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Berlin, 5. Dezember 1894: Kaiser Wilhelm II. setzt den Schlussstein des neu errichteten Reichstagsgebäudes. Mary, die Tochter des "alten Banners", ist mit ihrem Vater bei der Zeremonie dabei. Nur ihr Mann ist mal wieder unabkömmlich. Nach Ende der Zeremonie begegnen sie einem hageren, abgerissenen Mann in den Dreißigern. Es ist Dietrich Queetz, der ehemalige Hauslehrer der Familie, der jetzt als Reporter arbeitet. Als Hauslehrer hatte er eine ungeahnte Macht über die junge Mary, die sich in ihn verliebt wähnte. Kehren nun die Dämonen der Vergangenheit zurück? Der Roman verfolgt einerseits den rasanten Aufstieg von Queetz vom halbverhungerten Abenteurer zum Reichstagsabgeordneten und zu einem entscheidenden Politiker des Landes, anderseits das Schicksal Marys, die aus einer unglücklichen Ehe ausbricht und sich auf eine Affäre mit dem Mann ihrer Schwester, Herbert von Haldern, einlässt, dem erbitterten Feind ihres Mannes. Ein spannender Roman über die Politik und Liebe im Deutschen Kaiserreich, wie ihn nur ein Rudolph Stratz zu schreiben vermochte.Rudolph Heinrich Stratz (1864–1936) war ein deutscher Schriftsteller, der zahlreiche Theaterstücke, Erzählungen und vor allem Duzende Romane verfasst hat. Stratz verbrachte seine Kindheit und Jugend in Heidelberg, wo er auch das Gymnasium besuchte. An den Universitäten Leipzig, Berlin, Heidelberg und Göttingen studierte er Geschichte. 1883 trat er in das Militär ein und wurde Leutnant beim Leibgarde-Regiment in Darmstadt. 1886 quittierte er den Militärdienst, um sein Studium in Heidelberg abschließen zu können. Zwischendurch unternahm er größere Reisen, z. B. 1887 nach Äquatorialafrika. Mit dem 1888 und 1889 erschienenen zweibändigen Werk "Die Revolutionen der Jahre 1848 und 1849 in Europa" versuchte der Vierundzwanzigjährige erfolglos, ohne formales Studium und mündliches Examen zu promovieren. 1890 ließ er sich in Kleinmachnow bei Berlin nieder und begann, Schauspiele, Novellen und Romane zu schreiben. Von 1891 bis 1893 war er Theaterkritiker bei der "Neuen Preußischen Zeitung". Von 1890 bis 1900 verbrachte er wieder viel Zeit im Heidelberger Raum, vor allem im heutigen Stadtteil Ziegelhausen. Ab 1904 übersiedelte er auf sein Gut Lambelhof in Bernau am Chiemsee, wo er bis zu seinem Tod lebte. 1906 heiratete er die promovierte Historikerin Annie Mittelstaedt. Während des Ersten Weltkrieges war er Mitarbeiter im Kriegspresseamt der Obersten Heeresleitung. Bereits 1891 hatte er sich mit dem Theaterstück "Der Blaue Brief" als Schriftsteller durchgesetzt. Doch vor allem mit seinen zahlreichen Romanen und Novellen hatte Stratz großen Erfolg: Die Auflagenzahl von "Friede auf Erden" lag 1921 bei 230 000, die von "Lieb Vaterland" bei 362 000. Ebenso der 1913 erschienene Spionageroman "Seine englische Frau" und viele weitere Werke waren sehr erfolgreich. 1917 schrieb er unter Verwendung seines 1910 erschienenen zweibändigen Werkes "Die Faust des Riesen" die Vorlage für den zweiteiligen gleichnamigen Film von Rudolf Biebrach. Friedrich Wilhelm Murnau drehte 1921 nach Stratz' gleichnamigem mystischen Kriminalroman den Spielfilm "Schloß Vogelöd". Den 1928 als "Paradies im Schnee" erschienenen Roman schrieb Stratz 1922 nach Aufforderung von Ernst Lubitsch und Paul Davidson als Vorlage für den 1923 unter der Regie von Georg Jacoby realisierten gleichnamigen Film. 1925 und 1926 erschienen seine Lebenserinnerungen in zwei Bänden. Zwischenzeitlich weitgehend in Vergessenheit geraten, wird das Werk von Rudolph Stratz nun wiederentdeckt.-
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Seitenzahl: 422
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Rudolf Stratz
Roman
Saga
Die letzte Wahl
© 1899 Rudolf Stratz
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711506981
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com.
„Pro gloria et patria!“
Die Stimme des deutschen Kaisers klang anders als das Gemurmel der Würdenträger, die vor ihm ihre Festreden zur Einweihung des neuen Reichstags gehalten hatten. Diese hüstelnden, stockenden und sich räuspernden Exzellenzen waren schon auf wenige Dutzend Schritt im Umkreise des sie umringenden, goldgestickten und ordenprunkenden, leise sporenklirrenden und verstohlen gähnenden Gewühls unhörbar gewesen. Eine gewisse Resignation, jene feierliche Ergebung in das Schicksal, das die Mitwirkenden jedes grossen offiziellen Staatsaktes kennzeichnet, lag auf allen Gesichtern.
Und nun plötzlich — hell und scharf, wie ein Kommandoruf auf dem Exerzierplatz, rings in dem Riesenraum alles zum Leben erweckend, dies „Pro gloria et patria!“ aus dem Munde des Kaisers.
Ein Rauschen wie das Wehen des Windes in Roggenfeldern ging in bunt zitternden Wogen durch den Festsaal unten und die Tribünen der Zuschauer oben unter der Kuppel, und durch das unbestimmte verhaltene Brausen klangen silberhell drei Schläge.
„Jetzt legt der Kaiser den Schlussstein zum Reichstag,“ hörte Ellen hinter sich die gedämpfte Stimme ihres Mannes und drehte sich zu der neben ihr sitzenden Schwester: „... Mary ... hast du gehört? Jetzt legt der Kaiser ...“
Sie konnte nicht weitersprechen, und Mary nickte nur stumm, ohne den Blick von dem Gefunkel und Gewimmel unten abzuwenden. Die Posaunenfanfaren, die gleichzeitig mit den Hammerschlägen des Kaisers wieder losbrachen, erstickten jedes Wort und verschlangen jeden andern Laut in ihren schmetternden, gellend wie der Schlachtruf vor dem Treffen durch Kuppel und Hallen brandenden Klangwellen.
Es war etwas Nervenaufrüttelndes, etwas von elementarer Kraft in diesen langgezogenen, jauchzenden Tönen. Mary fühlte, dass ein leichtes Frösteln sie überlief, während sie sich so weit wie möglich über das rote Tuch der Tribünenbrüstung lehnte und, wie man aus der Loge ein prunkvolles Ausstattungsstück geniesst, mit weit offenen Augen die Farbenorgie des nach dem Kaiser tief da unten am Schlussstein hämmernden offiziellen Deutschlands in sich aufnahm.
Was da eigentlich unter der Kuppelwölbung sich in Hunderten und Tausenden von glitzernden Punkten drängte und zwecklos in eintönigem, leisem Summen hin und her schob — sie hätte es nicht sagen können. Es war ein Rausch für die Augen, ein papageienfarbener Traum von Gold und Silber, der keine Überlegung und Unterscheidung zuliess.
Doch! Da, wo es in der Mitte des Gedränges licht war und neben dem viereckigen grossen Marmorwürfel des Schlusssteins die Steinmetzen in langen Schurzfellen, die silberne Mörtelkelle und den goldenen Hammer von Hand zu Hand gebend, standen — da, gerade unter ihr, war der Kaiser. Sie sah den Silberadler der Gardeducorps auf seinem Helm blitzen und dahinter goldig schimmernd die Pickelhauben der Flügeladjutanten, hünenhafter Erscheinungen in lichtgrauen, von der Silberschärpe eng gegürteten Mänteln.
Neben dem Kaiser die Kaiserin und die Prinzessinnen, alle in tiefer Trauer, mit langwallendem Flor. In seltsamem Widerspruch zu allem Gewohnten standen da inmitten der bunt herausgeputzten, in Silber, Gold und Scharlach gleissenden tausendköpfigen Männerwelt die wenigen Frauen als schwarzgekleidete, düster wirkende Gestalten da.
