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Eigentlich ist Shylo das kleinste und ängstlichste Kaninchen weit und breit. Doch dann gerät ausgerechnet er in ein riesengroßes Abenteuer! Eine Bande von Ratten will die Königin von England im Nachthemd fotografieren und sie so vor der ganzen Welt lächerlich machen. Um den gemeinen Plan der Ratten zu verhindern, muss Shylo all seinen Mut zusammennehmen. Und er braucht die Hilfe der königlichen Kaninchen von London …
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Seitenzahl: 121
Santa Montefiore / Simon Sebag Montefiore
Die königlichen Kaninchen von London
Aus dem Englischen von Claudia Müller
Illustriert von Kate Hindley
Für unseren lieben Sohn Sasha,
der uns auf die Idee zu diesem Buch gebracht hat
Die Große Höhle
Hauptquartier der Königlichen Kaninchen
Hopster
Großes, starkes, schlaues Kaninchen
Königliche Klopfer
Kaninchen einer militärischen Spezialeinheit
Marschall der Klopfer
Chef der Spezialeinheit
Haushofmeisterin
Ohne sie läuft in der Großen Höhle gar nichts
Generalissimo
Oberhaupt der Königlichen Kaninchen
Tief unter der Erde in einer dunklen Höhle am Waldrand saß Horatio, das alte Kaninchen, in seinem großen, etwas zerschlissenen Ohrensessel vor dem Feuer und wärmte sich. Doch plötzlich hörte er Blätter rascheln und das Getrappel von Pfoten. Schnell legte er sein Buch zur Seite, setzte sich aufrecht hin und spitzte die Ohren.
Horatio war zwar alt und grau, und von seinem linken Hinterbein war nur ein Stumpf übrig, aber seine Ohren waren noch so gut wie früher. Und er hörte ganz genau, dass das Pfotengetrappel nun lauter wurde. Das Herz des alten Kaninchens schlug schneller, und es zog am Griff seines Spazierstocks: Im fahlen Licht der Höhle kam ein Degen zum Vorschein.
Wenn ein Kaninchen einmal um sein Leben laufen musste, kann es niemals wieder ruhig schlafen.
»Wer ist da?«, fragte Horatio und sah über den Rand seiner Brille, der bereits ein paar Risse hatte. Seine Stimme klang seltsam rau, eher wie das Knurren eines Hundes als das Mümmeln eines Kaninchens.
»Ich bin es, Shylo Tawny-Tail«, antwortete eine leise, aufgeregte Stimme. Shylo stand im Türrahmen und klopfte vorsichtig mit seiner Hinterpfote auf den Boden, denn genau das tun höfliche Kaninchen, wenn sie irgendwo ankommen. Dann reckte er seine Nase in die Luft und schnupperte.
Horatio entspannte sich und ließ den Degen zurück in seinen Spazierstock gleiten. »Tritt ein, junger Shylo Tawny-Tail«, sagte er. Aber das kleine, dünne Kaninchen zögerte. Obwohl es Horatio nun schon mehr als ein Dutzend Mal besucht hatte, fürchtete es sich nach wie vor ein wenig vor dem Alten.
»Hab keine Angst! Du bist hier, um noch mehr Geschichten über die Alte Welt zu hören, nicht wahr?« Horatio lächelte und zeigte dabei einen kaputten gelben Zahn.
»Ja«, sagte Shylo und hoppelte in die düstere Höhle hinein.
Horatio musterte Shylo von oben bis unten: seine schmalen Schultern, seinen mageren Körper und die rote Augenklappe, die der Kleine tragen musste, um sein Schielen zu korrigieren. Noch nie hatte Horatio so ein schwächliches Häschen wie Shylo gesehen, aber er wusste, dass Äußerlichkeiten trügen konnten. Und wenn er genauer darüber nachdachte: War er nicht früher auch so klein und schwächlich gewesen? Und hatte er es nicht trotzdem weit gebracht? Er lächelte in sich hinein. Auf jeden Fall hatte das kleine Häschen Mumm! Denn die Anführer seiner Kaninchengruppe hatten ihm nicht nur verboten, sich dem Bauernhof zu nähern – es war ihm auch absolut und unmissverständlich untersagt worden, den alten Horatio zu besuchen.
Als Horatio vor vielen Jahren hierhergekommen war, ging es ihm sehr schlecht. Außerdem benahm er sich seltsam, weil er zu einer ganz besonderen Art von Kaninchen gehörte. Deshalb hatten die anderen Kaninchen ihre Höhlen vor ihm verschlossen. Er war gezwungen gewesen, sich eine eigene Höhle auf der anderen Seite des Waldes zu bauen, in unmittelbarer Nähe des Bauernhofs.
