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Ben Bova

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Beschreibung

Gibt es intelligentes Leben auf dem Jupiter?

Direktor L. Zhang Wo, Leiter der wissenschaftlichen Beobachtungsstation im Orbit des Gasriesen, vermutet, dass der Jupiter bewohnt sein könnte. Erste Tauchexpeditionen in die Tiefen des Jupiter-Atmosphäre deuten ebenfalls darauf hin. Doch die Experimente müssen heimlich durchgeführt werden, weil die Kreationisten und die islamischen Fundamentalisten, die auf der Erde das Sagen haben, in der Suche nach außerirdischem Leben eine Blasphemie sehen und die Forschungen mit allen Mitteln unterbinden wollen. Grant Archer, ein junger Astronom, wird als Spitzel auf die Station geschickt, um Beweise für die gottlosen Aktivitäten zu sammeln. Doch wie loyal kann der idealistische Forscher gegenüber seinen inquisitorischen Auftraggebern sein?

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Seitenzahl: 595

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HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/6416
Titel der amerikanischen OriginalausgabeJUPITERDeutsche Übersetzung von Walter Brumm Das Coverbild ist von Thomas Thiemeyer
Copyright © 2000 by Ben Bova Mit freundlicher Genehmigung des Autors und Thomas Schlück, Literarische Agentur, Garbsen (# 81 681) Copyright © 2002 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.Redaktion: Wolfgang Jeschke Covergestaltung: Nele Schütz Design, München Technische Betreuung: M. Spinola Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels
ISBN 978-3-641-15164-5V002
http://www.heyne.dewww.penguinrandomhouse.de

www.diezukunft.de

Für Danny und T. J., meine Lieblings-»Jovianer«, für Thomas Gold, der sich lieber auf Abwege begibt als langweilig zu sein, und für Barbara, immer und ewig.

DANKSAGUNG

Mein Dank gilt Mark Chartrand, George W. Ferguson und Frederic J. Jueneman, die zu diesem Roman unschätzbaren Rat und Unterstützung beisteuerten. Die technische Genauigkeit des Stoffes ist zu einem guten Teil ihrer großzügigen Hilfe zuzuschreiben; alle Unrichtigkeiten rühren von meinem großzügigen Umgang mit den Tatsachen her.

Näheres über das Leben des Zheng He und die Hochseeflotte der Ming-Dynastie findet sich in Louise Levathes lesenswertem Buch When China Ruled the Seas, erschienen 1994 bei Simon & Schuster, New York.

Inhaltsverzeichnis

WidmungDANKSAGUNGProlog: Orbitalstation GoldERSTER TEIL
1. Grant Armstrong Archer III2. »… auf welcher Seite Sie stehen«3. Die endlose See4. Frachter Oral Roberts5. Annäherung6. Ankunft7. »Willkommen im Gulag«8. Li Zhang Wo9. »Unsere intellektuellen Vettern«10. Sheena11. Leviathan12. Sklavenarbeit13. Trost14. Versuchstiere15. Eine Frage der Intelligenz16. Vorgeladen
ZWEITER TEIL
1. Beförderungsfeier2. Dessert3. Dynamik4. Simulationen5. »Der Zorn Li Zhang Wos«6. Krebs7. Neue Aufgaben8. Leviathan9. Sheenas Herrenbesuch10. Intelligenz11. Countdown12. Befehlszentrale
DRITTER TEIL
1. Generalprobe2. Störung3. Eintauchen4. Trennung5. Offenbarung6. Leviathan7. Unerwartetes Ereignis8. Unfall9. Rückkehr10. »Mit deinem Schild …«11. Eingriff12. Training13. Angeschlossen14. Abreise
VIERTER TEIL
1. In die Wolken2. Herausforderung3. Sturmgepeitscht4. Leviathan5. In die See6. Kommunikation7. Entschlossenheit8. Zähigkeit9. Verwirrung10. Leviathan11. Kontakt12. Leviathan13. Verfolgung14. Angriff15. Leviathan16. In der Falle 17. Leviathan18. Rettung19. Leviathan20. Erlösung
FÜNFTER TEIL
1. Vergeltung2. Abschied3. Die Schönheit Deines Hauses
Copyright

Die waghalsige Behauptung, Gott habe denMenschen nach Seinem Ebenbild geschaffen,tickt wie eine Zeitbombe in den Fundamentenso mancher Glaubensgemeinschaft.

ARTHUR C. CLARKE

PROLOG: OrbitalstationGold

Sechs von ihnen waren nötig, um ihn zu ertränken.

Zögernd und widerwillig hatte Grant Archer sich entkleidet, wie sie es ihm befohlen hatten. Aber als sie ihn zum Rand des großen Tanks stießen, wurde ihm klar, dass er sich nicht widerstandslos fügen würde.

Der aufgemöbelte Gorilla packte Grant beim rechten Arm; Sheena gab Acht, dass sie ihm keine Knochen brach, aber ihr kraftvoller Zugriff war auch so schmerzhaft genug. Zwei von den menschlichen Wachen hielten seinen linken Arm, während ein dritter ihm um die Mitte fasste und ein vierter seine bloßen Füße vom Deck hob, sodass seine wild zappelnde und augenrollende Gegenwehr keine Hebelwirkung entfalten konnte.

Dies alles ging in fast völliger Stille vor sich. Weder schrie oder brüllte Grant sie an, noch bettelte oder fluchte er. Die einzigen Geräusche waren das Scharren der Stiefel auf den kühlen metallenen Deckplatten, das angestrengte Schnaufen der Wachen und Grants panisches, verzweifeltes Keuchen.

Der Hauptmann der Wache umfasste Grants enthaarten Kopf mit seinen großen, fleischigen Händen und stieß ihn mit dem Gesicht in den Tank dicker, öliger Flüssigkeit.

Grant presste die Augen zu und hielt den Atem an, bis er das Gefühl hatte, seine Brust müsse zerspringen. Er brannte innerlich, erstickte, ertrank. Der Schmerz war unerträglich. Er konnte nicht atmen. Er wagte nicht zu atmen. Ganz gleich, was sie ihm gesagt hatten, er wusste im innersten Kern seines Wesens, dass ihn dies umbringen würde.

Keine Luft! Kann nicht atmen!

Der Reflex überwältigte seinen Verstand. Gegen seinen Willen und trotz seines Schreckens musste er Atem holen. Und würgte. Er wollte schreien, um Hilfe oder Gnade rufen. Eisige Flüssigkeit füllte seine Lungen. Sein ganzer Körper verkrampfte und schüttelte sich in einem letzten Aufbäumen von Hoffnung und Lebenswillen, doch dann stießen sie seinen nackten Körper mit einem letzten erbarmungslosen Stoß ganz in den Tank, und er sank hinab, tiefer und tiefer.

Er öffnete die Augen. Es gab Lichter da unten. Er atmete! Hustete und würgte, gequält von unkontrollierbaren Krämpfen. Aber er atmete. Die Flüssigkeit füllte seine Lunge und er konnte sie atmen. Genau wie gewöhnliche Luft, hatten sie ihm gesagt. Eine Lüge, eine bösartige Lüge. Sie war kalt und dick, völlig fremdartig, schleimig und grässlich.

Aber er konnte atmen.

Er sank zu den Lichtern hinab, blinzelte in ihr grelles Licht und sah, dass dort andere nackte, haarlose Körper auf ihn warteten.

»Willkommen in der Mannschaft«, dröhnte eine sarkastische Stimme in seinen Ohren, tief, langsam und hallend.

Eine andere Stimme, nicht so laut, aber in einem noch tieferen Basso profundo, sagte: »In Ordnung, machen wir ihn bereit für die Chirurgie.«

ERSTER TEIL

Mein Gott, mein Gott,was hast du mich verlassen,und stehst so ferne meinem Angstgeschreiund meinen Klagerufen?

Psalm 22

1. GRANT ARMSTRONG ARCHER III

Obwohl er in eine der ältesten Familien in Oregon hineingeboren wurde, wuchs Grant Archer in Verhältnissen auf, die von Reichtum weit entfernt waren. Zu seinen frühen Erinnerungen gehörte der Anblick seiner Mutter, wie sie im Laden des Spendenhilfswerks auf der Suche nach Pullovern und Turnschuhen, die für den Schulbesuch nicht zu schäbig waren, Haufen gebrauchter Kleider durchwühlte.

Sein Vater war Methodistenpfarrer im kleinen Vorort Salem, wo Grant aufwuchs. Man respektierte ihn als Geistlichen, nahm ihn aber in der Gemeinde nicht allzu ernst, weil er, mit den Worten einer der Golfklub-Witwen, »arm wie eine Kirchenmaus« war.

Arm, soweit es Geld betraf, aber Grants Mutter sagte ihm immer, dass sein Vater mit der Gabe der Intelligenz gesegnet sei. Hauptsächlich seine Mutter, die in einem der zahlreichen Büros der Neuen Ethik in der Hauptstadt des Bundesstaates arbeitete, förderte Grants Interesse an den Naturwissenschaften.

Die meisten Funktionäre der Neuen Ethik begegneten den Naturwissenschaften und den Wissenschaftlern mit Argwohn, weil diese sehr oft dem klaren Wort der Heiligen Schrift widersprachen. Sogar Grants Vater drängte seinen Sohn, einen Bogen um die Biologie und alle anderen naturwissenschaftlichen Fächer zu machen, die den prüfenden Blick von Ermittlern der Neuen Ethik auf sie lenken würden.

Für Grant war das kein Problem. Seit er alt genug gewesen war, in ehrfürchtig staunender Verwunderung zum Nachthimmel aufzublicken, hatte er Astronom werden wollen. In der Oberschule, wo er der beste Schüler seiner Klasse gewesen war, verengte sein Interesse sich auf die Astrophysik Schwarzer Löcher. Zwar konnte er sich auch für die Entdeckungen auf dem Mars und draußen unter den Jupitermonden begeistern, doch reichte alles das bei weitem nicht an die Faszination heran, die der Todeskampf von Riesensternen auf ihn ausübte. Wenn er lernen könnte, sagte er sich, wie zusammengestürzte Sterne im Bereich ihrer Schwerefelder die Raumzeit verformten, würde er vielleicht einen Weg finden, wie solche Verformungen sich für interstellare Reisen von Menschen nutzen ließen.