„Das ist der Reichskanzler!“ vernahm Mary hinter sich die leicht befangene Stimme ihres Schwagers. „... Da der kleine alte Herr ... er sieht wie ein Knabe aus, wie er da zwischen all den Potsdamer Riesen hintrippelt. ... Der breitschulterige, derbe Mann neben ihm ist der Minister des Innern ... ein merkwürdiger Gegensatz ... das feine, alte und müde Süddeutschland und das robuste Ostelbiertum, das noch von keines Gedankens Blässe ...“
„Davon will ich jetzt auch nicht angekränkelt werden,“ sagte Mary, ohne den Kopf zu wenden. „Was liegt mir daran, wie die Leute alle heissen! Ich will bloss schauen!“
Die Farbenpracht mit durstigen Sinnen schlürfen, die da unten wogt und zittert — ein regenbogenfarbiger Ameisenschwarm, den die Silberfluten des elektrischen Lichtes überspülen. Silber und Gold — das ist der Grundton auf dieser lebendig gewordenen Malerpalette, in der alle Farben durcheinanderwirren und sich zu neuen blendenden Tönen einen. Das Gold spiegelt sich auf den Kragen der Garde, es rankt sich als gesticktes Eichenlaub um ordenklirrende Generalsröcke und schlingt sich in breiten Tressen um die Frackuniformen, in funkelnden Borten um die Dreimaster des Zivils, dessen edelmetallene Pracht heute beinahe das bunte Tuch der Kriegswelt überstrahlt. Sind doch manche der wohlbeleibten Würdenträger vom Hals bis zu den Knien förmlich in Gold gepanzert, jenen grossen Käfern gleich, die in der Sommersonne metallisch schillernd am Wegrain dahinschlüpfen.
Freilich hat auch das Militär sein Bestes getan. Schaukelnde weisse Straussenfedern an den Generalshelmen, feuerrote und karmoisinfarbene Beinstreifen über spiegelnden Lackstiefeln, schwarzsammetener, ziegelroter und silberner Halsbesatz, schneeweisse Kürassierkoller und kornblumenblaue Dragonerröcke, purpurne, blutfarbene, kaffeebraune und grasgrüne Attilas, graues Pelzwerk über silberner Verschnürung, Bärenmützen mit bunten Lappen neben turmhohen Potsdamer Blechmützen — eines schlingt sich ins andere und mischt sich im Wellenspiel der Farben mit den schreiendroten Johanniter- und Malteserfräcken, dem flammenden Scharlach der Mecklenburger Ritter. Ein violetter Punkt dazwischen, die Soutane des Armeebischofs, gemengt mit dem Gold der Kammerherren und Stände, die nachtschwarzen Talare der Geistlichkeit, die blau und weiss leuchtenden Tropenuniformen der afrikanischen Pioniere, die weissen Westen, die Dreispitze und goldknöpfigen Fräcke der Admiralität. Und um jeden einzelnen dieser unruhigen Farbenpunkte schlingen sich noch einmal breite bunte Streifen und ein schmales, in Gold und Edelstein glitzerndes Band. Alle Orden der Welt — vom Schwarzen Adler bis zum Weissen Elefanten, vom Eisernen Kreuz bis zum Stern von Bagamoyo — schaukeln und klimpern da in bunter Reihe und ziehen ihre mattgelben, himmelfarbenen und purpurdunklen Bahnen über die Brust des Trägers.
Und in das summende, unruhig wogende, die Augen blendende Regenbogenspiel immer wieder hoch von oben die gellenden, zornig aufschreienden Posaunenfanfaren, das eintönige Hämmern der in langem Zuge heranwallenden Exzellenzen — Mary schwindelte der Kopf. Sie schloss die Augen und lehnte sich zurück.
Ihre Schwester neben ihr war nicht so ergriffen. Das gewohnte freundliche Lächeln auf dem junonischen Gesicht, die Hände im Schoss über dem Fächer gefaltet sass sie zufrieden da wie ein Kind, dem man eine Freude gemacht, und wartete, was nun noch weiter kommen sollte.
Das endlose Klopfen der Würdenträger auf den Schlussstein langweilte sie. „Wie lange dauert denn das noch?“ fragte sie ihren Mann.
Auf Herberts Gesicht lag der spöttische Zug, den sie nun schon seit zwei Jahren an ihm kannte. „Bis alle durch sind,“ sagte er.
„Und dann kommen die Abgeordneten?“
„Welche Abgeordneten?“
„Die vom Reichstag. Für die ist doch das Haus gebaut!“
„Ja.“
„... und da dacht’ ich mir ... wenn der Schlussstein fertig ist, dann kommt Papa und die anderen Reichstagsmitglieder und nehmen Besitz von dem Haus!“
„So könnte es ja auch sein!“ sagte ihr Mann. „Aber es ist nicht so. Die Abgeordneten sind schon da!“
„Wo denn?“
„Unten unter all den anderen Uniformen!“
„Das ist aber komisch ...“ Die schöne Frau kramte ihren Operngucker aus dem Täschchen und schraubte ihn zurecht. „... so wie Papa immer redet ... ich dachte ... da müssten sich die Abgeordneten als ein Ganzes fühlen ... so in einem Haufen beisammen sein ... ich weiss nicht recht, wie ich’s ausdrücken soll ... ich meine ... denen gehört doch der Reichstag ... und nicht all den Herren in Uniform ...“
„So? und wer hat ’s Reich jejründet, Jnädigste?“ hörte sie da hinter sich eine hölzerne Stimme, „wir ... die Leute von Versailles ... die Leute mit ’m Säbel und hohen Stiebeln ... und Strassenkot dran bis oben ’rauf ... und da vorne das Eiserne Kreuz unsres allergnädigsten Herrn und Königs ... wir waren so frei, bei Sedan und da unten vor Orleans, bei fünfzehn Grad Kälte und Franktireurs und noch nicht mal trocken Brot im Mantelsack das Reich zu jründen. Das Zivil ... das kam erst später ... wie alles glücklich vorbei war und der Rummel mit Ehrenjungfrauen und Triumphpforten und Jedichten anjing ... da hab’ ich die ersten Kerls im Frack jesehen ... früher nich!“
Das Ehepaar hatte sich erschrocken umgedreht und in dem hinter ihnen sitzenden spitzbäuchigen kleinen Greis, aus dessen lederfarbenem Gesicht ein schlohweisser Schnurrbart rechts und links in dolchscharf gedrehte Spitzen auslief, den alten von Dalchow auf Messow erkannt. Aus der Zeit, da Herbert als Generalstabsoffizier einer märkischen Division fungiert hatte, kannten er und seine Frau den zornmütigen alten Herrn. Er war berühmt wegen seiner Taktlosigkeit und hatte sich wohl deswegen gleich nach Siebzig mit dem Eisernen Kreuz erster Klasse vom Exerzierplatz auf sein Gut zurückziehen müssen.
Soweit die lächelnde Sanftmut ihrer Züge überhaupt von Unmut verfinstert werden konnte, glitt, während sie dem kleinen Krautjunker die Hand reichte, eine Wolke über Frau Ellens blühendes Gesicht. „O ... Sie hier?“ sagte sie, „... wie nett! ... also Sie wollen sich auch die Feier anschauen ...“
„Ja, von hier oben,“ erwiderte der alte Husar verdriesslich, „unten herein lassen sie mich ja nicht ... dreimal hab’ ich jetzt schon kandidiert,“ fuhr er fort und sein Gesicht wurde böse, „aber die Bande wählt mich nu mal nicht in den Reichstag ... i wo ... ’nen Tüncherjesellen aus Altruppin ... ausjerechnet ’nen Tüncherjesellen ... was sagen Sie dazu, Verehrtester?“
„Nichts,“ sprach Herbert.
Seine Frau wandte sich zu ihm, das Opernglas in der Hand. „Glaubst du, dass wir Papa da unten finden können ... in dem schrecklichen Gewühl?“
„Na ... der einzige Mensch ohne Orden muss doch da unten auffallen,“ erwiderte Herbert und drehte sich zu dem alten Dalchow. „Mein Schwiegervater gehört nämlich auch zu den ‚Kerls im Frack‘, wie Sie die Reichstagsabgeordneten nennen!“
„O wirklich?“ sagte der alte Herr, nicht im mindesten verlegen, „für welchen Wahlkreis denn?“
„Für Reiningen-Lüningen-Heidenfeldt.“
„Also im Thüringschen? ... und für welche Partei?“
„Eigentlich gar keine! Gegen den Umsturz .. als Vertrauensmann aller Parteien. Es ist eine rein persönliche Angelegenheit. Mein Schwiegervater hat durch seine grossen industriellen Anlagen und Unternehmungen den Kreis erst zu dem gemacht, was er ist ... und geniesst dadurch ein Ansehen dort, wie es eben nur ein Selfmademan seiner Art haben kann.“
Die schöne Frau drehte sich zu ihnen. „Sie kennen doch gewiss die Firma Banners, Heimgut und Compagnie?“ fragte sie, und es lag ein ernstes Selbstbewusstsein in der Art, wie sie den Namen des Welthauses aussprach.
