehn Jahre ihres Lebens hergaben.

Für die Welt insgesamt wuchs jedoch die Spannung in Bezug auf das Marsprojekt mit jedem Monat, der verstrich, während die Auserwählten ihr Training absolvierten und die Raumschiffe auf den Startzentren in der russischen Föderation, den Vereinigten Staaten, Südamerika und Japan Gestalt annahmen. Die Welt machte sich bereit, die Hand nach dem Roten Planeten auszustrecken. Alberto Brumado war der anerkannte geistige Führer der Marsmission, obwohl er mit nichts Konkreterem als moralischer Unterstützung betraut war. Moralische Unterstützung wurde jedoch im Lauf dieser Jahre mehr als einmal dringend benötigt, als die eine oder andere Regierung vor der jahrzehntelangen finanziellen Belastung zurückscheute und aussteigen wollte. Aber keine tat es.

Brumado war schon zu alt, um selbst ins All zu fliegen. Stattdessen sah er zu, wie seine Tochter an Bord des Raumschiffes ging, das sie zum Mars bringen würde.

Jetzt hatte er zugesehen, wie sie den Boden jener fernen Welt betreten hatte, während die Menge draußen in Sprechchören ihren und seinen Namen intonierte.

Alberto Brumado ging zu den langen, sonnenbeschienenen Fenstern hinüber und fragte sich dabei, ob er das Richtige getan hatte. Als die Menge ihn erblickte, brandete frenetischer Jubel auf.

KALININGRAD: Das Kontrollzentrum der Marsexpedition war weitaus redundanter als das Raumschiff, in dem die Forscher unterwegs waren. Bei dem Raumschiff war Redundanz aus Gründen der Sicherheit erforderlich, beim Kontrollzentrum aus politischen Gründen. Im Kontrollzentrum war jede Position doppelt besetzt; jeweils zwei Personen saßen an identischen, nebeneinanderliegenden Konsolen. Die eine war für gewöhnlich ein Russe, die andere ein Amerikaner, obwohl an ein paar Konsolen auch Japaner, Engländer, Franzosen und sogar ein Argentinier saßen – mit jeweils einem Russen an ihrer Seite.

Die Männer und Frauen im Kontrollzentrum begannen gerade zu feiern. Bis zum Augenblick der Landung hatten sie steif und angespannt vor ihren Bildschirmen gesessen, doch jetzt konnten sie sich endlich zurücklehnen, die Kopfhörer abstreifen, miteinander lachen, Champagner trinken und Siegeszigarren anzünden. Selbst einige Frauen rauchten Zigarren. In einer verglasten Mediensektion hinter den Reihen der Konsolen prosteten Reporter und Fotografen einander und den Leuten vom Kontrollzentrum mit Wodka in Pappbechern zu.

Nur der Leiter des amerikanischen Teams, ein kräftiger, hemdsärmeliger Mann mit schütterem Haar, Schweißflecken in den Achselhöhlen und einer unangezündeten Zigarre zwischen den Zähnen, machte ein unglückliches Gesicht. Er beugte sich über den Stuhl der Amerikanerin, die den archaischen Titel ›CapCom‹ trug, Captain of Communications.

»Was hat er gesagt?«

Sie blickte von ihren Bildschirmen auf. »Ich weiß nicht, was es war.«

»Jedenfalls, verdammt noch mal, nicht das, was er sagen sollte!«

»Soll ich das Band noch einmal abspielen?«, fragte der Russe, der neben der jungen Frau arbeitete. Seine Stimme war sanft, aber sie schnitt durch das Stimmengewirr.

Die Frau tippte auf ihrer Tastatur, und der Bildschirm zeigte erneut die Gestalt von James Waterman, der in seinem himmelblauen Druckanzug auf dem sandigen Marsboden stand.

»Ya’aa’tey«, sagte Jamie Watermans Bild.

»Übertragungsfehler?«, fragte der Leiter.

»Auf keinen Fall«, sagte die Frau.