Er träumte davon, im Observatorium auf der erdabgewandten Seite des Mondes zu arbeiten und den Gravitationskollaps ausgebrannter Sterne weit draußen in den Tiefen des interstellaren Raumes zu studieren. Allerdings hatte er gehört, dass es sogar dort im Observatorium Spannungen und Gefahren geben sollte. Trotz aller Kritik von Seiten der Neuen Ethik und der strengen Regeln, die von den Direktoren des Observatoriums festgelegt worden waren, versuchten einige Astronomen noch immer Zeit für die Suche nach Anzeichen außerirdischer Intelligenz zu erübrigen. Wurden verbotene Aktivitäten dieser Art entdeckt, so löste das Direktorium den Arbeitsvertrag des Verantwortlichen und schickte ihn in Unehren nach Hause; seine Berufslaufbahn war damit so gut wie ruiniert.

Solche Geschichten störten Grant nicht weiter. Er hatte vor, eine saubere Weste zu behalten, die allgegenwärtigen Agenten der Neuen Ethik nicht gegen sich aufzubringen und die rätselhaften Schwarzen Löcher zu studieren. Er war so vorsichtig, dass er nicht einmal das Wort »Evolution« gebrauchte, wenn er über die Entwicklungszyklen von Sternen bis zu ihrem finalen Kollaps sprach. »Evolution« war unter den Lauschern der Neuen Ethik ein höchst gefährliches Wort.

Am Ende seiner Schulzeit war er zu einem ruhigen, breitschultrigen jungen Mann mit einem dichten aschblonden Haarschopf herangewachsen, der ihm oft in die Stirn und seine hellbraunen Augen fiel. Er war gutmütig und höflich; im erbarmungslosen Einschätzungssystem seiner Mitschülerinnen wurde er als ein »Delta« geführt: als Schulfreund in Ordnung, besonders wenn es um Hilfe bei Hausaufgaben und Schularbeiten ging, aber zu langweilig für Verabredungen, außer in einem Notfall. Einsachtzig groß und gertenschlank, spielte Grant in den Baseball- und Leichtathletikmannschaften der Schule. Er war kein Spitzensportler, aber ein zuverlässiger mittlerer Leistungsträger, der den Trainern nicht den Nachtschlaf raubte.

Als sein letztes Schuljahr zu Ende ging, wurde Grant für die Zeit nach seinen Dienstjahren für das Gemeinwesen ein Universitätsstipendium angeboten. Die Dienstjahre waren obligatorisch: jeder junge Mann wurde zwischen seinem neunzehnten und zwanzigsten Lebensjahr für den Dienst am Gemeinwesen eingezogen. Die Dienstzeit betrug vier Jahre, von denen wenigstens zwei Jahre gleich abzuleisten waren, die übrigen zwei im Alter von fünfzig Jahren. Der Berater der Neuen Ethik an seiner Schule machte Grant das Angebot, dass er ein volles Stipendium an einer Universität seiner Wahl bekommen könne, wenn er die ganze vierjährige Dienstzeit jetzt ableisten würde. Dabei bestehe die Möglichkeit, den Dienst als Praktikum auf seinem Interessengebiet Astronomie mit Schwerpunkt Astrophysik abzuleisten.

Grant nahm das Stipendium und die Dienstverpflichtung an, und seine Zukunftshoffnungen konzentrierten sich mehr denn je auf das Mondobservatorium. Er ging nach Harvard und verliebte sich zu seiner Freude und Überraschung in eine schwarzhaarige Studentin der Biochemie namens Marjorie Gold. Sie brachte es fertig, dass er sich zum ersten Mal in seinem Leben wichtig fühlte. Wenn er mit ihr zusammen war, hatte der ruhige, zuverlässige junge Student das Gefühl, er könne das Universum erobern.

Sie heirateten noch im selben Jahr, obwohl er wusste, dass er für vier Jahre zum Mondobservatorium gehen würde, während Marjorie ihre kürzere zweijährige Dienstzeit in der internationalen Friedenstruppe ableisten würde, die derzeit mit dem Aufspüren geheimer Laboratorien zur Herstellung biologischer Kampfstoffe in den Dschungeln Südostasiens und Lateinamerikas beschäftigt war.

Aber sie waren jung, und ihre Liebe konnte nicht warten. Also heirateten sie trotz der Bedenken ihrer Eltern.

»Ich werde mindestens alle paar Monate vom Observatorium herunterkommen«, sagte Grant, als sie zusammen im Bett lagen und über die bevorstehenden vier Jahre nachdachten.

»Ich werde Urlaub nehmen, wenn du hier bist«, versprach Marjorie.

»Wenn mir die vier Jahre am Observatorium auf das Studium angerechnet werden, kann ich anschließend mein Doktorat machen«, sagte er.

»Dann kannst du an jeder Universität eine Dauerstellung bekommen.«

»Und wenn die vier Jahre um sind, können wir die Genehmigung für ein Kind beantragen«, sagte Grant.

»Einen Jungen«, sagte Marjorie.

»Willst du keine Tochter?«

»Danach. Nachdem ich gelernt habe, eine Mutter zu sein. Dann können wir eine Tochter haben.«

Er lächelte in der Dunkelheit ihres Schlafzimmers und küsste sie, und sie schliefen miteinander. Es war die sichere Zeit von Marjories Zyklus.

Beide hatten die Schule mit Auszeichnung abgeschlossen, Grant sogar als Klassenbester, und ihre Zukunftsaussichten schienen glänzend. Marjorie erhielt ihren Gestellungsbefehl für den Dienst in der Friedenstruppe, wie sie es erwartet hatte. Grant hingegen erfuhr zu seiner Bestürzung, dass er nicht zum Mondobservatorium geschickt wurde, sondern zur Forschungsstation Thomas Gold,

2. »… AUF WELCHER SEITE SIE STEHEN«

Grants Vater riet zur Geduld.

»Wenn sie dich dorthin schicken wollen, müssen sie ihre Gründe haben. Du wirst dich damit abfinden müssen, Junge.«

Grant konnte sich damit nicht abfinden. Trotz ernster Gebete war keine Geduld in ihm. Sein Vater war sein Leben lang ein sanftmütiger und hinnehmender Mann gewesen, und was hatte es ihm eingebracht? Unbekanntheit, vornehme Armut und herablassendes Lächeln hinter seinem Rücken. Das ist nichts für mich, sagte sich Grant.

Entgegen dem beschwichtigenden Rat seines Vaters wehrte sich Grant bis hinauf zum Regionaldirektor der Neuen Ethik für die nordwestlichen Staaten gegen die Entscheidung.

»Ich kann nicht vier Jahre im Jupiter-Orbit verbringen«, beharrte er. »Ich bin verheiratet! Ich kann nicht vier Jahre lang so weit entfernt sein! Außerdem studiere ich Astrophysik, und beim Jupiter gibt es dafür keinen Bedarf. Ich werde vier Jahre vergeuden! Man sagt mir, ich könne meine Studien dort in der Freizeit fortsetzen, aber wie kann ich arbeiten, wenn dort keine Astrophysik betrieben wird?«

Der Regionaldirektor saß steif und aufrecht in einem Lehnstuhl hinter seinem von Papieren überhäuften Schreibtisch aus massiver Eiche. Er beobachtete den aufgeregten jungen Mann über die zusammengelegten Fingerspitzen seiner schmalen Hände hinweg, während Grant weiterplapperte. Sein Name war Ellis Beech. Er war ein ernst aussehender Afroamerikaner, dessen Haut die Farbe von rußigem Rauch hatte. Sein Gesicht war lang und hohlwangig, der düstere Blick seiner hellbraunen Augen ruhte unverwandt und konzentriert auf Grant.

Schließlich gingen diesem die Worte aus. Er wusste nicht, was er noch sagen konnte. Er hatte sich bemüht, Zorn und Enttäuschung zu beherrschen, war sich aber bewusst, dass er laut geworden war, ohne es zu wollen, und damit seine Verärgerung und Aufgeregtheit verraten hatte. Zeig niemals Ärger, hatte sein Vater ihm geraten. Bleib ruhig und vernünftig. Ärger erzeugt Ärger; du willst den Regionaldirektor von deinem Standpunkt überzeugen, nicht ihn dir zum Feind machen.

Grant sank in seinen Stuhl zurück und wartete auf eine Reaktion des Regionaldirektors. Der Mann sah nicht wie einer aus, der sich angegriffen oder vor den Kopf gestoßen fühlte. Er machte eher den Eindruck, dass er nur die Hälfte dessen gehört habe, was Grant gesagt hatte. Beechs Schreibtisch war voll Papier, von einzelnen Blättern bis zu dicken, rotgebundenen Bänden; sein Computerschirm flimmerte beunruhigend; er war offensichtlich ein sehr wichtiger und sehr geschäftiger Mann, obwohl sein Telefon noch nicht einmal gepiept hatte, seit Grant in das warm getäfelte und mit Teppich ausgelegte Büro geführt worden war.

»Ich war für das Mondobservatorium gemeldet«, murmelte Grant in einem Versuch, dem hinter dem Schreibtisch brütenden Mann eine Antwort zu entlocken.

»Ich bin mir dessen bewusst«, sagte Beech endlich. Dann fügte er hinzu: »Aber unglücklicherweise werden Sie in der Jupiterstation gebraucht.«

»Wie könnte ich gebraucht werden?«

»Lassen Sie sich die Situation von mir erklären, junger Mann.«

Grant nickte.