Aber der alte von Dalchow erwiderte nur: „Ich verstehe leider jar nichts von derlei!“ und sie bog sich ärgerlich wieder über die Brüstung.
Dort unten spielte und glitzerte immer noch das leichtbewegte Farbenmeer und wie der Ruf des Windes über den Wellen fuhren, von oben kommend, die Posaunenstösse darüber hin. Der Hammer wanderte von Hand zu Hand, eine Exzellenz reichte ihn mit verbindlichem Lächeln der nächsten, und die herumstehenden Gold- und Silbermänner lächelten seelenlos mit. Etwas Ermüdendes, etwas Totes kam allmählich in das glänzende stumme Spiel. Es war, als trieben Tausende von aufgeputzten Marionetten, einem geheimnisvollen Mechanismus gehorsam, da unten ihr Wesen. Und ebensolche Wachsfiguren schienen die reglos und feierlich dasitzenden Zuschauer auf den grossen, rot ausgeschlagenen Tribünen zu sein, die, wie Riesennester voll bunter Vögel, an den Wänden der Kuppelwölbung klebten.
Frau Ellen spähte immer noch durch das Opernglas, um ihren Vater zu entdecken. Aber sie fand ihn nicht in diesem bunten Kreis, der, in der Mitte dicht und undurchdringlich, nach dem Rande zu sich lichtete und endlich in vereinzelten, abseits plaudernden Gruppen verlor. Hinter diesen kam dann das Nichts — grosse leere Flächen von Steinboden, der Beginn der nach rechts und links sich erstreckenden, jetzt ganz verödet daliegenden Wandelhalle.
„Komisch!“ meinte Ellen, „da stehen ganz, ganz hinten an der Säule versteckt ein Postbeamter und ein Telegraphenbote. Wozu sind denn die hier?“
„... um das ‚Volk‘ zu markieren!“ sagte ihr Mann.
Der alte von Dalchow blinzelte ihn misstrauisch von der Seite an. Solch freigeistige Redensarten waren ihm bei Herbert neu. Ellen aber war von der Erklärung befriedigt.
„Jetzt hämmern schon die letzten!“ rief sie, „siehst du ... da vor dem grossen Herrn mit der goldenen Halskette ...“
„Das ist der Oberbürgermeister von Berlin ...“
„Da der kleinere Herr im Frack mit dem Vollbart, der hat jetzt den Hammer ... jetzt schlägt er ... wer ist denn das?“
„... o, der hat dies Haus in den letzten zehn Jahren gebaut ... sonst nichts!“
Ellen machte grosse Augen. „Ja, aber warum kommt er denn jetzt erst an die Reihe? ... nach all den anderen, die dabei gar nichts zu tun gehabt haben?“
„Da musst du Herrn von Dalchow fragen,“ erwiderte ihr Mann. „Er wird dir sagen: ‚weil er bloss ’nen Frack anhat‘!“
„Na ... warum sind denn Sie in Zivil?“ brummte der Alte etwas ärgerlich. Aber gleich darauf beugte er sich dicht zu Herberts Ohr. „Sagen Sie mal ...“ raunte er, auf Mary blickend, die sich von Ellen das Opernglas ausgebeten hatte ... „wer ist denn die Dame neben Ihrer Frau Gemahlin?“
„Gefällt sie Ihnen?“
„Na ... wissen Sie ... so schön wie Ihre Frau Gemahlin ist sie ja nicht, die ist ja ... wenn ich so sagen darf ... rosig und blühend wie ’n Sommertag ... apropos ... was machen Ihre Kinder?“
„Danke. Sie sind alle drei wohl.“
„... recht so ... ja ... was ich sagen wollte ... also die andere da drüben ... so schön ist sie lange nicht! Aber die Rasse! Donnerwetter! Sehen Sie mal den Rassekopf! Diese Profillinie! trotzig wie ’n hübscher Raubvogel ... und die grauen Augen dazu mit dem grünen Schimmer ganz tief drinnen ... und wie die Nasenflügel zittern ... das Temperament, wenn das so mal auflodert ... dann gute Nacht! Deubel auch! Glauben Sie mir, das ‚Mollete‘, wie der Wiener sagt, das ist das Richtige an den Frauenzimmern! dann sind sie gut und freundlich und lachen ... wie — wenn ich so sagen darf — Ihre Frau Gemahlin ... aber die mageren, nervösen ... die lachen nicht ... die schauen die Männer ganz ernst an und machen sie ganz schweigend und ganz selbstverständlich verrückt, wenn sie gerade den Richtigen treffen. Aber ... um auf die Dame zurückzukommen ... kennen Sie sie?“
„Natürlich kenn’ ich sie!“
„Rasse! Rasse!“ sagte der alte Dalchow noch einmal kopfschüttelnd. „Na ... nu sagen Sie mal: wer ist es denn?“
„Meine Schwägerin ... die Gräfin de Grain!“
Der alte Junker pfiff leise durch die Zähne. „Also verheiratet?“ fragte er dann.
„An einen früheren Regierungsassessor im Kreise Lüningen, wo mein Schwiegervater seine Eisengiessereien hat.“
„So, so!“ Herr von Dalchow musterte tiefsinnig eine Weile die überschlanke, hochgewachsene Gestalt vor ihm.
„Kann der Assessor a. D. Pistolen schiessen?“ fragte er dann plötzlich.
Herbert musste wider Willen lachen. „Ich denke wohl!“ sagte er.
„Na ... dann ist’s ja gut!“
„Hör’ mal, Männe!“ ... Frau Ellen drehte sich sanft lächelnd um ... „ist das eigentlich wahr: Mary behauptet, Bebel sei nicht hier! der käme nicht zu so was!“
„Nein. Das tut er auch nicht!“
„Und Windthorst ist wirklich schon tot?“
„Schon lange.“
„Und Bismarck war eingeladen und hat abgesagt?“
„Ja.“
„Nun ... dann hat Mary wieder einmal recht!“
„Warum glaubst du mir’s denn nicht gleich?“ sagte Mary gelassen und halblaut zu ihrer Schwester. „Nun lachen sie wieder ringsum über dich!“
„Das ist sehr unrecht!“ Die schöne Frau unterdrückte ein leichtes Gähnen. „Ich versteh’ doch nichts von Politik und lese nicht den ganzen Tag Zeitungen und Broschüren wie du. Wenn du Kinder hättest, tätest du’s auch nicht!“
Mary erwiderte nichts, sondern warf nur hinter Ellens Rücken ihrem Schwager einen Blick zu. Der zuckte nur mit unmerklichem Lächeln die Achseln, und ein ebensolches Lächeln überlegenen Mitleids glitt wie ein Widerschein eine Sekunde über ihr kluges, von glänzenden Augen erhelltes Gesicht. Gleich darauf lenkte sie den Blick wieder in das Gewühl des Saales hinab und er schaute gleichgültig, beinahe gelangweilt, zu der Glaskuppel hinauf, durch deren Wölbung grau und grämlich der Winternachmittag in den vom Glühlicht sonnenhell strahlenden Raum hineinschielte.
Eine kurze Pause trat ein, in der der alte von Dalchow über etwas nachzusinnen schien.
„Wie Sie sich verlobt haben ...“ fragte er dann ganz unvermittelt seinen Nachbar ... „haben Sie da eigentlich Ihre Schwägerin schon gekannt?“
„Nein. Ich stand doch damals in Berlin. Ich hab’ sie erst auf der Hochzeit gesehen.“
„Aber sie war damals auch schon verheiratet?“
„Ja. Interessiert Sie das so?“
„I wo!“ sagte der alte Herr. „Ich kam nur so gerade drauf, weil ...“
Da setzten die Posaunen wieder ein, die letzten Worte einer unhörbaren Rede unten verschlingend, und in das Schmettern der Fanfaren hallte aus Tausenden von Männerstimmen ein Ruf ... und noch einmal ... und zum drittenmal, an den Wänden und Wölbungen dahinrollend, das Hurra auf den Kaiser.
„Heil dir im Siegerkranz!“ die Musik setzte mit der feierlichen Weise ein. Auf den Tribünen ringsum waren die Zuschauer aufgestanden und sangen mit, die hellen Soprane der Offiziersfrauen klangen durch das stossweise Schmettern der Nationalhymne, und unten aus dem Saal tönte das Rauschen, Scharren und Sporenklirren der aufbrechenden Farbenmassen.
