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"Viele spüren, dass ein Leben, das dem Erfolg, der Konkurrenz, der Ausbeutung dient, in Wirklichkeit ein Leben ist, das die Menschen unglücklich macht." (Erich Fromm) Die Weisheit eines glücklichen Lebens besteht darin, aufmerksam zu werden für das, was wirklich zählt. Erich Fromm lehrt uns das Leben neu zu lernen: Achtsamkeit zu entwicklen, aufmerksam für das Wesentliche zu werden, Wurzeln zu schlagen und doch frei zu sein. Eine lebenspraktisches Buch eines großen Psychoanalytikers über die Kunst, tiefer zu leben . Herausgegeben von Rainer Funk. Die Alternative "Haben oder Sein" dient als Schlüssel zum Verständnis dessen, woran man bewusst, halbbewusst oder unbewusst das Herz hängt und was man mit Leidenschaft im Leben verfolgt. Mit ihr lässt sich nicht nur begrifflich fassen und diagnostizieren, was in Wirklichkeit in jedem vor sich geht, sie ist zugleich eine konkretisierbare Leitidee zur Veränderung des Lebens. Diese Alternative als Grundausrichtung des leidenschaftlichen Strebens - des Charakters - hatte Erich Fromm über viele Jahre beschäftigt.
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Seitenzahl: 185
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Erich Fromm
Die Kunst des Lebens
Zwischen Haben und Sein
Herausgegeben von Rainer Funk
Titel der Originalausgabe: Die Kunst des Lebens
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Judith Queins
Umschlagmotiv: © pashabo/shutterstock
Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book) 978-3-451-81410-5
ISBN (Buch) 978-3-451-03159-5
Inhalt
Einleitung(von Rainer Funk)
Von der Kunst des Lebens
Die Entfremdung des heutigen Menschen
Die Auswirkungen der Marktwirtschaft auf den Menschen
Vernunft als Intelligenz
Die Abspaltung der Gefühle
Liebe als Tauschgeschäft
Ursprünge der Orientierung am Haben
Die patriarchale Gesellschaft
Das Privateigentum
Habenorientierung und Sprache
Haben oder Sein
Die Alternative
Das Wesen der Orientierung am Haben
Haben und Besitzstreben
Das Wesen der Orientierung am Sein
Sein als psychische Produktivität
Merkmale eines Lebens zwischen Haben und Sein
Konsumieren(als Ausdruck von Angst und Depressivität)und Freude am Leben
Aktivsein(als Ausdruck von Passivität)und produktives Tätigsein
Destruktivität(als Ausdruck von Langeweile)und Kreativität
Narzißmus(als Ausdruck von Selbstverlust)und produktives Selbsterleben
Götzendienst(als Ausdruck von Unglaube)und humanistische Religiosität
Todesverleugnung(als Ausdruck von Angst vor dem Tod)und Liebe zum Leben
Schritte zum Sein
Der Wille zur Veränderung des Charakters
Veränderungen der Lebenspraxis
Veränderungen des Menschen
Literaturnachweise
Quellennachweise
von Rainer Funk
Unser Leben ist ein „Leben zwischen Haben und Sein“. Diese Erfahrung machen viele, die sich von Erich Fromms Alternative „Haben oder Sein“ bewegen und zu einer Veränderung ihres Lebens anregen lassen. Die Alternative hat Erich Fromm 1976 in seinem Buch Haben oder Sein formuliert. Diesem Buch folgte 1989, neun Jahre nach dem Tod von Erich Fromm, ein weiteres, das den Titel hat Vom Haben zum Sein und jene Kapitel aus dem Nachlaß enthält, die er zwar für das 1976 erschienene Buch verfaßt, jedoch aus verschiedenen Gründen damals nicht veröffentlicht hatte.
Die Alternative „Haben oder Sein“ dient vielen als Schlüssel zum Verständnis dessen, woran sie bewußt, halbbewußt oder unbewußt ihr Herz hängen und was sie faktisch mit Leidenschaftlichkeit in ihrem Leben verfolgen. Mit ihr läßt sich nicht nur begrifflich fassen und diagnostizieren, was in Wirklichkeit in jedem von uns vor sich geht; sie ist zugleich auch eine konkretisierbare Leitidee zur Veränderung unseres Lebens.