»Die Wissenschaftler haben ihre Forschungsstation in der Jupiterumlaufbahn seit bald zwanzig Jahren«, sagte Beech mit leichter Betonung des Wortes Wissenschaftler. »Sie haben sich mit den Lebensformen beschäftigt, die auf zwei Monden des Planeten existieren.«

»Drei«, korrigierte ihn Grant ohne zu überlegen. »Außerdem haben sie Lebensformen in der Jupiteratmosphäre gefunden.«

Beech fuhr unbeirrt fort: »Die Arbeit, die diese Wissenschaftler verrichten, ist äußerst kostspielig. Sie geben Geld aus, das viel besser verwendet werden könnte, den Armen und Benachteiligten hier auf Erden zu helfen.«

Bevor Grant etwas erwidern konnte, hob Beech abwehrend die Hand. »Wie auch immer, wir von der Neuen Ethik erheben keine Einwände gegen ihre Arbeit. Obwohl viele dieser Wissenschaftler tun, was sie können, um die Wahrheit der Heiligen Schrift zu widerlegen, gestatten wir ihnen die Fortführung ihrer gottlosen Tätigkeit.«

Grant konnte sich nicht denken, dass das Studium der hoch angepassten Algen und Mikroben, die in den eisbedeckten Meeren der Jupitermonde lebten, eine gottlose Tätigkeit sei. Wie konnte irgendein Versuch, die Fülle von Gottes Schöpfung zu verstehen, als gottlos betrachtet werden?

»Warum erheben wir keine Einwände gegen diese ungeheuer kostspielige Verschwendung von Geldmitteln und Anstrengungen?«, fragte Beech rhetorisch. »Weil wir von der Neuen Ethik und ähnlichen gottesfürchtigen Organisationen in anderen Ländern es für zweckmäßig halten, einen Kompromiss mit der Internationalen Astronautischen Behörde und den globalen finanziellen Machtstrukturen zu schließen.«

»Kompromiss?«, überlegte Grant laut.

»Es geht um die Fusion«, sagte Beech. »Thermonukleare Fusion. Das wirtschaftliche Wohlergehen der Menschheit hängt von Kraftwerken ab, die mit Fusionsenergie arbeiten. Ohne diese würde die Menschheit in die Armut und das Chaos und die Korruption zurücksinken, die in früheren Jahren zu Kriegen und Terrorismus führten. Mithilfe der Fusionsenergie heben wir den Lebensstandard sogar der Ärmsten der Armen und bringen Hoffnung und Rettung bis in die trostlosesten Winkel.«

Grant glaubte zu verstehen. »Und das Brennmaterial für die Fusionsreaktoren – die Wasserstoff- und Heliumisotopen  – kommen vom Jupiter.«

»Das ist richtig«, sagte Beech und nickte ernst. »Die ersten Fusionsreaktoren wurden neben Wasserstoff mit Tritium betrieben, das aus Lithium erbrütet werden musste, aber das war zu kostspielig. Die Jupiteratmosphäre ist voll von Tritium. Unbemannte automatisierte Sammlerschiffe verdichten die Isotopen an Ort und Stelle und bringen das Tritium tonnenweise zur Erde.«

»Aber was hat das mit der wissenschaftlichen Forschung zu tun, die in der Jupiterstation betrieben wird?«, fragte Grant.

Beech breitete die Hände aus. »Als wir von der Neuen Ethik darauf hinwiesen, dass das für diese Wissenschaftler ausgegebene Geld besser hier auf Erden eingesetzt werden sollte, verlangten die Anthropozentriker der IAB und der großen Finanzinstitute unserer globalisierten Wirtschaft, dass die Forschungen fortgesetzt werden müssten. Sie lehnten die Einstellung der von ihnen finanzierten Forschungsaktivitäten rundweg ab.«

Gut, dachte Grant.

»Also wurde ein Kompromiss erzielt: die Wissenschaftler können ihre Arbeit fortsetzen, solange sie aus den durch den Betrieb der Sammlerschiffe erzielten Gewinnen finanziert werden kann.«

»Der Betriebsstoff für die Fusionsreaktoren finanziert die Forschungsarbeiten«, sagte Grant.

»Ja, so ist es in den letzten zehn Jahren gehandhabt worden.«

»Aber was hat dies alles mit mir zu tun? Warum schicken Sie mich zum Jupiter?«

»Wir wissen, was die Wissenschaftler auf den Jupitermonden tun. Aber letztes Jahr schickten sie eine Sonde in den Planeten selbst.«

»Sie schicken viele Sonden zum Jupiter«, erwiderte Grant.

»Diese war bemannt«, sagte Beech.

Grant stockte der Atem. »Eine bemannte Sonde? Sind Sie sicher? Ich habe nie etwas darüber gehört.«

»Wir auch nicht. Sie taten es insgeheim.«

»Nein! Wie konnten …?«

»Darum werden Sie zur Jupiterstation geschickt. Um in Erfahrung zu bringen, was diese Gottlosen damit zu erreichen suchen«, erklärte Beech.

»Ich? Sie wünschen, dass ich ihnen nachspioniere?«

»Wir müssen wissen, was sie tun – und warum sie ihre Aktivitäten nicht melden, nicht einmal der IAB.«

»Aber ich bin kein Spion. Ich bin Student!«

Beechs ernster Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Mr. Archer, ich bin überzeugt, dass Sie gleichzeitig ein Student der Naturwissenschaften und gläubig sein können.«

»Ja! Es gibt keinen fundamentalen Konflikt zwischen Wissenschaft und Glauben.«

»Vielleicht. Aber in der Jupiter-Forschungsstation arbeiten Wissenschaftler an etwas, das sie uns verheimlichen. Und wir müssen herausfinden, was dort gespielt wird und was sie vorhaben!«

»Aber … warum ich?«

»Gottes Wege sind unerforschlich, junger Freund. Sie sind ausgewählt worden. Finden Sie sich damit ab.«

»Es wird mein Leben ruinieren«, wandte Grant ein. »Vier Jahre getrennt von meiner Frau, vier Jahre für weiß Gott was vergeudet. Ich werde nie zu meinem Doktorat kommen!«

Beech nickte. »Es ist ein Opfer, das ist mir klar. Aber es ist ein Opfer, das Sie dem Himmel mit Freuden darbringen sollten. Außerdem sind Sie jung und haben das Leben noch vor sich. Sie werden Ihr Studium eben ein paar Jahre später abschließen. Aufs Ganze gesehen macht es nicht viel aus.«

»Sie können das leicht sagen. Ich bin derjenige, dessen Leben auf den Kopf gestellt wird.«

»Ich glaube, ich muss Ihnen etwas erklären«, sagte Beech und klopfte mit einer Fingerspitze auf den Schreibtisch. »Haben Sie eine Vorstellung davon, wie die Welt aussah, bevor die Neue Ethik und ähnliche Organisationen in den meisten Ländern politische Macht errangen?«

Grant rückte unbehaglich auf seinem Stuhl. »Es gab viele Probleme …«

Beech spuckte ein einziges, scharfes »Hah!« aus. Grant bemerkte, dass die Farbe seiner Augen der eines Löwen glich. Und er starrte Grant an, wie ein Löwe eine Gazelle beobachtet.

»Ich meine, wirtschaftlich, sozial …«

»Die Welt war ein Sumpf!«, fauchte Beech. »Überall Korruption. Verfall der Werte, keinerlei moralische Vorbilder. Die Politiker bloße Marionetten mächtiger Interessengruppen. Täuschten die Wähler mit Medienspektakeln und oberflächlicher Popularitätshascherei, während die wahren Probleme der Menschen und Völker ungelöst blieben.«

»Die Kluft zwischen arm und reich wurde immer weiter«, sagte Grant in Erinnerung an seinen Schulunterricht.

»Und das führte zu Verbrechen, Terrorismus, Kriegen«, fuhr Beech mit leicht erhobener Stimme fort. »Rassenunruhen und Bürgerkriege überall auf der Welt. Terroristen mit biologischen Waffen.«

»Die Katastrophe von Kalkutta«, sagte Grant.

»Drei Millionen Tote.«

»Und Sao Paulo.«

»Weitere zwei Millionen.«

Grant hatte die Videos in der Schule gesehen: Leichenhaufen auf den Straßen, Militär und Feuerwehr in Schutzanzügen gegen die tödlichen biologischen Kampfstoffe in der Luft.

»Regierungen waren gelähmt, unfähig zu handeln«, sagte Beech. »Bis der Geist Gottes in die Korridore der Macht zurückkehrte.«

»Es war beinahe wie ein Wunder, nicht wahr?«, sagte Grant.

Beech schüttelte den Kopf. »Kein Wunder. Harte Arbeit und entschlossenes Handeln von ehrlichen, gottesfürchtigen Menschen. In allen Teilen der Welt übernahmen wir die Regierungsgewalt, die Neue Ethik, das Licht Allahs, die Jünger Gottes in Europa.«

»Die Bewegung des Neuen Dao in Asien«, ergänzte Grant.

»Richtig, ja«, sagte Beech. »Und warum waren wir erfolgreich in unserem Bemühen, die unverzichtbaren Werte der Religion, moralische Kraft und Weisheit in der politischen Arena wieder zur Geltung zu bringen? Weil Religion ein digitales System ist.«

»Digital?«

»Digital. Religiöse Gebote beruhen auf moralischen Prinzipien. Es gibt Recht und es gibt Unrecht. Nichts dazwischen. Nichts! Kein Spielraum, der den Politikern erlaubt, sich durchzuschlängeln. Recht oder Unrecht, schwarz oder weiß, ein oder aus. Digital.«

»Darum hatte die Neue Ethik Erfolg, wo andere Reformbewegungen scheiterten«, meinte Grant mit neuem Verständnis.

»Genau. Darum gelang es uns, die vom Verbrechen heimgesuchten Straßen unserer Städte zu säubern. Darum gelang es uns, all diesen Gruppierungen, die unter dem Deckmantel einer so genannten Moralität unentwegt Rechte für ihr hedonistisches und sündhaftes Treiben einforderten, ohne von Pflichten etwas wissen zu wollen, ein Ende zu machen. Darum konnten wir dem Land und der ganzen Welt Ordnung und Stabilität bringen.«

Grant musste zugeben, dass die Menschheit nach allem, was er an Geschichte gelernt hatte, mit gottesfürchtigen, moralisch rechtschaffenen Regierungen an der Macht weit besser daran war, als sie es in den alten Tagen der Korruption und Zügellosigkeit gewesen war.