Das Kaiserpaar schritt durch eine bunte Gasse von Präsidenten und Generalen davon, gefolgt vom Zug der schwarzgekleideten Prinzessinnen. Dahinter strömte in regellosen Wogen das offizielle Deutschland und versickerte als immer dünner werdendes Farbengerinnsel durch den Wandelgang und die Ausgangspforten. Schon klafften breite weisse Steinlücken an den Stellen, wo eben noch Schwärme von Exzellenzen leise flüsternd gestanden, schon konnte man die letzten Gruppen, die einzelnen Gestalten zählen, die den scheinbar in seiner Leere immer riesiger werdenden Kuppelraum belebten, dann verschwanden auch diese, die Posaunen verstummten, das neue Reichshaus war eingeweiht.
Auch die Tribünenbesucher durften nun, nachdem die schillernde Seifenblase der Festversammlung zergangen, ihre Plätze verlassen und auf die Strasse niedersteigen. Die meisten Bänke lagen bereits menschenleer im Glanz des roten Tuches da, als Herbert mit den beiden Damen in den Garderoberaum heraustrat. „Mache rasch!“ flüsterte er seiner Frau zu, während er ihr den Pelzmantel umhing, „dass wir den alten Dalchow loswerden. Der Mensch ist grässlich mit seinen ewigen Taktlosigkeiten!“
Aber da hörte er schon die heiser-joviale Stimme hinter sich: „Darf ich um den Vorzug bitten, mich Ihrer Frau Schwägerin zu präsentieren?“ und musste das wohl oder übel tun.
Dann stiegen sie im Schwarm der anderen Zuschauer die Treppe hinunter.
„Jerade wie wenn’s Theater aus is!“ sagte der alte von Dalchow ... „... jrosse Oper oder so was! Schade, jnädigste Gräfin, dass Ihr Herr Gemahl nicht auch das in Berlin mit ansehen konnte!“
„Mein Mann ist in Berlin. Wir leben ja hier!“ erwiderte Mary.
„... und er versäumt dies Schauspiel? ... nicht möglich ... ja ... was tut er denn jetzt?“
„Er frühstückt bei Töpfer. Oder ist auf der Börse oder sonstwo. Aber kommen Sie ... sonst verlieren wir die anderen aus den Augen.“
„So ... er frühstückt bei Töpfer?“ murmelte der alte Herr, warf einen verstohlenen Blick auf Mary, dann auf die beiden vor ihnen und trabte, so gut es seine etwas gichtbrüchigen Beine erlaubten, neben seiner rasch und biegsam ausschreitenden Begleiterin dahin.
Die kalte Winterluft des Dezembermittags schlug ihnen entgegen, als sie durch das südliche Portal ins Freie traten. Es war ein jäher Übergang aus der Märchenpracht da innen in die graue Wirklichkeit Berlins. Dort trug die Welt ihr Feiertagsgewand, hier den schmutzigen Arbeitskittel des Alltags. Graue Wolken am Himmel, zwischen denen die Sonne wie eine blinde rote Scheibe stand, die kahl zum Himmel sich aufreckenden Äste des Tiergartens, rauhe bis ins Mark erkältende Windstösse, die kleine Staubwirbel über den Asphalt dahintanzen liessen, Schornsteine und graue Dächer in der Ferne — das alles wollte so gar nicht zu dem sonnigen Glanz der eben verflossenen Feier passen.
Beendet war die Feier eigentlich noch nicht ganz, denn der Kaiser war auf einer Besichtigung der inneren Reichstagsräume begriffen und viele der Festgäste und Tribünenbesucher standen, seiner Abfahrt harrend, in plaudernden Gruppen vor den weissen Riesenwänden des Prunkbaus beisammen.
Man konnte glauben, sich im Innern eines Feldlagers zu befinden! Militär ringsum. Der ganze Reichstag war von Gardetruppen umgeben. Zu Hunderten flatterten an aufrecht im Sattelschuh gehaltener Lanze die weiss-schwarzen Fähnchen der Dragoner, von der kaiserlichen Freitreppe her nickten in ganzen Wäldern die vom Winde schiefgewehten weissen, schwarzen und roten Haarbüsche des Fussvolks und davor schaukelten über den dunklen, haarscharf gerichteten Linien der Rosseleiber die fliegenden Adler der Kürassierhelme auf und nieder, wenn einer der frierenden Gäule ungeduldig mit den Hufen scharrte.
Hinter diesen starren Mauern, deren tiefes Schweigen nur das eintönige Käuen der Rosse an den Kandaren, das leise Klirren der Säbel und ab und zu der gedämpfte Zuruf eines Unteroffiziers unterbrach, dehnten sich in der Ferne, zwischen den kahlen, von Frost bereiften Stämmen des Tiergartens lange, stumme Menschenreihen, schwarzgrau, unansehnlich, endlos, wie der Winterhimmel über ihnen, wie die arbeitsrussige Stadt, die sie gesandt. So standen sie seit Stunden in stiller Erwartung, der Absperrung gewohnt und schon froh, wenn das Vorübertraben eines Adjutanten, die Grobheit eines Schutzmanns oder der faule Witz eines Eckenstehers das Stilleben einer Festlichkeit unterbrach, von der sie nichts sahen und hörten und doch nicht lassen wollten.
„Brr ... ist das kalt!“ sagte Ellen und wickelte sich fester in ihren Pelz ... „... sieh nur all die komischen Leute da hinten ... wie wir kamen, standen sie schon da, und nun sind sie immer noch nicht nach Hause gegangen! Und dabei sehen sie doch gar nichts!“
„Das ist das Volk!“ erwiderte Herbert trocken. „Das wohnt der Feier als Zaungast bei.“
Der alte Dalchow hatte das gehört und wandte sich kopfschüttelnd zu seiner Begleiterin. „Ihr Schwager hat sich sehr verändert, Gnädigste! Damals als Generalstabsoffizier ... na ja ... er war ja immer ein bisschen scharf und schroff und ein Streber, wie er im Buch steht. Aber dabei doch ’n zufriedener Mensch ... hat ja ’ne Riesenkarriere vor sich ... Wenn einem der Kommandierende General todsicher ist, dann ist es der uns beiden nicht unbekannte Generalstabshauptmann Herbert von Haldern ... und nun sehen Sie mal sein Gesicht ... gelb ... mager ... und so etwas merkwürdig Verbissenes in den Mundwinkeln ... unter dem Schnurrbart, der auch seinen Schwung eingebüsst hat ... nee ... hören Sie mal ... das gefällt mir nicht ... der Ehrgeiz ... der reibt ja den Menschen auf ... man lebt doch nicht bloss, um seine Vordermänner zu überholen ...“
„Bemerken Sie denn nichts?“ sagte Mary und deutete auf ihren Schwager, der, auf einen leichten Stock sich stützend, langsam zu ihnen herantrat.