Wer immer versucht, seine eigene Orientierung am Haben zu erkennen und mit der Orientierung am Sein eine Alternative zu praktizieren, entwickelt das Bedürfnis, über den Weg dorthin noch mehr zu erfahren. Diesem Bedürfnis möchte das vorliegende Lesebuch zur Alternative „Haben oder Sein“ entsprechen. Es will nicht die Lektüre der beiden Bücher Haben oder Sein und Vom Haben zum Sein ersetzen, sondern ergänzen. Dies ergibt sich sowohl aus der Auswahl der hier versammelten Texte wie aus der Art ihrer Zusammenstellung. Darüber hinaus verfolgt der Band Leben zwischen Haben und Sein das Anliegen, die vielfältigen Mißverständnisse, die es um die Alternative „Haben oder Sein“ gibt, zu reduzieren und jene Aspekte der Alternative hervorzuheben, die sich nach bald zwanzigjährigem „Umgang“ mit Fromms Alternative als besonders fruchtbar und wegweisend herausstellten.
Vieles, was in den beiden genannten Büchern in wohlgesetzten Worten formuliert ist, kommt als gesprochenes Wort erst richtig an. Vorträge und Interviews sind deshalb eine wichtige Ergänzung und Bereicherung. Zwar schrieb Erich Fromm alle seine Bücher in Englisch, doch hielt er in den siebziger Jahren zur Entstehungszeit von Haben oder Sein eine Reihe von Vorträgen in deutscher Sprache und gab zahlreiche deutsche Interviews. Die Transkripte dieser sonst nicht oder nur schwer zugänglichen Interviews und Vorträge bilden einen wesentlichen Grundstock des vorliegenden Bandes.
Die Alternative „Haben oder Sein“ als Grundausrichtungen des leidenschaftlichen Strebens – des Charakters – hatte Erich Fromm über viele Jahre bereits beschäftigt, bevor er ihr am Ende seines Lebens ein eigenes Buch widmete. Vorformuliert bei Meister Eckhart und Karl Marx (vgl. E. Fromm, 1992b) faßte er sie in den vierziger Jahren bereits als Alternative zwischen nicht-produktiver und produktiver Charakterorientierung (vgl. E. Fromm, 1947a), später auch als Alternative zwischen Destruktivität bzw. Nekrophilie und Kreativität bzw. Biophilie (vgl. E. Fromm 1964a). Auch zu diesen Alternativen gibt es Beiträge und Vorträge, die gerade das, was Fromm mit der Existenzweise des Seins meint, illustrieren. Weil auch sie weitgehend unbekannt sind, fanden sie in diesen Band Eingang.
Schließlich enthält der Band einige zentrale Abschnitte aus den beiden Büchern Haben oder Sein und Vom Haben zum Sein, die für die Frage des Lebens zwischen Haben und Sein und des Wegs zu einer Orientierung am Sein besonders aufschlußreich sind, sowie als Einleitung ein bisher unveröffentlichtes Manuskript zu dem Buch Haben oder Sein.
Für den vorliegenden Band wurden die Texte so ausgewählt, daß sie in ihrer Abfolge und Gesamtheit ein geschlossenes Ganzes ergeben. Jede Auswahl und Zusammenstellung von Texten verfolgt bestimmte Interessen. Ein Interesse war, das Leben zwischen der Orientierung am Haben und der am Sein zu verdeutlichen. Kernstück des vorliegenden Bandes stellt deshalb das Kapitel „Merkmale eines Lebens zwischen Haben und Sein“ dar. Sowohl für die Orientierung am Haben wie für die am Sein sind ganz bestimmte Äußerungsformen charakteristisch. Dabei wurde jeweils zwischen der für die Orientierung am Haben typischen direkten Äußerungsform und den für sie charakteristischen Kompensationsformen bzw. Abwehrformationen unterschieden:
Für den, der sich am Sein orientiert, ist die
Freude am Leben
typisch, während für den am Haben Orientierten eine spezifische
Verlustangst und Depressivität
kennzeichnend ist, die bevorzugt durch suchthafte Formen des Konsumierenmüssen kompensiert werden.
Wer sich am Sein orientiert, ist
produktiv tätig
und lebt aus einer inneren Aktivität, während der am Haben Fixierte von einer eigenartigen
Passivität
bestimmt ist; in Wirklichkeit wird er gelebt. Um diese Passivität zu vermeiden, fliehen viele in einen geschäftigen Aktivismus.