»Wir tun Gottes Werk«, fuhr Beech fort. Er saß noch aufrechter als zuvor, die Hände flach auf der Tischplatte, Feuer in den Augen. »Wir ernähren die Armen, bringen kostenlose Schulausbildung und geistige Erleuchtung zu allen, bis in die schlimmsten Gegenden von Asien und Afrika und Südamerika. Wir haben das Bevölkerungswachstum weltweit stabilisiert, ohne die Ungeborenen zu ermorden. Wir heben den Lebensstandard der Ärmsten der Armen.«

Grant brummte der Schädel. Er hörte sich fragen: »Aber was hat das mit Jupiter zu tun? – und mit mir?«

Beech musterte ihn streng. »Junger Mann, im Leben eines jeden kommt ein Punkt, wo er die Wahl zwischen gut und böse treffen muss. Sie müssen sich entscheiden, auf welcher Seite sie stehen: Gott oder Mammon.«

»Ich verstehe nicht.«

»Die Wissenschaftler draußen in der Forschungsstation Jupiter haben etwas vor, das sie geheimhalten wollen. Wir müssen feststellen, was sie tun und warum sie versuchen, ihr Tun vor uns geheim zu halten.«

»Sollte das nicht eine Aufgabe für die IAB sein?«, fragte Grant. »Das heißt, die ist für wissenschaftliche Forschung zuständig, nicht wahr?«

»Wir haben Vertreter in der Internationalen Astronautischen Behörde.«

»Sollten Sie es dann nicht der IAB überlassen?«

Beech sah ihn beinahe mitleidig an. »Der Preis der Macht ist Verantwortung. Um die Stabilität aufrechtzuerhalten, um sicherzugehen, dass niemand – kein Wissenschaftler oder Revolutionär oder verrückter Terrorist – in Gefahr bringen kann, was zu erreichen wir so hart gearbeitet hatten, müssen wir alles kontrollieren, überall.«

»Alles kontrollieren?«

»Jawohl. Diese Wissenschaftler der Jupiterstation denken, sie seien außerhalb unserer Kontrolle. Wir müssen sie eines Besseren belehren. Sie sind unser auserwählter Agent, um dieses Vorgehen einzuleiten. Sie werden uns helfen und darüber unterrichten, was sie tun und warum sie es tun.«

Grant war zu verwirrt, um zu antworten. Er begriff, dass die Entscheidung bereits getroffen war. Er würde zum Jupiter gehen. Sie erwarteten von ihm, dass er aufdeckte, was die Wissenschaftler dort taten. Er konnte sich dieser Pflicht nicht entziehen.

Er saß vor Beechs Schreibtisch und der Kopf schwirrte ihm, zerrissen zwischen dem Bewusstsein der Pflicht, der er nicht ausweichen konnte, und bitterem Groll, dass man ihn an der Entscheidung über die nächsten vier Jahre seines Lebens nicht beteiligt hatte.

Ob es ihm gefiel oder nicht, er würde zum Jupiter gehen.

Dann setzte Beech mit einem unerwarteten Lächeln hinzu: »Wenn Sie früh genug herausbringen, was dort geplant ist, können wir vielleicht Ihre Versetzung zu einer anderen Forschungseinrichtung – wie etwa dem Mondobservatorium – arrangieren.«

»Mondobservatorium?« Grant sah einen Strohhalm, an den er sich klammern konnte.

Beech nickte ernst. »Es ließe sich machen, als Gegenleistung für zufrieden stellende Arbeit.«

Grants jäh aufkeimende Hoffnung fiel in sich zusammen. Er war der Esel, dem die Karotte vor die Nase gehalten wurde. Die Hoffnung auf Versetzung zum Mondobservatorium sollte ihn anspornen zu tun, was sie wollten.

»Natürlich werden Sie in der Jupiterstation allein handeln«, fuhr Beech fort. »Niemand dort wird den wahren Grund Ihres Aufenthalts kennen, und Sie werden niemandem davon erzählen.«

Grant sagte nichts.

»Aber Sie werden nicht allein sein, Mr. Archer. Sie werden unter ständiger Beobachtung stehen.«

»Ah, Beobachtung?«

Beech lächelte dünn. »Gott sieht Sie, Mr. Archer. Gott wird jede Ihrer Handlungen beobachten, jeden Atemzug, den Sie tun, jeden Gedanken, der Ihnen durch den Sinn geht.«

3. DIE ENDLOSE SEE

Es ist ein grenzenloser Ozean, dessen Fläche mehr als das Zehnfache der gesamten Erdoberfläche beträgt. Unter der sturmgepeitschten Wolkendecke, die Jupiter von einem Pol zum anderen bedeckt, hat der Ozean niemals das Sonnenlicht gesehen, nie die felsigen, begrenzenden Küsten von Kontinenten gefühlt. Seine Wogen haben sich niemals in donnernder Brandung an Stränden gebrochen, denn es gibt kein Land auf Jupiters riesiger Oberfläche, nicht einmal eine Insel oder ein Riff. Ohne Hindernis rollt die Dünung in ewigem Gleichmaß über den Tiefen um die Welt.

Von unten durch die Glut des planetarischen Inneren erhitzt, von Jupiters hyperkinetischer Umdrehungsgeschwindigkeit angetrieben, jagen reißende Meeresströmungen durch diese endlose See, heulen Strahlströme durch die dichte, hohe Atmosphäre und erzeugen das quergestreifte Aussehen, das der Planet dem Betrachter von außen bietet. Gigantische Stürme durchwühlen Atmosphäre und Ozean, Taifunwirbel, die größer als ganze Planeten sind und seit Jahrtausenden in unablässiger Gewalt toben. Wie die Atmosphäre über ihm, ist der Ozean der größte, tiefste, mächtigste und gefährlichste im ganzen Sonnensystem.

Jupiter ist der größte aller Planeten des Sonnensystems, reichlich zehnmal größer und dreihundertmal massiver als die Erde. Jupiter ist so riesig, dass er mit Leichtigkeit alle anderen Planeten in sich aufnehmen könnte. Sein Großer Roter Fleck, ein Sturm, der seit Urzeiten tobt, ist allein schon größer als die Erde. Und der Fleck ist nur ein sichtbares Merkmal unter den unzähligen Wirbeln und streifigen Strahlströmen, welche mit Orkanstärke durch die dichte Wolkenhülle des Jupiter jagen.

Dennoch besteht Jupiter hauptsächlich aus den leichtesten Elementen Wasserstoff und Helium und ähnelt darin mehr einem Stern als einem Planeten. Trotz seiner gewaltigen Größe und Masse dreht sich Jupiter in nur zehn Stunden um seine Achse, so schnell, dass er nicht sphärisch, sondern an den Polen merklich abgeplattet ist. Jupiter sieht wie ein großer, farbig gestreifter Wasserball aus, der zusammengedrückt ist, als ob ein unsichtbares Kind darauf sitzen würde.

Durch diese schnelle Umdrehung wird die Jupiteratmosphäre in Streifen und Bänder vielfarbiger Wolkenströmungen gegliedert: blassgelb, hellorange, weiß, gelbbraun, dunkelbraun, bläulich, rosa und rot. Was gibt diesen Wolken ihre Farben? Was liegt unter ihnen? Seit mehr als einem Jahrhundert hatten Astronomen unbemannte Sonden in die Jupiteratmosphäre gesandt. Sie waren kaum in die Wolkenhülle eingedrungen, als sie schon vom überwältigenden Druck zermalmt wurden.

Aber die wissbegierigen Forscher ließen nicht locker, und allmählich lernten sie anhand von zuverlässigen Messungen, dass einige fünfzigtausend Kilometer – annähernd das Vierfache des Erddurchmessers – unter diesen Wolken der grenzenlose Ozean aus Wasser liegt, ein Ozean, der beinahe elfmal größer als die gesamte Erde und etwa fünftausend Kilometer tief ist. Stark durchsetzt von Ammoniak und schwefligen Lösungen, und sehr sauer, ist er gleichwohl ein Ozean aus Wasser, und überall sonst im Sonnensystem, wo es Wasser gibt, existiert Leben.

Gibt es Leben in Jupiters ungeheurem, tiefem Ozean?

4. FRACHTERORAL ROBERTS

Sie sagen, der Mädchenname Ihrer Frau sei auch Gold gewesen?«, fragte Raoul Tavalera.

Grant nickte. »Richtig.«

»Genau wie die Forschungsstation?«

Tavalera hatte ein langes Pferdegesicht mit Zähnen, die ein paar Nummern zu groß schienen, und wässrigen Augen, die unter dichten schwarzen Brauen etwas hervortraten. Alles zusammen verlieh ihm ein trauriges, grämliches Aussehen. Sein dichtes lockiges Haar war im Nacken zu einem langen Pferdeschwanz zusammengefasst, weil der Kapitän des Frachters aus Sicherheitsgründen hartnäckig darauf bestand.

»Ein zufälliges Zusammentreffen«, sagte Grant. »Es gibt keine Verbindung. Die Station ist nach Thomas Gold benannt, einem Astronomen des zwanzigsten Jahrhunderts. Engländer, glaube ich.«

»Wahrscheinlich ein Jude«, sagte Tavalera.

Grant hob die Brauen.

»Die verändern immer ihre Namen, wissen Sie, damit niemand mitkriegen kann, dass sie Juden sind. Ursprünglich hieß er wahrscheinlich Goldberg oder Goldstein, etwas in der Art.«

Grant setzte zu einer Antwort an, ließ es aber sein. Er und Tavalera saßen an dem einzigen Tisch in der schmierigen, engen Kombüse des Frachters. Tavalera war ein angehender Ingenieur, der seine zweijährige allgemeine Dienstpflicht in der Operationszentrale für die Sammlerschiffe ableistete. Die Operationszentrale war gleichfalls in der Jupiterstation untergebracht. Außer den beiden war niemand in der Kombüse; die Besatzungsmitglieder waren alle auf ihren Arbeitsstationen. Die Speise- und Getränkeautomaten waren um diese Stunde kalt und leer, das stählerne Schott und die Zwischenwände sahen ebenso wie der Kunststoffboden narbig, abgenutzt, verschrammt und alt aus.

