Asteroidenfeuer - Ben Bova - E-Book

Asteroidenfeuer E-Book

Ben Bova

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Beschreibung

Der Asteroidenkrieg geht in die letzte Runde

Martin Humphries wähnt sich auf dem Höhepunkt seiner Macht: Er lebt in einer luxuriösen Idylle auf dem Mond, die er zu einer uneinnehmbaren Festung ausgebaut hat, und hat seinen Erzrivalen Lars Fuchs nicht nur wirtschaftlich ausgeschaltet, sondern auch gedemütigt, indem er seine Frau Amanda geheiratet hat. Sie bringt den ersehnten Sohn und Erben zur Welt, doch Humphries genügt das immer noch nicht: Er heuert einen Auftragskiller an, der Lars Fuchs, der als Pirat Humphries‘ Geschäfte sabotiert, töten soll. Doch auch das Unternehmen Astro unter der Leitung von Pancho Barnes, das nach wie vor eine Monopolstellung im Asteroidengürtel einnimmt, soll endlich vernichtet werden. Doch weder Humphries, noch Fuchs, noch Astro ahnen, dass in ihrem Schatten längst ein viel gefährlicherer Gegner herangewachsen ist …

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Seitenzahl: 571

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DAS BUCH

Die nicht allzu ferne Zukunft: Martin Humphries, Erbe des milliardenschweren Humphries Trust, wähnt sich auf der Höhe seiner Macht. Er lebt in einer luxuriösen Idylle auf dem Mond, die er zu einer uneinnehmbaren Festung ausgebaut hat, und ein Asteroid nach dem anderen fällt ihm zu, so dass er seine Macht und sein Monopol in der Raumfahrt immer weiter ausbauen kann. Seinen Rivalen Lars Fuchs hat er nicht nur ausgeschaltet, sondern auch gedemütigt, indem er ihm seine Frau Amanda genommen und geheiratet hat. Sie bringt den ersehnten Sohn und Erben zur Welt. Doch noch immer genügt ihm das nicht: Er will Lars Fuchs beseitigt haben und hetzt einen bezahlten Killer auf ihn, der sich im Asteroidengürtel auf die Lauer legt. Aber Humphries ahnt nicht, dass ihm längst ein viel gefährlicherer Gegner erwachsen ist …

Mit diesem Buch beendet Ben Bova die faszinierende Geschichte, die mit »Der Asteroidenkrieg« begann und in »Asteroidensturm« fortgesetzt wurde.

»Ein wunderbarer Roman – Ben Bova bietet nicht nur hervorragenden Lesestoff, sondern richtet wie Isaac Asimov und Arthur C. Clarke auch den Blick darauf, wie unsere Zukunft wirklich aussehen könnte.«

–Interzone

DER AUTOR

Ben Bova, 1932 in Philadelphia geboren, ist einer der bekanntesten Science-Fiction-Autoren unserer Zeit. Insbesondere mit seinen Romanen aus der sogenannten Sonnensystem-Reihe »Mars«, »Venus«, »Jupiter« und zuletzt »Saturn« ist er außerordentlich erfolgreich. Bova lebt mit seiner Familie in Florida.

Inhaltsverzeichnis

Über den AutorWidmungAsteroid 67-046SECHS JAHRE ZUVOR
Selene: Hauptquartier der Astro CorporationFusionsschiff NautilusSelene: Wintersonnenwend-FeierSelene: Suite im Hotel LunaErde: Kloster Chota, NepalHabitat ChrysallisHöllenkraterMondseilbahn 502Mare NubiumVersorgungsschiff RoebuckSelene: Hauptquartier der Astro CorporationDas Humphries-AnwesenAsteroid VestaHumphries’ TräumeHabitat ChrysallisDas Humphries-AnwesenFusionsschiff Starpower III
SIEBEN MONATE SPÄTER
Das Humphries-AnwesenHabitat ChrysallisAsteroid VestaFusionsschiff SamarkandMathilda IIDas Humphries-AnwesenHauptquartier der Astro CorporationSelene: Restaurant ErdblickSelene: Fabrik Nummer ElfErzfrachter ScrantonFlaggschiff AntaresFusionsschiff SamarkandHauptquartier der Astro-CorporationHotel Luna: FürstensuiteKommandozentrale der Astro CorporationAsteroid 73-241Admiral Wanamakers BüroHabitat ChrysallisLetzte RitenErzfrachter StarlightSelene: Nachrichten-MediazentrumDatenbank: SonnensturmWettervorhersageBasis Leuchtender BergFlaggschiff SamarkandSelene: Astro-KommandozentraleHauptquartier der Astro-CorporationFusionsschiff ElsinoreSelene: Lagerzentrum VierzehnFlaggschiff SamarkandBasis Leuchtender BergFusionsschiff ElsinoreDas Humphries-AnwesenBasis Leuchtender BergHabitat ChrysallisDas Humphries-AnwesenBasis Leuchtender BergErzfrachter CromwellDas Humphries-AnwesenBasis Leuchtender BergDas Humphries-Anwesen: Auf dem DachMondshuttleBuschfeuerFlugpläneSelene: Ebene SiebenBruchlandungKommandozentrale der Astro CorporationBallistische RaketeAsteroid VestaRaumhafen ArmstrongFlaggschiff SamarkandAsteroid VestaFlaggschiff SamarkandSelene: Douglas Stavengers QuartierFusionsschiff ElsinoreHabitat ChrysallisFusionsschiff ElsinoreSelene: FriedenskonferenzLetzte Änderungen
Asteroid 67-046Copyright

Zur Erinnerung an Jay Gould:

Wissenschaftler, Schriftsteller, Baseball-Fanund eine Inspirationfür alle denkenden Menschen.

Im Krieg ist alles ganz einfach, doch selbst die einfachste Sache ist schwierig … Krieg ist das Reich der Unsicherheit: Drei Viertel aller Dinge, die Kriegshandlungen zugrunde liegen, sind in den Nebel einer größeren oder geringeren Wahrscheinlichkeit gehüllt.

KARL VON CLAUSEWITZ Vom Kriege

Asteroid 67-046

»Ich war ein Soldat«, sagte er. »Nun bin ich ein Priester. Du kannst mich Dorn nennen.«

Elverda Apacheta vermochte den Blick nicht von ihm zu wenden. Sie hatte zuvor schon Cyborgs gesehen, gewiss – doch diese … Person schien indes mehr Maschine als Mensch zu sein. Sie verspürte einen Anflug von Verachtung. Wie konnte ein menschliches Wesen nur zulassen, dass sein Körper derart verunstaltet wurde?

Er war auch nicht sehr groß; Elverda überragte ihn um ein paar Zentimeter. Er hatte aber breite Schultern und einen dicken, stämmigen Körper. Die linke Gesichtshälfte bestand aus graviertem Metall, genauso wie die gesamte Oberseite des Kopfes: Es sah aus, als trage er eine Badekappe in Form eines hauchdünnen, flexiblen Stahlstichs.

Dorns linke Hand war eine Prothese. Er hatte auch nicht versucht, das zu kaschieren. Wie viel von ihm war unterm groben Stoff des schäbigen Gewands und der fadenscheinigen Hose wohl noch mechanische und elektrische Maschinerie? In krassem Gegensatz zur zerlumpten Kleidung standen indes die auf Hochglanz polierten Schaftstiefel.

»Ein Priester?«, fragte Martin Humphries. »Von welcher Kirche? Von welchem Orden?«

Die Hälfte von Dorns Lippen, die noch beweglich war, kräuselte sich leicht. Elverda vermochte nicht zu sagen, ob es sich nun um ein freundliches oder spöttisches Lächeln handelte.

»Ich werde Sie in Ihre Unterkünfte führen«, sagte Dorn. Seine Stimme war ein leises Grollen, als ob es aus dem Leib eines großen Tiers käme. Sie hallte schwach von den grob behauenen Felswänden wider.

Humphries wirkte im ersten Moment überrascht. Er war es nämlich nicht gewohnt, dass seine Fragen ignoriert wurden. Elverda musterte sein Gesicht. Humphries sah so gut aus, wie Regenerationstherapien und kosmetische Nanomaschinen es eben zu bewerkstelligen vermochten: Er hatte fein ziselierte Gesichtszüge, eine straffe Haltung, schlanke Gliedmaßen, einen athletisch flachen Bauch. Doch seine kalten, grauen Augen waren hart und gnadenlos. Und Elverda glaubte auch einen schwachen Verwesungsgeruch bei ihm wahrzunehmen. Als ob er innerlich schon tot wäre und die Fäulnis bereits eingesetzt hätte.

Die Spannung zwischen den beiden Männern schien Elverda die Energie aus dem alten Körper zu saugen. »Es war eine lange Reise«, sagte sie. »Ich bin wirklich müde. Ich würde mich über eine heiße Dusche und ausgiebigen Schlaf freuen.«

»Noch bevor Sie es gesehen haben?«, fragte Humphries unwirsch.

»Wir haben über eine Woche gebraucht, um hierher zu gelangen. Da kommt es auf ein paar Stunden mehr oder weniger auch nicht mehr an.« Sie wunderte sich selbst über ihre Worte. Früher hätte sie vor Aufregung kaum an sich zu halten vermocht. Bist du mit den Jahren etwa ruhiger geworden? Nein, wurde sie sich bewusst. Nur schwächer.

»Für mich aber schon!«, sagte Humphries. »Bringen Sie mich hin«, wandte er sich an Dorn. »Ich habe lang genug gewartet. Ich will es jetzt sehen.«

Dorns Augen – das eine so braun wie Elverdas Augen, das andere eine rot glühende Linse – musterten Humphries für eine Weile.

»Nun?«, fragte Humphries nachdrücklich.

»Es tut mir Leid, Sir, aber die Kammer ist für die nächsten zwölf Stunden gesperrt. Es ist unmöglich …«

»Gesperrt? Von wem? Auf wessen Befehl?«

»Die Kammer hat eine Zeitsteuerung. Die Schöpfer des Artefakts haben auch die Steuerung installiert.«

»Davon hat mich niemand unterrichtet«, sagte Humphries.

»Zu Ihren Unterkünften geht es den Gang entlang«, erwiderte Dorn.