Kreativität
ist immer ein Merkmal der Orientierung am Sein; ihr entspricht als Wesensmerkmal des am Haben Orientierten eine unendliche
Langeweile
, die bevorzugt mit Aktivitäten kompensiert wird, bei denen noch „etwas los“ ist: mit „action“, Gewalt und Destruktivität.
Sich in seinen Eigenkräften
selbst zu erleben
, ist gleichbedeutend mit der Orientierung am Sein; der am Haben Orientierte hingegen kämpft immer gegen einen drohenden
Selbstverlust
, den er durch eine narzißtische Aufblähung von sich abzuwehren versucht.
Für jede Orientierung am Sein ist eine
humanistische Religiosität
typisch, die sich gegen jede Art der Verdinglichung, Berechenbarkeit und Vergötzung des Menschen richtet, während der am Haben Orientierte durch einen tiefen
Unglauben
gekennzeichnet ist, den er mit überbrachten Gottesbildern oder den Göttern des Industriezeitalters zu kompensieren trachtet.
Die
Liebe zum Leben
ist das Kennzeichen aller seinshaften Wachstumskräfte, während der am Haben Hängende vor jeder Trennung panische Ängste entwickelt. Die Tatsache, daß er eines Tages auch vom Leben getrennt wird, erzeugt beim am Haben Orientierten eine charakteristische
Angst vor dem Tod
, die meist nur in ihrer Abwehr als Verleugnung des Todes, als Unsterblichkeitsglaube oder als Faszination für das Tote und für das, was nicht mehr sterben kann, in Erscheinung tritt.
In seinem Buch Haben oder Sein hat Erich Fromm unter der Überschrift „Weitere Aspekte von Haben und Sein“ noch andere Merkmale ausgeführt.
Ein weiterer Schwerpunkt bildet das letzte Kapitel der vorliegenden Sammlung, das von den „Schritten zum Sein“ handelt. Obwohl wichtige „Schritte zum Sein“ in dem Buch Vom Haben zum Sein dargestellt werden, wird dort doch nur wenig dem Umstand Rechnung getragen, daß es bei den Schritten zum Sein um die Veränderung der Ausrichtung einer Charakterstruktur mit ihren bewußten und unbewußten Aspekten geht. Darum enthält der vorliegende Band auch Texte zur Frage der charakterologischen Veränderung und zum Umgang mit dem Unbewußten.
Ein besonders relevantes Interesse, das sich in Auswahl und Zusammenstellung der Texte dieses Bandes widerspiegelt, ist der Aufweis der „Entfremdung des Menschen von heute“ durch die Marktwirtschaft, die zur Ausbildung des „Marketing-Charakters“ geführt hat. Es stimmt zwar, daß die Orientierung am Haben charakterologisch mit einem anal-hortenden Besitzstreben verwandt ist, das nur egoistisch-selbstsüchtig sich anzueignen versucht und nichts geben und teilen will, doch bildet das Besitzstreben nur die eine Wurzel der Habenorientierung. Wie Erich Fromm selbst im Dritten Teil seines Buches Haben oder Sein zeigt, ist die Orientierung am Haben heute weit mehr noch das Resultat der Entfremdung des Marketing-Charakters. Diese zeichnet sich dadurch aus, daß der Mensch mehr und mehr sein Selbst und Eigensein aufgeben und verlieren muß, wenn er am Markt erfolgreich sein will. Er erlebt sich zunehmend als entleertes Subjekt, das dann notgedrungen sein Selbst- und Subjektsein durch das Haben von Objekten ersetzen muß.