Der Russe wandte sich von dem Bildschirm ab und sah den Leiter durchdringend an. »Was bedeutet das?«

»Der Teufel soll mich holen, wenn ich’s wüsste«, grummelte der Leiter. »Aber wir werden es garantiert rausfinden!«

Einem jungen Fernsehreporter oben in der Mediensektion fielen die beiden Männer auf, die sich über den Sitz der CapCom beugten. Er fragte sich, warum sie so verdutzt dreinschauten.

BERKELEY: Professor Jerome Waterman und Professor Lucille Monroe Waterman hatten ihre Kurse für diesen Tag abgesagt und waren zu Hause geblieben, um zuzusehen, wie ihr Sohn seinen Fuß auf den Boden des Mars setzte. Keine Freunde. Keine Studenten oder Kollegen von der Fakultät. Ein Bataillon von Reportern lungerte draußen vor dem Haus herum, aber die Watermans wollten sich ihnen erst stellen, wenn sie die Landung gesehen hatten.

Sie saßen in ihrem behaglich unaufgeräumten, von Büchern gesäumten Arbeitszimmer und sahen sich die Fernsehbilder an. Die Jalousien waren ganz heruntergezogen, um die helle Morgensonne und die Reporter auszusperren, die sich draußen breitgemacht hatten und sie belagerten.

»Es dauert fast zehn Minuten, bis die Signale auf der Erde eintreffen«, sagte Jerry Waterman sinnierend.

Seine Frau nickte geistesabwesend, den Blick auf die himmelblaue Gestalt unter den sechs gesichtslosen Geschöpfen auf dem Bildschirm gerichtet. Sie hielt den Atem an, als Jamie endlich an der Reihe war, sein Sprüchlein aufzusagen.

»Ya’aa’tey«, sagte ihr Sohn.

»O nein!«, keuchte Lucille.

Jamies Vater grunzte vor Überraschung.

Lucille wandte sich anklagend an ihren Mann. »Jetzt fängt er schon wieder mit diesem Indianerkram an!«

SANTAFE: Der alte Al wusste immer, wie er seinen Laden gerammelt voll bekam, selbst an einem Tag wie diesem. Er hatte einfach einen Fernseher deutlich sichtbar auf ein Bord neben die Kachina-Puppen gestellt. Von überallher auf der Plaza kamen die Leute und drängten sich in seinen Laden, um Als Enkel auf dem Mars zu sehen.

»Ya’aa’tey«, sagte Jamie Waterman hundert Millionen Kilometer entfernt.

»Hee-ah!«, rief der alte Al Waterman aus. »Der Junge hat’s geschafft!«

DATENBANK

Der Mars.

Stellen Sie sich das Death Valley in seiner schlimmsten Gestalt vor. Eine unfruchtbare Einöde. Nichts als Steine und Sand. Entfernen Sie jede Spur von Leben: alle Kakteen, auch den klitzekleinsten Busch, sämtliche Eidechsen, Insekten und sonnengebleichten Knochen sowie alles, was auch nur den Anschein erweckt, als ob es einmal lebendig gewesen sein könnte.

Jetzt frieren Sie die ganze Landschaft ein. Lassen Sie die Temperatur auf rund 70 Grad unter null absinken. Und saugen Sie die Luft ab, bis nicht einmal mehr so viel da ist, wie Sie auf der Erde in dreißig Kilometer Höhe vorfinden würden.

Ungefähr so ist es auf dem Mars.

Mars ist der vierte Planet, von der Sonne aus gerechnet, und er kommt nie näher als 56 Millionen Kilometer an die Erde heran. Er ist eine kleine Welt; sein Durchmesser beträgt ungefähr die Hälfte, seine Oberflächenschwerkraft etwas mehr als ein Drittel derjenigen der Erde. Hundert irdische Kilo wiegen auf dem Mars nur achtunddreißig.

Der Mars ist als der Rote Planet bekannt, weil seine Oberfläche im Wesentlichen eine knochentrockene Wüste aus sandigen Eisenoxiden ist: rostiger Eisenstaub.