Angst vor Fremden war wirklich eine schreckliche Sache. Aber Shylos Neugier schien so viel größer zu sein als seine Angst. Denn es war tatsächlich seine Neugier gewesen, die das kleine Häschen das erste Mal zu Horatios Höhle geführt hatte – und sie sorgte auch dafür, dass er immer und immer wiederkam.
»Na, was glaubt deine Mutter diesmal, wo du bist?«, fragte Horatio.
»Ich hab ihr gesagt, dass ich Rüben ausgrabe«, antwortete Shylo und ließ dabei ein Ohr nach vorn über seine Stirn fallen. Die Lüge war ihm peinlich, weil es noch nicht einmal eine gute war.
Horatio nickte. »Jedenfalls wird dich in diesem Teil des Waldes niemand finden.« Er zeigte mit seiner zittrigen Pfote, um die er stets einen Verband trug, auf den Vorratsschrank. »Darin findest du einen Sack mit Rüben. Ich kann dich ja nicht mit leeren Händen nach Hause schicken. Du würdest großen Ärger bekommen, wenn die anderen herausfinden, dass du mich besuchst.«
»Mama sagt, du bist …« Shylo zögerte plötzlich, denn was seine Mutter über Horatio gesagt hatte, war nicht besonders nett.
»Verrückt?«, beendete Horatio den Satz und lachte leise, doch dann musste er husten. »Ich weiß, was die Leute reden. Sie sagen, ich hätte meinen Verstand verloren, und meine Feinde würden mich hier finden und euch alle in große Gefahr bringen. Unwissenheit ist die Wurzel aller Angst, Shylo Tawny-Tail. Vergiss das niemals. Die Anführer deiner Gruppe wissen es einfach nicht besser.«
Shylo blickte auf die lange Narbe auf Horatios Wange, auf seine verbundene Pfote, den hässlichen Stumpf und auf sein linkes Ohr, das fast komplett abgerissen war – und plötzlich wurde ihm klar, warum so viele Kaninchen Angst vor Horatio hatten. Das alte Kaninchen sah aus, als hätte es mit Tobias, der Katze vom Bauernhof, gekämpft – und den Kampf gewonnen. Aber Shylo hatte festgestellt, dass das kampferprobte alte Kaninchen überraschend sanft war, wenn man es erst einmal besser kennengelernt hatte.
Horatio nahm seine Brille ab. »Setz dich, Shylo. Also, wo waren wir stehen geblieben?«
Shylo ging zum Bücherregal, zog ein großes, schweres Buch heraus und trug es etwas wackelig durch die Höhle. Er ließ sich auf den Hocker neben Horatio fallen und legte das Buch, das voller Spinnweben war, auf Horatios Schoß.
Horatio las den Titel vor: »Aufstieg und Fall des Großen Kaninchen-Reichs«.
»Du hast mir vom Großen Kaninchen-Reich erzählt.« Shylo sah Horatio gespannt an. »Als die Großen Kaninchen von England fast die ganze Kaninchen-Welt regiert haben. Zur selben Zeit wurde beinahe die gesamte Menschen-Welt vom britischen Weltreich beherrscht. ›Wie oben, so auch unten‹, hast du, glaube ich, gesagt. Dann haben beide ihre Macht verloren …«
»Ja, die Briten mussten viele Gebiete, die sie erobert hatten, wieder aufgeben, und genauso erging es den Großen Kaninchen«, sagte Horatio. »Jetzt ist Amerika das mächtigste Land in der Menschen-Welt, und die amerikanischen Kaninchen sind die Mächtigsten in der Kaninchen-Welt. Aber lass uns noch mal an den Anfang gehen. Was weißt du über den Schwur, den eine ganz besondere Gruppe von Kaninchen vor langer Zeit abgelegt hat, um die königliche Familie zu beschützen?«
Shylos Augen glänzten vor Aufregung. »Vor vielen Hundert Jahren, als König Arthur England regierte, befahl er, dass Kaninchenpastete das Lieblingsessen aller Menschen in seinem Königreich sein sollte. Doch sein siebenjähriger Neffe, Prinz Mordred, liebte Kaninchen über alles. Er fiel vor dem ganzen Königshof auf die Knie und flehte seinen Onkel an, die Entscheidung rückgängig zu machen.