Im Vordergrund der aus dem Marketing-Charakter resultierenden Orientierung am Haben steht die existentielle Problematik, den drohenden Selbstverlust durch das Haben von Objekten kompensieren zu müssen: „Wenn ich nicht bin, was ich habe, gibt es mich nicht.“ Der am Besitz interessierte Habenorientierte hingegen sagt: „Ich bin, was ich habe.“ Für beide gilt, daß sie ihr Sein durch das Haben von Objekten definieren. Die unterschiedlichen Formulierungen deuten aber die neue Dimension existentieller Abhängigkeit an, die das Haben beim Marketing-Charakter bekommt. Der am Markt orientierte Charakter ist seinen Eigenkräften und seinem Selbstsein um vieles mehr entfremdet, so daß er jedes und alles benützt und gebraucht, um sein defizitäres Selbsterleben zu kompensieren. Nicht das Besitzen ist jetzt die eigentliche Triebkraft für die Orientierung am Haben, sondern die Notwendigkeit, sämtliche Bezüge, in denen ein Mensch steht – den Bezug zu Gegenständen, zu anderen Menschen, zu geistigen, spirituellen, kulturellen Werten, zur Natur, zur Arbeit, zu Gott sowie den Bezug zu sich selbst –, so zu benützen und zu funktionalisieren, daß sie sein verlustbedrohtes und entleertes Sein und Selbsterleben konstituieren können.
Erst diese existentielle Dimension der Orientierung am Haben rechtfertigt, von alternativen Existenzweisen zu sprechen. (Die ursprüngliche Übersetzung des englischen „modes of existence“ mit „Modus“ (des Habens bzw. des Seins) wurde deshalb ab der 11. Auflage von Haben oder Sein im Jahr 1979 durch „Existenzweise“ (des Habens bzw. des Seins) geändert.) Bei der Alternative, den Charakter am Haben oder am Sein zu orientieren, geht es um psychologische Existenzbestimmungen. Dabei zeichnet sich die Orientierung der Existenz am Haben durch eine existentielle Abhängigkeit von den Gegenständen des Habens aus, die die Qualität suchthafter oder narzißtischer Abhängigkeit hat: Wenn ich mich – zum Beispiel – nicht vom Sorge-Haben für einen bedürftigen Menschen her definieren kann, dann bin ich nichts und habe keine Existenzberechtigung mehr. Dem am Haben Orientierten droht immer mit dem Entzug der Verlust seiner selbst: er droht zu dekompensieren, den Boden unter den Füßen zu verlieren, ins Bodenlose zu fallen. Ob jemand das, was er hat, in der Existenzweise des Habens oder in der des Seins hat, läßt sich für jeden einzelnen relativ leicht überprüfen, indem er sich einmal vorstellt, daß ihm das, was er hat, weggenommen wird oder verloren geht. Wird ihm mit dem Verlust dessen, was er hat, der Boden unter den Füßen entzogen oder der Mittelpunkt seines Lebens genommen, dann hat er es in der Existenzweise des Habens gehabt, und es kommt mit dem Verlust des geliebten Objekts zu einem Selbstverlust. In der Existenzweise des Seins zu haben heißt, zu haben als hätte man nicht.
Daß die eigentliche Problematik des am Haben Orientierten diese existentielle Abhängigkeit von den Objekten ist, mit denen er in Beziehung steht und die sein Selbst und Subjektsein notdürftig begründen müssen, macht verständlich, warum auch nicht-materielle Werte als Gegenstände des Habens gesucht werden: die Orientierung am Haben von Recht, von Wahrheit, von Sorge, von Wissen, vom rechten Glauben, von Bildung, von Kindern, von einem guten Gewissen, von Gottes Gnade, von Erfolg, von einem guten Image, von Mitteilungsbedürfnis, von Erfahrung, von Gesundheit, von Krankheit usw. Es gibt nichts, was nicht in der Weise des Habens gehabt werden könnte. Auch die Großzügigkeit des Spenders und die Selbstlosigkeit des Helfers können im Dienste der am Haben orientierten Existenzweise stehen.
Die existentielle Abhängigkeit erklärt auch, daß selbst wertlose Gegenstände (Bierdeckel, Streichholzschachteln usw.) zu Gegenständen des Habens werden können, und daß auch die Bestimmung vom Nicht-Haben her ein Ausdruck der Orientierung am Haben ist. Wer sich zum Beispiel vom Nicht-Haben von Eigentum her definiert, um dadurch sein Eigensein zu begründen, ersetzt sein Sein durch das Nicht-Haben von Eigentum und ist durch die gleiche Abhängigkeit vom Nicht-Haben gekennzeichnet wie der Besitzgierige. Wer sich am Nicht-Haben orientiert, zeigt nur, daß er zu einem am Sein orientierten Leben nicht imstande ist. Weder ist die Askese ein eindeutiges Merkmal der Orientierung am Sein noch ist die Orientierung am Nicht-Haben die Alternative zur Orientierung am Haben. Die Alternative der Orientierung am Sein ist und bleibt die Fähigkeit, aus seinen eigenen psychischen, geistigen und körperlichen Wachstumskräften auf die Wirklichkeit in sich und außerhalb von sich bezogen zu sein.
