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An einem Herbstabend des Jahres 1787 kommt Giacomo Casanova auf Einladung des Grafen Pachta nach Prag. Auch Mozart befindet sich in der Stadt an der Moldau. Er bereitet die Uraufführung der Oper aller Opern mit ihrer vollendet schwebenden Musik vor – „Don Giovanni“. Aber die Arbeit stockt. Der Librettist Lorenzo da Ponte gibt dem Verführer vulgäre, bestenfalls grobe Züge, die Sängerinnen neiden einander jede Arie, und Mozart fehlt die Ruhe, seine Partitur zu beenden; überall wird er von Verehrerinnen verfolgt. Casanova aber bringt den Glanz aus einer großen alten Zeit in die Stadt, er versteht Feste zu feiern, er weiß, über welche Rafinesse und Wortgewandtheit ein wahrer Verführer verfügen müsste. Und er hat es sich ebenfalls zur Aufgabe gemacht, diese Oper zur Vollendung zu bringen – auch wenn er dazu einige höchst irdische Intrigen einfädeln muss ...
Nach „Faustinas Küsse“ und „Im Licht der Lagune“ hat Ortheil nun das große Finale seiner erotischen Kunst- und Künstler-Trilogie geschrieben. In diesem Roman geht es um Musik und das, was die Musik allein zu gestalten vermag: um Liebe. In einem Wirbel von Geschichten schildert Ortheil, wie eine der bedeutendsten europäischen Opern entstanden ist. Überwältigend zart und klug wie Mozarts Musik entspinnt sich dieses Buch, und obwohl drei Männer das große Wort führen, halten andere darin die Hauptrolle besetzt und führen insgeheim Regie: die Frauen.
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Seitenzahl: 546
An einem Herbstabend des Jahres 1787 kommt Giacomo Casanova auf Einladung des Grafen Pachta nach Prag. Auch Mozart befindet sich in der Stadt an der Moldau. Er bereitet die Uraufführung der Oper aller Opern mit ihrer vollendet schwebenden Musik vor – »Don Giovanni«. Aber die Arbeit stockt. Der Librettist Lorenzo da Ponte gibt dem Verführer vulgäre, bestenfalls grobe Züge, die Sängerinnen neiden einander jede Arie, und Mozart fehlt die Ruhe, seine Partitur zu beenden; überall wird er von Verehrerinnen verfolgt. Casanova aber bringt den Glanz aus einer großen alten Zeit in die Stadt, er versteht Feste zu feiern, er weiß, über welche Raffinesse und Wortgewandtheit ein wahrer Verführer verfügen müsste. Und er hat es sich ebenfalls zur Aufgabe gemacht, diese Oper zur Vollendung zu bringen – – auch wenn er dazu einige höchst irdische Intrigen einfädeln muß...
Nach »Faustinas Küsse« und »Im Licht der Lagune« hat Ortheil nun das große Finale seiner erotischen Kunst- und Künstler-Trilogie geschrieben. In diesem Roman geht es um Musik und das, was die Musik allein zu gestalten vermag: um Liebe. In einem Wirbel von Geschichten schildert Ortheil, wie eine der bedeutendsten europäischen Opern entstanden ist. Überwältigend zart und klug wie Mozarts Musik entspinnt sich dieses Buch, und obwohl drei Männer das große Wort führen, halten andere darin die Hauptrolle besetzt und führen insgeheim Regie: die Frauen.
Hanns-Josef Ortheil, 1951 in Köln geboren, lebt heute in Stuttgart. Für seinen Debütroman »Ferme« erhielt er 1979 den aspekte-Literatur-Preis. Es folgten die Romane »Hecke«, »Schwerenöter«, »Agenten« und »Abschied von den Kriegsteilnehmern«. Neben zahlreichen Essaybänden (u.a. über Mozarts Sprachen) veröffentlichte er das literarische Tagebuch »Blauer Weg«. Zuletzt erschien sein Roman »Lo und Lu« (Luchterhand, 2001).
In einer Herbstnacht des Jahres 1787 erwachte die junge Anna Maria Gräfin Pachta von einem furchtbaren Traum. Erregt, mit klopfendem Herzen, starrte sie gegen die dunkle Holzdecke des kleinen Zimmers, das sie erst seit einigen Wochen bewohnte. Es war eines der Zimmer des Damenstifts auf dem Hradschin, das die Kaiserin Maria Theresia für ausgewählte Töchter des böhmischen Adels eingerichtet hatte.
Anna Maria lag still, angespannt, mit steifen Gliedern, als könnte sie sich nicht mehr bewegen. Sie versuchte den Traum loszuwerden und ihn aus ihren Gedanken zu verdrängen, doch sie spürte am leichten Zittern der Hände, daß sie die Bilder noch immer verfolgten. Langsam stand sie auf, um das Fenster einen Spalt zu öffnen, dann schmiegte sie sich wieder unter die Decke. Oft schon hatte sie so gelegen, tags über, mit geschlossenen Augen, den Klängen lauschend, die von der tiefer liegenden Stadt herauf drangen.
Die Geräusche und Töne vermißte sie hier oben am meisten. Das elterliche Palais lag mitten im Gewimmel der Häuser, schon am frühen Morgen hatte man dort die Rufe der Händler gehört, das Knirschen der Kutschenräder auf dem Pflaster, die gedämpften Unterhaltungen und die am späten Vormittag in den Straßen und Wirtshäusern einsetzende Musik. Von Stunde zu Stunde hatte die Stadt mehr zu klingen begonnen, ein über den Mittag, wenn die Gaststuben längst gefüllt waren, anschwellendes Orchestrieren, als bliesen und geigten sie alle gegeneinander, bis von den Türmen nahe der Karlsbrücke die Posaunenchoräle erschallten und die Klangwelt der Stadt zudeckten mit den Echolauten ihres Geschmetters.
Im Stift aber war es oft so still, daß sie unwillkürlich bei den leisesten Geräuschen erschrak. Im ummauerten Garten des verzweigten Gebäudes fuhr sie zusammen, wenn plötzlich der Strahl eines Springbrunnens hochschoß, in den weiten Korridoren verfolgte sie das rasch verebbende Huschen von Schritten, und in der kleinen Kapelle hörte sie das leise Ticken einer Uhr so deutlich, als befinde sich die Uhr ganz nahe, während alle doch wußten, daß sie in der entfernt liegenden Sakristei stand.
Auch die anderen Stiftsdamen hatten ihre Empfindlichkeit bald bemerkt. Sie hatten ihr gut zugeredet und Rücksicht auf sie genommen, doch Anna Maria hatte sich weiter während des Tages bei geöffnetem Fenster auf ihr Bett gelegt, um mit geschlossenen Augen den von der Stadt aufsteigenden Klängen zu lauschen. Manchmal hatte sie sogar geglaubt, das feine Rauschen der Moldau am Wehr nahe der Karlsbrücke zu hören, es war ein summendes hintergründiges Rauschen gewesen, wie aus den Tiefen des Flusses.
Jetzt aber gelang dieses Spiel nicht so leicht wie am Tag. Sie hörte nur das weit entfernte Bellen eines einzelnen Hundes, und so stand sie schließlich doch wieder auf, noch immer mit stark klopfendem Herzen. Dort unten lag die Stadt, ja, wie gern wäre sie jetzt die breite Stiege hinuntergelaufen, um durch die Gassen zu gehen, sie wäre zu sich gekommen und sie hätte die schändlichen Bilder nicht so nahe gespürt. Der breite, silbern glänzende Fluß, auf dem sich der Mondschein wiegte, war gut zu erkennen, kleine Fackeln schwirrten über die Karlsbrücke.
Ihr Atem ging noch immer rasch, als wäre sie eine große Strecke gelaufen, sie wischte sich mit der rechten Hand über die Stirn. Sofort spürte sie den kalten, sich an den Haarenden ablagernden Schweiß, die feuchten Fingerkuppen waren so klebrig, als wäre die Feuchtigkeit Blut. Sie preßte die Finger gegen die Schläfen, doch während sie noch auf das nächtliche Stadtbild starrte, tanzten die Traumszenen wieder verstärkt vor ihren Augen.
In Gedanken hing sie noch an der Vergangenheit im elterlichen Palais, sie konnte sich von den Klängen und Bildern dort so schnell nicht befreien, obwohl ihr die meisten der dreißig Stiftsdamen zur Seite standen und ihr die Eingliederung in das neue Leben, das jeden Morgen gegen sieben Uhr mit der Frühmesse begann, so leicht wie möglich machten. Ihre Mutter war vor drei Jahren gestorben, die größere Schwester längst verheiratet, und die drei älteren Brüder lebten nicht mehr in Prag, sondern in Wien, wo sie ihren Pflichten am kaiserlichen Hof nachgingen.
Lange hatte der Vater nach einem geeigneten Aufenthaltsort für sie gesucht, doch erst nach mehreren Anträgen war ihr einer der begehrten Plätze des Damenstifts zuerteilt worden. Sie hatte nicht widersprochen. Auf Dauer konnte sie nicht mit dem Vater zusammenleben, es gehörte sich nicht, außerdem verschlang ein solches Leben viel Geld. Bis zu ihrer möglichen Heirat würde sie im Damenstift untergebracht sein, zumindest die Hälfte des Jahres, nur im Sommer würde sie den Vater auf seine Landgüter begleiten, wo sie auch ihren noch unverheirateten Brüdern wieder begegnen würde.