„... dass er ’n bisschen lahmt? ... natürlich ... deswegen trägt er ja Urlaubszivil! Bin selber auch drei-, viermal unterm Gaul gelegen. Kommt mal vor. ’n paar Wochen Wiesbaden, und ’s ist wieder gut.“
„Oder auch nicht.“ Herbert hatte die letzten Worte gehört und prüfte, während er sprach, scheinbar zerstreut mit fachmännischem Blick das in der Kälte dicht vor ihnen bockende und sich bäumende Pferd eines Gardeducorps-Leutnants ... „... ich habe mehr Pech gehabt. Mein Knie war entzwei, und wie’s wieder ganz war, blieb’s steif für immer!“
„Nanu!“ der alte Junker war ganz erschrocken ... „... wie können Sie denn dann reiten?“
„Gar nicht mehr!“
„Ja ... aber wie dienen Sie denn dann?“
„Auch nicht mehr. Seit zwei Jahren bin ich offizieller Reichskrüppel mit zwanzig Taler Schmerzensgeld im Monat. Nun kann sich ein anderer für mich schinden!“
Der dicke, kleine Krautjunker pfiff leise durch die Zähne. „Na ... das sind ja nette Chosen ...“ sagte er stockend, mit unsicherer Stimme ... „... also wirklich invalide?“
„Ja.“
„Und was tun Sie denn jetzt?“
„Nichts.“
„Aber Sie müssen doch als ... als Zivilist eine Beschäftigung haben!“
„Das Zivil wirft sich, nach Ihrer treffenden Beobachtung, bei festlichen Anlässen in einen Frack. Das hab’ ich, wie Sie sehen, getan und damit mein Tagewerk erschöpft.“
„Ja ... und morgen ...“
„Morgen sehe ich irgendwo anders zu! Es muss doch auch Publikum auf der Welt geben.“
„Na ... hören Sie mal ... Sie lächeln dabei so sonderbar ... so spöttisch ... gerade als wollten Sie sich über mich lustig machen ...“
„Eher über mich selbst!“ Herbert prüfte immer noch das unruhig tänzelnde Tier des Gardeducorps. „... sehen Sie mal ... der Bengel da kann noch nicht ordentlich reiten ... und bleibt doch ganz hübsch oben im Sattel. Ich kann reiten ... sehr gut sogar ... und würde doch mit meinem lahmen Beine beim ersten Galoppsprung vom Pferde gleiten. Das ist, was man eine tragikomische Existenz nennt. Na ... und wenn was komisch ist ... dann lacht man eben drüber.“
„Ich, weiss Gott, nicht.“ Der alte von Dalchow fingerte unsicher suchend in der Luft herum, in Ungewissheit, wie sein Gegenüber einen Händedruck des Mitleids aufnehmen würde ... „... Sie tun mir höllisch leid. Das ist ja ein furchtbarer Schlag für einen Mann wie Sie!“
„Da kommt mein Schwiegervater ...“ sagte Herbert gelassen. „Auf Wiedersehen, Herr von Dalchow, aber, wenn möglich, ohne Beileid. Das hab’ ich nämlich noch von niemand verlangt. Guten Morgen!“
Auf seinen Stock gestützt folgte er den beiden Damen. Der andere schaute zweifelnd der hochgewachsenen Gestalt nach, die mit den strengen, hartgeschnittenen Zügen des von Wind und Wetter gebräunten Gesichts, in ihrer straffen Magerkeit und aufrechten Haltung ein Urbild zäher preussischer Soldatenkraft war. „Schade, schade!“ murmelte er und trat zu ein paar pommerschen Reichstagsabgeordneten, die, als Dragoner und Husaren gekleidet, in der Nähe standen. „... Mahlzeit, Ihr Herren! ... na ... nu sagen Sie mal ... kennen Sie Haldern? ... Das ist ja schrecklich ... der Mann lahmt ... kann einfach nicht mehr gehen ...“
„Na ... bis durch die Türe da langt’s noch vielleicht!“ lachte einer der Granden, der in seiner hageren Länge und dem weissblonden Schnurrbart deutlich seinen schwedischen Ursprung aufwies und deutete auf das Portal des Reichstags hinter ihnen.
„Aber das ist ja der Eingang für die Abgeordneten,“ sagte der alte Herr erstaunt.
„Na ... und Haldern will in den Reichstag ... kommt auch ’rein ... über kurz oder lang! ... jeden Tag war er ja drüben bei uns im Foyer ... und sah, wie die Chancen stehen ... glauben Sie denn, dass ein Mensch wie er das Stilliegen aushält?“
Der kleine Uckermärker zog die Augenbrauen hoch. „... So? ... so? ...“ sagte er ... „... na ja ... wenn ein Mensch zu was anderem nicht mehr zu brauchen ist ...“ Er brach ab. Denn es fiel ihm ein, dass die beiden Offiziere vor ihm auch Mitglieder des Reichstags waren und er selbst auch schon als Zählkandidat fungiert hatte. „... Na ... adieu!“ meinte er ohne besondere Verlegenheit ... „... ich höre da die wohlbekannten Klänge des Parademarsches. Das muss man sehen!“
Auf der grossen westlichen Freitreppe des Reichstagsbaus stand der Kaiser und liess die Ehrenkompagnien seiner Garderegimenter an sich längs des Palastes vorbeidefilieren, der in Zukunft den Männern der Reden und Majoritätsbeschlüsse gehören sollte. Die Pauke donnerte, die Pfeifen schrillten, in das Gellen der Hörner und den Trommelwirbel klingelte silbern der glöckchenreiche, mit Rossschweifen gezierte Schellenbaum, und in dröhnendem Gleichschritt, von den auf und nieder schwankenden Helmbüschen und den glitzernden Linien der Gewehrläufe überragt, marschierten die Sektionen vorbei, dass die Wände des Reichshauses von dem Stampfen der gleichmässig herausgeworfenen Beinreihen widerhallten und der Schall bis zu der Siegessäule hinwanderte, auf der, ein goldener unförmlicher Klumpen, die Viktoria in einsamer Höhe zu ihrer Schwester auf dem Brandenburger Tor hinüberblickte.
„Du schaust ja gar nicht hin, Papa?“ fragte Ellen und hob sich auf die Fussspitzen, um nichts von dem militärischen Schauspiel zu verlieren.
Der unscheinbare alte Herr lächelte. Ein kluges, mildes Lächeln, das leise über die Fältchen und Runzeln seines Gesichtes lief und sich still in dem weissgrauen, wenig gepflegten Vollbart verlor. Aber er tat seiner schönen Tochter doch den Gefallen, rückte die goldene Brille zurecht und warf einen scharfen prüfenden Kaufmannsblick auf die Truppen, als wolle er deren Preis und Marktwert abschätzen. In seinen Augen war noch helles Leben. Über das Antlitz aber legte das Greisenalter schon jenen Zug von gleichmütigem Frieden, in dem ein langes, arbeitsreiches Leben ausklingt, ein Leben, von dessen Sorgen und Kämpfen, in Zweifeln durchwachten Nächten und schlau berechneten Siegen die Hunderte von feingestrichelten, im Laufe der Jahre eingemeisselten Linien um Stirn und Augen sprachen. Auch seine Gestalt war schon gebeugt, wie gedrückt von dem kostbaren Biberpelz, der um sie schlotterte, und seine Bewegungen schienen wenigstens hier inmitten dieser straffen, bunt uniformierten Riesen langsam und beinahe unbeholfen.
„Ich kann nichts sehen, Kinder!“ sagte der Kommerzienrat Banners nach kurzer Weile. „... Für die Wachtparade bin ich nun einmal zu klein geraten. Ich erkenne gerade noch die Rossschweife der Grenadiere ...“
„Das sind doch keine Grenadiere, Papa!“ Ellen war ganz erschrocken ... „... sie haben doch schwarze Haarbüsche ...“
„Ach so ... und die Grenadiere sind die roten da nebenan?“
„Das ist ja die Musik!“ Die gewesene Offiziersfrau warf einen ganz erschrockenen Blick zur Seite, ob niemand ihr Gespräch belausche. Der alte Herr aber schüttelte freundlich den Kopf. „Das werde ich wohl nicht mehr lernen,“ sagte er. „Ich bin zu alt dazu.“
Die beiden Schwestern sahen sich an. Sie begriffen nicht, dass all dieser Prunk und Pracht auf den Vater gar keinen Eindruck zu machen schien.
„... Wenn ihr euch nur amüsiert habt, Mädels!“ fuhr der kleine Kaufherr fort und machte einem baumlangen Adjutanten Platz, der sich mit flüchtiger Entschuldigung an ihm vorbeidrängte ... „... ich hab’ eure strahlenden Gesichter oben auf der Tribüne gesehen!“
„Aber wir dich nicht, Papa! Und wir haben so ausgeschaut!“
„Ich hab’ mich so ein wenig abseits gehalten. Ein alter Mann im einfachen Frack ohne alle Orden ... man kommt sich da immer ein bisschen überflüssig vor bei so glänzenden Gelegenheiten ... Erinnerst du dich, wie unser Papagei einmal fortflog und ein Schwarm Raben ihn gleich tothackte? Umgekehrt hab’ ich mich vorhin gefühlt, wie ein schwarzer Rabe in einem Haufen von bunten Papageien. Da gehör’ ich nicht hinein.“
„Ja ... aber man kommt doch in so eine Stimmung ...“ Mary sah aus ihren grossen, grau leuchtenden Augen auf ihren Vater herunter ... „... all die Pracht und Herrlichkeit ... ich bin förmlich wie berauscht. Es zittert alles in mir. Geht dir denn das nicht auch so?“
Der alte Banners erwiderte nichts, sondern lächelte bloss. Und es war Herbert, der ihn verstohlen beobachtete, als verblasse vor diesem nachdenklichen, fuchsklugen Lächeln des Kommerzienrats all die Gold- und Silberpracht umher, als verwandele sich das Farbenspiel in Alltagsgrau, als verhalle die triumphierende Musik in weiter Ferne. Und durch die verwehenden bunten Schleier ragte ernst die wirkliche Welt, das Reich der Tatsachen, der Zahlen und der Arbeit, in dem Hermann Banners seit zwei Menschenaltern lebte.