Trotzdem gibt es Wasser auf dem Mars. Der Planet hat helle Polarkappen, die zumindest teilweise aus gefrorenem Wasser bestehen. Den größten Teil des Jahres über sind sie von Trockeneis bedeckt, gefrorenem Kohlendioxid.

Der Mars ist nämlich eine kalte Welt. Seine Umlaufbahn ist etwa anderthalb mal so weit von der Sonne entfernt wie die der Erde. Seine Atmosphäre ist bei Weitem zu dünn, als dass sie die Sonnenwärme halten könnte. An einem klaren Mittsommertag kann die höchste Mittagstemperatur am marsianischen Äquator bis auf 21 Grad Celsius steigen; in der gleichen Nacht wird sie jedoch jäh auf 70 Grad unter null oder tiefer sinken.

Die Atmosphäre des Mars ist zu dünn, als dass man sie atmen könnte, selbst wenn sie aus reinem Sauerstoff bestünde. Was nicht der Fall ist: Die marsianische ›Luft‹ besteht zu über 95 Prozent aus Kohlendioxid und enthält fast 3 Prozent Stickstoff. Sie enthält eine winzige Menge Sauerstoff und noch weniger Wasserdampf. Der Rest der Atmosphäre besteht aus trägen Gasen wie Argon, Neon und so weiter, einem Hauch Kohlenmonoxid und einer Spur Ozon.

Dennoch ist der Mars der erdähnlichste der Planeten im Sonnensystem. Es gibt Jahreszeiten auf dem Mars – Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Weil er weiter von der Sonne entfernt seine Bahn zieht, ist das Marsjahr annähernd zweimal so lang wie das irdische Jahr (ein paar Minuten weniger als 689 Erdentage), und seine Jahreszeiten sind entsprechend fast doppelt so lang wie die auf der Erde.

Der Mars dreht sich fast genauso schnell um seine Achse wie die Erde. Ein Erdentag dauert 23 Stunden, 56 Minuten und 4,09 Sekunden. Ein Tag auf dem Mars ist nur geringfügig länger: 24 Stunden, 37 Minuten und 22,7 Sekunden.

Um Konfusion zu vermeiden, bezeichnen die Raumforscher den Marstag als ›Sol‹. Ein Marsjahr umfasst also 669 Sol, sowie überständige vierzehn Stunden, sechsundvierzig Minuten und zwölf Sekunden.

Gibt es Leben auf dem Mars?

Diese Frage hat den menschlichen Geist jahrhundertelang beschäftigt. Sie ist die stärkste Antriebskraft hinter unserem Bestreben, zu dem Roten Planeten zu gelangen. Wir wollen mit eigenen Augen sehen, ob es dort Leben geben kann.

Oder früher einmal gegeben hat.

Oder gibt.

SOL 2Nachmittag

Im Anschluss an ihre kleinen Ansprachen nach der Landung sammelten die Wissenschaftler als Erstes vorläufige Proben vom Gestein, dem Erdreich und der Atmosphäre des Mars.

Nur für den Fall, dass ein plötzlicher Notfall sie zwingen würde, in aller Eile wieder in ihr L/AV-Fahrzeug zu klettern und in den Orbit um den Planeten zurückzukehren, verbrachten sie ihre ersten zwei Stunden auf dem Mars damit, Steine und Bodenproben in luftdichte Behältnisse zu stecken und Fläschchen mit Luftproben zu füllen, die sie vom Boden bis in eine Höhe von zehn Metern nahmen, Letztere mithilfe einer langen, dünnen Titanstange.

Währenddessen rollte der Bauroboter über den steinigen Boden zu den drei unbemannten Frachtmodulen, die am Vortag in einem Radius von zwei Kilometern um ihren vorgesehenen Landeplatz herum gelandet waren. Geschäftig wie eine übergroße mechanische Ameise schleppte er ihre Fracht zu der aufgeblasenen Kuppel, die für die nächsten acht Wochen das Zuhause der Forscher sein würde.