Sie versuchte, das elterliche Palais im Dunkel zu erkennen, doch als sie es aus dem Schwarzgrau der gedrängt stehenden Häuser nicht herausfand, begann sie zu beten. Sie murmelte »Heilige Jungfrau Maria«, doch die Worte erschienen ihr fremd, sie hörte sich ängstlich flüstern und spürte die nächtliche Kälte, so daß sie das Fenster schloß und begann, sich anzukleiden. Sie fühlte sich schwach, das Kleid schien sich wie ein schweres Gewicht auf ihren Körper zu legen. Sie dachte daran, sofort zu beichten, doch sie ließ den Gedanken rasch wieder fallen, so ein Ansinnen hätte zuviel Aufmerksamkeit erregt.
So stand sie am Fenster, wagte sich nicht zur Tür und scheute vor dem Bett weiter zurück. Es war, als hielte man sie gefangen und als könnte sie sich nicht mehr frei bewegen. Sie kniete sich hin und nahm das Brevier aus der Tischlade. Das laute Lesen war besser als das Murmeln zuvor. Sie fand viel Lateinisches und suchte die Seiten nach kaum verständlichen Stellen ab. Sie las unbeweglich, ohne abzusetzen, und sie nahm sich vor, es bis zum Morgengrauen zu tun.
Doch immer wieder tauchten die furchterregenden Bilder auf, sie schienen sich unter dem Türspalt, dem sie den Rükken zukehrte, hindurchzuzwängen. Dann sah sie die Gesichtszüge eines großen, kräftigen Mannes, vor dem die sonst verschlossene Tür ganz leicht aufsprang. Sie sah seinen Hut, den ein weißer Federbusch krönte, er warf ihn beim Hineinkommen in die Richtung der Tür, und sie erkannte den Degen mit einem kunstvollen Knauf, den zwei sich aufbäumende Schlangen verzierten. Er ließ ihn zur Seite, gegen die Wand fallen, während er mit der Rechten spöttisch grüßend durch die Luft fuhr, so daß sie den Löwenkopf seines Rings im Dunkel aufblitzen sah.
Er hatte sich über ihr Bett gebeugt, von seinem festen, zupackenden Griff war sie erwacht. Noch im Erwachen hatte sie sein Lachen gehört, das Lachen eines durch nichts aufzuhaltenden, zügellosen Menschen, und während sie sich gegen seine Zudringlichkeiten gewehrt hatte, war es ihr so vorgekommen, als lauerten vor der geöffneten Tür die neugierigen Augen der Prager Gesellschaft darauf, daß dem Eindringling sein grausames Vorhaben gelinge.
Casanova erwachte. Einen Augenblick lang versuchte er sich zu erinnern, richtig, gestern abend war er in Prag eingetroffen, er war jetzt in Prag, solch einen frühmorgendlichen Lärm gab es nur in dieser Stadt, die zu viele Musiker beherbergte, Blechbläser vor allem, die sich anscheinend schon sofort nach dem Erwachen an ihre Instrumente machten. Er reckte sich auf und lauschte ins Dunkel. Wahrhaftig, da blies jemand auf der Trompete, spitze, an der Decke entlanglaufende Töne, die sich zu knatternden Schauern verdichteten, unglaublich.
Er preßte die Zeigefinger in die Ohrmuscheln, doch das half nichts, jetzt hörte er sogar noch ein zweites Instrument, eine Klarinette, ja, eine sich verausgabende, Ton für Ton eine nicht enden wollende Treppe herunterpolternde Klarinette. Auf dem Tisch stand das Nachtglöckchen; es war aus Kristall, ein winziges Spielzeug, er läutete, so heftig er konnte, aber der zarte Glasklang wirkte gegen die Klänge von draußen nur wie ein schwaches, sich im weiten Raum verflüchtigendes Mäuserascheln.
Doch immerhin, die Tür öffnete sich. Casanova erkannte einen jungen, schlecht gekleideten Mann, der sich dem Bett näherte. Er machte eine umständliche Verbeugung, wahrscheinlich stammte er vom Land, die meisten jungen Diener kamen von dort, man konnte ihnen die Steifheit nicht austreiben.
»Guten Morgen, gnädiger Herr«, sagte der Bursche. »Graf Pachta hat mir aufgetragen, Ihnen als seinem willkommenen Gast behilflich zu sein. Er sagte, ich solle mir Mühe geben, Sie zufriedenzustellen. Der Herr Graf ist in der Früh nach Wien abgereist, wo er seine Söhne besucht.«
»Was redet Er da?« Casanova setzte sich auf. »Warum erklärt Er mir, was ich längst weiß? Ich habe gestern abend noch mit dem Herrn Grafen gespeist.«
»Verzeihen Sie, gnädiger Herr, das wußte ich nicht«, antwortete der Bursche. »Der Herr Graf hatte wenig Zeit in der Früh. Mit mir wechselte er nur einige Worte.«
»In der Früh? Wann in der Früh? Wie spät ist es denn?«
»Gegen Zehn, beinahe Zehn, wenige Minuten vor Zehn.«
Casanova drehte sich zur Seite und schwenkte die Füße auf den Boden. »Schon Zehn? Rasch, ich stehe sonst niemals so spät auf. Die Vorhänge und die Läden geöffnet!«
Der Junge ging schnell zu den Fenstern, zog die schweren Vorhänge auf und öffnete mit geübten Handgriffen einen Laden nach dem andern. Die Musik war noch lauter geworden, zwei Trompeten, eine Klarinette, eine Oboe.
»Was ist das denn für ein Lärm? Es ist unerträglich, verdaut man in Prag Noten zum Frühstück?«
»Entschuldigen Sie, es sind Mitglieder der Hauskapelle des Grafen, gegen Zehn beginnen sie mit den Proben.«
»Gegen Zehn! Wenn sie morgens so loslegen, werden sie am Abend erschöpft sein.«
»Ich werde es ihnen ausrichten.« Der Bursche verneigte sich, er war in der Nähe der Fenster stehengeblieben. Casanova beugte sich vor. Nein, er sah nicht übel aus, groß, schwarzhaarig, ein schmaler, feiner Kopf, Graf Pachta hatte ihm einen hübschen Jungen an die Seite gegeben.
»Wie heißt Er? Wie ruft man Ihn hier?«
»Ich heiße Paul, gnädiger Herr.«
»Und ich heiße Giacomo, Signor Giacomo!«
»Jawohl, gnädiger Herr!«
»Nicht gnädiger Herr, nichts davon! Signor Giacomo, nur das, hast Du verstanden? Ich werde Dich Paolo nennen, das kommt mir leichter über die Lippen.«
»Ich habe verstanden, Signor Giacomo.«
»Du kommst vom Land, Paolo?«
»Ja, Signor. Meine Eltern sind früh gestorben, ich bin in eine Waisenschule gegangen.«
»Und was lernt man dort?«
»Das Horn blasen, Signor.«
»Das Horn? Du willst sagen, daß Du das Horn blasen kannst?«
»Ja, Signor, ich kann es sehr gut blasen, auch ich spiele in der Kapelle des Grafen, seit mehr als vier Jahren.«
»Wie alt bist Du?«
»Neunzehn Jahre, Signor. Der Herr Graf hat meine Ausbildung bezahlt, viele Hohe Herren machen das so, denn viele der Hohen Herren halten sich eine eigene Kapelle oder sogar ein großes Orchester.«
»Das Horn ist ein edles Instrument, Paolo, ich liebe das Horn. All dieses Bläsergeschmetter da draußen ist nichts gegen den Wohllaut des Horns, habe ich recht?«
»Signor Giacomo ist zu freundlich, ich danke Ihnen.«
»Nun gut, Paolo, wir werden uns schon verstehen. Beginnen wir diesen Tag mit einem exzellenten Frühstück!«
»Gern, Signor Giacomo, ich eile sofort in die Küche!«
Casanova lächelte, der Bursche war schon an der Tür. »Warte, so warte doch! Was willst Du mir bringen, aus Deiner Küche?«
»Das Frühstück, Signor.«
»Das Frühstück! Woraus besteht denn Dein Frühstück?«
»Kaffee, Signor Giacomo, Brot, Butter, vielleicht etwas Käse und ein paar Eier?«
»Aber Paolo, Du wirst lernen müssen, viel lernen. Ich wünsche Kaffee, ja, aber den kräftigen, schwarzen, und Brot, ja, aber das duftende, weiche, leicht süße, Rahmbutter dazu, drei sehr weiche Eier. Dann Orangengelee und etwas Schale von der Zitrone, denn das Gelee machen die Prager zu süß, weil sie nichts davon verstehen. Das Ganze stell bitte hier auf den kleineren Tisch, es soll mir den Mund lediglich wässern. Denn wenn mir das alles gemundet hat, wechsele ich hinüber zum größeren Tisch, wo das Frühstück eingenommen wird: einen kleinen Teller mit Sardellen, etwas vom gestrigen Braten, dunkle Oliven, einen reifen, am besten schon leicht zerlaufenen Käse, dazu das dunkle Nußbrot. Ein Glas Wein könnte nicht schaden. Und nun lauf!«
Paolo zögerte einen Moment, dann verbeugte er sich und verschwand. Casanova stand auf und begann, sich anzukleiden, während er das Zimmer durchschritt. Die Räume in diesem stillen Seitenflügel, den niemand außer ihm bewohnte, waren herrschaftlich groß, wie für ihn geschaffen. In seinen besseren Tagen hatte er in solchen Räumen gelebt, in Venedig, in Paris, in London, in den Hauptstädten der Welt. Gewiß, diese hier wirkten gedämpfter, ein wenig gedrückt, aber in Prag gehörten sie zum Besten, was es gab. Mit Paris oder Venedig konnte Prag sich natürlich nicht messen, im Grunde war Prag eine Provinzstadt und die geschmackvollsten Häuser erinnerten einen höchstens an Wien.