König Arthur war ein weiser König, der seinen Neffen sehr gernhatte. Er dachte kurz nach und verkündete dann, dass Kartoffelauflauf das Lieblingsessen der Menschen in England sein sollte. So hat Prinz Mordred Tausende von Kaninchenleben gerettet, und das Lieblingsgericht der Engländer wurde tatsächlich Kartoffelauflauf. Die Schlauesten und Mutigsten aller Kaninchen wollten sich bei Prinz Mordred bedanken und schworen deshalb den Eid, der königlichen Familie von England zu dienen. Sie bauten eine Höhle unter der Burg von Camelot und nannten sich selbst ›Die Kaninchen der Tafelrunde‹.«
»Richtig«, sagte Horatio. »Und genau in dem Moment, als König Arthur die Kaninchen davor bewahrt hatte, als Pastete zu enden, passierte etwas Magisches. So war es doch, Shylo, erinnerst du dich? Nur Kinder sollten die Fähigkeit haben, diese besonderen Kaninchen zu sehen. Es ist eine Gabe, die man ausschließlich in seiner Kindheit besitzt. Sobald man erwachsen ist, verliert man die magische Fähigkeit wieder und sieht einfach ganz normale Kaninchen, wie jeder andere auch.«
Shylo nickte, er wollte unbedingt weitererzählen. »Viele Hundert Jahre später, nachdem die königliche Familie nach London gezogen war, wurden aus den Kaninchen des Runden Tisches die Königlichen Kaninchen von London. Sie bauten eine riesige Höhle unter dem Buckingham-Palast und hielten sich weiterhin an ihren Schwur.«
»In der Tat«, sagte Horatio, »und sie werden ihren Eid nie vergessen. Weißt du, Shylo, ohne diese tapferen Ritter würde es die Königinnen und Könige von England heute gar nicht mehr geben. Sie wissen überhaupt nicht, was die Königlichen Kaninchen alles getan haben, um sie zu beschützen.«
Shylos sichtbares Auge leuchtete, so fasziniert war er. »Du wolltest mir doch noch von den Hunden erzählen … von dem Pack.«
Horatio machte ein ernstes Gesicht, und seine Augen blitzten wie Messer im Mondlicht. Shylo dachte an seine Geschwister. Wenn sie das alte Kaninchen jetzt so sehen könnten, würden sie vor Angst in Ohnmacht fallen.
Horatio wischte die Gläser seiner Brille mit einem Taschentuch sauber. »Das Pack …«, sagte er knurrend. »Nur ein einziges Kaninchen ist jemals lebend aus dem Zwinger herausgekommen. Ein schlaues Kaninchen, das dem Tod ganz knapp entronnen ist … aber das ist eine andere Geschichte. Du möchtest wissen, was mit denen passiert ist, die es nicht geschafft haben? Kaninchenhäute an einem Haken, Schalen voller Kaninchenschwänze, Schüsseln mit Kaninchenpfoten. Und der Gestank …«
Shylo rümpfte die Nase und rief sich den ekligsten Geruch in Erinnerung, den er kannte, nämlich den einer halb verrotteten Taube, die Tobias getötet hatte. Und er nahm an, dass der Zwinger noch viel schlimmer stinken müsste. Allein bei dem Gedanken daran verzog er das Gesicht, denn er hatte eine sehr empfindliche Nase.
Horatio setzte eine andere Brille auf. Hinter den Gläsern sahen seine Augen riesig und blutunterlaufen aus. »Diese Hunde können einem Kaninchen das Herz mit einem einzigen Biss herausreißen«, sagte er grimmig, und Shylos Knie schlotterten. »In unseren Wäldern lauern viele Gefahren, zum Beispiel herumstreunende Füchse oder tief fliegende Falken. Und auf den Feldwegen gibt es Geländefahrzeuge und Traktoren. Auch auf dem Bauernhof ist es gefährlich, wo Tobias uns jagt und Bauer Pflüger uns für seinen Eintopf schießen will.«
Shylo fröstelte. Sein Vater war von Bauer Pflüger erschossen worden, als Shylo noch ganz klein war, und seitdem hatte er große Angst vor ihm.
»Doch du kannst mir glauben«, fuhr Horatio fort, »dass es für Kaninchen nichts Furchterregenderes gibt als die gelben Reißzähne des Packs.«
Shylo wurde unruhig, weil Horatio plötzlich nicht mehr über die Vergangenheit sprach, sondern über die Gegenwart. Die Königlichen Kaninchen von London und das Pack waren doch schon lange verschwunden? »Aber es gibt sie nicht mehr, diese Hunde … oder?« Shylos Stimme klang jetzt eher wie ein Piepsen.
Horatio merkte, dass er dem kleinen Häschen Angst gemacht hatte, und es tat ihm leid. »Ich glaube, es ist Zeit für dich, nach Hause zu gehen, junger Shylo«, sagte er und klopfte leise mit seiner Pfote auf den Boden. »Ich habe noch ein paar Zeitungen für dich. Kaninchen lesen heutzutage viel zu wenig, dabei können wir Weisheit nur durch Lesen erlangen.«
Er gab Shylo einen Stapel zerknitterter Zeitungen und grinste schief. »Die habe ich auf dem Bauernhof gestohlen. Dieser Tobias ist ein echtes Scheusal, nimm dich vor ihm in Acht.«
»Danke«, sagte Shylo und klemmte sich die Zeitungen unter den Arm.