Mikhail Andrejewitsch Wosnesenski, Veteran eines Dutzends Raumfahrtmissionen, saß oben im Cockpit auf dem Platz des Kommandanten und behielt sowohl die Wissenschaftler als auch den Missionsplan im Auge. Neben ihm überwachte Pete Connors den Roboter und unterhielt sich mit der Expeditionsleitung im Orbit. Obwohl beide Männer ihre Raumanzüge anbehalten hatten und bereit waren, sofort nach draußen zu stürzen, wenn ein Notfall ihre Hilfe erforderlich machte, hatten sie die Helme abgenommen.

Connors schaltete das Funkgerät aus und drehte sich zu dem Russen um. »Die Jungs oben bestätigen, dass wir nur hundertdreißig Meter von unserem geplanten Zielpunkt entfernt gelandet sind. Sie übermitteln uns ihre Glückwünsche.«

Wosnesenski ließ ein seltenes Lächeln sehen. »Wir wären noch näher herangekommen, aber die Felsblöcke weiter südlich waren zu groß.«

»Sie haben verdammt gute Arbeit geleistet«, sagte Connors. »Kaliningrad wird sich freuen.« Sein voller Bariton war in Kirchenchören ausgebildet worden. Der Amerikaner hatte ein langes, beinahe pferdeartiges Gesicht mit milchschokoladefarbener Haut und großen, sorgenvollen, rotgeränderten braunen Augen. Sein Haar war militärisch kurz geschnitten und wies das charakteristische V eines mitten über der Stirn spitz zulaufenden Haaransatzes auf.

»Sie wissen, was die alten Piloten sagen«, erwiderte Wosnesenski.

Connors schmunzelte. »Jede Landung, nach der man auf den eigenen Beinen gehen kann, ist eine gute Landung.«

»Alle Systeme funktionieren. Wir sind genau in der Zeit.« Das war Wosnesenskis Art, seine exzellente Landung herunterzuspielen. Der Russe misstraute Schmeicheleien, selbst wenn sie von einem Mann kamen, mit dem er seit fast vier Jahren zusammenarbeitete. Für gewöhnlich lag ein finsterer Ausdruck auf seinem breiten, fleischigen Gesicht. Seine himmelblauen Augen schauten immer skeptisch drein.

»Ja. Und jetzt muss das zweite Team dort landen, wo wir sind. Mal sehen, wie gut Mironow und mein alter Kumpel Abell ihre Sache machen.«

»Mironow ist sehr gut. Ein ausgezeichneter Pilot. Er könnte auf unserem Dach landen, wenn er wollte.«

Connors lachte unbekümmert. »Na, dann hätten wir aber ein höllisches Problem, nicht wahr?«

Wosnesenski zog die Mundwinkel nach oben, aber es kostete ihn offensichtlich Mühe.

Die Wissenschaftler verstauten ihre vorläufigen Proben in der Luftschleusensektion des L/AV. Bei einem Notfall würden die Luftschleusensektion und das darüberliegende Cockpit allein starten. Die untere Hälfte der Landefähre – die Ladebuchten und die Aerobremse – würde auf dem Mars bleiben. Selbst wenn ein oder mehrere Forscher zurückgelassen werden mussten, würden die kostbaren Proben zu den Expeditionsschiffen in der Umlaufbahn und von dort zu den wartenden Wissenschaftlern auf der Erde gelangen.

Nachdem diese erste Aufgabe zu Wosnesenskis Zufriedenheit ausgeführt worden war, befahl er dem Team, Vorräte in die Kuppel zu schaffen. Sie beeilten sich, um der sonderbar kleinen Sonne zuvorzukommen, die sich bereits dem westlichen Horizont näherte. Das Baufahrzeug zog die schweren Paletten mit Geräten, während die Forscher mit scheinbar übermenschlicher Kraft mannshohe, zylindrische grüne Sauerstofftanks und unförmige Kisten schleppten, die auf der Erde mehr als hundert Kilo gewogen hätten.