Ein Glück, daß er mit dem Grafen Pachta seit langem befreundet war, so brauchte er sich keine Zimmer zu mieten oder gar ein Quartier in einem der Gasthöfe zu suchen. Hier, in diesem verlassen wirkenden Seitenflügel des Pachtaschen Palais, war er ungestört und wurde zudem noch fürstlich versorgt. In Ruhe konnte er seine Gedanken aufs Papier bringen, Besuch empfangen, sich den Lektüren widmen. Der Graf würde einige Zeit verreist sein, das war nur von Vorteil, denn sonst hätte ihn dieser alte Schwätzer ununterbrochen belästigt und ihn nach längst vergangenen Geschichten gefragt.
Etwa dreißig Bediente hatte der Graf, die Mitglieder der Kapelle nicht gerechnet. Hätte man ihm, Giacomo Casanova, freie Hand gegeben, so hätte er mit Hilfe dieser Bedienten herrliche Feste gefeiert, für eine kleine Schar sorgfältig ausgesuchter Menschen von Stand und mit Geschmack! Denn der Graf, nein, der verstand nichts davon, er überließ solche Dinge den Köchinnen, die ihn seit Kindesbeinen mit immer denselben Speisen versorgten, schweren, zerkochten Gerichten, wie man sie auf dem Land aß, woher die Köchinnen stammten, die nie in einen italienischen oder französischen Kochtopf geschaut hatten, nein, nie. In den kommenden Wochen würde er ihnen etwas von diesen fremden Kochkünsten beibringen, bis sie es nicht mehr wagten, den Braten in dunklen Saucen zu verkochen. Austern, gefüllte Perlhühner, Kutteln auf venezianische Art! Ja, langsam und unauffällig würde er in diesem Palais die Regie übernehmen, und wer weiß, vielleicht wäre es am Ende doch möglich, aus diesem Palais, das viel von seinem alten Reiz verloren hatte, ein wahrhaft herrschaftliches und sogar gastfreundliches Haus zu machen!
Doch um das zu erreichen, mußte er sich das Wohlwollen der Dienerschaft sichern, zunächst mußte er Paolo für sich gewinnen, dann die Frauen der Küche, langsam, wie eine Krake, würde er seinen geheimen Einfluß ausdehnen, bis er sogar der Kapelle, die wahrscheinlich nichts anderes als böhmische Tänze kannte, die richtigen Töne beigebracht hatte. Eine solche Aufgabe, ja, die war seiner würdig! In Prag einen Glanzpunkt zu setzen, für einige Wochen, so hell, so erregend, daß man noch lange davon sprechen würde!
Aber zunächst hatte er noch einiges zu erledigen, dies und das, Besuche, ein paar Gespräche. Wo hatte er den Brief bloß hingesteckt? Er öffnete die Schublade des Nachtschränkchens und zog ihn heraus. Richtig, damit würde er den Anfang machen, mit diesem Halunken! Sie würden sich um den Hals fallen und so tun, als wären sie die besten Freunde, seit langem. Aber er wußte, wen er vor sich hatte, so wie er jede Regung dieses Halunken seit ihrer ersten Begegnung vor vielen Jahren kannte. Sie waren beide Venezianer, doch er, Giacomo Casanova, war der ältere, klügere, weitgereiste, der wahre Sohn Venedigs, während der Halunke bloß eine mißratene Fehlgeburt war, die durch viele Zufälle zu leidlichem Ruhm gekommen war. Er würde sich einen Spaß daraus machen, ihn an der Nase herumzuführen, diesen Prag-Aufenthalt sollte er in schlechter Erinnerung behalten, dafür würde er sorgen!
Paolo klopfte, öffnete die Tür und kam mit einem großen Tablett herein. Er stellte alles auf den kleinen Tisch und seufzte laut: »Mehr konnte ich so schnell nicht beschaffen, Signor Giacomo! Die Köchin sagt, der Herr Graf habe nur sehr bescheiden gefrühstückt.«
»Was erlaubt sie sich, diese Köchin?« rief Casanova und lief sofort an den Tisch, um das Beschaffte zu mustern. »Ein matter Kaffee, kein schwarzes, trockenes Brot, am Rand schon hart, ein Stück Käse, das seine Träume ausschwitzt, bleiche Butter... und was ist das, was soll das sein?« Er nahm eine in Scheiben geschnittene, klebrige Substanz von einem Teller und hielt sie in die Höhe.
»Quittenspeck, Signor Giacomo.«
»Quittenspeck? Damit füttert man in Venedig die Affen, wenn sie an Verstopfung leiden.«
»Ich werde es der Köchin sagen, sofort«, antwortete Paolo und wollte sich auf den Weg machen, als Casanova ihm beschied, das Zimmer nicht zu verlassen. Er setzte sich an den kleinen Tisch, beugte sich über die Tafel und begann mit beiden Händen zu essen. Paolo wich einige Schritte ans Fenster zurück, er hatte noch nie einen Menschen so essen sehen. Mit der Rechten tunkte er das Brot kurz in den Kaffee, bestrich es mit der Linken mit Butter, schleifte es mit der Rechten durch etwas Eigelb und setzte dem kleinen Bau einen Käsespan auf. Noch während er kaute und schluckte, ließ er das Eigelb auf einem Teller zerlaufen, bröselte das Brot hinein, wälzte die Sardellen, goß etwas Wein dazu und löffelte alles in den Mund, jeden Happen mit einem Schluck Kaffee versetzend.
»Noch etwas Kaffee und mehr Wein!« hörte Paolo ihn rufen, und er näherte sich dem Tisch vorsichtig, als geriete er in die Nähe eines fremden und vielleicht doch gefährlichen Tiers, das ihn jederzeit anfallen konnte. »Rascher!« befahl Casanova jetzt, und dieser energische Ruf tat sofort seine Wirkung, denn Paolo goß nach und blieb nun in der Nähe des Tisches, während Casanova den Wein in den kleinen Schüsseln und auf den Tellern verteilte und jeweils mit einer anderen Zutat füllte. Unablässig mischte, knetete und verstreute er die verschiedenen Speisen, Paolo konnte diesem schnellen Treiben kaum noch folgen, es war, als habe der gnädige Herr vor, all diese Substanzen mit der Zeit zu einer einzigen zusammenzurühren, der einzig richtigen, einer Art Creme oder Sauce, die das kleinste Tellerchen füllte.
Jetzt nahm er den Kaffeelöffel und kostete, wahrhaftig, es schien ihm sogar zu schmecken, denn für einen Moment schloß er die Augen, während er die Paste weiter abschmeckte. »Paolo, Du wirst der Köchin ausrichten, aber nein, ich werde selbst mit ihr sprechen, das morgige Frühstück soll mir behagen. Und dieses Zimmer... – wir werden es illuminieren. Den Schreibtisch rückst Du ans Fenster, ich brauche Kerzen, so viele Du auftreiben kannst! Schalen mit Obst und kandierten Früchten hier auf den kleinen Tisch, auf den großen gehören Karaffen mit Wein und Wasser und mit Likör, dazu Gebäck, kleine Kuchen, ich werde noch genauere Anweisungen geben! Doch zunächst brechen wir auf, Du wirst mich begleiten. Ein lieber Freund will mich sehen, in einem Gasthaus am Kohlmarkt, er hat mir in einem leidlich gelungenen Brief jedenfalls mitgeteilt, daß er sich dort aufhalte. Lassen wir Signor Lorenzo da Ponte nicht warten, er meldet, daß er sehr viel zu tun habe, er schreibe den Text für eine Oper, nur den Text, das Libretto, ein paar Verse, mehr nicht, das hält er für Arbeit, nun gut, lästern wir nicht, es soll uns eine Freude sein, Signor Lorenzo zu begrüßen.«
Er deutete auf einige herumliegende Kleidungsstücke, und Paolo bemühte sich, ihm alles möglichst schnell zu reichen. Noch während er den Mantel umlegte, nahm er den letzten Schluck Kaffee, und noch als er in der Tür den Hut mit dem weißen Federbusch aufsetzte, trank er den letzten Tropfen Wein aus einem silbernen Becher, den er auf die Reise mitgenommen hatte, wie ein Spielzeug, das er zu seinem Amusement brauchte.
Lorenzo da Ponte saß noch im Theater. Er wartete auf einen der Sänger, den jungen Luigi, der in der Oper die Hauptrolle singen würde. Gestern hatte sich Luigi während der Proben über diese Rolle beklagt, beinahe ausfallend war er geworden, weil er die großen Auftritte vermißte. Kaum eine Arie, höchstens dann und wann ein Duett, das würde er sich nicht gefallen lassen!