Er drehte sich beinah wie ein massiver Metallblock; Schultern und Hüften schienen starr miteinander verbunden, und der Kopf saß wie arretiert auf den breiten Schultern. Dann marschierte er den zentralen Korridor entlang. Elverda ging neben seiner metallischen Hälfte; sie ärgerte sich noch immer über seine Selbstentweihung. Und doch sagte sie sich wider Willen, was für eine Herausforderung es wäre, ihn zu modellieren. Wenn ich jünger wäre, sagte sie sich. Wenn ich dem Tod nicht schon so nah wäre. Mensch und Maschine in einer exotischen, kraftvollen Gestalt vereint.

Humphries schritt an Dorns anderer Seite einher; sein Gesicht war vor kaum unterdrücktem Zorn gerötet.

Sie gingen schweigend den Gang entlang, wobei Humphries’ bleibeschwerte Schuhe auf dem unebenen Felsboden klackten. Dorns Stiefel verursachten kaum ein Geräusch. Selbst wenn er zur Hälfte eine Maschine ist, sagte Elverda, bewegt er sich wie ein Panther – wenn er sich erst einmal in Bewegung gesetzt hat.

Die Gravitation des Asteroiden war so gering, dass Humphries das beschwerte Schuhwerk brauchte, um sich nicht wie ein Hampelmann zu bewegen. Elverda, die einen Großteil ihres langen Lebens in Niedergravitations-Umgebungen verbracht hatte, fühlte sich hier jedoch wie zu Hause. Der Korridor, durch den sie gingen, war eigentlich ein Tunnel – schattig und geheimnisvoll –, oder vielleicht auch ein Schlot in diesem metallischen Himmelskörper, durch den vor Äonen Gase entwichen waren, als der Asteroid sich noch im halbfesten Zustand befunden hatte. Doch nun war er kalt – so kalt, dass Elverda fröstelte. Die Gesteinsdecke war so niedrig, dass sie sich instinktiv beinahe geduckt hätte, obwohl der verstandesmäßige Teil des Bewusstseins ihr sagte, dass das nicht nötig war.

Bald wurden die Wände jedoch glatt und die Decke höher. Menschen hatten den Tunnel erweitert und ihm mit Lasern einen präzisen rechteckigen Querschnitt verliehen. Beide Wände wiesen nun Türen auf, und an der Decke glühten blendfreie Lampen, die keinen Schatten warfen. Dennoch fröstelte sie in der Kälte, die die beiden Männer jedoch nicht zu spüren schienen.

Sie blieben vor einer breiten zweiflügeligen Tür stehen. Dorn gab den Zugangscode über die Tastatur ein, die in die Wand eingelassen war, und die Türen glitten auf.

»Ihre Unterkunft, Sir«, sagte er zu Humphries. »Sie können den Zugangscode natürlich nach Belieben ändern.«

Humphries quittierte das mit einem knappen Kopfnicken und ging durch die Tür. Elverda erhaschte einen Blick auf eine großzügige Suite mit Teppichboden und Hologrammfenstern an den Wänden.

Humphries drehte sich im Eingang zu ihnen um. »Ich erwarte von Ihnen, dass Sie sich in zwölf Stunden bei mir melden«, sagte er mit harter Stimme zu Dorn.

»Elf Stunden und siebenundfünfzig Minuten«, erwiderte Dorn.

Humphries’ Nasenflügel bebten; er schob die Doppeltür zu.

»Diese Richtung.« Dorn wies mit der menschlichen Hand in die entsprechende Richtung. »Ihre Unterkunft ist leider nicht so luxuriös wie die von Mr. Humphries.«

»Ich bin sein Gast«, sagte Elverda. »Er zahlt immerhin die Zeche.«

»Sie sind eine große Künstlerin. Ich habe schon von Ihnen gehört.«

»Vielen Dank.«

»Für die Wahrheit? Keine Ursache.«

Ich war mal eine große Künstlerin, sagte Elverda sich. Früher. Vor langer Zeit. Nun bin ich nur noch eine alte Frau, die auf den Tod wartet.

»Haben Sie schon Arbeiten von mir gesehen?«, fragte sie.

»Nur Hologramme«, sagte Dorn mit schwerer Stimme. »Ich wollte mir Den Gedenkenden einmal in natura ansehen, doch dann ist mir etwas dazwischengekommen.«

»Sie waren damals Soldat?«

»Ja. Priester bin ich erst, seit ich an diesen Ort kam.«

Elverda wollte ihm noch mehr Fragen stellen, doch Dorn blieb vor einer schmucklosen Tür stehen und öffnete sie für sie. Im ersten Moment glaubte sie, er wolle mit seiner Handprothese nach ihr greifen. Sie wich vor ihm zurück.

»Ich werde mich in elf Stunden und sechsundfünfzig Minuten wieder bei Ihnen melden«, sagte er, als ob er ihren Abscheu nicht bemerkt hätte.

»Vielen Dank.«

Er schwenkte herum wie eine Maschine und wandte sich zum Gehen.

»Warten Sie«, rief Elverda. »Bitte – wie viele Menschen gibt es hier noch? Es ist so still hier.«

»Es gibt sonst niemanden mehr. Nur uns drei.«

»Aber …«

»Ich bin der Leiter der Sicherheitsabteilung. Ich habe die anderen Angehörigen meines Kommandos angewiesen, zu unserem Raumschiff zurückzukehren und dort zu warten.«

»Und die Wissenschaftler? Die Prospektoren-Familie, die diesen Asteroiden gefunden hat?«

»Sie sind in Mr. Humphries’ Raumschiff, mit dem auch Sie hierher gekommen sind«, sagte Dorn. »Sie stehen unter dem Schutz meiner Abteilung.«

Elverda schaute ihm in die Augen. Was auch immer in ihnen brannte, sie vermochte es nicht zu ergründen.

»Dann sind wir also allein hier?«

Dorn nickte gemessen. »Sie und ich – und Mr. Humphries, der die Zeche zahlt.« Die menschliche Hälfte des Gesichts war so reglos wie die metallische. Elverda vermochte nicht zu sagen, ob sein Ausspruch humorvoll oder bitter gewesen war.

»Vielen Dank«, sagte sie. Er wandte sich ab, und sie schloss die Tür.

Ihre Unterkunft bestand aus einem einzigen Raum; er war mollig warm, aber kaum größer als die Kabine in dem Schiff, mit dem sie hier eingetroffen waren. Elverda sah, dass ihre Reisetasche mit den paar Habseligkeiten schon auf dem Bett lag. Der abgegriffene, alte Zeichencomputer lag im verschrammten Koffer auf dem Schreibtisch. Sie hatte das Gefühl, dass der Notebook-Koffer sie anklagend anstarrte. Ich hätte ihn zu Hause lassen sollen, sagte sie sich. Ich werde ihn sowieso nie mehr benutzen.

Ein kleiner Dienstrobot, kaum mehr als eine glänzende Metalltrommel mit sechs Armen, die wie bei einer Gottesanbeterin gefaltet waren, stand stumm in einer Ecke an der Rückwand des Raums. Elverda betrachtete ihn für einen Moment. Wenigstens handelte es sich um eine kompromisslose Maschine und nicht um einen selbstverstümmelten Menschen. Erst die schönste Gestalt im Universum anzunehmen und sie dann in einen Hybrid-Mechanismus zu verwandeln war eine Travestie der Menschlichkeit. Wieso hat er das getan? Um ein noch besserer Soldat zu werden? Eine noch effizientere Kampfmaschine?

Und wieso hat er die anderen weggeschickt, fragte sie sich, während sie die Reisetasche öffnete. Als sie die Toilettenartikel in die kleine Nasszelle brachte, kam ihr ein Gedanke. Hat er sie weggeschickt, bevor er das Artefakt sah oder erst hinterher? Hat er es überhaupt gesehen? Vielleicht …

Da erblickte sie sich im Spiegel überm Waschbecken. Ihr Herz sank. Früher hatte man sie als königlich bezeichnet, wunderschön, eine Göttin aus Kupfer. Nun wirkte sie verwelkt, vertrocknet und war nur noch Haut und Knochen. Ihr Gesicht war wie ein Baumquerschnitts-Relief mit unzähligen Jahresringen, und die Fliegerkombination schlackerte um ihre magere Gestalt.

Du bist alt, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. Alt und schmerzgepeinigt und müde.

Das kommt von der langen Reise, sagte sie sich. Du musst dich ausruhen. Doch die andere Stimme im Bewusstsein lachte spöttisch. Du hast doch nichts anderes getan als dich ausgeruht in der ganzen Zeit, die die Reise zu diesem Felsbrocken gedauert hat. Du bist reif für die ewige Ruhe; mach dir doch nichts vor.

Sie hatte an der Universität von Selene gelehrt. Weiter als bis zum Mond vermochte sie sich nach einem langen Leben in Niedergravitations-Umgebungen der Erde nicht mehr zu nähern. Aber nah genug, um ihrer Heimatwelt ansichtig zu werden, der einen Welt mit Leben und Wärme im Sonnensystem – der einzige Ort, wo ein Mensch frei unter der Sonne wandeln und sich von ihrer Wärme durchdringen lassen konnte, wo man die fruchtbare Erde roch, die diese Vielfalt hervorbrachte, und wo man eine kühle Brise spürte, die einem durchs Haar strich.

Doch sie hatte für immer von der Erde Abschied genommen. Sie hatte auf den Eisschollen von Europas gefrorenem Ozean gestanden; aus einem umkreisenden Raumschiff hatte sie die kaleidoskopartig wirbelnden Wolken von Jupiter mit ihrer Farbenpracht geschaut, und sie hatte den kilometerlangen Felsbrocken Des Gedenkenden modelliert. Aber sie konnte nicht mehr in ihre Heimatstadt zurückkehren, der donnernden Brandung des Pazifiks lauschen und sehen, wie die weißen Wolken die Gestalten imaginärer Tiere annahmen.