Jamie, der in seinem Druckanzug wie ein Hafenarbeiter schwitzte, lächelte bitter bei dem Gedanken, dass die erste Aufgabe der ersten Forscher auf dem Mars darin bestand, wie Kulis zu schuften und sich stundenlang ächzend mit schweren Lasten abzuplacken. In den Erklärungen für die Öffentlichkeit und auf den Fernsehbildern erschien alles immer so verdammt leicht, dachte er. Niemand schaut einem Wissenschaftler jemals bei der Arbeit zu – schon gar nicht, wenn er sich wie ein Pferd abrackert.

Weder er noch die anderen schenkten ihrer auf der geringen Gravitation beruhenden Stärke besondere Aufmerksamkeit. Während des etwas über neunmonatigen Fluges von der Erde waren ihre Raumschiffe an einem fünf Kilometer langen Raumseil umeinander rotiert, um den Eindruck von Schwere zu erzeugen, weil längere Perioden in der Schwerelosigkeit die Muskeln gefährlich schwächten und die mineralischen Substanzen in den Knochen abbauten. Ihre künstliche Schwerkraft hatte anfangs ein normales irdisches Ge betragen und war dann während der Monate ihres Fluges langsam auf den marsianischen Wert von ungefähr einem Drittel Ge reduziert worden. Jetzt konnten sie sich auf dem Boden des Mars normal bewegen, mit ihren auf der Erde entwickelten Muskeln aber trotzdem ungeheure Lasten heben.

Am Ende ihres langen, anstrengenden Tages begaben sie sich schließlich ins Innere der aufgeblasenen Kuppel. Die winzige Sonne färbte den Himmel feuerrot, und die Temperatur draußen betrug bereits 45 Grad unter null.

Den Messinstrumenten zufolge war die Kuppel mit atembarer Luft gefüllt; Luftdruck und Temperatur entsprachen denen der Erde. Das Thermometer zeigte genau einundzwanzig Grad Celsius.

Sie behielten jedoch alle sechs ihre Druckanzüge an und würden sie auch erst ablegen, wenn Wosnesenski entschied, dass man die Luft in der Kuppel problemlos atmen konnte. Jamies Anzug lag schwer auf seinen Schultern. Er hatte nicht mehr diesen ›Neuwagen‹-Geruch nach sauberem Plastik und unberührtem Stoff; er roch nach Schweiß und Maschinenöl. Der Luftaufbereiter im Tornistergerät tauschte zwar Kohlendioxid gegen atembaren Sauerstoff aus, aber die Filter und Miniaturlüfter im Innern des Anzugs konnten nicht alle Gerüche entfernen, die sich bei körperlich anstrengender Arbeit ansammelten.

»Jetzt kommt der Augenblick der Wahrheit«, hörte er Ilona Malaters heisere Stimme sagen. Sie klang sexy – oder vielleicht auch nur müde.

Wosnesenski hatte die letzten paar Stunden damit verbracht, die Kuppel nach Lecks abzusuchen, den Luftdruck und die Zusammensetzung der Luft zu überprüfen und an den Lebenserhaltungspumpen und Heizgeräten herumzuwerkeln, die mitten auf dem gehärteten Kunststoffboden beisammenstanden. Die anderen kamen nacheinander langsam zu ihm herüber, stapften in ihren dicken Stiefeln schwerfällig umher und warteten darauf, dass er den Befehl gab, auf den sie alle mit einer seltsamen Mischung aus Ungeduld und Furcht warteten.

Ob es ihnen passte oder nicht, Wosnesenski war der Leiter ihres Teams, und das jahrelange Training hatte sie darauf gedrillt, die Befehle ihres Anführers ohne einen Gedanken an seine Nationalität zu befolgen. Alles, was sie auf dieser gefährlich andersartigen Welt taten, würde nach den Regeln und Vorschriften geschehen, die auf der Erde gewissenhaft ausgearbeitet worden waren. Wosnesenskis erste und wichtigste Aufgabe bestand darin, dafür zu sorgen, dass sich hier auf dem Mars auch jeder an diese Regeln und Vorschriften hielt.