Mit Luigi durfte man es sich nicht verderben. Er war der Liebling der hohen Damen, die jeden seiner Bühnenschritte mit ihren winzigen Operngläsern aus den Logen verfolgten, und er war ein kluger, gewitzter Bursche, der sich manchmal einen Spaß daraus machte, eine Rolle zu parodieren. So einer hatte großen Einfluß auf das ganze Ensemble, denn er gab den Ton an, hielt die anderen bei Laune und flüsterte ihnen so lange seine Meinung über das Stück zu, bis sie diese Meinung für ihre eigene hielten.
Jetzt aber verspätete er sich, natürlich, er ließ ihn, Lorenzo da Ponte, warten, um ihm seine Verachtung zu zeigen! Im Grunde wäre es auch Sache des Komponisten gewesen, mit Luigi zu sprechen, doch der Maestro kümmerte sich nicht um solche Dinge. Seit Tagen erklärte der Maestro, daß er zu arbeiten habe und sich nicht mit den Details beschäftigen könne, schließlich müsse die Oper fertiggestellt werden, und vor allem darauf komme es an.
Aber warum war sie nicht fertig? Warum hatte sich Mozart in den letzten Monaten nicht hingesetzt, um die Oper flüssig, in einem Zug, Stück für Stück zu beenden? Sogar am Text hatte er noch immer etwas auszusetzen, so daß der Schluß des Stückes noch fehlte! Wie sollte man mit den Sängern die ersten Szenen proben, wenn nicht einmal klar war, wie die letzten aussehen würden? Doch damit konnte man den Herren Komponisten nicht kommen, sie hielten sich für einzigartig, weil ihre Tonsetzerei eine Gabe des Schöpfers sei, die höchste und anspruchsvollste Gabe der Künste, den himmlischen Gaben des Schöpfers selbst vergleichbar, der Himmel und Erde einmal selbst zum Klingen gebracht hatte!
Und der Text?! Niemand begriff, daß es doch vor allem auf den Text ankam, auf die Leichtigkeit der Worte, ihr Säuseln und Zischen, auf ihren Klang, auf die Führung der Handlung, auf die Figuren, strahlende, feurige Erscheinungen, die das Publikum für sich einnahmen! Erst der richtige Text entlockte den Herren Komponisten die Musik, ein gut gesetztes Wort zog die Töne an wie Magie!
Jetzt wartete er schon eine halbe Stunde. Er stand auf und ging durchs Parkett, seine Finger glitten an den Stuhllehnen entlang. Diese Oper war sein Meisterstück, ohne Zweifel! Noch nie hatte ihn sein eigener Text so mitgerissen! Meistens hatte er das Schreiben wie eine Handwerksarbeit hinter sich gebracht, doch diesmal war es anders gewesen. Er hatte den Stoff ausgesucht, niemand anders! Wie er darauf gekommen war, daran konnte er sich selbst nicht mehr erinnern; von einer Sekunde auf die andere hatte das Bild des Verführers vor ihm gestanden wie ein fremdes und teuflisches Spiegelbild seiner selbst. Es war wie ein Wink aus dem Jenseits gewesen, und so hatte er sich sofort daran gemacht, die ersten Szenen zu schreiben.
Mozart, ja, Gott, den hatte er erst überzeugen müssen, der hatte sich anfangs nicht anfreunden wollen mit diesem Stoff, doch wann hatte der sich überhaupt schon einmal auf den ersten Blick für einen Stoff begeistern können? Heute so, morgen so, die Herren Komponisten hatten etwas Flatterhaftes, Unstetes, denn von jeder neuen Oper hing deren Zukunft ab, und es kam darauf an, ganz unbedingt zu gefallen, wie im Sturm sollte das Publikum gewonnen werden! Jede Oper war eine Sache des Herzens, eine Entfesselung der Gefühle, da durfte es nicht die geringste Nachlässigkeit geben!
Jetzt hörte man aus den höher gelegenen Räumen die Stimmen der Sängerinnen, die ihre Arien probten. Teresa, ja, sie war die Schönste, mein Gott, was war sie doch für eine Schönheit! Und Caterina, ja, auch sie war nicht zu verachten, wenn ihre Mutter sie nicht unablässig begleitet hätte! Caterina schied also aus, die kam nicht in Betracht, mit einer solchen Mutter legte man sich besser nicht an. Und Teresa? Ach, er hatte sich Mühe gegeben, doch sie war eitel und hochnäsig! Schon beim ersten Zusammentreffen hatte sie ihm zu erkennen gegeben, daß sie seine Schmeicheleien nicht beachtete, er hatte sich noch so sehr anstrengen können!
Und genau das, das machte ihm hier in Prag schlechte Laune! Er war es nicht gewohnt, die Nächte allein zu verbringen! Sich nachts, nach einem guten Souper, allein in ein Bett zu legen, das gehörte sich nicht! Ja, es war empörend, daß man ihn hier herumlaufen ließ wie einen, der sich bereits süchtig nach den erstbesten Mädchen umschaute! Heute morgen war ihm auf dem Weg zum Theater eine Mandelmilchverkäuferin begegnet, er hatte zwei Gläser dieses ekelhaften Gesöffs getrunken, nur um das Kind unter die Arkaden drängen zu können, wo er versucht hatte, ihm einen Kuß, einen scheuen, zurückhaltenden Kuß, zu entlocken! Sie hatte das Glas fallen gelassen, die dumme Gans, das hatte für Aufsehen gesorgt und er hatte, um dieses Aufsehen gleich zu beheben, für fünf Gläser bezahlt!
In Wien, ja, in Wien, dort hatte ihm ein wunderbares Geschöpf zur Seite gestanden, gerade sechzehn Jahre alt war sie gewesen, im Zimmer nebenan hatte sie auf ihn gewartet, und er hatte nur zu klingeln brauchen, schon war sie erschienen! Sie hatte ihm eine Flasche Tokajer gebracht und Tabak aus Sevilla, auch etwas Bisquit oder eine vorzügliche Schokolade, und sie hatte sich zum Dank alle Freundlichkeiten gefallen lassen. In den Nächten hatte er am Textbuch geschrieben, und sie hatte für ihn gewacht, nebenan, um ihm in schwachen Momenten zur Seite zu stehen und dafür zu sorgen, daß seine Kräfte sich wieder erneuerten!
So ein geschmeidiges, stilles und duldsames Wesen, das ihn hatte gewähren lassen und ihm all seine Wünsche erfüllt hatte, suchte er hier wohl vergebens! Meist war es ihm sonst ja gelungen, eine Sängerin für sich zu gewinnen, doch er würde sich nicht zum Narren machen und Teresa umschwärmen, tagelang, um am Ende doch nur davonzuziehen wie ein Hund, den man vor die Tür gejagt hatte!
Wie sehnte er sich nach einer Berührung, danach, mit den Fingern am Saum eines Kleides entlangzustreifen, die Kuppen gleiten zu lassen über ein schmales Stück Haut, diese weiche Glätte zu spüren und später den feinen Duft einzuatmen, den die Fingerspitzen absonderten! Hier aber hatte es nur dazu gelangt, einen Handschuh Caterinas an sich zu bringen, einen weißen, seidenen Handschuh mit kaum sichtbaren Puderspuren, an denen er schnüffelte, wenn er sich an seine Wiener Eroberung zu erinnern versuchte!
Diese schändlichen Morgen, wenn er erwachte und seine Hand ins Leere griff und wenig später der Herr Komponist, der im Gasthof gleich gegenüber wohnte, vor der Tür stand und klopfte! Mozart war mit seiner hochschwangeren Frau angereist, man sprach davon, daß sie ihn begleite, damit er nachts nicht allein sei, doch wie er ihn kannte, den Kompositeur, würde der sich etwas einfallen lassen, die Nächte nicht neben einer Schwangeren zu verbringen, wie sollten einem da schon Ideen kommen, denn Ideen brauchten Raum, Spiel und Verrücktheit!
Jetzt reichte es aber, jetzt hatte Luigi ihn lange genug warten lassen. Wie schön Teresa doch sang, wie schön! Er schüttelte den Kopf, eilte in die Garderobe und zog sich den weiten Mantel an. Da lag der Handschuh, er fächelte sich damit zu, bevor er ihn in die Manteltasche steckte. Einen Augenblick streifte er mit den Fingern über die Lippen, dann schaute er kurz auf den schweren Ring, den er an der Rechten trug. Immer, wenn er diesen Löwenkopf sah, glaubte er, in einem Spiegel das geliebte Venedig zu sehen. Er behauchte den Ring, rieb ihn kurz am Mantel und machte sich auf den Weg, seinen alten Freund Giacomo Casanova im Gasthaus am Kohlmarkt in die Arme zu schließen.