Ihre kreative Phase war längst beendet. Sie hatte schon zu lange gelebt; sie hatte keine Freunde mehr, und eine Familie hatte sie nie gehabt. Es gab keinen Sinn mehr in ihrem Leben, keinen Antrieb mehr, etwas zu tun, außer auf den Tod zu warten. Sie lehnte die Verjüngungstherapien ab, die ihr angeboten wurden. An der Universität widmete sie sich nicht mehr der Kunst, sondern war nur noch Mentorin der Studenten, in denen das Feuer der Inspiration heiß loderte. Ihr Leben war eine Bilanz all der Dinge, die sie nicht zustande gebracht hatte, und aller Fehlschläge, an die sie sich erinnerte. Das Scheitern in der Liebe war das Bitterste. Sie wurde als die größte Künstlerin des Sonnensystems verehrt: die Schöpferin Des Gedenkenden, die Schöpferin des ersten großen Ionosphären-Gemäldes, Der Jungfrau der Anden. Sie wurde respektiert, aber nicht geliebt. Sie fühlte sich leer, einsam, nutzlos. Es gab nichts, worauf sie sich noch freuen konnte  – rein gar nichts.

Dann fegte Martin Humphries wie ein Wirbelsturm in ihr Leben. Ein Lebensalter jünger, ebenso draufgängerisch wie vital und skrupellos stürmte er mit der Nachricht ihren akademischen Elfenbeinturm, dass ein fremdartiges Artefakt in den Tiefen des Asteroidengürtels entdeckt worden sei.

»Es ist eine Art Kunstform«, sagte er außer sich vor Erregung. »Sie müssen mit mir kommen und es sich ansehen.«

Elverda versuchte, die lang vergessene Sehnsucht zu beherrschen, die sich in ihr regte, und fragte: »Wieso sollte ich wohl mit Ihnen gehen, Mr. Humphries? Wieso ausgerechnet ich? Ich bin eine alte Frau …«

»Sie sind die größte Künstlerin unserer Zeit«, hatte er wie aus der Pistole geschossen geantwortet. »Sie müssen das einfach sehen! Und kommen Sie mir jetzt nur nicht mit falscher Bescheidenheit. Sie sind der einzige andere Mensch im ganzen Sonnensystem, der es verdient hat, das zu sehen!«

»Der einzige andere Mensch außer wem?«, hatte sie gefragt.

Er hatte überrascht geblinzelt. »Außer mir natürlich.«

Und da sitzen wir nun auf diesem namenlosen Asteroiden und warten darauf, des fremdartigen Kunstwerks ansichtig zu werden. Nur wir drei. Der reichste Mann im ganzen Sonnensystem. Eine alte Künstlerin, die ihren Zenit längst überschritten hat. Und ein Cyborg-Soldat, der alle Zeugen weggeschickt hat.

Er gibt sich als Priester aus, sagte Elverda sich. Ein Priester, der eine halbe Maschine ist. Sie schauderte, als ob ein kalter Wind sie streifte.

Ein lautes pulsierendes Summen riss sie aus ihren Gedanken. Elverda schaute in den Raum und sah, dass das Telefondisplay im Takt des Summens rot blinkte.

»Telefon«, rief sie.

Sofort erschien Humphries’ Gesicht auf dem Monitor. »Kommen Sie in meine Unterkunft«, sagte er. »Wir müssen reden.«

»Geben Sie mir noch eine Stunde. Ich muss …«

»Sofort.«

Elverda spürte, wie ihre Brauen sich indigniert hoben. Doch dann erlosch der Widerspruchsgeist. Er hat das Recht erworben, dich herumzukommandieren, sagte sie sich. Er könnte es dir sogar verweigern, das Artefakt zu sehen.

»Also gut«, sagte sie.

Humphries stapfte über den dicken Teppich, als sie in seinem Quartier eintraf. Er hatte die Fliegerkombination gegen einen bequemen königsblauen Pullover und eine teure Hose aus echtem Köper getauscht. Als die Türen hinter ihr sich schlossen, stellte er sich vor eine niedrige Couch und wandte ihr sein Gesicht zu.

»Wissen Sie, wer diese Kreatur Dorn ist?«

»Ich weiß nicht mehr als das, was er uns gesagt hat«, erwiderte Elverda.

»Ich habe ihn überprüfen lassen. Meine Besatzung auf dem Schiff hat eine komplette Akte über ihn. Er ist der Schlächter, der das Chrysallis-Massaker vor sechs Jahren angeführt hat.«

»Er …«

»Elfhundert Männer, Frauen und Kinder. Abgeschlachtet. Er war der Mann, der den Angriff angeführt hat.«

»Er sagte, er sei Soldat gewesen.«

»Ein Söldner. Ein kaltblütiger Mörder. Vor langer Zeit hat er einmal für mich gearbeitet; damals war er für Yamagata tätig. Die Chrysallis war das Habitat der Felsenratten. Als ihre Population sich weigerte, Lars Fuchs auszuliefern, machte Yamagata ihn zum Anführer einer Truppe, die sie zur Kooperation überreden sollte. Er hat sie alle getötet; er hat das Habitat zu Klump geschossen und alle umkommen lassen.«

Elverda wankte zum nächsten Stuhl und setzte sich. Sie vermochte sich kaum noch auf den Beinen zu halten.

»Damals hieß er noch Harbin. Dorik Harbin.«

»Wurde er denn nicht vor Gericht gestellt?«

»Nein. Er verschwand auf Nimmerwiedersehen. Ich hatte die ganze Zeit Yamagata im Verdacht, dass er ihm einen Unterschlupf besorgt hat. Er kümmert sich nämlich um seine Leute, müssen Sie wissen. Er muss dann seinen Namen geändert haben. Niemand hätte diesen Schlächter mehr angeheuert, nicht einmal Yamagata selbst.«

»Das Gesicht … der halbe Körper …« Elvira fühlte sich unsagbar schwach, der Ohnmacht nahe. »Wann …?«

»Es muss nach seiner Flucht passiert sein. Vielleicht wollte er sich damit eine Tarnung verschaffen.«

»Und nun arbeitet er wieder für Sie.« Sie wollte lachen angesichts der Ironie der Situation, hatte aber nicht mehr die Kraft dazu.

»Er hat uns in diesem Felsbrocken in der Falle! Es gibt hier niemanden außer uns drei.«

»Und was ist mit der Besatzung Ihres Schiffs? Sie würde uns doch wohl zu Hilfe kommen, wenn Sie sie anfordern.«

»Sein Sicherheitskommando ist angewiesen worden, jeden außer uns beiden vom Asteroiden fern zu halten.«

»Aber Sie können diese Anweisung doch rückgängig machen, nicht wahr?«

Zum ersten Mal, seit sie Martin Humphries kannte, wirkte er unsicher. »Im Grunde schon«, sagte er.

»Wieso?«, fragte Elverda. »Wieso tut er das?«

»Das versuche ich herauszufinden.« Humphries ging zur Telefonkonsole. »Harbin!«, rief er. »Dorik Harbin. Kommen Sie sofort in meine Unterkunft.«

Ohne eine Verzögerung von auch nur einer Mikrosekunde erwiderte die synthetische Telefonstimme: ›Dorik Harbin existiert nicht mehr. Richten Sie Ihren Anruf an Dorn.‹

Humphries schaute mit seinen grauen Augen auf das dunkle Display des Telefons.

›Dorn ist im Moment nicht zu sprechen‹, sagte die Telefonstimme. ›Er wird Sie in elf Stunden und zweiunddreißig Minuten zurückrufen.‹

»Was soll das heißen, Dorn ist nicht zu sprechen?«, schrie Humphries den dunklen Telefonmonitor an. »Verbinde mich mit dem Wachoffizier an Bord der Humphries Eagle.«

›Eine Kommunikation nach draußen ist derzeit nicht möglich‹, erwiderte das Telefon.

»Das darf doch nicht wahr sein!«

›Eine Kommunikation nach draußen ist derzeit nicht möglich‹, wiederholte das Telefon ungerührt.

Humphries starrte aufs dunkle Display und drehte sich langsam zu Elverda Apacheta um. »Er hat uns abgeschnitten. Wir sind hier gefangen.«

Selene: Hauptquartier der Astro Corporation

Pancho Lane lehnte sich im Konturensessel zurück, legte die Finger aufeinander und unterdrückte einen Ausdruck des Argwohns, den sie dem ihr gegenübersitzenden Mann entgegenbrachte.

Eine der beiden wichtigsten Lektionen, die sie in den Jahren als Vorstandsvorsitzende der Astro Corporation gelernt hatte, bestand in der Kontrolle ihrer Emotionen. Früher hätte sie sich aus dem Sessel erhoben, wäre um den Schreibtisch herumgegangen, hätte diesen verlogenen Kerl am Schlafittchen gepackt und mit einem kräftigen Tritt in den Hintern zurück nach Nairobi befördert, wo er angeblich herkam. Nun lehnte sie sich jedoch nur in kaltem Schweigen zurück und hörte sich an, was er zu sagen hatte.

»Eine strategische Allianz wäre zu unserem beiderseitigen Vorteil«, sagte er in sonorem Bariton. »Schließlich werden wir hier auf dem Mond Nachbarn sein, nicht wahr?«

In körperlicher Hinsicht war er durchaus attraktiv, wie Pancho sich eingestand. Falls er als Köder hier ist, haben sie wenigstens etwas geschickt, bei dem das Anbeißen sich lohnt. Markante, hohe Wangenknochen und ein energisches Kinn. Dunkle Augen, die funkelten, wenn er sie anlächelte  – und er lächelte sie oft an. Perlweiße Zähne. Eine so schwarze Haut, dass sie purpurn zu schimmern schien. Ein konservativer grauer Geschäftsanzug, unter dem jedoch eine bunte Weste und ein hellgelbes Hemd hervorlugten; und der offene Kragen enthüllte eine einreihige schwere Goldkette.

»Ihre Basis wird über viertausend Kilometer von hier entfernt sein – im Aitken Basin.«

»Ja, natürlich«, sagte er mit diesem betörenden Lächeln. »Aber unsere Basis in Shackleton wird nur ungefähr hundert Kilometer vom Astro-Kraftwerk in der Malapert Range entfernt sein, wissen Sie.«

»Die Berge des Ewigen Lichts«, murmelte Pancho mit einem Kopfnicken. Die Japaner nannten sie die Leuchtenden Berge. In der Nähe des Mond-Südpols gab es ein paar Berge, die so hoch waren, dass die Gipfel in ewiges Sonnenlicht getaucht wurden. Astro hatte dort, in der Nähe der Vorkommen von gefrorenem Wasser, ein Solarkraftwerk errichtet.