Jetzt wandte sich der Russe von den leise summenden Luftzirkulationsventilatoren und der Reihe der Sauerstoff-Reservetanks ab und sah, dass seine fünf Teammitglieder sich um ihn herum versammelt hatten. Es war schwierig, sein Gesicht hinter dem Helmvisier auszumachen, und seine Miene konnte man erst recht nicht erkennen. In seinem fast akzentfreien amerikanischen Englisch sagte er: »Die Anzeigen sind alle im normalen Bereich. Wir können unsere Anzüge offenbar gefahrlos ablegen.«

Jamie erinnerte sich an einen Physiker aus Albuquerque, der von einem Experiment, das nicht richtig geklappt hatte, enttäuscht gewesen war und ihm erklärt hatte: »In der Physik geht es letztlich nur darum, eine verdammte Anzeige an einem verdammten Messinstrument abzulesen.«

Wosnesenski wandte sich an Connors, seinen Stellvertreter. »Pete, der Missionsplan sieht vor, dass Sie die Luft als Erster testen.«

Der Amerikaner kicherte nervös in seinem Helm. »Ja, ich bin das Versuchskaninchen, ich weiß.«

Er stieß einen übertriebenen Seufzer aus, den sie alle in ihren Kopfhörern hören konnten. »Na, dann wollen wir mal«, sagte er.

Connors öffnete sein Helmvisier einen Spaltbreit, schnüffelte, schob das Visier dann ganz hoch und sog die Luft tiefer in die Lungen. Er grinste und fletschte die Zähne. »Verdammt viel besser als das, was da draußen ist.«

Sie lachten alle, und die Spannung löste sich. Sie schoben ihre Visiere hoch, entriegelten dann die Halsverschlüsse ihrer Anzüge und nahmen gemeinsam die Helme ab. Jamies Ohren knackten, aber das war auch schon alles.

Ilona schüttelte ihre kurzgeschnittenen blonden Locken und atmete langsam ein. Ihre schmalen Nasenflügel blähten sich. »Huh! Riecht ja wie im Trainingsmodul. Zu trocken. Schlecht für die Haut.«

Jamie schaute sich eingehend in ihrem neuen Zuhause um, nachdem sein Blickfeld nun nicht mehr durch den Helm eingeschränkt war.

Er sah die von gebogenen Metallstreben gerippte Kuppel, die sich über ihm in schattenhaftes Halbdunkel erhob, und musste daran zurückdenken, wie er als Kind in Santa Fe zum ersten Mal in einem Planetarium gewesen war. Die gleiche gedämpfte, einschüchternde Atmosphäre. Die gleiche milde, kühle Luft. Ilona fand die Luft zu trocken; er fand sie köstlich.

Die glatte Kunststoffhaut der Kuppel war von einem polarisierenden elektrischen Strom abgedunkelt worden, damit die Wärme im Innern blieb. Bei Tageslicht würde der untere Teil der Kuppel transparent werden, um die Sonnenwärme auszunutzen, aber bei Nacht war sie ein überdimensionaler Iglu, der abgedunkelt auf der gefrorenen Marsebene stand, um die Wärme zu halten und sie nicht in die dünne, eisige Marsluft entweichen zu lassen. Längliche, sonnenlicht-äquivalente Neonlampen erhellten den Bodenraum ein wenig, aber die oberen Bereiche der Kuppel waren in der Dunkelheit, die sich dort sammelte, kaum zu sehen.