Die Texte dieses Bandes wurden nach Möglichkeit in ihrer ursprünglichen, das heißt zum Teil vom gesprochenen Wort herkommenden Form belassen. Sämtliche Überschriften und Gliederungen stammen vom Herausgeber. Mußten innerhalb der Texte Ergänzungen gemacht werden, so sind Worte des Herausgebers immer in eckige Klammern gesetzt. Die gekürzten Zitatnachweise innerhalb des Textes sind am Ende des Bandes bei den Quellennachweisen aufgeschlüsselt.
Die Vorstellung, die Kunst des Lebens sei etwas Leichtes, ist relativ neu. Natürlich gab es schon immer Menschen, die glaubten, wenn sie nur zu Vergnügen, Macht, Ruhm und Reichtum gelangten, dann wären sie glücklich, und das, was sie zu lernen hätten, sei nicht die Kunst des Lebens, sondern wie man erfolgreich genug werde, um sich die Mittel für ein gutes Leben zu beschaffen. Im Unterschied zu solchen Menschen und Gruppierungen, die den Grundsatz eines radikalen Hedonismus praktizierten, hatten offensichtlich alle Kulturen ihre Meister des Lebens und ihre Meister des Denkens. Diese verkündeten, daß gut zu leben eine Kunst ist, die es erst zu erlernen gilt, und daß das Erlernen dieser Kunst Anstrengung, Hingabefähigkeit, Verstehen und Geduld erfordert. Und sie vertraten die Auffassung, die Kunst des Lebens sei die wichtigste, die der Mensch lernen müsse.
Heute hingegen erklären jene, die den Menschen beibringen, wie man lebt – die Psychologen, die Soziologen, die Politiker –, dies sei ganz einfach. Man müsse dafür eigentlich nur ein paar „How-do-you-do“-Bücher lesen. Wie konnte es zu diesem erstaunlichen Wandel kommen? Wie konnte es zu dem Glauben kommen, die Kunst des Lebens sei leicht zu erlernen und das einzig Schwierige sei, sich das Know-how beizubringen?
Ein Grund für diese Entwicklung ist darin zu sehen, daß wir in einer von Maschinen beherrschten Zivilisation leben, in der die handwerkliche Arbeit durch die maschinelle ersetzt ist. Einen Schuh oder einen Tisch herzustellen, war einmal eine schwierige Aufgabe, die über Jahre erlernt werden mußte, um es wirklich zu können. Wer heute Schuhe oder Tische herstellt, tut nichts Schwieriges mehr und braucht auch keine jahrelange Ausbildung mehr dazu. In immer weniger Berufen ist eine Ausbildung erforderlich, die der eines Tischlermeisters vergleichbar wäre.
Die gleiche Entwicklung, alles mit Leichtigkeit tun zu können, läßt sich auch im Bereich des Konsums beobachten. Zu kochen, Auto zu fahren, zu fotografieren, ja fast alle Tätigkeiten des Gebrauchens, erfordern kaum noch eine Fähigkeit, Anstrengung und Konzentration, vorausgesetzt, man folgt der simplen Gebrauchsanleitung. Warum also sollte das Leben eine Kunst sein? Warum sollte es so anstrengend sein, sie zu erlernen, wenn ansonsten alles so einfach zu erledigen ist und jedes Kind mit einem Druck auf den Knopf eines Fernsehgeräts eine ganze Welt hervorzaubern kann?