»Die Anlage, die wir bauen, wird mehr als nur eine Basis sein«, ergänzte der Nairobi-Vertreter. »Wir beabsichtigen, nach dem Vorbild von Selene eine ganze Stadt im Shackleton-Krater zu errichten.«

»Wirklich?«, sagte Pancho mit ausdruckslosem Gesicht. Sie war erst vor ein paar Minuten darüber informiert worden, dass schon wieder ein Astro-Frachter im Gürtel verschwunden war; der zweite in zwei Wochen. Humphries kann es einfach nicht lassen, sagte sie sich. Und wenn dieser Kerl kein Spion von Humphries ist, dann fresse ich einen Besen.

Die zweite Lektion, die Pancho gelernt hatte, war, sich ein möglichst jugendliches Aussehen zu bewahren. Verjüngungstherapien, die früher als teure Extravaganzen für Videostars und besonders eitle Menschen galten, waren inzwischen alltäglich – vor allem bei den Top-Managern der Konzerne, die in einem unerbittlichen Konkurrenz- und Machtkampf standen. Äußerlich wirkte Pancho noch immer wie eine Dreißigjährige: groß gewachsen, mit langen Beinen und einer schlanken Figur. Sie hatte sogar die Tattoos am Po entfernen lassen, weil Vorstandspolitik manchmal auch im Schlafzimmer endete und sie nicht wollte, dass sie wegen einer Jugendsünde zum Objekt von Gerüchten wurde. Am Gesicht hatte sie aber nichts ändern lassen; bis aufs ›Pferdegebiss‹ hatte sie nichts daran auszusetzen. Das einzige Zugeständnis an ihr wahres Alter bestand darin, dass sie ihr raspelkurzes Haar schlohweiß hatte werden lassen. Die Kosmetikerin sagte ihr, dass das einen tollen Kontrast zu ihrer mokkafarbenen Haut darstellte.

Pancho kleidete sich ganz bewusst konträr zur jeweils aktuellen Mode. In dieser Saison waren Schlabber-Pullover und robuste Sweater mit Ausschnitten an strategischen Stellen angesagt, die dem Auge etwas boten. Pancho trug stattdessen einen maßgeschneiderten elfenbeinfarbenen Hosenanzug, der ihre lange, schlanke Figur betonte und durch Asteroidenschmuck an den Handgelenken und Ohren akzentuiert wurde. Ihr Büro war nicht so groß, wie man es von Vorstands-Suiten eigentlich gewohnt war; dafür war es üppig mit modernen Möbeln ausgestattet, mit Gemälden, die Pancho erworben hatte, und mit Holofenstern, die Szenerien von einem halben Dutzend Welten darzustellen vermochten.

»Ich bitte die dumme Frage zu entschuldigen, aber ich bin noch nie zuvor auf dem Mond gewesen. Ist das etwa eine Echtholztäfelung?«, fragte ihr Besucher mit großen Augen.

Ich bitte dich, sagte Pancho sich grimmig. So bescheuert kannst du doch gar nicht sein.

»Und der Schreibtisch auch? Haben Sie ihn den ganzen weiten Weg zum Mond einfliegen lassen?«

»In gewisser Weise«, erwiderte Pancho gleichmütig und fragte sich, bis zu welchem Grad die Naivität dieses Kerls nur gespielt war. »Unsere Biotech-Abteilung hat eine Schiffsladung genmanipulierter Bakterien raufgeschickt, die Zellulose produzieren. Das gleiche, was Bäume auf der zellulären Ebene tun.«

»Ich verstehe«, sagte er mit noch immer ehrfurchtsvoller Stimme. »Die Bakterien produzieren gentechnisches Holz für Sie.«

Pancho nickte. »Wir bringen lediglich eine kleine Probe Nanobots von der Erde herauf, die sich dann für uns reproduzieren.«

»Wunderbar. Nairobi Industries hat keine Biotech-Abteilung. Verglichen mit Astro oder Humphries Space Systems sind wir nur eine kleine Klitsche.«

»Jeder von uns hat mal klein angefangen«, sagte Pancho. Im Nachhinein fand sie, dass das irgendwie herablassend klang.

Ihren Besucher schien das aber nicht zu stören. »Im Gegenzug für Ihre Hilfe beim Bau unserer Basis hier auf dem Mond bieten wir Ihnen einen exklusiven Zugang zu den Wachstumsmärkten Afrikas und des indischen Subkontinents.«

Der indische Subkontinent, sagte Pancho sich düster; zwischen ihren Atomraketen und dem Biokrieg bleibt nicht mehr viel übrig für diese armen Bastarde. Und in Afrika sieht es noch schlimmer aus.

»Wir bauen auch tragfähige Beziehungen zu Australien und Neuseeland auf«, fuhr er fort. »Zwar zögert man dort noch, mit Afrikanern Geschäfte zu machen, aber wir überwinden ihre Vorurteile mit zukunftsfähigen Geschäftsideen.«

Pancho nickte. Dieser Kerl ist wirklich ein Trojaner. Wer auch immer der Auftraggeber ist, er hält es für einen cleveren Schachzug, das Angebot von einem schwarzen Mann unterbreiten zu lassen. Er glaubt, ich würde ihm auf den Leim gehen und nicht die Falle erkennen, die er aufstellt.

Humphries. Es muss Martin Humphries sein, sagte sie sich. Der alte Stecher hat es schon seit Jahren auf Astro abgesehen. Das ist sein neustes Manöver. Und er vergreift sich wieder an unseren Frachtern.

»Zumal durch ein Bündnis zwischen Ihrer und unserer Firma Humphries Space Systems quasi in die Zange genommen würde«, setzte der Vertreter aus Nairobi mit vertraulich leiser Stimme, fast einem Flüstern, nach – als ob er ihre Gedanken lesen würde. »Gemeinsam könnten wir HSS beträchtliche Marktanteile abnehmen.«

Pancho spürte, wie ihre Augenbrauen nach oben gingen. »Sie meinen die Asteroidenmetalle und -mineralien, die von den Unternehmen auf der Erde gekauft werden.«

»Ja. Natürlich. Aber Selene importiert auch einen großen Teil von Humphries’ Bergbau-Erzeugnissen im Gürtel.«

Pancho wusste, dass der Kampf nur deshalb geführt wurde, um die Ressourcen des Asteroidengürtels zu kontrollieren. Mit den Metallen und Mineralien, die auf den Asteroiden abgebaut wurden, wurde die irdische Industrie versorgt, die durch die vom Klimakollaps verursachten Umweltkatastrophen schwer angeschlagen war.

»Darum geht es letztendlich«, sagte der Nairobi-Manager mit seinem strahlenden Lächeln. »Ist es mir endlich gelungen, Ihr Interesse zu wecken?«

Pancho erwiderte sein Lächeln. »Aber sicher«, sagte sie. Und sie erinnerte sich daran, dass die Kinder, mit denen sie in Westtexas aufgewachsen war, die Finger gekreuzt hatten, wenn sie gar nicht daran dachten, ein gegebenes Versprechen einzuhalten. »Glauben Sie mir, ich habe mich schon eingehend damit befasst.«

»Dann werden Sie Ihrem Vorstand also ein strategisches Bündnis empfehlen?«

Sie sah den gierigen Ausdruck in seinem schönen jungen Gesicht.

Pancho behielt das Lächeln bei und erwiderte: »Geben Sie mir etwas Bedenkzeit. Ich lasse die Zahlen von meinen Mitarbeitern prüfen. Und wenn die Sache Hand und Fuß hat, werde ich sie im Vorstand auf die Tagesordnung setzen.«

Er strahlte freudig. Wer auch immer diesen Typ geschickt hat, sagte Pancho sich, hat ihn sicher nicht wegen seines Pokergesichts ausgewählt.

Sie erhob sich, und er sprang so schnell auf, dass Pancho schon glaubte, er würde gegen die Decke stoßen. Weil er nicht an die niedrige Mondschwerkraft gewöhnt war, taumelte er und musste sich an der Ecke des Schreibtischs festhalten.

»Die Leichtigkeit des Seins«, sagte sie grinsend. »Sie wiegen hier nur ein Sechstel wie auf der Erde.«

Er lächelte zerknirscht. »Das hatte ich ganz vergessen. Die Ballaststiefel sind auch keine allzu große Hilfe. Ich bitte um Verzeihung.«

»Keine Ursache. Jeder muss sich erst einmal an die MondSchwerkraft gewöhnen. Aber wie lang gedenken Sie überhaupt in Selene zu bleiben?«

»Ich werde morgen wieder abreisen.«

»Sie werden mit niemandem von HSS sprechen?«

»Nein. Mr. Humphries ist eher dafür berüchtigt, kleine Firmen zu schlucken, anstatt ihnen zu helfen.«

Vielleicht ist er doch nicht von Humphries geschickt worden, sagte Pancho sich.

»Dann sind Sie also nur hergekommen, um mit mir zu reden?«

Er nickte. »Dieses Bündnis ist sehr wichtig für uns. Ich wollte es unter vier Augen mit Ihnen besprechen, nicht per Videofon.«

»Das war eine gute Idee«, sagte Pancho, ging um den Schreibtisch herum und wies auf die Bürotür. »Diese Drei-Sekunden-Verzögerung beim Funkverkehr macht mich noch ganz loco.«

Er blinzelte. »Loco? Ist das Mondslang?«

»Ein Westtexas-Wort für verrückt«, erwiderte Pancho lachend.

»Sie stammen aus Texas?«

»Bin aber schon lang nicht mehr dort gewesen.«

Pancho gab sich cool und registrierte, wie er ihre Unterhaltung in eine Einladung zum Abendessen umzuwandeln versuchte, bevor sie ihn aus dem Büro zu komplimentieren vermochte. Sie bemerkte, dass er gut roch. Er hatte ein Rasierwasser benutzt, das nach Zimt und anderen Gewürzen duftete.