„Du bist ja nun eine Gräfin, Mary,“ sagte der alte Banners endlich, „und ich bin ein reicher Mann und Reichstagsabgeordneter und Kommerzienrat und Ehrenbürger und was weiss ich. Das alles ändert aber an der Tatsache nichts, dass ich mit zwanzig Jahren hinterm Ladentisch gestanden und die Nächte durch Englisch und doppelte Buchführung gelernt und mich als Kommis in der Welt herumgestossen und teures Lehrgeld bezahlt hab’, bis es dann endlich, einschlug und der Erfolg kam. In derselben Zeit, mein Kind, sind die Leute hier um uns herum allerhand geworden ... nicht nur Offiziere ... die mein’ ich nicht ... denn das sind redliche, tüchtige Arbeiter wie wir anderen Bürger, die die Steuern dafür zahlen ... aber Erbküchenmeister sind solche Leute geworden, Baillis des Johanniterordens, Mitglieder der Mecklenburger Ritterschaft, Kammerherren, Majoratserben, Hofmarschälle, Vertreter des alten und befestigten Grundbesitzes und manches andere. So leben sie hin, und wenn durch unsere Mühe und Arbeit etwas fertig geworden ist, dann kommen sie und weihen es ein! So auch heute den Reichstag. Schön. Ich gönne ihnen das Vergnügen für heute. Arbeiten will ich von morgen ab drin. Punktum. Sela.“
„Aber es ist doch so etwas Schönes ... so eine Feier ...“
„Kind ...“ sagte der alte Herr ... „... mir hat die Natur jeden Sinn für Feierlichkeit versagt. Es kommt mir komisch vor, wenn die Menschen plötzlich besondere goldgestickte Röcke anziehen und geheimnisvolle Gesichter machen und sich von grossen Trompeten das Trommelfell sprengen lassen. Es steckt nichts dahinter, glaub’ mir, und hat keinen Sinn. Ich bin ein Mann des matter of fact. Während der ganzen Zeremonie vorhin hab’ ich immer an meine anatolischen Bahnen denken müssen und die Emission unserer Anleihe in Venezuela. Da ist Geld drin. Auf die Rede von so einer Exzellenz bekommt man nicht ’nen Groschen.“
Er nahm mit einer raschen Bewegung den Zylinder ab. Ringsum entblössten sich trotz des kalten Windes die Köpfe, die Offiziere fuhren mit raschem Ruck zusammen und legten, mit der Linken die Säbelscheide suchend, die Rechte an den Helmrand, die Damen sanken in tiefem Hofknicks zusammen, während das Kaiserpaar in schnellem Trab von der Rampe des Reichstags zur Siegesallee dahinfuhr. Ein paar Züge von Panzerreitern mit donnernden Hufen vor und hinter der Karosse, der flammendrot gekleidete Stallmeister neben ihr — dann unter dem kahlen Geäst des Tiergartens das dumpfe Brausen der Hoch rufenden Massen, geschwungene Hüte und flatternde Taschentücher über langen, dunklen Menschenmauern — damit war das letzte Augenblicksbild der Feier vorbei, die Reichstagseinweihung zu Ende.
Der Rest des Militärs marschierte, die Absperrung lösend, davon und hinter ihm strömte in Schwärmen das Volk über den bis dahin halb verödeten, nur von den spärlichen Gruppen der Festgäste belebten Platz vor dem Reichstag. Das wimmelnde Getriebe des täglichen Lebens erfüllte ihn, der Strassenverkehr begann und an Stelle der Posaunenfanfaren klang das Knarren der Mörtelfuhrwerke, das Geklingel der Pferdebahn, das Gekläff der Ziehhunde vor den Milchkarren in die Ohren der von der Zeremonie Kommenden, die, in dunkeln Mänteln ihren Kleiderprunk vor der Kälte und den neugierigen Blicken der Menge schützend, so rasch wie möglich ihre Wagen zu gewinnen suchten.
Herbert und seine Frau waren vorausgegangen, um eine viersitzige Droschke aufzutreiben. Der alte Herr blieb indessen mit Mary wartend auf der Bordschwelle stehen.
„Kommt dein Mann nachher ins Hotel?“ fragte er.
„Jedenfalls,“ sagte Mary. „... Wenn Oskar gefrühstückt hat und mit seinen Börsengeschichten fertig ist ... mit ’nem Pferd wollt’ er, glaub’ ich, heute auch jemand hineinlegen ... Das alles kann noch ein paar Stunden dauern ...“
„Um so besser!“ Der Kommerzienrat schaute sie von der Seite an ... „... ich möchte euch Mädels mal ein bisschen für mich haben. Dich besonders, Mary.“
Die junge Frau erwiderte darauf nichts und ihre Gesichtszüge blieben gelassen wie zuvor.
Der alte Banners räusperte sich: „Hör’ mal ...“ sagte er nach einer Weile scheinbar gleichgültig ... „... Das war Oskar also recht, dass du mit Herberts in den Reichstag gegangen bist?“
„Nein. Ich war allein. Wir hatten ja nur die eine Karte, und Oskar sagte, er mache sich nichts daraus. Ich solle gehen. Und wie ich auf der Tribüne war, sah ich Ellen, und sie winkte mir zu. Das bemerkte der Herr neben ihr, und aus Höflichkeit bot er mir an, die Plätze zu tauschen. Abschlagen konnt’ ich das doch nicht gut. Es sassen zu viel Bekannte herum. Denen wäre das aufgefallen.“
„Also war es nur Zufall, dass ihr euch getroffen habt?“
„Natürlich,“ sagte Mary. „Wir verkehren ja fast gar nicht miteinander. Es ist gewiss ein halbes Jahr, dass wir zuletzt irgendwo zusammen waren.“
„Du meinst ... mit den Männern?“
„Ja. Ellen und ich ... wir treffen uns oft ausserhalb!“
„Aber Herbert und dein Mann können sich nun einmal nicht zueinander stellen?“
„Nein,“ sagte die junge Frau knapp. „Wenn’s dir recht ist, Papa, gehen wir dem Wagen entgegen. Er kommt so schwer durch in dem Gedränge ...“
„Schön!“ Der alte Herr war im Begriff, sich leicht auf den Arm seiner Tochter stützend, die Bordschwelle zu überschreiten, als er wieder stehenblieb, die Stirne runzelte und die goldene Brille zurechtschob.
„Wahrhaftig ... der Mensch lebt noch ...“ sagte er dann halblaut.
Dicht vor ihnen stand ein langer, hagerer Mann in den Dreissigern. Sein Äusseres verriet einen jener Daseinskämpfer von Berlin, von denen man nicht weiss, wie sie sich eigentlich vom Morgen bis zum Abend vor dem Verhungern schützen, die man nicht vermisst, wenn sie eines Tages spurlos verschwunden sind, und über die man sich nicht wundert, wenn sie plötzlich Millionäre werden — Menschen, die man zu allem für fähig hält, ohne ihnen auch nur die geringste Übertretung des Strafgesetzes nachweisen zu können, — denen viele das Zuchthaus prophezeien und doch den Handschlag auf der Strasse nicht verweigern — Gläubiger der Zukunft, die in der Volksküche über Riesenspekulationen brüten und aus denen alles werden kann, nach oben und unten, im Guten und Bösen, wie eben die Wirbel der Weltstadt mit ihnen spielen.
Schon die Kleidung — dieser tadellos elegant geschnittene, aber ganz abgeschabte und vom Regen verwaschene Winterpaletot, wie man ihn als „von Kavalieren nur vier Wochen getragen“ in den Trödelläden kauft, der nicht unmoderne, aber zerbeulte und stachelhaarige Zylinder, die modisch spitzen, zerrissenen Stiefel und die leicht ausgefransten, aber noch mit einer Bügelfalte gezierten Beinkleider — wies auf einen Mann hin, der seinen Platz in der Welt noch nicht gefunden hat, und ebenso zweifelhaft blieb sein Gesicht. Vollkommen bartlos, von langen Haarsträhnen umwallt und mit einem mephistophelischen Zug um den Mund, konnte es einem brutalen Abenteurer gehören. Aber die Augen blickten darüber stark und fest in die Weite, und die breite Stirn zeugte von ernster Gedankenarbeit.