»Giacomo!«
»Lorenzo!«
»Wie habe ich Dich vermißt, mein Alter!«
»Und ich Dich, mein Sohn!«
Sie umarmten sich, Signor Giacomo empfand einen starken Widerwillen gegen diese herzliche Geste, denn da Ponte liebte noch immer die großen Gebärden, er verwechselte eben das Leben mit schlechtem Theater. »Setz Dich zu mir«, tat Casanova jedoch freundlich, »ich warte schon eine Weile auf Dich. Trinken wir ein Glas Wein, ich möchte hören, wie es Dir hier ergeht!«
Sie nahmen beinahe zugleich Platz, Casanova bestellte, während da Ponte sich mit den Fingern an den Schläfen entlang fuhr. »Lieber, es ist entsetzlich! Nichts will sich fügen, die halbe Welt arbeitet gegen mich – und warum? Weil sie mein Werk nicht verstehen! Sie begreifen nicht, was ich ihnen vorgesetzt habe, die Oper der Opern, ein Meisterwerk an Sprache und Klang! Der Herr Komponist sammelt Einwand auf Einwand und ist mit dem Komponieren noch lang nicht am Ende! Die Sängerinnen und Sänger melden ihre Ansprüche an und streiten sich untereinander um jedes Duett, jeden Morgen soll ich den Stift neu ansetzen, um etwas zu korrigieren, neu zu schreiben, zu erweitern! Und dabei sollte die Komposition längst abgeschlossen sein und das Textbuch längst fertig, so daß ich es zum Druck bringen könnte! Ich bitte Dich, geht man mit dem Librettisten des kaiserlichen Hofes zu Wien so um?«
Casanova beugte sich vor und legte ihm die Hand auf die Schulter. Es war das altbekannte Reden und Klagen, so hörte sich das meist an, wenn ein mittelmäßiges Talent Aufhebens von seinen Aufträgen machte. »Ich verstehe Dich, Lorenzo, ich leide mit Dir! Aber warum schreibst Du nicht für die Komponisten, die Dich verstehen, blind verstehen, ohne ein Wort? Mozart – das ist etwas anderes, jeder sagt es, das ist einer, dem es niemand recht machen kann, weil er seinen Platz nicht gefunden hat in der Welt, trotz und wegen seines frühen, rasch verflogenen Ruhms. Ein Unzufriedener, ein Zu-spät-Gekommener, der nichts, rein gar nichts geworden ist an Deinem kaiserlichen Hof und der sich, um nicht ganz unterzugehen, mit Klavierunterricht für einige verstimmte Adelstöchter am Leben hält!«
Der Wein wurde gebracht, sie hoben beinahe gleichzeitig ihre Gläser, lächelten einander zu und tranken. Widerwillig bemerkte Casanova, daß sein Gegenüber das Glas auf einen Zug leerte. Er setzte seine Theaterpossen also wahrhaftig fort, er glaubte, ihn, Giacomo Casanova, mit diesen Schauspielerattitüden beeindrucken zu können! Wie ungepflegt er doch aussah, mit seinen langen, ungekämmten Haaren, die in fettigen Locken auf den vergilbten Kragen fielen! Die Finger der rechten Hand hatten einen bräunlichen, schmutzigen Ton, wahrscheinlich vom Stopfen der Pfeifen, von denen er jetzt wieder eine hervorzog, um sie in Brand zu setzen. Rauchen war das typische Laster solcher Naturen, die von nichts etwas verstanden und den ganzen Tag mit Unterhaltungen zubrachten! »Aber was klagen und reden wir, lieber Lorenzo« , fuhr er fort, »von nun an wird sich alles zum Besseren wenden. Wir haben uns immer vorzüglich verstanden, kein Wunder, wir kommen aus derselben herrlichen Gegend Europas, der schönsten von allen, mit der verglichen diese Pflaster hier nichts anderes sind als Stall- und Provinzböden! Sprechen wir also von Deiner Oper, ich werde mich bemühen, ein guter Zuhörer zu sein!«
Darauf hatte er gewartet, natürlich, darauf, daß man ihm schmeichelte und ihn auf seine Arbeit ansprach. Jetzt richtete er sich auf, winkte nach einer Karaffe, jetzt legte er sich seine Munition zurecht, jetzt würde er sie abschießen, es war beinahe nicht zu ertragen, wie dieser Casanova einen hinhielt. Was war es denn? Welcher Stoff? Welche Figuren? Was hatte er zusammengezimmert, zur Oper aller Opern? Etwas ganz Neues, womit niemand rechnete, oder hatte er sich, was viel wahrscheinlicher war, an alte, vielleicht sogar antike Stoffe gehalten? Wenn er in Zeitnot war, hatte er sich bisher immer zu den antiken Stoffen geflüchtet, die polierte er auf oder dehnte sie so in die Länge, daß es für zwei Stunden reichte!
Endlich, die Karaffe! Wie er sich einschenkte, als erster, dann, kopfschüttelnd, als habe er seinen Fehler bemerkt, auch dem Älteren! Jedesmal, wenn er das Glas an den Mund führte, liefen ihm einige Tropfen am Kinn herunter, auch damit wollte er Eindruck machen, sicher hatte er es vor dem Spiegel geprobt, das Tragödiensaufen, das ihm in Wien die Tenöre vorgemacht hatten! Tenöre tranken zu schnell oder gar nicht, während die Bässe meist langsam und gründlich tranken, aber auf welche Gedanken brachte einen dieser Wortdrechsler am kaiserlichen Hof zu Wien?
»Der Stoff, das Sujet – es ist delikat«, begann da Ponte. »Ich habe es lange bedacht, seit vielen Monaten, seit feststand, daß die Oper zuerst in Prag zur Aufführung kommen soll, in einer Stadt, in der man von der Musik, ich sagte von der Musik, mehr versteht als irgendwo sonst in Europa. Mit Venedig, nun gut, natürlich, nein, ist es nicht zu vergleichen, aber was die Musik betrifft, und ich spreche nur von der Musik, ist Prag so etwas wie die Hauptstadt Europas, da wirst Du mir zustimmen!«
»In der Tat«, Casanova nickte beflissen, »in der Tat, sie spielen hier ganz unvergleichlich. Ich hatte das Vergnügen, von Ihnen geweckt zu werden, in meinem Palais, heut in der Früh. Sie hatten sich ein Ständchen für mich ausgedacht, fabelhaft, und ich hörte den Schmelz ihrer Bläser aus dem Entreesaal meines Schlafgemachs wehen, zu mir herüber, an mein Ohr!«
»In Deinem Palais? Du wohnst in einem Palais?«
Jetzt hatte er den ersten Gegentreffer gelandet! Damit hatte er nicht gerechnet, dieser armselige Arienschmied! Er, Signor Giacomo, hatte seine Einleitung glänzend pariert! »Mehr davon später, mein Lieber, viel später! Erst erzählst Du uns von Deinem Geniestreich! Es gibt nichts, was ich jetzt sehnlicher zu hören wünschte!«
Da Ponte lehnte sich noch einmal zurück, zog an der Pfeife, lächelte geheimnistuerisch und flüsterte: »Don Juan, mein lieber Giacomo, Don Juan ist der Held meiner Oper! Es ist Nacht, niemand bewegt sich mehr in den Straßen der Stadt! Da hört man einen furchtbaren Schrei, den Schrei einer Frau, ja, ihre gepeinigte Stimme! Sie ist auf der Flucht, sie flieht aus dem elterlichen Palast, in den der Wüstling eingedrungen ist! Sie will ihm entkommen, ihm, Don Juan, der sie am Abend gesehen hat, irgendwo. Er ist ihr verfallen, er muß sie sehen, er will sie besitzen, so wie es ihm meist mit den Frauen ergeht, Hunderte, Tausende hat er erobert, längst kann er sich nicht mehr erinnern, wie viele es eigentlich waren...«
Casanova erstarrte. Er hatte wohl nicht richtig gehört! Don Juan?! Diese alte Posse? Ein Stoff, mit dem man sich jetzt in den Puppentheatern die Zeit vertrieb? Don Juan, der Wüstling, der die Frauen wie ein Jagdhund verfolgte und dafür später in der Hölle büßen mußte, nach seinem Höllensturz, über den sich heutzutage schon die Kinder amüsierten? Es war eine jahrhundertealte Klamotte, er, Signor Giacomo, hatte selbst schon viele Opern gesehen, die sich dieses Stoffs angenommen hatten, doch alle waren kläglich gescheitert! Denn, ja, im Grunde war es eine Hanswurstgeschichte, eine Sache, die keiner mehr ernst nahm, etwas für den Pöbel, der solche Märchen höchstens noch schätzte!
Er nahm einen Schluck und tat erstaunt. »Lorenzo, welch ein Wagnis und was für ein Stoff! Viele könnten Dir vorwerfen, Du machtest es Dir leicht, weil Du eine alte Geschichte zum Leben erweckst! Aber ich, ich kann mir denken, daß Du ihr eine Feinheit verleihst, einen Schliff, einen Reichtum von Nuancen, der sie trotz ihres Alters unverwechselbar machen wird.«
»Das ist es, Giacomo, genau das! Wer hat von dieser Geschichte nicht schon gehört? Sie nachzuerzählen ist leicht, und so viele Librettisten haben sich nicht die geringste Mühe mit ihr gegeben! Doch ich, Lorenzo da Ponte, ich habe sie erstmals ganz erfaßt, als erster werde ich ihr die große Form geben, und niemand, ich sagte niemand, wird es noch einmal wagen, sie neu zu gestalten!«
Casanova schaute ihn lange an. Er redete ja wirklich so, als bedeutete ihm diese Geschichte etwas! Sein Gesicht war leicht fleckig vor Aufregung, und seine Finger zitterten, wenn er die Pfeife zum Mund führte! Die Karaffe war leer, da Ponte trank und rauchte so schnell, als lebte er von diesen Narkotika! Ein kleiner Schluck, wieder ein Schluck, dann an der Pfeife gezogen – er suchte den Rausch, als hätte ihn sein eigenes Reden in Fahrt gebracht!