Grant hatte sein Studium des Riesenplaneten unterbrochen, um eine Erfrischungspause in der Kombüse zu verbringen. Die meiste Zeit der eintönigen und langwierigen Ausreise zur Forschungsstation Gold brachte er mit Fachliteratur über Jupiter und sein Gefolge von Monden zu, um sich ein Bild von den Forschungsvorhaben der Wissenschaftler dort draußen zu machen.

Tavalera war kurz nach Grant in die Kombüse gekommen, anscheinend ohne einen anderen Zweck als den, ein Gespräch anzufangen.

Wollte er andeuten, dass Marjorie Jüdin sei? fragte sich Grant. Er hatte einen erfreulichen Zufall darin gesehen, dass die Forschungsstation den gleichen Namen wie seine Frau trug. Zwar wusste er, dass es keinen Zusammenhang gab, doch hielt er die Koinzidenz nichtsdestoweniger für ein gutes Omen. Nicht dass er an Omina glaubte. Das wäre Aberglaube und daher sündhaft. Aber er brauchte etwas, das ihn während dieser langen, langsamen und überaus langweiligen Reise hinaus zum Jupitersystem Auftrieb verschaffen konnte.

Grant hatte gedacht, man würde ihn an Bord eines der neuen Schiffe mit Fusionsantrieb zum Jupiter bringen, die auf dem größten Teil der Strecke beschleunigten und die Reisedauer auf ein paar Wochen verkürzten. Darin sah er sich getäuscht. Rangniedriges Personal, zu dem auch Studenten zählten, reiste auf die billigste Weise, was bedeutete, dass er und Tavalera den größten Teil eines Jahres an Bord dieses alten Eimers zubringen mussten. Was Grant aber am meisten verblüfft hatte, war die Erkenntnis, dass die Reise nicht auf seine Dienstzeit angerechnet wurde.

»Dienst an der Gemeinschaft«, sagte der zuständige Sachbearbeiter der Neuen Ethik, ein gereizt aussehender junger Mann mit verkniffener Miene, als Grant sich für die Reise eintragen ließ, »bedeutet genau das, was die Worte sagen: Dienst an der Gemeinschaft. Der Flug in einem Raumschiff ist keine Dienstzeit sondern Freizeit.«

Grant legte Widerspruch bei der nächsthöheren Instanz ein und ging bis zum Nationalen Officium, aber alles, was seine Bemühungen ihm eintrugen, war ein Ruf als Querulant. Nicht einmal Gebete halfen. Reisezeit war nach den Bestimmungen Freizeit.

Schöne Freizeit, dachte Grant. Das Schiff war alt und langsam, düster und bedrückend. Seine Wohneinheit rotierte an einem langen teleskopischen Rohr um den massiven Rumpf mit den Frachträumen, sodass Besatzung und Passagiere eine simulierte Schwerkraft genossen, die ungefähr die Hälfte der irdischen ausmachte. Grants und Tavaleras so genannte Zweibettkabine bestand aus einem engen Abteil mit zwei übereinander hineingezwängten Schlafkojen. Grant hatte die untere, wo kaum zehn Zentimeter zwischen seiner Nase und Tavaleras durchhängender Matratze waren.

Der deprimierende, heruntergekommene Erzfrachter hatte nicht einmal eine Nische irgendwo an Bord, die als Kapelle dienen konnte. Grant musste seine Sonntagsandachten mit Videos von Gottesdiensten seines Vaters in der tristen Kombüse verrichten und dabei hoffen, dass weder Tavalera noch eines der Besatzungsmitglieder hereinplatzen würde.

Der grantige, grauhaarige Kapitän knurrte Grant an, wann immer sie einander begegneten. »Hauptsache, Sie sind uns hier nicht im Weg, Sie Schlaumeier«, waren noch die freundlichsten Worte, die Grant von ihm zu hören bekam. Die sechsköpfige Besatzung ignorierte die Passagiere vollständig. Sie alle gebrauchten eine Ausdrucksweise, die sie daheim vor den örtlichen Schicklichkeitsausschuss gebracht hätte.

Also verfasste Grant lange und einsame Videobotschaften an Marjorie, wo immer sie sich aufhalten mochte, in Uganda oder Brasilien oder den Ruinen Kambodschas. Gespräche in Echtzeit waren unmöglich: bedingt durch die wachsende Entfernung von der Erde, benötigten Funksignale mehr und mehr Zeit zur Überbrückung der zunehmenden Distanz. Dies führte zu Verzögerungen in der Kommunikation, die jeden Versuch, ein wirkliches Gespräch zu führen, bald zunichte machten. Marjorie schickte ihm Botschaften, nicht so oft, wie er ihr welche schickte, aber natürlich hatte sie viel mehr zu tun. Sie wirkte immer munter und hoffnungsvoll und beendete jede Botschaft damit, dass sie die Zahl der Stunden bis zu Grants Rückkehr zur Erde nannte.

»Es sind noch zweiunddreißigtausendeinhundertundsiebzehn Stunden, bis wir wieder zusammen sind, Liebling«, sagte sie. »Und jede Sekunde bringt dich mir näher.«

Jedes Mal wenn er an die Zahl dachte, war Grant zum Weinen zumute.

Er suchte Zuflucht bei seinen Fachbüchern, saß oft stundenlang im engen, schmutzigen kleinen Aufenthaltsraum des Frachters, der tatsächlich nichts weiter war als ein Abteil mit Metallwänden, kaum geräumig genug, um einen festgeschraubten Tisch und vier der unbequemsten Plastikstühle im Sonnensystem aufzunehmen. Über die Verbindung seines Taschencomputers mit dem in die Wand eingelassenen Bildschirm rief er die Fachliteratur über Jupiter ab und hatte sich bald daran gewöhnt, den größten Teil seiner Zeit dort zu verbringen. Das klaustrophobisch enge Schlafabteil überließ er Tavalera und suchte es nur auf, wenn er zu müde wurde, die Augen offen zu halten.

Von Zeit zu Zeit kamen Besatzungsmitglieder herein, aber meistens überließen sie Grant ohne ein Wort seinen Studien. Nur der Kapitän unterbrach ihn dann und wann und benutzte die Gelegenheit zu mürrischen Bemerkungen über studentische Schnorrer, die an Bord zu nehmen er gezwungen sei. Für ihn war Grant eine unnötige Last, ein unnützer Verbraucher der Bordvorräte an Luft und Nahrung. Tavalera hingegen war besser angesehen; wenigstens war er ein Ingenieur, und man konnte erwarten, dass er draußen im Jupitersystem lohnende Arbeit verrichten würde. Grant aber war nichts als ein Möchtegern-Wissenschaftler, der in einer Forschungsstation herumspielen würde, statt nützliche Arbeit zu tun.

Grant ignorierte die Feindseligkeiten so gut er konnte und setzte hartnäckig seine Studien fort. Er wollte alles über Jupiter wissen, was es zu wissen gab, wenn er in der Station Gold anlangte. Da es ihm nun einmal beschieden war, vier Jahre dort zu verbringen, wollte er vier produktive Jahre daraus machen, und nicht bloß als ein Schnüffler für die Neue Ethik das Tun und Lassen anderer beobachten.

Tavalera hatte einen spöttischen Ausdruck in seinem gewöhnlich trübsinnigen Gesicht; er bleckte die Pferdezähne in einem seltenen Grinsen.

»Finden Sie sich damit ab, Mann, Sie haben eine Jüdin geheiratet.«

Grant unterdrückte aufkommenden Ärger. »Sie ist keine Jüdin, und selbst wenn sie es wäre, was für einen Unterschied würde das machen?«

Tavalera beugte sich über den schmalen Tisch, bis er ihm so nahe war, dass Grant seinen unangenehmen Atem riechen konnte. In einem halb verschwörerischen Flüsterton antwortete er: »Die Sache ist die, dass sie nichts von Sex nach der Eheschließung halten.«

Er hob den Kopf, stieß sich vom Tisch zurück und brach in lautes, bellendes Gelächter aus. Grant starrte ihn an. War Tavalera deswegen gekommen und hatte dieses Gespräch angefangen? Nur um ihn zur Zielscheibe eines abgestandenen alten Witzes zu machen? Noch lachend, zeigte Tavalera auf Grant. »Sie sollten Ihr Gesicht sehen, mein Lieber! Köstlich! Feine Aussichten, wie?«

Grant rang sich ein Lächeln ab. »Na gut, diesmal bin ich in die Falle getappt, wie es scheint.«

»Das will ich meinen!«

Sie redeten noch ein paar Minuten, doch sobald er konnte, entschuldigte sich Grant und ging zurück zum Aufenthaltsraum und seinen Studien. Als er durch den kurzen Gang schritt, der durch die Mitte des Wohnmoduls führte, machte er sich seine Gedanken über Tavalera. War der Ingenieur mehr als ein bloßer Witzbold? War das Gespräch über Juden eine Art Test? Die Neue Ethik hatte überall Agenten, die ständig nach aufrührerischen Ideen und Unruhestiftern schnüffelten. Beobachteten sie ihn, weil sie im Zweifel waren, ob er einen zuverlässigen Spion für sie abgeben würde? Beech hatte gesagt, dass sie ihn beobachten würden. Vielleicht war Tavalera verpflichtet, irgendeinem Vorgesetzten Meldung über Grants Verhalten zu machen.

5. ANNÄHERUNG

Seit mehr als einer Woche verbrachte Grant jeden Tag Stunden mit der Beobachtung der abgeflachten Kugel Jupiters, die allmählich größer und fetter wurde, während die müde alte Roberts dem Riesenplaneten langsam näherkam.