Und doch ist zu leben nicht einfach! Wir sind nur mit ein paar instinktiven Strebungen ausgestattet, deren Befriedigung für das Überleben des einzelnen wie der Spezies unabdingbar ist. In dieser Hinsicht unterscheiden wir uns nicht von den Tieren. Im Unterschied zu diesen besitzen wir jedoch keine uns innewohnende instinktive Gesamtausstattung, die uns anweisen würde, wie wir jeweils unser Leben zu gestalten haben, und die einen Plan für die Kunst des Lebens enthielte. Würden wir Menschen in unserem Handeln von solchen biologischen Notwendigkeiten bestimmt, dann würden wir „rational“ handeln und – um nur ein Beispiel zu nennen – uns nicht gegenseitig aus Gründen der Ehre, des Ruhms oder des Reichtums umbringen, sondern uns zum Zwecke des Überlebens kooperativ verhalten. Wäre unser Handeln nur durch Vernunft bestimmt, wäre ja alles gut; doch unser Denken steht viel zu leicht im Dienste unserer selbstsüchtigen Interessen und irrationalen Leidenschaften, um ein verläßlicher Führer bei der Kunst des Lebens zu sein.
Der Mensch kommt im Vergleich zum Tier viel zu früh zur Welt und vollendet seine physiologische Geburt erst viele Monate nach seiner tatsächlichen Geburt. Dies gilt noch weitaus mehr im Hinblick auf seine psychische Geburt. Psychisch gesehen braucht der Mensch sein Leben lang, um sich selbst ganz zur Geburt zu bringen. Er kann sich dabei aber auch verlieren; er kann zu jedem Zeitpunkt seiner Entwicklung aufhören zu wachsen und als psychischer Krüppel in Destruktivität, Depression, Liebesunfähigkeit und Isolation enden.
Der Mensch ist dem Gesetz allen physischen und psychischen Lebens unterworfen: Leben bedeutet zu wachsen und „tätig“ zu sein; endet das Wachstum, setzen Verfall und Tod ein. Der Tod im physiologischen Sinne ist unschwer zu erkennen; der Tod im psychologischen Sinne kann nur von denen wahrgenommen werden, die ein Gespür für psychische Lebendigkeit haben. Der Körper kann leicht lebendig gehalten werden; die Aufwendungen des Menschen hierfür sind vorgegeben und auf Grund der neurophysiologischen Struktur seines Gehirns mit Energie versehen. Im Vergleich hierzu ist der Mensch nicht bzw. nur in geringerem Grad gezwungen, weiterhin psychisch zu wachsen und tätig zu sein. Hierzu bedarf es einer permanenten Bemühung, die in sich lustvoll ist, doch er wird zu ihr nicht „getrieben“ wie bei einem instinktiv motivierten Verhalten.
Ziehen wir die Widerstände und Schwierigkeiten in Betracht, mit denen wir bei der Kunst des Lebens zu kämpfen haben, dann können wir kaum hoffen, sie ohne Anleitungen zu erlernen. Darum war seit jeher die Aufgabe der Meister des Lebens, zur Kunst des Lebens anzuleiten. Dies gilt zum Beispiel für Lao-Tse, Buddha, die Propheten, Jesus, Thomas von Aquin, Meister Eckhart, Paracelsus, Spinoza, Goethe, Marx und Schweitzer, von denen die meisten auch Meister des Denkens waren. Sie lehrten im Kern die gleichen Grunderfahrungen, wenn auch manchmal in scheinbar sich widersprechenden Vorstellungen. (Die Vorstellungen sind nur für jene widersprüchlich, die mehr an den Begriffen interessiert sind, als an der Erfahrung, auf die diese verweisen.)
Die Grundüberzeugungen der Meister des Lebens sind einfach:
Das oberste und alles bestimmende Ziel des Lebens ist darin zu sehen, daß der Mensch ganz menschlich wird.
Der Vorgang, bei dem der Mensch sich selbst zur Geburt bringt, führt zu Wohl-Sein
(well-being)
und hat die Freude am Leben als Begleiter.
Nur in dem Maße, in dem der Mensch seinen Haß, seine Unwissenheit, seine Gier und seine Selbstsucht überwindet und er in seiner Fähigkeit zu Liebe, Solidarität, Vernunft und Mut wächst, kann er dieses Ziel erreichen.
Es geht nicht nur darum, um diese Ziele zu wissen; er muß sie vielmehr praktisch zu erreichen suchen, und zwar auf jeder Stufe seines Lebens.