Schließlich kam er zum Punkt. »Ich vermute, dass jemand von Ihrer Bedeutung einen proppenvollen Terminkalender hat.«

»Ja. Ist ziemlich voll.«

»Ich hatte eigentlich gehofft, dass wir vielleicht zusammen zu Abend essen. Ich kenne sonst niemanden in Selene City.«

Ostentativ projizierte sie ihren Terminplan auf den Wandbildschirm. »Geschäftsessen mit meiner PR-Direktorin.«

Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Oh. Ich verstehe.«

Pancho lächelte ihn an. »Teufel, ich kann auch später mit ihr sprechen. Essen wir zusammen zu Abend.«

Sein Lächeln wurde noch breiter als zuvor.

Und er war auch gut im Bett, wie Pancho entdeckte. Sogar großartig. Als er jedoch am nächsten Morgen wieder auf dem Rückweg zur Erde war und nachdem Pancho ein Frühstück aus Vitamin E und Orangensaft zu sich genommen hatte, rief sie aus der Küche ihren Sicherheitschef an und sagte ihm, dass er den Kerl gründlich überprüfen solle. Wenn er nicht von Humphries kommt, will vielleicht jemand anders das Terrain sondieren.

Sie lachte stumm, als sie an diesem Morgen ins Büro ging. Sie hatte den Namen des Mannes vergessen.

FusionsschiffNautilus

Das Schiff war ursprünglich ein Frachter mit dem seltsamen Namen Lubbock Lights gewesen und hatte im Asteroidengürtel gekreuzt, um von den Felsenratten geschürftes Erz an Bord zu nehmen und zu den Fabriken im Erdorbit und auf dem Mond zu transportieren. Dann hatten Lars Fuchs und seine bunt zusammengewürfelte Crew aus Exilanten es übernommen und in Nautilus umgetauft – nach dem fiktiven Unterseeboot des rachsüchtigen Captain Nemo.

Im Lauf der Jahre hatte Fuchs das Raumschiff verändert. Es hatte zwar noch immer die Form einer Hantel und rotierte an einem Kabel aus Buckminsterfulleren, um der Besatzung ein Gefühl der Schwerkraft zu vermitteln. Und es vermochte noch immer Tausende Tonnen Erz zwischen den Auslegerbügeln zu transportieren. Doch nun war es auch mit fünf starken Lasern bestückt, die Fuchs als Waffen einsetzte. Und es war mit dünnen Platten aus Asteroiden-Kupfer gepanzert, die im Abstand von ein paar Zentimetern über der Hülle des Schiffs montiert waren und einen Infrarot-Laserstrahl für mindestens eine Sekunde zu absorbieren vermochten. Der Fusionsantrieb der Nautilus gehörte zu den leistungsstärksten im ganzen Gürtel. Geschwindigkeit und Manövrierfähigkeit waren das A und O für ein Piratenschiff.

In der engen Brücke des Schiffs beugte Fuchs sich über die Lehne des Pilotensitzes und schaute grimmig auf die Scanner-Anzeige.

»Es ist wirklich nur ein Frachter«, sagte Amarjagal, seine Pilotin. Sie war eine korpulente, stoische Frau mongolischer Abstammung und arbeitete mit Fuchs zusammen, seit er vom Bergbaucenter auf Ceres geflohen und ein Leben als Exilant und Pirat begonnen hatte.

»Mit einem Besatzungsmodul?«, fragte Fuchs spöttisch.

Nodon, der Bordingenieur, gehörte auch von Anfang an zu Fuchs’ Freibeuter-Truppe. Er war spindeldürr, nur Haut und Knochen, hatte einen kahl rasierten Schädel und spiralige Narben von rituellen Tätowierungen auf beiden Wangen. Ein martialischer schwarzer Mongolen-Schnurrbart zierte das Gesicht, doch die dunkelbraunen Augen waren ausdrucksvoll, geradezu seelenvoll.

»Ein Besatzungsmodul bedeutet, dass das Schiff Proviant mitführt«, sagte er, während er das Bild auf dem Monitor betrachtete.

»Und medizinische Vorräte«, ergänzte Amarjagal.

»Was wir beides gut gebrauchen könnten«, sagte Nodon.

Fuchs schüttelte bedächtig den Kopf. »Das könnte auch eine Falle sein.«

Keines der beiden Besatzungsmitglieder erwiderte etwas darauf. Sie schauten sich nur stumm an.

Fuchs trug wie immer einen schwarzen Pullover und eine formlose schwarze Hose. Er war ein kleiner Bär von einem Mann mit kurzen Gliedmaßen und einer Tonnenbrust, der immer finster dreinschaute und dessen Zorn nicht zu besänftigen war. Hass stand ihm in sein breites Gesicht mit den Hängebacken geschrieben; die Lippen waren zu Strichen zusammengepresst, die Mundwinkel hingen ständig herunter, und die tief in den Höhlen liegenden Augen schweiften in Fernen, die den anderen verborgen blieben. Er sah aus wie ein Dachs oder Vielfraß – klein, aber ungemein gefährlich.

Seit fast einem Jahrzehnt war Lars Fuchs nun schon ein Pirat, ein Ausgestoßener, ein Renegat, der durch die weite Leere des Gürtels kreuzte und Schiffen auflauerte, die sich im Besitz von Humphries Space Systems befanden.

Einst hatte er sich für den glücklichsten Mann im ganzen Sonnensystem gehalten. Als verliebter Student war er mit dem ersten bemannten Forschungsschiff in den Asteroiden-Gürtel geflogen und hatte dann die schönste Frau geheiratet, die er je gesehen hatte: Amanda Cunningham. Doch dann war er in den Kampf um die Reichtümer des Gürtels verstrickt worden – ein Mann ganz allein gegen Martin Humphries, den reichsten Mann im Sonnensystem und seine von Humphries Space Systems gedungenen Mörder. Als die HSS-Söldner ihn schließlich in die Enge getrieben hatten, flehte Amanda Humphries an, sein Leben zu verschonen.

Humphries ließ Gnade walten, aber auf die grausamste Art und Weise, die man sich nur vorzustellen vermochte. Fuchs wurde von Ceres verbannt, der einzigen ständigen Siedlung im Gürtel, und Amanda ließ sich von ihm scheiden und heiratete Humphries. Sie war der Preis für Fuchs’ Leben gewesen. Seitdem streifte Fuchs wie ein Fliegender Holländer durch die weite, dunkle Leere des Gürtels: Er mied menschliche Ansiedlungen, lebte im wahrsten Sinne des Wortes wie eine Felsenratte und suchte manchmal unter den Asteroiden an der Peripherie des Gürtels nach Metallerzen und Mineralien, die er dann schürfte und an Fabrikschiffe verkaufte.

Und immer wieder attackierte er HSS-Frachter wie ein Habicht, der auf eine Taube herabstößt. Er nahm sich von ihnen die Vorräte, die er brauchte, stahl das Erz, das sie transportierten, und verkaufte es unter der Hand an andere Felsenratten, die den Gürtel durchstreiften. Es war eine ziemlich armselige Art und Weise, seine Selbstachtung zu bewahren, indem er sich sagte, dass er noch immer ein Stachel in Humphries’ Fleisch war. Zwar nur ein kleiner Dorn, aber das war für ihn die einzige Chance, nicht den Verstand zu verlieren. An sich griff er nur automatisierte Drohnen-Frachter an, die Erzladungen zum Erde/Mond-System beförderten, doch oft genug attackierte er auch bemannte Schiffe. Fuchs sah sich selbst zwar nicht als einen Killer, aber hin und wieder vergoss er auch Blut.

Wie damals, als er die Basis der HSS-Leute auf Vesta auslöschte.

Nun schaute er mit gerunzelter Stirn auf die Abbildung des sich nähernden Frachters mit dem angeflanschten Besatzungsmodul.

»Unsere Vorräte gehen zur Neige«, sagte Nodon mit leiser Stimme, die fast schon ein Flüstern war.

»Sie werden auch nicht viel dabeihaben«, murmelte Fuchs.

»Aber vielleicht genug, dass wir und der Rest der Besatzung für ein paar Wochen über die Runden kommen.«

»Vielleicht. Wir könnten uns dann noch mehr Vorräte von einem Versorgungsschiff holen.«

Nodon senkte leicht den Kopf. »Ja, das stimmt.«

Trotz seines Namens ist der Asteroidengürtel eine breite Schneise der Leere zwischen den Umlaufbahnen von Mars und Jupiter. Sie wird von Millionen kleiner, kalter und dunkler Metall- und Gesteinsbrocken ausgefüllt, die um die Sonne taumeln: Überreste von der Entstehung des Sonnensystems. Der größte Körper, Ceres, durchmisst kaum tausend Kilometer. Die meisten Asteroiden haben aber nur die Größe von Felsbrocken, Kieselsteinen und Staubflocken. Schutt, sagte Fuchs sich. Materiebrocken, die sich nie zu einem Planeten vereinigt hatten. Überreste. Der Müll Gottes.

Der ›Müll‹ war jedoch ein Schatz für die verzweifelte, Not leidende Menschheit. Die Erde war vom Klimakollaps schwer getroffen worden, einem Treibhauseffekt, der seit ein paar Jahrzehnten verheerende Auswirkungen hatte. Gletscher schmolzen, der Meeresspiegel stieg an, weltweit wurden Küstenstädte überflutet, die globale Stromversorgung brach zusammen, Hunderte Millionen Menschen verloren ihre Heimat, ihre berufliche Existenz und sogar das Leben. Ackerland wurde durch anhaltende Dürre zur Wüste; Wüsten verwandelten sich durch Wolkenbrüche in Sümpfe, und schwere Stürme suchten überall die verängstigten und verhungernden Flüchtlinge heim.

Im fernen Asteroidengürtel gab es Metalle und Mineralien im Überfluss. Rohstoffe, die den Förderungsausfall auf der Erde ausglichen. Die im Erdorbit und auf dem Mond erbauten Fabriken waren von diesen Rohstoffen abhängig. Die Rettung der geschundenen Erde lag in den Ressourcen und der Energie des Weltraums.

Fuchs verschwendete jedoch kaum einen Gedanken an all das. Er konzentrierte sich vielmehr auf den Frachter, der durch den Gürtel pflügte und gemächlich Kurs aufs innere Sonnensystem nahm, in Richtung der Erde.