»Darf ich Dich zum Essen einladen, Lorenzo? Du solltest mir die Geheimnisse Deiner Arbeit bei einer köstlichen Mahlzeit verraten!«
»Ich esse selten zu Mittag, Giacomo, dieses böhmische Essen ermüdet einen doch nur! Noch eine Karaffe, das würde mir mehr gefallen! Am Abend stehe ich Dir zur Verfügung, vielleicht in Deinem Palais?«
»In meinem Palais, abgemacht! Ich werde meinen Diener schicken, gegen acht, ist Dir das recht?«
Da Ponte beugte sich vor und umarmte ihn. Für einige Sekunden roch Casanova seinen süßlichen Schweiß, bitter und stickig, als röche man alte, getrocknete Tabakblätter, mit Rosenwasser besprengt! Warum tat er so geheimnisvoll und so bedeutsam? Und warum erzählte er ihm so passioniert von seiner Oper? Noch spielte dieser Halunke hier bloß eine Rolle, er versteckte sich, nicht einmal schlecht! Doch dahinter verbarg sich etwas anderes, eine zweite, andere, tiefer liegende Geschichte, die er, Giacomo Casanova, schon noch herausbekommen würde!
Er bestellte eine weitere Karaffe, und Lorenzo wechselte sofort das Thema, indem er den Freund aufforderte, von seinen letzten Wochen und Monaten zu erzählen. Casanova tat freundlich, er wollte ihn hinhalten, so erzählte er ein wenig, doch er fand kein Gefallen an seinen Geschichten. Lustlos und mit den Gedanken woanders berichtete er von seiner Arbeit als Bibliothekar in einem entlegenen böhmischen Schloß, in Diensten des Grafen Waldstein, nicht weit von hier. Er schilderte sich als einen wißbegierigen Alten, der statt der Menschen die Bücher zu schätzen gelernt habe, und er versuchte, ein wenig mit seinem Wissen zu glänzen.
Wissen, der Staub der Bibliotheken – Lorenzo nickte, trank und stopfte seine Pfeife immer wieder von neuem, anscheinend hörte er ihm sogar zu, als wären diese Geschichten von irgendeinem Interesse! Er aber, Giacomo Casanova, schämte sich dieser Geschichten, sie gehörten nicht zu seinem Leben, sondern waren höchstens der ferne Nachhall, das Ende nach glanzvollen Epochen ganz anderer Art! Doch davon mochte er diesem Halunken und Spieler nichts erzählen, niemandem mochte er jetzt davon erzählen!
Und so lehnte er sich nach einer Weile verstimmt zurück, griff nach seinem seitwärts auf einem Stuhl liegenden Hut, fuhr mit den Fingern sacht über den weißen Federbusch und leerte sein Glas.
»Lorenzo, ich habe zu tun – die Geschäfte! Ich erwarte Dich am Abend, dann sprechen wir weiter!«
Er stand auf, und da Ponte sprang mit der Pfeife in der Hand ebenfalls hoch. Sie verbeugten sich lachend voreinander, dann gab Casanova seinem Diener Paolo, der gewartet hatte, ein Zeichen, ihn auf dem Rückweg ins Pachtasche Palais zu begleiten.
Ein Risotto, zu Beginn ein kleiner Risotto, vielleicht mit Pilzen, hoffentlich gab es hier gute Pilze, am besten wären die schwarzen Trüffel, unvergleichlich, dazu in Öl eingelegtes Gemüse und Brot. Und weiter? Etwas, an dem er zu beißen hätte und etwas zu knabbern fände, eine Delikatesse, die seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte, so daß er sie nicht herunterschlingen konnte wie ein Stück Braten, das er mit drei, vier Messerschnitten in fünf Stücke zerlegen und ruckzuck mit seiner Gabel aufspießen würde, um sie in seinen durstigen Schlund zu schleudern, als bloßen Auftakt und Gaumenkitzel zum Trinken, denn er war natürlich ein Trinker geworden, das hatte er, Giacomo Casanova, doch gleich bemerkt! Am besten wären winzige Vögelchen, kleine Wachteln, Schnepfen und Täubchen, in Speckmäntel gewickelt, daran würde er sich die Zähne ausbeißen, an solchen mageren, spindeldürren Zwitscherern, die nichts ansetzten, so daß man ihr Fleisch mit den Vorderzähnen von den bleichen Knöchelchen abzupfen mußte, die beim ersten Bissen in der Mitte durchkrachten! Das gäbe ein Bild! Lorenzo da Ponte, Librettist am Kaiserlichen Hof, im Kampf mit den zersplitternden Knochen und den minimalen Fleischvorkommen eines dürren Wiesenhüpfers!
Casanova grinste. Den ganzen Nachmittag würde es brauchen, um das Palais auf diesen Besuch vorzubereiten! Es war die erste Probe, die er der Dienerschaft und diesen verträumten Räumen abverlangte! Wenn dieser Abend nicht ganz fehlschlug, würden weitere Proben folgen, und irgendwann wäre dann alles bereit für das große Fest, eine Einladung, von der er schon angefangen hatte zu träumen. Er wandte sich Paolo zu, der kaum mit ihm Schritt halten konnte.
»Du hast ihn genau beobachtet, ganz genau?«
»Ich kenne Herrn da Ponte, ich habe ihn schon mehrmals gesehen.«
»Gesehen! Das ist nicht dasselbe wie genaue Beobachtung! Nichts darf Dir entgehen! Ich möchte, daß Du ihn in den kommenden Tagen nicht aus den Augen läßt. Ich will wissen, was er treibt, mit wem er verkehrt, wo und was er speist. Er soll mir in nichts zuvorkommen, das wäre noch schöner, wenn ein solcher Emporkömmling den Meister überträfe!«
»Sie kennen Herrn da Ponte seit langem, Signor Giacomo?«
»Ich verabscheue ihn, es gibt kaum einen Menschen, den ich mehr verabscheue. Er ist Venezianer, wie ich. Er hat das Priesteramt ausgeübt, wie ich. Er hat sich zum Prediger und später zum Dichter aufgeworfen, mir folgend. Er hat sich an meine Fersen geheftet, geblendet vom Glanz meiner Erscheinung, die alle Fürstenhöfe Europas in ihren Bann schlug. Doch er strauchelte, hier und dort, immer wieder! Er verspielte sein Geld, er begann zu trinken, er hetzte von einem Ort zum andern, um endlich eine Anstellung zu finden! Wie konnte es bloß dazu kommen, daß er in Wien reüssierte? Noch immer verstehe ich nicht, was der Kaiser an so einem findet! Mich, mich hätte er nehmen sollen für das Amt eines Hof-Librettisten! Ich kenne mich aus in diesen Dingen, ich spiele vorzüglich die Geige, ich habe seit Kindesbeinen mit Schauspielern und Sängern verkehrt, in meinem Kopf hat sich in all den Jahren ein Repertoire angesammelt, über das so einer nicht einmal in hundert Jahren verfügt! Ganz zu schweigen von seiner Erscheinung! Diese fahlen, eingefallenen Züge, diese peinliche Wendigkeit seiner Bewegungen! Er versucht, mich zu kopieren, sein ganzes Streben ist eine einzige Kopie meines mit seiner dürftigen Existenz in nichts zu vergleichenden Lebens! Und hier, in diesen Tagen in Prag, da will er sein Meisterstück ablegen, er will mich demütigen und triumphieren über sein Vorbild, das scheinbar schwach geworden ist und alt und es mit seiner strahlenden Gestalt nicht mehr aufnehmen kann! Da wird er sich täuschen! Ich werde ihm eine letzte Lektion erteilen, einen Hieb, der dafür sorgen wird, daß er meinen Namen nie mehr in den Mund nimmt!«
Paolo beobachtete ihn jetzt von der Seite. Er sprach so laut, daß die Menschen stehenblieben und ihnen hinterherschauten. Doch er bemerkte es nicht, zu sehr war er mit seinem Haß beschäftigt. Mit keiner Miene hatte er diesen Haß zuvor im Gespräch mit da Ponte verraten, er hatte sich vollkommen beherrscht, so wie es vielleicht nur die sehr hohen Herren verstanden! Ob er ahnte, daß er hier auf der Straße etwas lächerlich wirkte, mit seinem lauten Gepolter und der altmodischen, feinen Kleidung, die in Prag etwas Steifes und Fremdes hatte? Dieser weiße Federbusch etwa – so einen trug man vielleicht noch in Paris, aber nicht auf den Prager Gassen, zwischen Milchweibern und Würstelmännern! Und die weißen Spitzen des Hemdes, das war beste italienische Ware, die sonst nur von Frauen getragen wurde! Wieso beklagte er sich, anscheinend war er doch keineswegs arm und anscheinend hatte er doch ein ruhmreiches, großes Leben geführt! Irgendwann würde er, Paolo, sich vielleicht trauen, ihn nach diesem Leben zu fragen. Doch dafür war es jetzt noch zu früh. Im Grunde freute er sich, sein Diener zu sein. Das war viel besser, als dem alten Herrn Grafen zu dienen, dessen Leben derart eintönig war, daß man am frühen Morgen schon wußte, wie der Tag am Abend ausklingen würde.