Der Anblick des Mars war Grant entgangen; der Rote Planet hatte sich auf der anderen Seite der Sonne befunden, als sie seine Umlaufbahn gekreuzt hatten. Der Frachter war durch den Asteroidengürtel gesegelt, als ob er nicht da wäre, nichts als weite stille Leere, nicht ein Brocken kam in Sicht, nicht einmal ein Kieselstein. Das Bordradar hatte ein paar entfernte Echozeichen aufgefangen, aber nichts, was groß genug war, um einen Sonnenstrahl zu reflektieren.

Jupiter war etwas anderes. König unter den Planeten des Sonnensystems, groß genug, um mehr als tausend Erdbälle in sich zu verstauen, bot Jupiter Grants begierig spähenden Augen einen spektakulären Anblick. Wie ein wirklicher König war Jupiter von einem Gefolge begleitet. Tag für Tag beobachtete Grant, wie die vier größten Monde um ihren Herren kreisten. Er kam sich wie der alte Galilei vor, als er dieses Quartett neuer Welten sah, die den riesigen gestreiften Ball Jupiters umkreisten.

Ohne es zu merken, machte Grant ein Ritual aus seinen täglichen Beobachtungen. Gleich nach dem Frühstück in der Kombüse ging er in den Aufenthaltsraum, immer allein. Er hatte kein Verlangen nach Gesellschaft, schon gar nicht Tavaleras. Im Aufenthaltsraum angelangt, zog er seinen Taschencomputer und schaltete den Bildschirm auf die Bordkameras. Jeden Tag begann er damit, dass er eine Echtzeitwiedergabe Jupiters auf den Bildschirm brachte, ohne Vergrößerung. Er wollte den Planeten so sehen, wie er ihn sehen würde, wenn er draußen wäre und ihn mit unbewaffneten Augen beobachtete. Erst danach rief er das Vergrößerungsprogramm ab und begann den Planeten eingehender zu untersuchen.

Von Tag zu Tag wurde Jupiter größer. Grant sah inzwischen auch einige der kleineren Monde, die mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten ihre Bahnen um den massigen Himmelskörper zogen. Selbst in der stärksten Vergrößerung der Kameras waren es nur winzige Punkte, zweifellos eingefangene Asteroiden, winzige Welten, die vom König angezogen und gezwungen worden waren, seine Majestät zu umkreisen, bis sie ihr eines Tages zu nahe kommen und von Jupiters enormer Gravitationskraft zu Staub würden zermahlen werden.

Es gab einige Enttäuschungen. Die Wolkenstreifen waren nicht so hell und farbenfroh, wie er erwartet hatte. Ihre Töne waren eher gedämpft, matter als die leuchtenden Farben, die er früher gesehen hatte. Offensichtlich waren die Videos, die er studiert hatte, Falschfarbenbilder gewesen, um die Färbungen der Wolkenstreifen klarer herauszuarbeiten und ihre Wirbel und Strömungen deutlich zu machen. Auch konnte Grant nicht die dünnen dunklen Ringe sehen, die Jupiters Mitte umgaben, so sehr er sich auch bemühte, sie zu finden. Die Bordkameras hatten einfach nicht das nötige Auflösungsvermögen.

»Sehen Sie sich Io an, junger Mann.«

Grant blickte erschrocken auf und sah den Kapitän in der offenen Tür des Aufenthaltsraums stehen. Er war ein stämmiger, finster blickender Mann mit ergrauendem blonden Haar, das militärisch kurz geschnitten war und sein hartes, kantiges Gesicht betonte. Sein verblichener olivgrüner Overall war zerknittert, abgewetzt und fleckig. Seine schwieligen Wurstfinger hielten eine leere Plastiktasse.

»Prometheus ist ausgebrochen«, sagte er.

Es war das erste Mal auf der ganzen langen Reise, dass er zu Grant nicht in einem widerwillig knurrenden Ton gesprochen hatte. Grant war zu überrascht, um zu antworten. Er saß wie erstarrt am Tisch des Aufenthaltsraumes.

Mit missmutig gerunzelter Stirn kam der Kapitän an den Tisch, beugte sich über Grants Schulter und sprach knappe Befehle in den Taschencomputer. Der Bildschirm an der Wand blinkte und zeigte dann die fleckige, orangerote Kugel Ios, des Innersten der vier großen Galileischen Monde.

»Die Pizzawelt«, murmelte er.

Grant sah, dass Io tatsächlich einer Pizza ähnelte, allerdings von heißem Schwefel überzogen, nicht von Käse; gefleckt und gepunktet mit Kratern und Vulkanen statt Tomatenpüree und Pilzen.

Der Kapitän gab einen weiteren Befehl, und die Kamera holte einen Abschnitt des Mondes heran, so schnell, dass Grant beinahe schwindelte. Die Krümmung des Mondes zeigte helles, schwefliges Orangegelb vor dem schwarzen Hintergrund des Raumes, und Grant sah eine schmutzig-gelbliche Wolke in die Dunkelheit aufsteigen.

»Prometheus zeigt wieder, was er in sich hat«, sagte der Kapitän lachend.

Endlich fand Grant Worte. »Danke, Kapitän.«

»Warten Sie«, sagte der. »Sie brauchen nicht gleich wegzulaufen.« Er beugte sich wieder über Grants Schulter und gab dem Computer einen weiteren Befehl. Grant bekam seinen leicht ranzigen Schweißgeruch in die Nase und fühlte die Wärmeausstrahlung seines Körpers.

»Geduld«, sagte der Kapitän und richtete sich auf, während das Bild des Mondes Io wieder zurückwich.

Grant beobachtete den Bildschirm. »Wonach sollte ich Ausschau halten?«

»Werden Sie gleich sehen.«

Ios fleckige rötlichgelbe Scheibe erlosch, und Grant bemerkte verspätet, dass der Mond in Jupiters breiten, tiefen Schatten eingetreten war.

»Warten Sie einen Moment«, raunte der Kapitän hinter ihm.

Grant sah ein schwaches grünliches Leuchten erscheinen, ein geisterhaft blasses Licht wie von einem unheimlichen Tiefseebewohner. Er war zu überrascht, um zu sprechen.

»Energiereiche Partikel aus Jupiters Magnetosphäre bringen Ios Atmosphäre zum Leuchten. Man sieht es nur, wenn Io im Schatten ist.«

Richtig, dachte Grant. Er erinnerte sich, irgendwo darüber gelesen zu haben. Sauerstoff- und Schwefelatome wurden von Kollisionen mit Partikeln der Magnetosphäre angeregt. Die Erscheinung ähnelte den Nordlichtern auf Erden, es war der gleiche physikalische Mechanismus. Trotzdem war der Anblick eine Überraschung, ein Geschenk der Natur.

»Danke, Kapitän«, sagte er wieder und wandte sich vom Bildschirm ab, um zu ihm aufzublicken.

Der Kapitän hob die massigen Schultern. »Als ich in Ihrem Alter war, wollte ich Wissenschaftler werden. Das Sonnensystem erforschen. Neues Leben suchen, neue Entdeckungen machen.« Er seufzte schwer. »Stattdessen bin ich mit diesem Eimer unterwegs.«

»Es ist ein wichtiger Job«, sagte Grant.

»O ja, sicherlich.« Er sprach mit einem Akzent, den Grant nicht genau zu deuten wusste. Russisch? Polnisch? »So wichtig, dass das Schiff die meiste Zeit vom Computer gelenkt wird und ich nichts zu tun habe als aufzupassen, dass die Mannschaft keinen Mist macht.«

Darauf wusste Grant nichts zu erwidern.

»Nun ja, wenigstens habe ich hin und wieder fleißige junge Schlauberger wie Sie zu befördern«, sagte der Kapitän und zeigte ein unerwartetes Lächeln. Grants Unbehagen verstärkte sich. Was wollte der Mann, der nie ein gutes Wort für ihn gehabt hatte?

»Ich, ah …« Er stand auf. »Ich habe noch eine Menge zu lernen. Und ich muss meiner Frau ein Video schicken. Das tue ich jeden Tag, und …«

Der Kapitän lachte herzhaft. »Ja, natürlich«, sagte er. »Ich verstehe, mein Junge. Keine Sorge.«

Er lachte und ging zur Kaffeemaschine. »Solange das VR-System funktioniert und der Eimer zusammenhält, haben Sie nichts zu befürchten.«

Grant sank auf seinen Stuhl zurück, während der Kapitän grinsend seine Tasse füllte und zur Tür ging.

Dort blieb er stehen und wandte sich um. »Übrigens gibt es neben der Brücke eine Beobachtungskuppel. Wenn Sie Jupiter mit bloßem Auge sehen wollen, haben Sie meine Erlaubnis, sie zu benutzen.«

Grant zwinkerte überrascht. »Äh … ja … danke«, stammelte er. »Vielen Dank. Es tut mir Leid, wenn ich …«

Aber der Kapitän hatte schon kehrt gemacht und stapfte den Gang zur Brücke hinunter.

Grant saß da und fragte sich, ob er den Kapitän missverstanden und sich lächerlich gemacht habe. Aber er hatte das VR-System erwähnt, und Grant hatte gehört, dass Simulationen virtueller Realität nicht nur Navigationszwecken, Standortbestimmungen und anderen Bordfunktionen dienten, sondern auch für Simulationen von Sex verwendet werden konnten. Hatte er womöglich das gemeint?

Grant schüttelte den Kopf und tat den Gedanken als abwegig ab. Dann machte er sich daran, eine weitere Videobotschaft für Marjorie aufzusetzen, natürlich ohne den Kapitän zu erwähnen. Aber beim Gedanken an Marjorie fragte er sich gegen seinen eigenen Willen, wie VR-Sex sein mochte.

6. ANKUNFT

Grant spähte durch das transparente Panzerglas der Beobachtungskuppel und stellte fest, dass Jupiter nicht nur immens war, sondern lebendig.

Inzwischen waren sie in einer Umlaufbahn um den Planeten, und seine gigantische Masse war so nahe, dass er nichts anderes sehen konnte, nichts als die Wolkenstreifen und -wirbel, die in sichtbarer Bewegung über Jupiters Antlitz zogen. Die Wolken strömten und veränderten sich vor seinen Augen, bildeten Wirbel von der Größe Asiens, veränderten ihre Konturen und schienen manchmal wie Lebewesen zu pulsieren. Blitzentladungen leuchteten in diesen Wolken auf, plötzliche Explosionen, die wie Signallampen im Dunst aufleuchteten.