Man mag einwenden, was für einen Sinn die Hervorhebung der Meister des Lebens hat, wenn der momentane Zustand der Welt beweist, wie unwirksam ihre Lehren waren. Es stimmt wohl, daß ihre Stimmen zu wenig gehört wurden, doch hätte es sie nicht gegeben, wäre die Menschheit vermutlich schon längst mangels Führung zugrunde gegangen. Wenn wir unser Dilemma lösen wollen, hängt deshalb viel davon ab, ob wir wieder damit anfangen, von ihnen zu lernen, und zwar nicht, weil sie die Tradition verkörpern, sondern weil sie die verdichtete Einsicht, die Weisheit und das Wissen der Menschheit repräsentieren. Nimmt man ihren Standpunkt ernst, dann ist er revolutionär und radikal. Jede nur politische Radikalität muß ohne sie unwirksam bleiben. Allerdings gilt auch, daß ihre Lehren noch unwirksamer sein werden, wenn sie nicht auf radikale Änderungen in unserer wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Struktur bezogen werden, da diese zu einem immer größer werdenden Hindernis für unser persönliches Wachsen und Wohl-Sein geworden sind.
Ich plädiere nicht dafür, sich den religiösen und philosophischen Autoritäten der Vergangenheit zu unterwerfen, sondern von ihnen zu lernen. Ich rufe dazu auf, kritisch zu denken, aufzuwachen und zu erkennen, daß wir in Wirklichkeit von lebensfeindlichen „Meistern“, die in der Verkleidung als „Meister des Lebens“ auftreten, bestimmt werden. Diese aber wurden berühmt und mächtig, weil es ihnen nicht gelungen ist, ganz menschlich zu werden.
Es gibt noch einen anderen Grund, warum man glaubt, es sei leicht, die Kunst des Lebens zu erlernen. Im Unterschied zu den vorgenannten ist dieser Grund tief unbewußt. Er wurzelt in dem Glauben, daß der Mensch nicht wichtig ist oder, um es anders zu sagen, daß zu leben nicht wichtig ist. Dieser Glaube muß notgedrungen unbewußt sein, widerspricht er doch der vorherrschenden und allgemein akzeptierten Ideologie von der Wichtigkeit des menschlichen Lebens. Im allgemeinen wird nicht erkannt, daß mit dieser Ideologie nur die Tatsache verdeckt werden soll, daß der Mensch nur ein Attribut der Maschine ist, ein Teil von ihr, das (noch) nicht durch einen mechanischen Teil ersetzt werden kann, und daß nicht der Mensch die Maschine beherrscht, sondern die Maschine und das gesamte wirtschaftliche System ihn beherrscht. Der Mensch ist wichtig als Zahnrad, das zum Funktionieren des Ganzen notwendig ist, aber eben gerade nicht als ein lebendiges, reiches, produktives menschliches Wesen.
Es wird auch nicht erkannt, daß der Mensch zu einer Ware geworden ist, deren Wert sich von seiner Verkäuflichkeit her bestimmt. Er hat gut zu funktionieren; lebendig und zufrieden muß er nur in dem Maße und auf eine Weise sein, wie es zu seinem Funktionieren notwendig ist. Wenn es aber so ist, daß das „Wohl-Funktionieren“ das „Wohl-Sein“ ersetzt hat, warum sollte dann noch die „Kunst des Lebens“ der Mühe wert sein?
Unveröffentl. Manuskript
Der wichtigste Schlüssel zum Verständnis der Charakterstruktur unserer heutigen Gesellschaft ist die Veränderung, die sich zwischen dem Frühkapitalismus und der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Gesellschafts-Charakter vollzog. Der autoritär-zwanghaft-hortende Charakter, der sich im 16. Jahrhundert zu entwickeln begann und bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zumindest in der Mittelklasse vorherrschte, mischte sich allmählich mit dem Marketing-Charakter oder wurde durch ihn verdrängt. Ich habe die Bezeichnung „Marketing-Charakter“ gewählt, weil der einzelne sich selbst als Ware und den eigenen Wert nicht als „Gebrauchswert“, sondern als „Tauschwert“ erlebt.
Haben oder Sein, S. 146.
In unserer modernen Wirtschaft gibt es keinen Markt, auf dem Menschen sitzen und ihre Waren verkaufen. Vielmehr wird sie von dem regiert, was man einen „öffentlichen Warenmarkt“ nennen könnte, auf dem die Preise und die Produktion von der Nachfrage bestimmt werden. Dieser öffentliche Markt ist für die moderne Wirtschaft der regulierende Faktor. Die Preise werden von keiner wirtschaftli