»Wenn eine Besatzung an Bord ist, wieso fliegen sie dann auf einer Hohmann-Bahn? Wieso zünden sie nicht das Fusionstriebwerk und beschleunigen in Richtung Erde?«

»Vielleicht sind die Triebwerke ausgefallen«, sagte Amarjagal, ohne von der Steuerkonsole aufzuschauen.

»Sie senden aber keinen Notruf.«

Darauf sagte die Pilotin nichts.

»Wir könnten das Schiff anfunken«, schlug Nodon vor.

»Und es auf uns aufmerksam machen?«, knurrte Fuchs.

»Wenn wir sie sehen, sehen sie uns auch.«

»Dann funken wir sie eben an.«

»Sie senden nichts außer den normalen Telemetriedaten und ID-Signalen«, sagte Amarjagal.

»Wie lauten Name und Kennung des Schiffs?«

Die Pilotin machte eine paar Tastatureingaben auf der Konsole, und die Daten überlagerten die Abbildung des Schiffs: John C. Frémont, Eigner und Betreiber Humphries Space Systems.

Fuchs holte tief Luft. »Wir müssen von hier verschwinden«, sagte er und packte mit seiner großen Hand die Schulter der Pilotin. »Das Schiff ist eine Falle.«

Amarjagal warf einen Blick auf den Bordingenieur, der auf dem Sitz rechts neben ihr saß, und nahm wie geheißen eine Kursänderung vor. Der Schub der Fusionstriebwerke des Schiffs erhöhte sich, und die Nautilus tauchte tiefer in den Gürtel ein.

An Bord der John C. Frémont beobachtete Dorik Harbin den Radarschirm auf der Steuerkonsole; die eisblauen Augen waren auf das Bild von Fuchs’ Schiff gerichtet, das in der riesigen Leere des Asteroidengürtels verschwand.

Sein Gesicht war das eines klassischen Kriegers: hohe Wangenknochen, schmale Augen, ein schwarzer Vollbart und dichtes schwarzes Haar, das ihm ins Gesicht fiel. Sein grauer Overall trug das HSS-Logo über der linken Brusttasche und Rangabzeichen an den Ärmeln; er trug den Overall wie eine Militäruniform – nicht nur sauber, sondern rein und mit messerscharfen Bügelfalten. Aber es lag ein gehetzter, gequälter Ausdruck in diesen gletscherkalten Augen. Er schlief nur, wenn er sich partout nicht mehr wach zu halten vermochte, und selbst dann brauchte er noch Beruhigungsmittel, um die Albträume zu vertreiben, die ihn verfolgten.

Doch nun lächelte er – fast. Er hatte früher schon ein paar Mal die Klingen mit Fuchs gekreuzt, und der gerissene Outlaw war ihm immer wieder entkommen. Nur einmal war er seiner habhaft geworden, doch dazu hatte er eine kleine Söldner-Armee gebraucht. Und selbst dann hatte Humphries Fuchs am Leben gelassen. Harbin hatte nämlich erfahren, dass Humphries hinter Fuchs’ Frau her war.

Nun hatte Humphries Harbin jedoch den Befehl erteilt, Fuchs zu suchen und zu töten. Aber unauffällig. Draußen in der Kälte und Finsternis des Gürtels, von wo die Nachricht vom Tode des Mannes erst nach vielen Monaten, vielleicht sogar erst nach Jahren an die Öffentlichkeit dringen würde. Also jagte Harbin seiner Beute allein hinterher. So war es ihm auch am liebsten. Andere Menschen machten nur Ärger und weckten Erinnerungen und Sehnsüchte, an die er lieber nicht rührte.

Harbin schüttelte den Kopf und fragte sich, was Humphries eigentlich umtrieb.

Es ist wohl besser, wenn du es nicht weißt, sagte er sich. Du hast schließlich selbst genügend Leichen im Keller, um dir für den Rest des Lebens Albträume zu bescheren. Da musst du nicht auch noch bei anderen Leuten herumschnüffeln.

Selene: Wintersonnenwend-Feier

Es war das gesellschaftliche Ereignis des Jahres. Jeder, der in Selene Rang und Namen hatte, wurde eingeladen, und jeder, der eingeladen war, warf sich in Schale und ging auf die Party. Douglas Stavenger, der Nachfahr der Gründerfamilie der Mondnation, brachte seine Frau mit. Der Botschafter des Globalen Wirtschaftsrats, der De-facto-Weltregierung, brachte zwei seiner vier Frauen mit. Pancho Lane, die Vorstandsvorsitzende des Konkurrenzunternehmens Astro Corporation, erschien ohne Begleitung. Nobuhiko Yamagata, Vorstandsvorsitzender des riesigen japanischen Konzerns, unternahm eigens aus diesem Anlass eine Reise nach Selene. Big George Ambrose, der wie ein Zwillingsbruder von Rübezahl aussah und Chef der Felsenratten-Siedlung in Ceres war, kam mit einem Fusionsschiff den weiten Weg vom Gürtel geflogen, um an Martin Humphries’ Weihnachtsfeier teilzunehmen.

Auf den Einladungen stand jedoch Wintersonnenwend-Feier, um die religiösen Gefühle der Moslems, Buddhisten, Hindus und Atheisten auf der Gästeliste nicht zu verletzen. Ein paar der christlichen Konservativen echauffierten sich zwar über mangelnde Pietät, doch Martin Humphries hatte sich noch nie als gläubigen Christen bezeichnet. Big George hatte einen Bierhumpen in jeder Pratze und gab zu bedenken, dass in seinem heimatlichen Australien diese Zeit des Jahres den Einbruch der Winterdunkelheit markierte und nicht die immer längeren Tage, die Vorboten des Frühlings waren.

Einer der Gründe für das zahlreiche Erscheinen war, dass Humphries die Party in seinem palastartigen Anwesen abhielt, das in den Tiefen des Mondes auf der untersten Ebene von Selene errichtet worden war. Er lud sonst kaum jemanden in sein Domizil ein, und deshalb war es auch eher Neugierde als Festtagsstimmung, die einen Großteil der Hundertschaften von Gästen hergelockt hatte.

Offiziell war das ausgedehnte Anwesen mit dem flachen Dach das Eigentum des Humphries Trust-Forschungszentrums  – ein rechtlicher Kniff, der der ›Genialität‹ von Martin Humphries zuzuschreiben war.

Die atmosphärelose Oberfläche des Mondes unterliegt zwischen Sonnenlicht und Schatten Temperaturschwankungen von vierhundert Grad. Sie wird in harter Strahlung von der Sonne und dem tiefen Weltraum gebadet und mit einem steten Hagel mikroskopischer Meteoriten bombardiert. Menschliche Siedlungen werden daher unter der Oberfläche angelegt, und je tiefer unter der Oberfläche, desto prestigeträchtiger und teurer das Habitat.

Humphries hatte sein Heim in der tiefsten Grotte unter der ursprünglichen Mondbasis erbaut, sieben Ebenen unter der Oberfläche. Er hatte einen prächtigen Garten angelegt, der die Höhle mit dem schweren Duft von Rosen und Lilien erfüllte; die Anlage wurde mit Wasser gespeist, das aus Sauerstoff und Wasserstoff gewonnen wurde, den man aus dem Gestein der Mondoberfläche extrahierte. Als Beleuchtung dienten lange Bänder aus Breitspektrallampen, die an der unbehauenen Felsdecke befestigt waren und Sonnenschein simulierten. Der Garten hatte eine Fläche von etwas mehr als einem Quadratkilometer, also ungefähr hundert Hektar. Es kostete ein Vermögen, dieses Paradies mit den prachtvollen Azaleen und immer blühenden Stiefmütterchen zu unterhalten, mit den Erlen und weißen Birkenstämmen und den schönen Frangipani-Büschen. Blühende weiße und rosa Pfingstrosen wuchsen baumhoch. Humphries hatte eigens einen Forschungstrust eingerichtet, um den Garten zu finanzieren, und der Regierung von Selene die dreiste Begründung untergejubelt, dass es sich dabei um eine Langzeitstudie handle, eine von Menschen erschaffene Ökologie auf dem Mond aufrechtzuerhalten.

In Wirklichkeit wollte Humphries auf dem Mond leben, möglichst weit entfernt von seinem kaltherzigen, harten Vater und der sturmgepeitschten Heimatwelt. Also hatte er in diesem unterirdischen Garten Eden ein Haus gebaut, dessen eine Hälfte von Forschungslabors und botanischen Anlagen eingenommen wurde und dessen andere Hälfte eine luxuriöse Heimstatt für niemand anders als Martin Humphries selbst darstellte.

Der Wohnbereich des Hauses war groß genug, um bequem ein paar hundert Gäste aufzunehmen. Die meisten versammelten sich im großen Wohnzimmer, während andere durchs gediegene Esszimmer, die Kunstgalerie und Innenhöfe streiften.

Pancho ging schnurstracks in die als Bibliothek getarnte Bar, wo sie Big George Ambrose fand. Er hatte einen mit Reif überzogenen Bierhumpen in der Hand und war in eine angeregte Unterhaltung mit einer reizvollen Blondine vertieft. George ließ unbewusst einen Finger der freien Hand unterm Kragen entlangwandern; er fühlte sich offensichtlich unwohl in einem Frack. Ich frage mich, wer ihm die Fliege gebunden hat, sagte Pancho sich. Vielleicht war sie aber auch schon vorgebunden.

Lächelnd bahnte Pancho sich einen Weg durch die Menge und orderte bei einem der drei gestressten Keeper, die hinter der Bar standen, einen Bourbon und ein Ginger-Ale. Sie wurde von einem Stimmengewirr umwabert, und Gelächter und das Klirren von Eiswürfeln erfüllten den großen Raum mit der Holzbalkendecke. Pancho stützte sich mit beiden Ellbogen auf die Bar und hielt in der Menge Ausschau nach Amanda.

»Hey, Pancho!« George hatte sich von der Blondine freigemacht und bahnte sich einen Weg zu ihr, wobei die Menge vor ihm sich teilte wie Segelboote, die einem Supertanker auswichen.