Unter diesen Wolken war Leben, das wusste Grant. Gigantische ballonartige Wesen, die Clarkes Medusen genannt wurden und in den orkanartigen Winden trieben, die um den Planeten jagten. Lebewesen, die niemals Land gesehen hatten und ihre ganze Existenz treibend in den Wolken verbrachten. Mit Segeln wie Spinnweben, die mikroskopische Sporen und Nährstoffe fingen, Partikel wie langkettige Kohlenstoffmoleküle, die sich in den Wolken bildeten und allmählich abwärts zum globalen Ozean sanken.

Wie von ungefähr kamen ihm die Worte eines Psalms in den Sinn:

Die Himmel verkünden die Herrlichkeit Gottes;und das Firmament bezeugt das Werk seiner Hände …

Und da war der Rote Fleck, ein gigantischer Wirbelsturm, der seit mehr als vierhundert Jahren tobte, größer als der ganze Planet Erde. Unaufhörlich zuckten Blitze um seine Ränder; für Grant nahmen sie sich wie die schlagenden Wimpern eines gigantischen Geißeltierchens aus, das sich über das Gesicht des Riesenplaneten arbeitete.

Irgendwo in einer engeren äquatorialen Umlaufbahn musste die Forschungsstation Gold sein, Grants Ziel, das größte von Menschen gemachte Objekt im Sonnensystem, ausgenommen die großen Raumstationen, die zwischen Erde und Mond kreisten. Aber Gold war ein unsichtbarer Punkt vor der enormen, überwältigenden Ausdehnung Jupiters.

Es war wie die Betrachtung eines abstrakten Gemäldes, dachte Grant, während er die dahinjagenden Wolkenstreifen betrachtete, blassgelb, rotbraun, grauweiß und rosa und blaugrau. Aber es war ein dynamisches Gemälde, das sich in ständiger Bewegung befand und von unheimlichen Flächenblitzen durchschossen war – lebendig.

Mars war eine tote Welt, kalt und still trotz seiner Staubstürme, seiner Flechten und der Ruinen in den Höhlen seiner Felswände. Venus war ein Backofen, erstickend und giftig und nutzlos. Europa, Callisto und Ganymed, die nahen Jupitermonde, beinahe von der Größe des Planeten Merkur, trugen empfindliche Ökologien mikroskopischer Lebensformen unter ihren immerwährenden Eisdecken.

Jupiter aber nahm sich in Grants ehrfürchtiger Betrachtung lebendig aus, machtvoll, siedend von Energie.

In den vergangenen vier Tagen hatte der Kapitän die Rotation des Schiffes allmählich beschleunigt, sodass der bewohnbare Teil sich jetzt schnell genug um den leeren Frachtrumpf drehte, um volle Erdschwerkraft zu erzeugen. Nach beinahe einem Jahr in halber Schwere fühlte Grant sich unter der schon ungewohnten Schwere seines Normalgewichts müde, weh und niedergeschlagen.

Anders war es nur, wenn er sich in der Beobachtungskuppel aufhielt. Wenn er dort in seinem gepolsterten Sessel saß und den gewaltigen Jupiter betrachtete, hatte er keine Zeit für seine Beschwerden; dann rasten seine Gedanken so schnell wie die wirbelnden, vielfarbigen Wolken. Er hatte keine klare Vorstellung davon, wie sein Auftrag in der Praxis aussehen würde, sobald sie die Station erreichten. Sicherlich hatte die Internationale Astronautische Behörde die teure Reise hinaus zum Jupiter nicht bezahlt, um Grant dort Pulsare und Schwarze Löcher studieren zu lassen, wie er es vorzugsweise getan hätte.

Nein, dachte er, ohne den faszinierten Blick vom Jupiter abzuwenden, das Hauptinteresse der IAB hier draußen im Jupitersystem galt den mikroskopischen Lebensformen auf den gefrorenen Monden Europa und Callisto, und den in der Jupiteratmosphäre lebenden Wesen. Sie sollten für diese Art Arbeit Biologen und Geologen einsetzen, nicht einen frustrierten Studenten der Astrophysik.

Die Neue Ethik behauptete jedoch, dass die Wissenschaftler insgeheim eine bemannte Sonde in die dichte Wolkenhülle Jupiters entsandt hatten. Konnte es wahr sein? Was hatten sie gefunden? Warum sollten sie solche Arbeit geheim halten? Wissenschaftler verhielten sich nicht so, überlegte Grant. Jemand in den Leitungsgremien der Neuen Ethik musste paranoid sein, und dafür musste er, Grant, mit vier Jahren seines Lebens bezahlen.

Mit wachsender Verzweiflung wurde ihm klar, dass die Wissenschaftler ihn wahrscheinlich zu einem Bohrturm auf dem Eis eines Jupitermondes schicken würden. Oder, schlimmer noch, unter das Eis in die kalte Schwärze eines Ozeans darunter. Dieser Gedanke ängstigte ihn. Unter das Eis in einen fremden Ozean zu tauchen, einer Welt völliger Finsternis, eingeschlossen in eine enge Druckkapsel, aufgehängt an einer kilometerlangen Nabelschnur mit angeschlossenem Luftschlauch. Grauenhaft.

»Andockmanöver beginnt in drei Minuten«, sagte die etwas blechern und kratzig klingende Stimme des Kapitäns aus dem Wandlautsprecher. »Alles nicht benötigte Personal in die Kabinen oder den Aufenthaltsraum.«

»Nicht benötigtes Personal«, murmelte Grant und stemmte sich aus dem gepolsterten Sessel. »Damit bin ich gemeint.« Und Tavalera, dachte er. Sein Körper fühlte sich schwer und träge an, als hätten seine Muskeln sich zurückgebildet.

Noch einen langen Moment blieb er mit schmerzenden Beinen in der engen kleinen Beobachtungskuppel stehen und starrte zum Jupiter hinaus. Es war schwierig, den Blick von seiner Pracht loszureißen. Die Forschungsstation war noch nicht in Sicht; oder wenn sie es war, befand sie sich außerhalb seines Blickwinkels. Widerwillig wandte er sich um, zog den Kopf ein, schlüpfte durch die Luke und in den Gang, der zum Aufenthaltsraum führte.

Tavalera saß im Gemeinschaftsraum am Tisch, einen dampfenden Kaffee vor sich und einen verlegenen Ausdruck in seinem Pferdegesicht. Er wischte sich das Kinn mit einer wiederverwendbaren Serviette. Grant sah, dass sein Overall auf der Brust befleckt und nass war.

»Geben Sie Acht beim Trinken«, warnte Tavalera. »Bei voller Schwerkraft fließt das Zeug viel schneller.«

Grant dachte, dass er die Warnung nicht nötig habe. Seine schmerzenden Beine sagten ihm alles, was er über die Schwerkraft wissen musste. Schwer ließ er sich gegenüber von Tavalera auf den anderen Stuhl fallen.

»Dies wird unser letzter Tag zusammen sein, nehme ich an«, sagte der junge Ingenieur.

Grant nickte schweigend.

»Hab heute Morgen meine Dienstanweisung bekommen«, sagte Tavalera mit einem Gesichtsausdruck zwischen Besorgnis und Hoffnung. »Bordingenieur auf einem Sammlerschiff: der Glen P. Wilson.«

Grant sagte noch immer nichts. In der täglichen Bekanntmachung eingegangener Nachrichten war keine ihn betreffende Anweisung gewesen. So viel er wusste, sollte er sich an Bord der Forschungsstation melden und dort sein Aufgabengebiet erfahren.

»Ein altes Schiff, hörte ich, knarrt und quietscht und hat seine Mucken, aber zuverlässig. Hohe Leistungseinstufung.«

Es hörte sich an, als suchte er sich selbst von etwas zu überzeugen, an das er nicht wirklich glaubte.

»Zwei Jahre«, fuhr Tavalera fort, »dann gehe ich nach Haus, frei und ungebunden.«

»Das ist gut.«

»Sie werden vier Jahre hier draußen sein, oder?«

»Das ist richtig.«

Tavalera schüttelte den Kopf wie ein Mann, der sich im Besitz überlegenen Wissens weiß. »Die haben Sie sauber hereingelegt, was? Vier Jahre!«

»Dann werde ich die anderen zwei nicht ableisten müssen, wenn ich fünfzig bin«, erwiderte Grant. Dann fügte er ein wenig boshaft hinzu: »Aber Sie müssen.«

Wenn Tavalera Grants Irritation spürte, ließ er es sich nicht anmerken. Er wedelte nur mit einem langen Zeigefinger in der Luft und sagte: »Vielleicht muss ich, vielleicht nicht. Bis ich fünfzig bin, könnte ich so wichtig sein, dass die Neue Ethik sich nicht an mich herantraut.«

Wieder überlegte Grant, ob Tavalera seine Loyalität auf die Probe stellen wollte. Und er fragte sich, ob das Gespräch abgehört wurde.

Mit leicht erhobener Stimme entgegnete er: »Ich bin immer der Überzeugung gewesen, dass man den Dienst am Gemeinwohl mit Freuden tun sollte. Man gibt der Gemeinschaft etwas zurück. Das ist wichtig, meinen Sie nicht? Man muss etwas gegen das Anspruchsdenken tun.«

Tavalera lehnte sich auf dem Stuhl zurück und warf Grant einen schlauen Blick zu. »Ja, sicher. Aber es gibt wichtige und es gibt wirklich wichtige Dinge. Verstehen Sie, was ich meine?«

Das Schiff erzitterte. Es war nur ein leises Vibrieren, aber so ungewöhnlich, dass Grant und Tavalera beide sofort aufblickten. Grant gab es einen Stich durch die Eingeweide. Tavalera sperrte einen Moment die Augen weit auf.

»Andockmanöver«, sagte Tavalera nach dem ersten Schreck.

»Ja, natürlich«, sagte Grant, bemüht, einen unbekümmerten Ton anzuschlagen.