»Vergiss die Rüben nicht, und sieh zu, dass dich auf dem Heimweg niemand erwischt«, mahnte Horatio.
So schnell er konnte, rannte Shylo nach Hause, denn er hatte das Gefühl, dass hinter jedem Baum und Strauch zähnefletschende Hunde lauerten.
Als Shylo zu Hause ankam, huschte er durch den Tunnel in die Höhle und gab seiner Mutter die Rüben. Sie sah sich den kleinen Sack mit dem nicht mehr ganz frischen Gemüse an und seufzte.
»Ach, Shylo, ist das alles, was du gefunden hast?«
Warum war Shylo nur so langsam und tollpatschig, während all ihre anderen Kinder flink und geschickt waren? Sie liebte ihren Jüngsten sehr, aber sie hatte jeden Tag Angst, dass er von einem Fuchs gefressen wurde oder in einen Mähdrescher geraten könnte.
Shylo ließ sich auf einen Stuhl plumpsen und breitete eine der Zeitungen aus, die er von Horatio bekommen hatte. Das gefiel seiner Mutter, denn Shylos Geschwister waren ganz anders. Sie wollten nie etwas lesen, sondern tobten lieber wild herum.
In dem Moment kamen Shylos drei Brüder und drei Schwestern mit großen Säcken voller Gemüse nach Hause, das sie auf den Feldern des Bauern gestohlen hatten. Dagegen wirkte Shylos Säckchen wirklich sehr mickrig.
»Ha! Ist das alles, was der Kümmerling mitgebracht hat?«, rief sein ältester Bruder Maximilian verächtlich. Er zog an Shylos Augenklappe und ließ sie dann wieder los, sodass sie zurückschnappte und Shylo vor Schreck aufschrie.
»Du bist einfach zu nichts zu gebrauchen! Ich weiß nicht, warum du dir überhaupt die Mühe gemacht hast, heute Morgen aufzustehen«, sagte Maximilian und sprang dann in Riesensätzen durch die Höhle, um zu zeigen, wie schnell und wendig er war.
»Also wirklich, Maximilian, du bist ein ganz schöner Angeber«, sagte seine Mutter und lachte.
Shylo sah, wie stolz sie auf Maximilian war. Wenn er doch nur auch so in der Höhle herumspringen könnte. Aber alles, was er zustande brachte, war ein etwas ungeschickter Hopser.
»Es reicht jetzt«, fuhr seine Mutter fort. »Zeit fürs Abendbrot, lasst Shylo in Ruhe.«
»Ich kann mich schon um mich selbst kümmern«, murmelte Shylo, während seine Geschwister sich an den Tisch setzten und sich das Essen auf ihre Teller schaufelten.
Shylos Mutter rückte seine Augenklappe zurecht. »Du musst sie nicht mehr lange tragen, mein Schatz«, sagte sie freundlich. »Nur bis dein Auge wieder besser ist.«
Shylo hätte seinen Geschwistern so gern Horatios Geschichte über das Pack erzählt. Das würde ihnen bestimmt Angst machen, sogar Maximilian, der behauptete, er fürchte sich vor gar nichts. Aber Shylo wusste, dass er niemandem von seinen geheimen Treffen mit dem alten Kaninchen erzählen durfte, weil Horatio sonst schreckliche Probleme bekommen würde.
»Iss ordentlich!«, sagte Shylos Mutter. »Von Pastinaken wirst du groß und stark.« Aber ihr Blick verriet ihm, dass sie selbst nicht so recht daran glaubte.
Shylo sah seine Geschwister der Reihe nach an. Er war ein bisschen neidisch auf sie, denn sie alle hatten wunderbar glänzendes braunes Fell, dicke weiße Schwänzchen, lange Beine und aufrecht stehende Ohren. Und sie bildeten sich ganz schön was darauf ein. Bestimmt hatte seine Mutter sie viel lieber als ihn. Shylo seufzte. Schließlich kletterte er auf einen Stuhl und suchte die fast leeren Schalen auf dem Tisch nach etwas ab, das ihn groß und stark machen würde.
Mitten in der Nacht saß Shylo vor dem Eingang ihrer Höhle und sah hinauf zu den Sternen, die am dunklen Himmel funkelten. Wenn er doch nur genauso schlau und mutig wäre wie die Kaninchen des Geheimbunds, die früher unter dem Buckingham-Palast gelebt und die königliche Familie vor Gefahren beschützt hatten! Shylo träumte von einem Leben voller Abenteuer. Er hätte so gern eine wichtige Rolle in der Kaninchen-Geschichte gespielt, aber er hatte Angst davor, verletzt zu werden und von seiner Mutter getrennt zu sein.