»Wie geht’s, wie steht’s, alter Kumpel?«, fragte George in seinem erstaunlich hohen, melodischen Tenor.

Pancho lachte. Während sie beim Erklimmen der schlüpfrigen Karriereleiter bei der Astro Corporation jahrelang daran gearbeitet hatte, ihren Texas-Akzent zu kaschieren, schien Georges ›Aussie‹-Akzent bei jedem Wiedersehen noch stärker zu werden.

»Die Reichen und die Schönen, stimmt’s?«, übertönte sie den Lärm der Menge.

George nickte begeistert. »Es ist genug Geld in diesem Raum versammelt, um einen Flug nach Alpha Centauri zu finanzieren.«

»Und zurück.«

»Und wie läuft’s bei dir, Panch?«

»Kein Grund zur Klage«, log sie. Sie wollte nicht über die vermissten Frachter reden. »Was gibt’s Neues bei den Felsenratten?«

»Das letzte Lagerhaus auf Ceres wurde geschlossen«, sagte George. »Es ist nun alles oben in Chrysallis.«

»Ihr habt das Habitat endlich fertig gestellt?«

»Nee, das wird wohl nie fertig werden. Wir basteln ständig dran herum und fügen hier und da ein Stück hinzu. Aber wir müssen wenigstens nicht mehr unten im Staub leben. Wir haben jetzt eine anständige Schwerkraft.«

»Ein volles Ge?«, fragte Pancho und ließ dabei den Blick über die Menge schweifen.

»Ein Sechstel, wie hier. Das genügt, damit in den Knochen kein Kalzium mehr abgebaut wird.«

»Hast du Mandy gesehen?«

In Big Georges zottelbärtigem Gesicht erschien ein Stirnrunzeln. »Du meinst Mrs. Humphries? Nee. Nichts von ihr zu sehen.«

Pancho hörte die Verachtung in der Stimme des großen Rotschopfs. Wie die meisten Felsenratten verabscheute er Martin Humphries. Ob er es Amanda übel nimmt, dass sie den Stecher geheiratet hat, fragte Pancho sich.

Bevor sie George eine entsprechende Frage stellen konnte, erschien Humphries in der Tür, die zum Wohnzimmer führte. Er hatte Amanda an seiner Seite und hielt sie am Handgelenk fest.

Sie war atemberaubend schön und trug ein ärmelloses weißes Kleid, das bis auf den Boden herabfiel. Trotz des weiten Schnitts vermochte jeder zu sehen, dass Amanda die schönste Frau im ganzen Sonnensystem sein musste, sagte Pancho sich: goldblondes Haar, ein Gesicht, das selbst die schöne Helena beschämt hätte, und eine Figur, die den Männern und sogar einigen Frauen sichtlich den Atem raubte. Mit einem süffisanten Grinsen stellte Pancho fest, dass Amanda durch die hochgesteckten Haare mindestens einen Zentimeter größer wirkte als Humphries, obwohl der wie immer seine Bertulli-Schuhe trug.

Als Pancho Humphries vor über zehn Jahren zum ersten Mal begegnet war, hatte er ein rundes, aufgedunsenes Gesicht und einen schlaffen Körper mit einem leichten Bauchansatz gehabt. Doch die Augen waren auch damals schon hart gewesen und hatten wie spitze graue Feuersteinsplitter in diesem ansonsten nichtssagenden Gesicht gesteckt. Seit der Hochzeit mit Amanda war Humphries schlanker und sportlicher geworden; auch im Gesicht war er schmaler geworden. Pancho vermutete, dass er sich schon ein paar Nanotherapien unterzogen hatte; die plastische Chirurgie war überflüssig, seit Nanomaschinen Muskeln zu kräftigen, Haut zu straffen und Falten zu glätten vermochten. Diese grauen Augen waren jedoch unverändert: brutal und skrupellos.

»Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«, rief Humphries in seinem kräftigen Bariton.

Es wurde still im Raum, und alle drehten sich zu den Gastgebern um.

»Wenn Sie sich für eine Minute von der Bar losreißen würden«, sagte Humphries mit einem breiten Lächeln, »denn Amanda und ich haben im Wohnzimmer etwas zu verkünden.«

Die Gäste gingen pflichtschuldig ins Wohnzimmer. Pancho und George blieben noch an der Bar und folgten dann den anderen. George stellte sogar den Humpen ab. Nun war das Wohnzimmer mit Frauen in edlen Gewändern und blitzendem Schmuck und Männern in schwarzen Anzügen überfüllt. Wie Pfauen und Pinguine, sagte Pancho sich.

Trotz der Weitläufigkeit des Raums fühlte sie sich etwas unwohl angesichts der vielen zusammengepressten Leiber, egal wie gut sie gekleidet waren. Pancho rümpfte die Nase beim sich mischenden Geruch von Parfüm und Schweiß.

Humphries führte Amanda an der Hand zum Flügel in der Mitte des großen Raumes und kletterte dann auf die Bank. Amanda blieb lächelnd neben ihm stehen. Dennoch machte sie in Panchos Augen einen unbehaglichen, unglücklichen und ängstlichen Eindruck.

»Liebe Freunde«, hob Humphries an.

Von wegen Freunde, sagte Pancho sich. Er hat doch gar keine Freunde, nur Leute, die er gekauft oder sich gefügig gemacht hat.

»Es ist schön, Sie alle hier zu sehen. Ich hoffe, Sie amüsieren sich gut.«

Irgendein Speichellecker klatschte Beifall, und sofort applaudierten alle Anwesenden. Sogar Pancho schlug die Hände ein paar Mal zusammen.

Humphries lächelte und gab sich betont bescheiden.

»Das freut mich«, sagte er. »Und ganz besonders freue ich mich darüber, dass ich in der Lage bin, Ihnen eine frohe Kunde zu übermitteln.« Er hielt für einen Moment inne und genoss die offensichtliche Vorfreude der Menge. »Amanda und ich bekommen einen Sohn. Das genaue Datum der Niederkunft steht noch nicht fest, aber es müsste Ende August sein.«

Die Frauen stießen Begeisterungsrufe aus, die Männer Jubelrufe, und dann applaudierten alle und gratulierten lauthals. Pancho vermochte wegen ihrer Größe über die vor ihr wogenden Köpfe hinwegzusehen. Sie konzentrierte sich auf Amanda. Mandy lächelte unzweifelhaft, aber es wirkte dennoch gezwungen und freudlos.

Die Menge formierte sich spontan zu einem Defilee, und jeder Gast schüttelte Humphries die Hand und gratulierte ihm und der werdenden Mutter. Als Pancho an der Reihe war, sah sie den freudlosen und traurigen Ausdruck in Amandas himmelblauen Augen.

Sie kannte Amanda aus der Zeit, als sie beide als Astronauten für die Astro Corporation gearbeitet hatten. Pancho war dabei gewesen, als Mandy die Bekanntschaft von Lars Fuchs gemacht und als Fuchs ihr seinen Antrag gemacht hatte. Sie waren alte Freundinnen, Vertraute – bis Amanda Humphries geheiratet hatte. In den letzten acht Jahren hatte sie Mandy nur selten gesehen und nie allein.

»Glückwunsch, Mandy«, sagte Pancho zu ihr und ergriff ihre Hand mit beiden Händen. Amandas Hand fühlte sich kalt an. Und Pancho spürte, dass sie zitterte.

»Gratulieren Sie mir auch, Pancho«, sagte Humphries jovial und mit einem breiten Lächeln. »Ich bin der Vater. Ohne mich hätte sie es schließlich nicht geschafft.«

»Sicher«, sagte Pancho und ließ Amandas Hand los. »Glückwunsch. Gute Arbeit.«

Sie wollte ihn schon fragen, wieso er acht Jahre dafür gebraucht hätte, doch sie verkniff sich das. Obendrein hätte sie ihm gern gesagt, dass es keine besonders große Leistung sei, eine Frau zu schwängern, doch das verkniff sie sich auch.

»Nun habe ich alles, was ein Mann zu seinem Glück braucht«, sagte Humphries und fasste Amanda besitzergreifend an der Hand. »Außer der Astro Corporation. Wieso treten Sie nicht ehrenhaft zurück, Pancho, und überlassen mir den rechtmäßigen Platz als Vorsitzenden des Astro-Vorstands?«

»In Ihren Träumen, Martin«, knurrte Pancho.

»Dann werde ich eben einen anderen Weg finden müssen, um die Kontrolle über Astro zu übernehmen«, sagte Humphries mit einem spröden Lächeln.

»Nur über meine Leiche.«

Humphries’ Lächeln wurde noch fröhlicher. »Vergessen Sie nicht, dass Sie das gesagt haben, Pancho. Ich war’s jedenfalls nicht.«

Mit einem Stirnrunzeln wandte Pancho sich von ihnen ab und verschwand in der Menge, ohne Amanda jedoch aus den Augen zu lassen. Wenn ich sie doch nur allein erwischen würde, ohne dass der Stecher an ihr dranhängt …

Und dann sah sie, wie Amanda sich aus dem Griff ihres Mannes löste und zur Treppe ging, die zu ihrem Schlafzimmer hinaufführte. Sie machte fast den Eindruck, als ob sie auf der Flucht wäre. Pancho ging durch die Bar in die Küche und an einer geschäftigen Schar vorbei, die geräuschvoll Geschirr spülte und wegen der anfallenden Arbeit nörgelte. Dann ging sie die Hintertreppe hinauf.

Pancho wusste, wo die herrschaftliche Suite war. Vor acht Jahren, bevor Mandy Fuchs geheiratet hatte und als der Stecher ihr penetrant nachstellte, war Pancho in Humphries’ Haus eingebrochen, um etwas Industriespionage für die Astro Corporation zu betreiben. Unter dem Schutz des von unten heraufziehenden Lärms der Partygäste huschte sie durch den Korridor im ersten Stock und durch die offene Doppeltür des Wohnzimmers, das dem herrschaftlichen Schlafzimmer vorgelagert war.

Pancho raffte ihr langes Kleid, ging zur Schlafzimmertür und lugte hinein. Amanda war im Bad; sie sah Mandy im Ganzkörper-Spiegel an der offenen Badezimmertür. Sie stand am Waschbecken und hielt ein Pillenfläschchen in der Hand. Das Schlafzimmer war komplett verspiegelt, die Wände ebenso wie die Decke. Ich frage mich, ob der Stecher noch immer Videokameras hinter den Spiegeln versteckt hat, sagte Pancho sich.