»Don Juan!« hörte er jetzt Signor Giacomo lachen. »Nachts treibt es den Wüstling um, natürlich nachts! Schließt die Läden, Hohe Damen, denn er klettert, kaum daß er eine Schöne gesehen, zu Euch ins Schlafgemach, wo er zum Miauen der Katzen als Tenor auftritt, meist in D-Moll! Aber fürchtet Euch nicht, denn wißt, er ist bloß eine Erfindung da Pontes, ein Nachtgespenst, die Ausgeburt eines Trinkerhirns, die sich in der Hölle in ein strahlendes D-Dur auflösen wird!«
Jetzt hatten sie das Pachtasche Palais erreicht. Und als sei er seit diesem Morgen der Hausherr, ließ Casanova sich durch die vielen leerstehenden, kalten Räume führen. Eine Tür nach der andern öffnete Paolo vor ihm, es war, als schlüge ein Sturm sie auf, und schon kamen die Diener von allen Seiten herbei, die nicht begriffen, was der unerwartete Lärm bedeutete, das laute, schmetternde Rufen dieser männlichen Stimme, die sich über alles mokierte, über den Staub, die Einrichtung, die Kälte oder bloß die Geschmacklosigkeit, eine Kommode mit der Bronzestatue eines Ebers zu krönen. Fassungslos folgten sie Casanova, während Paolo seine Befehle wiederholte, die Köchin antrieb, die Hauskapelle zu einer bestimmten Stunde in den Wintersaal bestellte, die Möbel umgruppieren und von einem Saal in den andern schaffen ließ. Alle Zimmer sollten gründlich gereinigt, in allen Kaminen sollte geheizt werden, und ein Spalier von Fackeln sollte am Abend den Garten erhellen, den Garten, den Signor Giacomo nun im Gartensaal, genannt »Toskanischer Saal«, ins Auge zu fassen geruhte, um mit der lebhaft herumfächelnden Rechten den Befehl zu erteilen, die Dienerschaft möge sich unverzüglich an die Arbeit machen, rasch, aber rasch, während dieses spähende, leicht hervortretende, gierige Auge zur Ruhe zu kommen schien.
»Wer ist das?« fragte Casanova, und Paolo schaute nun auch nach draußen.
»Das? Das ist Johanna.«
»Johanna! Und weiter?«
»Johanna, Signor Giacomo. Sie ist die Kammerdienerin der jungen Gräfin Anna Maria, die sich seit einigen Wochen im Damenstift auf dem Hradschin aufhält.«
»Was macht sie da draußen?«
»Sie sammelt Kräuter, Signor, vielleicht für die Küche, vielleicht aber auch für die Gräfin. Jeden Tag geht sie einmal hinauf ins Stift, um zu fragen, ob die Frau Gräfin ihrer bedarf.«
»Wozu soll sie ihrer bedürfen?«
»Sie gehen zusammen spazieren. Der jungen Frau Gräfin ist es nicht erlaubt, allein zu gehen.«
»Wie alt ist sie?«
»Die Frau Gräfin?«
»Dummkopf! Wie alt ist Johanna?«
»Johanna ist neunzehn. Sie singt sehr gut, sie hat eine meisterhafte Stimme, ein Sopran, im letzten Jahr hat sie hier, in diesem Palais ein Konzert geben dürfen.«
»Du schwärmst von ihr.«
»Nein, Signor, es ist die Wahrheit.«
»Sie ist also Dein Mädchen?«
»Johanna, Signor?! Aber nein!«
»Warum nicht? Sie ist eine Schönheit, lange habe ich nichts Schöneres gesehen als diese junge Frau.«
»Eine Schönheit, gewiß.«
»Du willst nicht heraus mit der Sprache. Warum ist sie nicht Dein Mädchen? Hat sie einen andern?«
»Nein, das glaube ich nicht, Signor, nein, bestimmt nicht.«
»Dann hast Du eine andre?«
»Nein, Signor, auch das nicht.«
»Und ihr wart nie zusammen, des Nachts?«
»Nein, Signor.«
»Was führt ihr hier für ein Leben? Wie lange wollt ihr noch warten? Nur wenige Zimmer seid ihr voneinander entfernt, wie leicht ist es da, von einem zum andren zu kommen ...«
»Signor...«
»Wie leicht wäre es des Nachts für Dich, den Flur entlangzuhuschen, die Tür ist offen, Du schlüpfst hinein, nichts, gar nichts ist zu hören, nur ihr Atem, denn sie stellt sich schlafend, tief schlafend, während Du an ihr Bett trittst, das Laken einen Spalt hebst und Dich an sie schmiegst, an ihren Dir zugewandten Rücken, der noch steif scheint und fern, sich aber unter Deinen vorsichtigen, tastenden Berührungen langsam entspannt, unmerklich, so langsam wie eine Blüte, die der Sonnenstrahl weckt... Aber was rede ich?«
Paolo stand still, mit geöffnetem Mund. Er starrte noch immer hinaus zu Johanna, so hatte er sie noch nie gesehen, so heimlich, als wäre sie eine Fremde! Durfte er sie so betrachten, ohne daß sie etwas bemerkte? Wie heiß ihm doch plötzlich wurde in diesem kühlen, abweisenden Raum! Es schauderte ihn ja, als habe er Fieber! Signor Giacomo hatte wohl Recht, so zu fragen! Warum hatte er denn kein Mädchen? Weil er zu jung war? Weil er kein Geld hatte? Nein, das war es nicht, mit solchen Ausreden machte er sich nur etwas vor. Er hatte kein Mädchen, weil er nicht wußte, wie er es anstellen sollte, ein Mädchen zu finden! Was sollte er sagen, wie reden? Er kannte sich damit nicht aus, er verstand nichts von schönen Worten, und erst recht wußte er nicht, wie man sich dabei benahm!
Er blickte sich ängstlich um, als könnte man seine Gedanken erraten. Doch Casanova war längst verschwunden, jetzt hörte er seine Stimme, von weit her, die Dienerschaft folgte ihm anscheinend lachend, wie ein Chor, der die Ausbrüche des neuen Herrn begeistert erwiderte und ihn anspornte, die Vergangenheit ganz vergessen zu machen. Aber er, Paolo, er mußte jetzt für eine Weile hinaus, auch wenn der neue Herr noch so oft nach ihm rufen würde!
Er drehte sich auf der Stelle um und lief zurück in sein Zimmer. Das Horn, er wollte das Waldhorn mitnehmen, ja, er wollte hinunter zu den Wiesen der Moldau, dort, wo die Töne über dem Wasser verhallten, würde er spielen! Wie ein Getriebener lief er hinaus, das Horn unter dem Arm. Doch während er sich durch die ziehenden Scharen in den Gassen da draußen eine Lücke zu bahnen versuchte, mit raschen Sprüngen, daß alle sich vorsahen und auswichen zur Seite, sah er eine Menschentraube geradewegs auf sich zu kommen. Es war eine Schar junger Leute, die wie Schwarmgeister einen kleinen Mann begleiteten, der in schnellen Schritten die Gasse durcheilte. Einige sangen, immer dieselben Melodien, Paolo erkannte sie sofort. Es waren Melodien aus dem »Figaro«, ja, und dieser Chor schreiender und johlender Menschen verfolgte den Komponisten, Mozart, ja, es war Mozart, dieser kleine Mann, das war er! Paolo bekam einen Stoß von einem der jungen Männer, beinahe wäre er gestrauchelt, doch dann wurde er mitgerissen, und während sie ihm das Horn an die Lippen preßten und ihn zu spielen nötigten, glaubte er plötzlich, mit den ersten Tönen die richtigen Liebesgesten gefunden zu haben.
Fort, nichts wie fort, er mußte versuchen, sie zurückzulassen. Er befreite sich aus dem Pulk, schlug einen Haken, zwängte sich zwischen zwei Marktständen durch und lief, so schnell er konnte, auf den Gasthof »Zu den drei Löwen« zu. Er rannte wie ein Hase, den die Meute verfolgte, es war doch zum Lachen! Ein Blick zurück, ja, er hatte sie abgehängt, rasch hinein, Gott zum Gruß, bloß jetzt keine Unterhaltung mit dem Wirt, auch den wurde man so leicht nicht los, Gott zum Gruß, habe die Ehre, und rasch die Treppen hinauf, holterdipolter, ah, die Knie schmerzten jetzt!
Er schlug die Tür hinter sich zu, Constanze saß am Fenster, sie mußte gesehen haben, wie er vom Theater die ganze Meile hierher gehüpft war und sich die Verehrer an seine Fersen geheftet hatten. Sie liebten ihn halt sehr, es war ja schon recht, doch in diesen Tagen waren sie lästig, keinen Schritt konnte er machen, ohne daß sie ihn verfolgten, zudringlich wurden, ihn umarmten, ihn einluden, ihm etwas vorsangen! »Figaro«..., mein Gott, jeder Straßenbub pfiff diese Arien, selbst wenn man in Prag den Deckel eines Kochtopfs lupfte, sprangen diese Klänge heraus und schallten durch die elendsten Wirtshausküchen ...