Die Kuppel hatte eine doppelwandige Kunststoffhaut, die ähnlich wie bei Isolierglasfenstern die Kälte draußen halten sollte. Der oberste Teil war undurchsichtig und mit einem speziellen, dichten Kunststoff gefüllt, der schädliche Strahlung absorbieren und den Ingenieuren zufolge sogar kleinen Meteoriten standhalten konnte. Der Gedanke, die Kuppel könnte punktiert werden, war Furcht einflößend. Flicken und Klebstoff standen rundum an der Hülle bereit, aber würde die Zeit ausreichen, ein Loch zu flicken, bevor die ganze Luft ausströmte? Jamie erinnerte sich an den uralten Witz der Fallschirmpacker: »Keine Angst. Wenn der Fallschirm nicht funktioniert, tauschen Sie ihn einfach um.«

Der elektrische Strom, der die Kuppel heizte, kam aus dem kompakten Atomstromgenerator in einem der Frachtmodule. Morgen, nach der Landung des zweiten Teams, würde der Roboter den Generator herausholen und ihn einen halben Kilometer von der Kuppel entfernt im Erdreich des Mars vergraben.

Erdreich ist nicht das richtige Wort, ermahnte sich Jamie. Erdreich wimmelt von Mikroorganismen, Bodenwürmern und anderen Lebewesen. Hier auf dem Mars heißt das Regolith, genau wie der ganz und gar tote Boden auf dem ganz und gar toten Mond.

Jamie fragte sich, ob der Mars wirklich tot war. Er erinnerte sich an die Stories, die er als Junge gelesen hatte, wüste Geschichten über Marsianer, die sich in den um ihren Planeten herumlaufenden Kanälen bekriegten, hübsche Hirngespinste von schachbrettartig angelegten Städten und von Häusern, die sich drehten, um wie Blumen der Sonne zu folgen. Jamie wusste, dass es auf dem Mars keine Kanäle gab. Keine Städte. Aber war der Planet wirklich völlig leblos? Gab es nicht vielleicht doch Fossilien, nach denen man in diesem roten Sand graben konnte?

TRAININGKasachstan

Auf der Fahrt am Fluss entlang gestikulierte Juri Zawgorodny mit seiner freien Hand.

»Wie bei euch in New Mexico, nein?«, fragte er in seinem stockenden Englisch.

Jamie Waterman rieb sich unbewusst die Seite. Erst gestern hatten sie die Fäden gezogen, und der Schnitt tat immer noch weh.

»New Mexico«, wiederhole Zawgorodny. »So wie hier? Ja?«

»Nein«, hätte Jamie beinahe geantwortet. Aber die Administratoren der Mission hatten sie alle ermahnt, den Russen – und allen anderen – gegenüber so diplomatisch wie möglich zu sein.

»Irgendwie schon«, murmelte Jamie.

»Ja?«, fragte Zawgorodny über das Zischen des glühend heißen Windes hinweg, der durch die Wagenfenster wehte.

»Ja«, sagte Jamie.

Das flache braune Land, das sich jenseits des Flusses erstreckte, hatte keinerlei Ähnlichkeit mit New Mexico. Der Himmel war von einem ausgewaschenen, blassen Blau, die Wüste in jeder Richtung öde und leer. Das ist ein altes, müdes Land, sagte sich Jamie, während er die Augen gegen den ofenheißen Wind zusammenkniff. Ausgelaugt. Ausgetrocknet. Ganz anders als die lebhaften Berge und kräftigen Himmel meiner Heimat. New Mexico ist ein neues Land, rau, magisch und mysteriös. Diese langweilige Staubwüste da draußen ist uralt; sie ist von zu vielen Heeren plattgetrampelt worden, die darüber hinweggezogen sind.

»Wie der Mars«, sagte einer der anderen Russen. Seine Stimme war tief und grollend, während die von Zawgorodny so durchdringend war wie die Flöte eines Schlangenbeschwörers.

Herrje, ich hoffe, der Mars ist nicht so langweilig, sagte sich Jamie im Stillen.

Gestern war er im Bethesda Naval Hospital gewesen, wo man die Fäden seiner Blinddarmoperation gezogen hatte. Alle, die am Training für die Marsmission teilnahmen, hatten sich den Blinddarm herausnehmen lassen. Missionsvorschriften. Es hatte keinen Sinn, eine Blinddarmentzündung zu riskieren, wenn man sechzig Millionen Kilometer vom nächsten Krankenhaus entfernt war. Obwohl noch nicht entschieden war, wer tatsächlich zum Mars fliegen würde, büßten alle ihren Blinddarm ein.