»Hey, Mandy, bist du da drin?«, rief sie und betrat das mit flauschigen Teppichen ausgelegte Schlafzimmer.

Sie sah, dass Amanda erschrocken zusammenzuckte. Sie ließ das Pillenfläschchen fallen. Die Pillen regneten wie ein kleiner Hagelschauer ins Waschbecken und auf den Fußboden.

»O je, tut mir Leid«, sagte Pancho. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«

»Ist schon in Ordnung, Pancho«, sagte Amanda. Ihre Stimme zitterte fast genauso sehr wie ihre Hände. Dann sammelte sie die Pillen im Waschbecken auf und versuchte sie wieder ins Fläschchen zu tun. Sie ließ aber genauso viele wieder fallen, wie sie einfüllte.

Pancho kniete sich hin und sammelte die ovalen blutroten Tabletten auf. Es war kein Warenzeichen aufgeprägt.

»Was sind das denn für welche«, fragte sie. »Etwas Spezielles?«

Amanda stützte sich aufs Waschbecken und versuchte mühsam die Contenance zu wahren. »Das ist so eine Art Beruhigungsmittel.«

»Du brauchst Beruhigungsmittel?«

»Hin und wieder«, erwiderte Amanda.

Pancho nahm Amanda das Fläschchen aus den zitternden Händen. Es trug kein Etikett.

»Du brauchst diesen Scheiß nicht«, knurrte Pancho. Sie schob sich an Amanda vorbei und wollte die Pillen in die Toilette schütten.

»Nicht!«, kreischte Amanda und riss Pancho das Fläschchen aus den Händen. »Untersteh dich!«

»Mandy, dieser Müll kann nicht gut für dich sein.«

Amanda schossen die Tränen in die Augen. »Sag du mir bloß nicht, was gut für mich ist, Pancho. Woher willst du das denn wissen. Du hast ja keine Ahnung.«

Pancho schaute ihr in die geröteten Augen. »Pancho, ich bin’s, deine Freundin? Du kannst mir doch alles sagen, was dich bedrückt.«

Amanda schüttelte den Kopf. »Das würdest du nicht wissen wollen, Pancho.«

Nach drei vergeblichen Versuchen ließ sie den Schraubverschluss der Flasche mit einem Klicken einrasten, öffnete den Medizinschrank überm Waschbecken und stellte das Fläschchen wieder an seinen Platz. Pancho sah, dass der Schrank mit Pillenfläschchen angefüllt war.

»Meine Güte, du hast ja eine ganze Apotheke«, murmelte sie.

Amanda sagte nichts.

»Brauchst du das ganze Zeug denn?«

»Hin und wieder«, wiederholte Amanda.

»Aber wieso?«

Amanda schloss die Augen und holte tief Luft, wobei sie erschauerte. »Sie helfen mir.«

»Helfen dir wobei?«

»Wenn Martin wieder einmal eine Sondervorstellung will«, sagte Amanda mit so leiser Stimme, dass Pancho sie kaum hörte. »Wenn er andere Frauen bestellt, die uns im Bett ›Hilfestellung‹ leisten. Wenn er von mir verlangt, dass ich Aphrodisiaka nehme, um meine Reaktion auf ihn und seine Freundinnen zu verstärken. Ein paar von ihnen sind Videostars, musst du wissen. Du kennst sie sicher, Pancho – sie sind Prominente.«

Pancho merkte, wie ihr die Kinnlade herunterfiel.

»Und wenn Martin ein paar seiner merkwürdigen jungen Freunde mitbringt, brauche ich wirklich Tabletten, um das zu überstehen. Und für die Videos, die er an die Decke projiziert. Und wenn ich dann einschlafen will, ohne diese ekligen, schrecklichen Szenen immer wieder sehen zu müssen.«

Amanda schluchzte nun; die Tränen rannen ihr die Wangen hinab, und ihre Worte waren nicht mehr zu verstehen. Pancho legte die Arme um sie und drückte sie an sich. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. »Es wird alles wieder gut, Mandy«, flüsterte sie. »Du wirst sehen. Es wird alles wieder gut.«

Nach einer Weile löste Amanda sich etwas von ihr. »Siehst du das denn nicht, Pancho? Begreifst du es nicht? Er wird Lars töten, wenn ich ihn nicht befriedige. Er hat mich völlig unter Kontrolle. Es gibt keinen Ausweg für mich.«

Darauf hatte Pancho keine Antwort mehr.

»Nur deshalb war ich damit einverstanden, das Kind zu bekommen, Pancho. Er hat versprochen, mit den Sexspielen aufzuhören, wenn ich seinen Sohn gebäre. Ich werde natürlich auch die Finger von den Drogen lassen müssen. Ich habe schon ein Entgiftungsprogramm angefangen.«

»Was die Nachrichtensender wohl für diese Story geben würden«, murmelte Pancho.

»Das kannst du nicht machen! Das darfst du nicht tun!« Angst blitzte in ihren verweinten Augen auf. »Du bist die Einzige, der ich es erzählt habe …«

Pancho fasste sie an den bebenden Schultern. »Keine Sorge! Ich bin doch deine Freundin, Mandy. Ich werde niemandem ein Sterbenswörtchen erzählen.«

Amanda starrte sie an.

»Nicht einmal, wenn ich dadurch verhindern könnte, dass Astro vom Stecher übernommen wird. Das geht nur uns beide an, Mandy, und niemanden sonst.«

Amanda nickte zögernd.

»Aber ich sag dir eins. Ich würde am liebsten nach unten gehen und diesem selbstgefälligen Hundesohn dermaßen eine reinhauen, dass ihm das Grinsen für immer vergeht.«

Amanda schüttelte matt den Kopf. »Wenn es doch nur so einfach wäre, Pancho. Wenn …«

Das Telefon im Schlafzimmer summte. Amanda holte tief Luft und ging zum Bett. Pancho schloss die Badezimmertür halb und verbarg sich vor der Kamera des Telefons.

»Antworten«, sagte Amanda.

»Wie lang willst du denn noch da oben bleiben«, hörte Pancho Humphries’ gereizte Stimme. »Die ersten Gäste wollen sich verabschieden.«

»Ich bin gleich wieder unten, Martin.«

Amanda ging ins Bad zurück und brachte das Make-up in Ordnung. Doch selbst wenn der Stecher sehen würde, dass sie geweint hat, wäre es ihm völlig egal, sagte Pancho sich.

Dann kam ihr plötzlich ein Gedanke. Wenn Lars das wüsste, würde er Humphries töten. Er würde sich durch alle Armeen im Sonnensystem kämpfen, um Humphries in die Finger zu kriegen und ihm den Garaus zu machen.

Selene: Suite im HotelLuna

Pancho fand in dieser Nacht keinen Schlaf. Von einem Sturm der Gefühle wegen Amanda Humphries aufgewühlt, streifte sie durch die Räume und Korridore ihrer Hotelsuite.

Amanda hatte sich über die Jahre daran gewöhnen müssen, dass sie sich als Vorstandsvorsitzende eines der größten Konzerne im Sonnensystem Luxus zu leisten vermochte. Erst als ihre jüngere Schwester zu der Fünfjahres-Expedition zum Saturn aufbrach, kam ihr schließlich die Erkenntnis: Schwesterherz ist nun auf sich allein gestellt, und ich bin nicht mehr für sie verantwortlich. Ich kann nun so leben, wie ich es will.

Sie änderte ihren Lebensstil, aber nur geringfügig. Ihre Garderobe verbesserte sich, aber auch nur in bescheidenem Rahmen. Sie wurde keine Partylöwin und fand auch keine Erwähnung in den Klatschspalten der Boulevardzeitungen. Sie engagierte sich nach wie vor als Vorstandsvorsitzende der Astro Corporation und verbrachte genauso viel Zeit in Fabriken und Labors wie in Büros und Konferenzräumen. Sie kannte noch immer alle Abteilungsleiter und viele Manager der mittleren Ebene mit Vornamen – quasi wie alte Kumpels.

Die einzige sichtbare Veränderung betraf ihr Domizil. Jahrelang hatte Pancho mit ihrer Schwester in zwei aneinander angrenzenden Zweiraum-Apartments im dritten Untergeschoss von Selene gelebt. Und wenn sie zur Erde reiste, wohnte sie in firmeneigenen Suiten. Nach dem Abflug ihrer Schwester verspürte Pancho für ein paar Monate ein Gefühl der Einsamkeit und glaubte sich von der Schwester verraten, die sie selbst großgezogen hatte – zweimal sogar, denn Schwesterherz war gestorben und jahrelang tiefgekühlt konserviert worden, während Pancho über ihren Sarkophag gewacht und auf ein Heilmittel gegen den Krebs gewartet hatte, der sie das erste Leben gekostet hatte.

Nachdem Schwesterherz aus dem Flüssigstickstoff-Bad wieder ins Leben zurückgeholt worden war, hatte Pancho ihr alles noch einmal von Anfang an beibringen müssen: zu laufen, die Toilette zu benutzen, zu sprechen und wieder das Leben eines Erwachsenen zu führen. Und dann entschwand das Kind mit einem Team von Wissenschaftlern samt Hilfspersonal zum fernen Saturn, um das zweite Leben in Unabhängigkeit zu führen – so weit wie möglich von der großen Schwester entfernt.

Schließlich wurde Pancho sich jedoch bewusst, dass sie nun auch ein unabhängiges Leben zu führen vermochte. Also machte sie zum ersten Mal in ihrem Leben, was sie wollte. Sie mietete ein paar Räumlichkeiten vom fast bankrotten Hotel Luna an und engagierte Baufirmen, die Wände und Böden herausrissen und ihr ein großzügiges, modernes Heim schufen, das perfekt auf ihre Persönlichkeit zugeschnitten war. Die extra hohen Decken waren ein ganz besonderer Luxus; niemand sonst in Selene erfreute sich solch einer lichten Weite, nicht einmal Martin Humphries in seinem palastartigen Anwesen.