Tavalera stemmte sich mithilfe der Tischplatte von seinem Stuhl hoch und sagte: »Kommen Sie, gehen wir hinunter zur Beobachtungskuppel. Es gibt was zu sehen.«

»Aber der Kapitän sagte …«

Tavalera ging lachend zur Tür. »Na los, Sie brauchen doch nicht jede Sekunde von jedem Tag in Ihrem Käfig zu bleiben. Was kann er uns schon anhaben, wenn er uns erwischt? Uns über Bord werfen?«

Am Bildschirm ertönte das Kommunikationssignal. »Eingehende Botschaft für Grant Archer«, verkündete die synthetische Stimme der Kommunikationsanlage.

Dankbar für die Unterbrechung, sagte Grant: »Bitte auf den Bildschirm legen.«

Der Bildschirm blieb leer. »Es ist eine private Botschaft«, sagte der Computer.

Nachricht von Marjorie, dachte Grant. Tavalera wird gehen, damit ich sie allein empfangen kann; tut er es nicht, kann ich ihn dazu auffordern.

»Auf den Bildschirm, bitte«, wiederholte er.

Zu seiner Überraschung erschien das Doppelsiegel der Internationalen Astronautischen Behörde und der Zensurbehörde der Neuen Ethik. Bevor Grant reagieren konnte, verschwand die Darstellung und wurde von einem längeren Textdokument abgelöst, das mit den Worten GEHEIME VEREINBARUNG überschrieben war.

Grant sah, dass Tavalera entgeistert auf den Bildschirm glotzte, und sagte: »Ich sollte lieber in die Kabine gehen und das auf meinem Taschencomputer lesen.«

»Wird wohl besser sein, nehme ich an«, sagte Tavalera mit dünner Stimme.

Als Grant sich an ihm vorbei in den Gang hinausdrängte, sagte Tavalera: »Ich hätte dich nie für einen NE-Agenten gehalten.«

»Bin ich auch nicht«, stieß Grant hervor. Und er wünschte, es wäre wahr.

»Ja, natürlich nicht.«

Grant eilte in das klaustrophobische Abteil, das er mit Tavalera teilte, während der junge Ingenieur in die andere Richtung zur Beobachtungskuppel ging. Allein in seiner engen Koje, las Grant sehr sorgfältig die geheime Übereinkunft. Zweimal, dann ein drittes Mal. Er war angewiesen, das Dokument zu unterzeichnen. Der Text ließ ihm keine Wahl. Verweigerte er die Unterschrift, konnte die Neue Ethik seinen Dienstvertrag annullieren und ihn »nach dem Belieben des IAB-Personals der Station« zur Erde zurückschicken. Das bedeutete, dass die gesamte Reisezeit zum Jupiter und zurück vollständig vergeudet sein würde. Und dazu noch die Zeit, während er auf den Rücktransport wartete.

Damit nicht genug, hatte Grant das sichere Gefühl, dass man ihm nach seiner Rückkehr in die Heimat die niedrigste, unangenehmste und schmutzigste Arbeit im öffentlichen Dienst zuweisen würde, die sich für ihn finden ließ. Mit Andersdenkenden und Gegnern ging man unsanft um.

So unterzeichnete er die geheime Übereinkunft. Im Grunde war sie ein einfaches Dokument. Darin wurde festgestellt, dass sämtliche Informationen, Daten, Erkenntnisse und Tatsachen, die er während seiner Dienstzeit sammeln würde, der Geheimhaltung unterlagen und keiner außenstehenden Person, Institution oder elektronischen Datenvernetzung zugänglich gemacht werden durften. Für den Fall der Zuwiderhandlung wurden strafrechtliche Konsequenzen angedroht.

Grant fühlte sich verunsichert. Die Neue Ethik wollte, dass er über alles berichte, was die Wissenschaftler taten; die IAB wollte ihn auf strikte Geheimhaltung einschwören. Er konnte es sich nur so erklären, dass beide Institutionen einander nicht trauten. Die IAB und die Neue Ethik mochten die Verantwortung für den Betrieb der Station Gold miteinander teilen, aber sie trauten einander nicht. Sie hatten nicht viel füreinander übrig. Und sie hatten ihn in die Mitte gesetzt, zwischen zwei Stühle. Was er auch tat, konnte ihn in Schwierigkeiten bringen.

Zu der Frage, was unter den Forschern der Station vorging, das so geheim gehalten wurde, gesellte sich der Wunsch, dass beide Seiten ihn in Ruhe lassen würden. Er unterzeichnete das Dokument und hielt, wie es die gesetzliche Vorschrift für Unterzeichner von Verträgen und amtlichen Dokumenten verlangte, seinen Taschencomputer zuerst an das rechte, dann an das linke Auge, sodass seine Unterschrift durch beide Retinaabdrücke beglaubigt wurde.

All diese Vorkehrungen verunsicherten Grant, bereiteten ihm Sorgen und ärgerten ihn. Aber sie hatten wenigstens eine gute Wirkung. Sobald Roberts das Andockmanöver mit der Raumstation vollzogen hatte und Grant seine Reisetasche zur Luftschleuse trug, verabschiedete sich Tavalera mit neu erwachtem Respekt in den Augen von ihm.

Es war beinahe komisch, dachte Grant. Die meiste Zeit der Reise war er halb überzeugt, dass Tavalera ein Informant der Neuen Ethik sei. Nun war Tavalera überzeugt, dass Grant einer sei. Er lachte beinahe, als er Tavalera zum Abschied die Hand schüttelte.

7. »WILLKOMMEN IM GULAG«

Endlich bekam Grant die Forschungsstation zu sehen, einen flüchtigen Blick nur, als er durch die Verbindungsröhre ging, die das Andockmodul der Station mit der Schleuse des Frachters verband.

Dieser flüchtige Blick beunruhigte ihn noch mehr.

Er sandte ein stummes Dankgebet für seine sichere Ankunft himmelwärts, verbunden mit der Bitte: »Mache mich würdig, o Herr, der Aufgabe, die Du mir gegeben hast.«

Durch die Deckenfenster der Verbindungsröhre sah die gekrümmte Oberfläche der Station riesenhaft aus, ein kolossaler Bogen aus grauem Metall, stumpf und narbig von langen Jahren unter der Einwirkung harter Strahlung und kosmischen Staubes.

Eine Kindheitserinnerung kam Grant in den Sinn: als seine Eltern mit ihm in San Francisco gewesen waren und sich in einem schäbigen, gefährlichen Teil der Stadt nahe den enormen, schmutzverkrusteten Pfeilern der Bay-Brücke verfahren hatten. Einen Augenblick war Grant wie betäubt gewesen, als er sich vorgestellt hatte, das ganze Gewicht dieser immensen Brücke würde auf ihn niederkrachen, ihn und seine Eltern in ihrem leichten offenen Wagen unter einem polternden Durcheinander von Stahlträgern und gewaltigen Brocken aus Mauerwerk und Beton zermalmen.

Als er jetzt durch die leicht biegsame Verbindungsröhre ging, hatte er plötzlich das gleiche Gefühl: Dieser gigantische, massige Körper der Station würde jeden Augenblick auf ihn niederstürzen. Wieder stockte ihm der Atem, und einen Augenblick lang fühlte er sich sehr klein, sehr verwundbar, dem Tode nahe.

Der Augenblick ging vorüber. Grant beendete sein Gebet und schritt allein weiter durch die Röhre. Er war die einzige Person, die vom Frachter zur Forschungsstation gebracht wurde. Der Boden war weich und elastisch unter seinen Stiefeln, eine willkommene Abwechslung nach vielen Monaten auf den Stahldecks des Frachters. Alles in Ordnung, sagte er sich. In dem Augenblick, da er am anderen Ende der Verbindungsröhre durch die Luke trat, begann offiziell seine Dienstzeit. Von da an wurde jede Sekunde auf seine vierjährige Verpflichtung angerechnet, und jede Sekunde würde ihn Marjorie, der Heimat und dem Leben, das er sich wünschte, näherbringen.

Aber dieser flüchtige Blick auf die Station hatte ihm etwas gezeigt, was nicht hätte dort sein sollen. Grant hatte sich Grundriss, Aufbau und Funktionen der Station in den Monaten seiner langen Reise zum Jupiter eingeprägt. Die Forschungsstation Gold glich einem dicken Krapfen von mehr als fünf Kilometern Durchmesser. Sie rotierte alle zwei Minuten einmal um ihre Achse und erzeugte durch die Fliehkraft eine künstliche Schwere, die beinahe genau jener auf der Erdoberfläche entsprach. Den Wissenschaftlern, die in den meisten Fällen jahrelang in der Station ausharren mussten, waren dadurch günstige Lebens- und Arbeitsbedingungen geboten, die keine lästigen und erschwerenden Umstellungen notwendig machten.

Grant hatte eine zusätzliche Struktur aus der Krapfenform ragen sehen, ein metallisches, linsenförmiges Objekt, rund und abgeflacht wie ein Diskus und durch eine einzige schlanke Röhre mit der Station verbunden. Nach allem, was Grant über die Station Gold wusste – und er kannte sie seit Monaten in- und auswendig – hätte das Gebilde nicht dort sein sollen. Es würde die Rotation der Station aus dem Gleichgewicht bringen und sie so sehr destabilisieren, dass schließlich das gesamte Gerüst der Station auseinander brechen musste.

Es konnte nicht da sein, dennoch hatte er es gesehen. Dessen war er sicher.

Er war ratlos, beinahe besorgt, als er die wenigen Schritte zum Ende des Verbindungstunnels hinter sich brachte. Er musste den Kopf einziehen, um durch die Luke in die Station zu gelangen. Als er sie durchstiegen hatte, sah er sich in einer kleinen leeren Kammer. Die metallischen Wände waren zerkratzt und glanzlos, der Boden bestand aus Metallgitter. Früher einmal waren die Wände gestrichen gewesen, wie es schien, doch von der Farbe waren nur noch ein paar graue, ebenfalls abblätternde Reststellen übrig.