„Sind Sie’s wirklich, Herr Queetz?“ fragte der Kommerzienrat etwas unsicher, „na, wie geht’s Ihnen denn?“
„Danke! Soso!“ — der Mephisto lüftete nachlässig lächelnd den Hut — „und Ihnen? ... na, ’nen Kommerzienrat braucht man nicht erst zu fragen!“
Herr Banners runzelte die Stirn, als wolle er sagen: „Immer noch die alte Frechheit! ...“ aber er bezwang sich und forschte wohlwollend weiter: „Sind Sie immer noch Hauslehrer?“
„Ich bin Journalist!“ sagte Dietrich Queetz ... „... schon seit damals ... ’s schützt einen wenigstens vor dem Verhungern.“
„Da berichten Sie wohl jetzt über die Einweihung des Reichstags?“
„Ja. An ein paar Provinzblättchen; Zeile zehn Pfennige, halbe nicht gerechnet.“
„Hatten Sie denn einen guten Platz?“
„Ich war doch nicht drin!“ sagte Dietrich Queetz erstaunt. „So leicht kriegt unsereins doch keine Karte. Darauf kommt’s ja auch nicht an.“
„... na ... auf was denn?“ fragte der alte Herr verblüfft.
„Dass man weiss, wovon man morgen sein Diner in der Volksküche zahlt ... Herr Kommerzienrat haben heute wohl schon gefrühstückt?“
„Adieu!“ sagte Herr Banners ärgerlich. „Aber wissen Sie ... ich hab’s als junger Mensch niemand gesagt, wenn ich kein Geld hatte! Das hilft nämlich zu gar nichts!“
Damit ging er weiter. „Existenzen sind das ...“ klagte er zu seiner Tochter, die, den Gruss des Journalisten kaum erwidernd, ihm gefolgt war, „... Existenzen! ... Kerle, die in den Dreissigern noch kein Geld haben ... lächerlich ... aber freilich ... das sind die richtigen Weltstadtpflanzen ... ein Mensch, der halb wie ein Schmierenkomödiant aussieht, halb wie ein stellenloser Kammerdiener ... und noch so ’n Schuss Landpfarrer mit langer Mähne dazwischen — und dann erst frech gegen alle Welt und selbstbewusst wie der Hahn auf dem ...“
Er verstummte plötzlich mit einem Blick auf Mary und schritt auf den Wagen zu, der mitten im Gedränge der anderen Fahrzeuge hielt.
„Wer war denn dieser sonderbare Heilige, mit dem Papa eben sprach?“ fragte unterdessen im Wagen Herbert seine Frau.
„Hauslehrer bei uns ...“ erwiderte Ellen. „Für meinen Bruder. Vor acht oder neun Jahren. Ein Kandidat der Theologie! Weil er so frech war, hat ihn Papa weggejagt!“
„Na ... so sieht er auch aus!“
„Aber es hatte, glaub’ ich, noch einen andern Grund!“ fuhr Ellen fort ... „... freilich, Mary ist ja so verschlossen. Sie redet ja nie von sich und ihren Sachen ...“
„Mary?“
„Ja ... denk dir nur ... aber ganz im Vertrauen ...“ Ellen legte ihre Hand auf die des Gatten ... „... sie war damals ja noch ein halber Backfisch ... ich glaube ... er war der einzige Mann in ihrem ganzen Leben, der jemals wirklich Eindruck auf sie gemacht hat! Denn Oskar ... nun ... darüber brauchen wir ja eigentlich ...“
„Hör’ mal, Herbert!“ sagte der kleine Kaufherr, noch etwas erhitzt von der Begegnung, an den Wagenschlag tretend. „Du bist ein vernünftiger Mensch und nimmst’s nicht übel ... ich möchte eigentlich gern mal mit meinen Mädels ein paar Worte im Vertrauen reden ...“
„Ich verstehe schon.“ Herbert stützte sich vorsichtig auf seinen Stock und stieg aus ... „Wo treffe ich dich nachher?“
„Hol’ mich doch zum Mittagessen ab ... im alten Reichstag ... so nach vier ... da haben wir die letzte Sitzung! Also nichts für ungut! Los, Kutscher!“
Der Wagen rasselte davon. Herbert schaute ihm nach. Neben dem Graukopf des alten Herrn schimmerte Ellens Goldhaar, die, obwohl die jüngere Schwester, auf dem Rücksitz sass. Gegenüber Mary. Er wunderte sich, in wie weiter Entfernung die festen, kühnen Linien ihres leicht zurückgeneigten Hauptes deutlich erkennbar blieben, und ihm schien es, als blickten aus dem blassen Antlitz ihre grauen Augen unruhig in die seinen.
Ob das eine Täuschung war, konnte er nicht unterscheiden. Weiter und weiter rollte der Wagen, in dem sie reglos, das Gesicht ihm zugewendet, sass, und verschwand dann um die Ecke der Dorotheenstrasse.
„Uff!“ sagte der alte Banners und liess sich erschöpft auf einen Sessel im Wohnzimmer seines Hotels nieder. „... so ’n unnützes Herumstehen und feierliches Gesicht machen ... das macht müder als ein ganzer Vormittag Arbeit ... Ich werd’ alt ... ich merk’s ... alt und müde ...“ wiederholte er nach einer Weile und stützte den verwitterten Graukopf in die Hand ... „... ja ... ja ... Kind ... das ist der Lauf der Welt ...“
Er war allein mit Mary. Ehe sie noch am Hotel vorfuhren, hatte er Ellen gebeten, ihm für ihre Kinder einige Spielsachen einzukaufen, damit er als Grosspapa des Abends doch nicht mit leeren Händen in ihr Haus käme. Das hatte ihr ohne weiteres eingeleuchtet, und sie war mit dem Versprechen, bald wiederzukommen, an der Ecke der Charlottenstrasse ausgestiegen.
Mary freilich ahnte, dass die Bitte ihres Vaters nur ein Vorwand war. Sie sass ihm stumm gegenüber, ihren gewohnten gleichgültigen Ausdruck auf dem blassen, leidenschaftlichen Gesicht. Sein Blick ruhte zuweilen auf ihr — das fühlte sie, ohne es zu sehen — ein treuer, sorgender Vaterblick, den sie von früher her wohl kannte. Es schien, als warte er, dass sie zu sprechen anfangen solle. Allein sie schwieg. Sie atmete leicht, ihr Auge war klar und kühl, ihre Hand ruhig wie immer, während sie ihrem Vater, der seine Zigarrentasche hervorgeholt hatte, ein Streichholz entzündete.
„Danke!“ sagte der Alte, seiner Henry Clay die ersten duftigen Ringeln entlockend, und wieder trat Stille ein.
Plötzlich stand Mary auf und begann im Zimmer auf und nieder zu gehen. Scheinbar gelangweilt und doch von einer inneren Unruhe getrieben, jenem leisen, unbestimmbaren Zittern der Nerven, mit dem das Temperament über die Willenskraft siegt und sich verrät.
Der alte Herr schob sich die Brille zurecht und folgte mit den Augen der schlanken, hohen Gestalt, um die sich in schillernden, leise zischelnden Falten der Wurf des perlgrauen Kleides schmiegte. Darunter blinkten die langen, schmalen Lackschuhe und durchmassen, lautlos und elastisch wie der Tritt einer Katze, den dicken Smyrnateppich. Etwas Katzenhaftes, eine seltsame Mischung von gleichgültiger Ruhe und verhaltener Schnellkraft lag in all ihren Bewegungen und glomm in dem grünlichen Glanz, der zuweilen tief innen in ihren grauen Augen aufleuchtete. Kein Zweifel — sie war nicht so schön wie ihre goldblonde, rosige Schwester. Sie war mehr. Eines der Gesichter, die man nicht vergisst, die mit ihrer stummen Leidenschaftlichkeit wie ein quälendes Rätsel in der Erinnerung stehenbleiben.