»Wohin fahren wir?«, fragte Jamie. »Wohin bringen Sie mich?«

Es war Sonntag, angeblich ein Ruhetag – sogar für die Männer und Frauen, die für den Flug zum Mars ausgebildet wurden. Erst recht für einen Neuankömmling, der mit der Zeitumstellung zu kämpfen hatte und eine frische Narbe am Bauch trug. Aber die vier Kosmonauten hatten Jamie aus seinem Hotelbett geholt und darauf bestanden, dass er mit ihnen kam.

»Flughafen«, sagte der Kosmonaut mit der tiefen Stimme links neben Jamie. Er hockte auf dem Rücksitz, eingezwängt zwischen zwei schwitzenden Russen, deren Körpergeruch selbst den scharfen Duft starker Seife durchdrang. Zwei weitere nahmen die Plätze vorne ein. Zawgorodny saß hinter dem Lenkrad.

Wie eine Bande von Mafiakillern, die mich in ein Auto gezerrt haben, dachte Jamie. Die Russen lächelten einander häufig zu, unterhielten sich grinsend und zogen bedeutsam die Augenbrauen hoch. Irgendwas war los. Und sie wollten dem amerikanischen Geologen nichts darüber sagen, ehe es nicht so weit war.

Sie waren kräftig gebaute Männer, alle vier. Klein und stämmig, wie Jamie selbst. Aber sie hatten viel hellere Haut als Jamie, der schließlich ein halber Navajo war.

»Ist das eine offizielle Angelegenheit?«, hatte er sie gefragt, als sie in aller Frühe an die Tür seines Hotelzimmers geklopft hatten.

»Nix offiziell«, hatte Zawgorodny erwidert, während die anderen drei breit grinsten. »Spaß. Ja, Spaß, Vergnügen.«

Für sie vielleicht, grummelte Jamie vor sich hin, während der Wagen über den Asphalt der leeren Landstraße brummte. Der Wind trug den Geruch von sonnenheißem Staub heran. Die alte Stadt Tyuratam lag bereits kilometerweit hinter ihnen, ebenso wie Leninsk, die neue Stadt, die für die Raumfahrtingenieure und Kosmonauten erbaut worden war.

»Warum fahren wir zum Flughafen?«, fragte Jamie.

Der Russe zu seiner Rechten lachte laut. »Für Spaß. Sie werden sehen.«

»Ja«, sagte der Mann zu seiner Linken. »Viel Spaß.«

Jamie war seit etwas über einem halben Jahr im Marstraining. Dies war seine erste Reise nach Russland, obwohl ihn sein Trainingsprogramm bereits nach Australien, Alaska, Französisch-Guayana und Spanien geführt hatte. Sie hatten ihn endlos lange ärztlich untersucht und seine Reflexe, seine Kraft, sein Sehvermögen und seine Urteilsfähigkeit getestet. Sie hatten seine Zähne geprüft und erklärt, er sei in hervorragender Form, und dann hatten sie ihm den Blinddarm herausgeschnitten.

Und jetzt nahm ihn ein Quartett von Kosmonauten, denen er noch nie zuvor begegnet war, in den frühen Morgenstunden eines stillen Sonntags mit auf eine Fahrt ins kasachstanische Nirgendwo.

Für viel Spaß.

Im Marstraining hatte es bisher herzlich wenig Spaß, dafür aber jede Menge Konkurrenz unter den Wissenschaftlern gegeben, da nur sechzehn von ihnen schließlich mit auf die Reise gehen würden: sechzehn von mehr als zweihundert Trainingsteilnehmern. Jamie wurde klar, dass die Konkurrenz unter den Kosmonauten und Astronauten genauso heftig sein musste.

»Hat man euch allen auch den Blinddarm rausgenommen?«, fragte er.