Der kleine Kommerzienrat sah auf die Uhr. „Hast du ’ne Ahnung, Mary,“ fragte er ... „... wie lange Ellen braucht, um das Spielzeug für die Kleinen zu finden?“
„Woher soll ich das wissen?“ Mary war am Fenster stehengeblieben und schaute hinaus. „... Wir haben ja keine Kinder!“
„Na ja ...“ der alte Herr schüttelte ärgerlich den Kopf ... „... ’s ist ja auch zu dumm! Vorderhand musst du dich eben mit über Ellens Kinderstube freuen.“
„Das kann ich nicht!“ sagte Mary. „Im Gegenteil ... das erste Mal ... wie ich davon hörte ... da hab’ ich die ganze Nacht geweint.“
„Aber ... Mary ...“
„Ja, das verstehst du nicht, Papa! Man kommt sich so unnütz vor ... So ohne Ziel und Zweck ... Wenn man so morgens aufsteht und sich erst überlegen muss: wie schlage ich heute nun den ganzen lieben langen Tag tot ...?“
„Du hast doch deinen Mann!“
„Unter Tag seh’ ich ihn selten. Da hat er seine Geschäfte ...“
„Ja ... was treibt er denn nun so eigentlich?“
„Er frühstückt irgendwo ... mit ein paar Menschen! Manchmal sind’s anständige Leute ... manchmal ganz unglaubliche Gestalten. Mit denen schliesst er dann irgendwas ab ... kauft ein Haus oder eine Zeitung und verkauft eine Schiffsladung Weizen oder einen Posten afrikanische Shares ... was weiss ich ... ich versteh’ nichts davon ... und dann fährt er wohl noch auf die Börse und zum Notar. Kommt er dann gegen fünf zum Mittag, ist er meistens in der besten Stimmung. ‚Das deutsche Volk arbeitet ganz tüchtig für mich,‘ sagt er dann, wenn er sich die Serviette umlegt ... ‚Heute habe ich tausend Mark Plus gemacht und für morgen liegt schon ein neues Schaf auf der Bank ...‘ Und wenn ihm der Diener seinen Mumm extra dry eingiesst, behauptet er jedesmal: ‚Die Wolle der Schafe ist mein sittliches Eigentum! Man muss den kleinen Mann zur Emsigkeit erziehen. Wo bleibt sonst meine Dividende?“
„Nette Grundsätze,“ sagte der alte Herr kopfschüttelnd ... „... aber es glückt ihm ja, wie’s scheint!“
„Ja. Neulich zeigte er mir seine Bücher. In den drei Jahren, die wir verheiratet sind, hat er, wie er behauptet, meine Mitgift mehr als verdoppelt!“
„So, so? Aber ihr habt’s doch nicht nötig. Und wie derlei auf die Dauer das Dasein deines Mannes ausfüllen soll ...“
„Es ist doch nur ein Übergangsstadium,“ sagte Mary. „Ehe er aus dem Staatsdienst vor zwei Jahren austrat, hat er mich förmlich um Erlaubnis gefragt. ‚Du hast einen Regierungsassessor und künftigen Landrat geheiratet,‘ erklärte er ... ‚... bestehst du darauf, Landrätin zu werden und so weiter im Trott der Staatskarriere, so mache ich den Zickzackkurs der Regierung weiter mit, und wenn mich das Schicksal bis Krotoschin verschlagen sollte. Aber die grosse Karriere, die wir beide wollen, ist uns dann verschlossen. Wie die Dinge heute liegen, kriegt man die nur als ganz freier, unabhängiger Mensch!‘ Das hab’ ich eingesehen, und so zogen wir nach Berlin.“
„Und worauf wartet er nun hier?“
„Auf den grossen Schlag, wie er’s nennt! Der ganze Witz im Leben sei der, die Dinge auf sich zukommen zu lassen! Inzwischen ‚lebt er sich in Berlin ein‘ ... nach seinem Ausdruck ... das heisst ... er macht alle die Geschäfte, von denen wir sprachen.“
„So?“ Der kleine Handelsherr stiess eine mächtige Rauchwolke in die Luft ... „... und wie stellt sich denn dein Mann beiläufig so den grossen Schlag vor?“
Mary überlegte einen Augenblick. „Darüber wollte er mit dir selbst sprechen!“ sagte sie dann zögernd. „Ich will mich nicht in Politik mischen!“
„Also Politik ist’s?“
„Natürlich. Oskar erklärt jeden Tag, ihm gebühre eine führende Stellung im Leben der deutschen Nation!“
„Und ich soll ihm dazu verhelfen?“
„Ja. Durch den Reichstag.“
Der Kommerzienrat stand, sich auf die Tischplatte stützend, auf. „Nun kann ich mir schon denken,“ sagte er trocken ... „.... also lassen wir’s vorderhand. Das ist ’ne Sache zwischen ihm und mir!“
Er ging auf seine Tochter zu und legte ihr leise den Arm um den Nacken. „Nun schau mich mal an, mein Mädel!“ sagte er ... „oder vielmehr auf mich herunter. Denn du bist ja mit Gottes Hilfe einen Kopf länger wie dein alter Vater!“
Sie beugte sich herab und gab ihm einen Kuss. „Ich bin ganz Ohr, Papa! Was willst du wissen?“
„Etwas, was einen Vater schliesslich auch angeht ...“ sprach der alte Herr ernst ... „... ob du glücklich bist, Mary? ... Mir scheint’s leider nicht so ganz der Fall.“
Das junge Weib schwieg eine kleine Weile. Ein Lächeln spielte um ihren Mund. „Weisst du, Papa,“ sagte sie dann ... „... Glück ... das ist schliesslich auch ein Begriff! Ich bin immer eine kühle Natur gewesen ... ohne die Illusionen vieler anderer Mädchen ... und darum ist mir auch manche Enttäuschung erspart geblieben. Das kann man doch auch schon ein gewisses Glück nennen und ...“
„Halt! ...“ unterbrach sie der alte Herr, „... zur Sache! ... ich habe dich gefragt, ob du glücklich bist? Glück heisst für euch Frauenzimmer Liebe. Liebst du deinen Mann?“
„Liebe ...?“ sagte Mary ... „... vielleicht versteht darunter auch jeder etwas anderes. Ich verstehe darunter, einen Menschen gern haben! Das Wilde und Stürmische, was man vielleicht die eigentliche Liebe nennt — das ist nie über mich gekommen. Dazu bin ich zu kalt von Natur.“
„Wir haben vorhin am Reichstag einen Menschen getroffen, mein Kind ...“ ihr Vater schüttelte nachdenklich den Kopf ... „... wenn ich an den Tag denke, an dem ich unsern damaligen Hauslehrer an die frische Luft setzte ...“
„Er hatte eine ungeheure Macht über mich ... mit meinen achtzehn Jahren,“ sagte Mary ganz ruhig, „... gewiss ... das kann ich nicht leugnen! Wenn er’s befohlen hätte, wäre ich vom Turm heruntergesprungen. Sein Wille war meiner. Ich hatte gar keine Persönlichkeit mehr. Aber ob man das Liebe nennen kann ... diese Übermacht eines starken Charakters über ein halbfertiges Geschöpf, wie ich es damals war ... nun ... jedenfalls ist’s vorbei und nicht wiedergekommen.“
„Also dein Mann hat diesen Einfluss nicht?“
„Es war doch von vornherein eine Vernunftehe ...“ Mary schaute ihrem Vater kühl ins Gesicht ... „Darüber haben wir uns ja nie Illusionen hingegeben.“
„Das heisst ... er brauchte viel Geld und eine kluge Frau ... und du einen sehr klugen Mann, um an seiner Seite zu einer glänzenden Stellung und dem Lebensgenuss im grossen Stil, wie ihn dein Naturell verlangt, zu kommen?“
„Nun, ja ... so ungefähr.“
„Schön!“ sagte der alte Kaufmann, „mir hat, wie du weisst, deine Wahl nie gefallen. ‚Ja‘ hab’ ich trotzdem gesagt, denn du warst einundzwanzig, und des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Nun komm’ ich ja selten nach Berlin, trotz des Reichstags. Ich hab’ zu viel Arbeit mit den Fabriken, und meine Gesundheit ist schlecht. Aber wenn ich komme, finde ich, dass dein Mann wohlbeleibter, frivoler und selbstzufriedener geworden ist. Von dem mageren, eleganten Regierungsstreber, der damals auf unseren Bällen vortanzte, ist auch nicht die Spur übriggeblieben. Er setzt Fett an, körperlich und geistig. Er wird mir zu früh satt. Und darum frag’ ich dich noch einmal: Mary ... bist du mit ihm glücklich?“
„Ja.“
„Kind ... ist das auch wirklich wahr?“
„Ja.“
„Kannst du mir das beschwören?“
„Ich schwör’ es dir!“ sagte die junge Frau halblaut, mit unbeweglichem Gesicht und halbgeschlossenen Augen.
„Hm ... hm!“ Der alte Herr ging unruhig rauchend im Zimmer auf und nieder. „Also was fehlt dir denn?“
„Mir? ... Nichts!“
„Na ... hör’ mal!“ Er blieb ärgerlich vor seiner schönen Tochter stehen ... „... willst du mir was weismachen? Das seh’ ich doch, dass du leidest ... dass irgend etwas an dir zehrt; man braucht ja bloss dein Gesicht anzuschauen ... Warum sagst du mir’s denn nicht?“
„Ich weiss nicht, was du meinst, Papa?“