Er ging hinüber zu ihr ans Fenster und küßte sie, sie erhob sich langsam, ja, sie mußte sich schonen, die Reise nach Prag hatte sie sehr mitgenommen, kurz nach der Ankunft hatten die Blutungen eingesetzt, so daß sie vorerst ans Zimmer gefesselt war, den ganzen Tag, denn so hatte der Arzt es verordnet. Warum hatte sie auch darauf bestanden mitzufahren, er hatte es ihr nicht ausreden können, warum war sie nicht mit Karl in Wien geblieben, jetzt hatten sie ihn sogar in fremde Obhut geben müssen, das schwache, gerade dreijährige Kind!
Sie schloß das Fenster und ging auf den Flur, um das Essen zu bestellen, sie aßen, wenn es sich einrichten ließ, am Mittag zusammen. Er legte sich auf das kleine grüngepolsterte Sofa, die Schnallenschuhe auf der Armlehne, wie sehnte er sich nach einem Moment Ruhe. Den ganzen Vormittag hatte er im Theater verbracht, mit den Sängerinnen, den Streichern, den Bläsern geprobt, am Flügel begleitet, Herrn da Ponte, der sich in alles einmischte, beruhigt und nebenbei noch die beste Laune verbreitet. Und hier, in diesem Hotelzimmer, erwarteten ihn Constanzes vorwurfsvolle Blicke, sie war nicht gut gestimmt, kein Wunder, sie hatte sich diesen Aufenthalt anders vorgestellt. Dort auf dem Tisch lagen die Visitenkarten der vielen Besucher, am Vormittag machten sie ihre Aufwartung, und Constanze hatte all ihr Geschwätz zu ertragen, abgehangene, durchfrittierte Prager Familien-, Wetter-, Hunde- und Flohzirkusgeschichten, ein Graus, wenn man da zuhören mußte! Er, nein, er ertrug so etwas nicht, in solchen Fällen sagte er nur: »Mein Gott, schon vier, schon fünf, schon zehn Uhr? Ich werde erwartet!«, und dann sprang er hinaus, schließlich wurde er immerzu von irgend jemandem erwartet, die ganze Welt kam ihm vor wie eine große, geballte Erwartung, die er mit Musik dann betäubte und stillte, so daß sich die Erwartung zurückzog wie eine geheilte Krankheit, wie ein Blasenleiden, das endlich kuriert war!
Probieren, parlieren – dabei sollte er doch komponieren! Die Uraufführung der neuen Oper hatte man längst verschoben, das war peinlich genug, doch wie sollte er hier arbeiten, in diesem Gasthofzimmer, unter den Blicken seiner Frau, während draußen, auf der Gasse, die Verehrer darauf warteten, daß er sich am Fenster zeigte oder durch das geöffnete Fenster ein paar Fetzen der neuen Oper hinausschwebten? Die Prager Musikanten waren die besten der Welt, jedem Bratschisten hier war es ein Leichtes, eine Melodie nachzuspielen und sie im Kopf zu behalten! Man mußte sich vorsehen, damit jede Note geheim blieb, das Orchester und die Sänger hatte er mit strengen Worten darauf verpflichtet, doch von denen war auch nichts anderes zu erwarten, schließlich konnte ihnen nicht daran gelegen sein, daß die Musik schon vor der Uraufführung bekannt war und ihre strahlende, überraschende Erstlingsfrische eingebüßt hatte.
Ganz ausgeschlossen war es also, daß er hier komponierte, man hätte ihn sofort belauscht, und außerdem würde er hier doch keine Ruhe finden, in diesem Markttreiben, in all der Unruhe! Kaum hätte er einen Ackord notiert, hätte da Ponte vor der Tür gestanden, der gleich gegenüber wohnte und argwöhnisch darüber wachte, daß jeder Ton mit dem entsprechenden Wort harmonierte! Don Gio-van-ni... De ... DeDe ... De – das De, dieses bis in die Schläfen pochende De..., manchmal hörte er, Mozart, schon am hellichten Tag diesen Ruf, die aus Grabestiefe heraufdonnernde Stimme, als mahnte sie ihn, endlich fortzufahren in der Komposition und sie zu Ende zu bringen...
Als Constanze wieder eintrat, wälzte er sich sofort vom Sofa und ging zum Tisch, um ihr gegenüber Platz zu nehmen. Es gab Fasan mit Kraut, dazu ein Glas Rotwein, und sie erzählte, wer am Morgen vorbeigeschaut hatte. Meist machte sie mit den Honoratioren den Anfang, dann kam sie auf Lorenzo da Ponte zu sprechen, der ihr von der Straße her zugewinkt hatte, danach erst folgten die wichtigeren Geschichten, die wahren Neuigkeiten, und natürlich ging es dabei um Josepha Duschek, wie jeden Morgen war sie vorbeigekommen, um nach dem Rechten zu sehen und Constanze zu unterhalten. Josepha, ja, die hatte den richtigen Vorschlag gemacht, sie hatte ihm ihr Landhaus, draußen vor der Stadt in den Weinbergen, angeboten, dort wäre er ungestört, keine Verehrer, niemand außer ihr, Josepha, der alten Familienfreundin und großen Sängerin, die ihn abschirmen würde an diesem geheimen Ort. Selbst Franz, ihren Mann, würden sie nicht mit hinausnehmen, schließlich hatte Franz hier, in der Stadt, genug mit all seinen Klavierschülern zu tun.
In kleiner Runde waren sie, um den Ort zu besichtigen, in die Weinberge gefahren, Josepha, Franz, Constanze und er, doch draußen, in dieser überwältigenden Stille und Schönheit des Landhauses, war Constanze schweigsam geworden und auch Franz hatte dort merklich unter übler Laune gelitten, so daß Josepha und er, Mozart, allein im großen Park spazierengegangen waren, bis hinauf auf die Höhe, wo der kleine Pavillon stand, von dem aus man einen himmlisch weiten Blick hatte, so weit, daß man alle Gedanken vergaß.
Einen Tag später hatte Constanze in Erfahrung gebracht, daß Josepha den Besitz dieses Landhauses angeblich der Freundschaft eines alten Galans verdankte, böse Zungen wie der Wirt des Gasthofes behaupteten sogar, sie habe nicht nur diesen einen, sondern viele Verehrer, mit denen sie sich offen zeige, schließlich wisse jeder, daß sie die Ehe mit ihrem um so viel älteren Franz nicht ernst nehme und ihn so behandle wie eine Tochter den Vater. Daher hatte Constanze das Landhaus nur noch »das Lusthaus« genannt, und sie hatten seither darüber gestritten, ob er, Mozart, zu ihr hinausfahren dürfe in die weinroten oder rosablütenen Zimmerchen dieses entlegenen Orts.
Heute morgen hatte Josepha Duschek ihr Angebot wiederholt und dabei so getan, als sei Mozarts Aufenthalt dort bereits beschlossene Sache. Constanze erzählte ihm das in spöttischem Ton, als sei sie sicher, ihn bei sich, im Gasthof, behalten zu können, doch er wußte längst, daß dieses Landhaus dort draußen die einzige Möglichkeit war, die Arbeit an der Oper schneller zu beenden.
Jetzt schmeckte ihm nicht einmal mehr dieser köstliche Fasan, und auch vom Kraut ließ er liegen. Jeden Tag kamen hier dieselben Dinge zur Sprache, jeden Tag entflammte der Streit, sobald einer von ihnen Josepha Duschek erwähnte! Dabei war es ihm gleichgültig, wie viele Verehrer sie hatte, einen, zwei oder sechshundertvierzig, was machte das schon? Schließlich hatte er mit ihnen doch nicht das Geringste zu tun, und schließlich beschäftigten ihn im Augenblick sowieso nicht solche Geschichten, sondern nur die noch ausstehenden Stücke, etwa das große Finale, De... Dede... De!
Er griff sich an die Schläfen, auch da Ponte griff sich neuerdings an die Schläfen, manchmal hatte es fast schon den Anschein, als hielte dieser Venezianer sich für den Komponisten. Der Aufenthalt im Landhaus wäre allein schon ein Segen, weil man auf diese Weise da Ponte entkam, seiner Eifersucht, seinem Neid und vor allem den langen Unterhaltungen und umständlichen Debatten, die ihn soviel Zeit kosteten.
Er trank das Glas leer, während Constanze das Thema wechselte und von Teresa erzählte, die kurz vor Mittag mit einem kleinen Blumenstrauß aufgewartet hatte, es hatte sich so angehört, als sei Teresa mit ihrer Rolle zufrieden. Da sie aber hier auftauchte und dazu noch mit einem Blumenstrauß, war zu erwarten, daß sie eigentlich unzufrieden und darauf aus war, kleine Änderungen ins Spiel zu bringen...
So ging es nicht weiter. Mozart stand schweigend auf und legte sich wieder auf das Sofa. Er streifte die Schnallenschuhe ab und schloß die Augen. Sie hörte nicht auf zu reden, jede Kleinigkeit hatte etwas zu bedeuten, ein Blumenstrauß, irgendein ferner Galan, der Fasan, der fatale Galan, der galante Fasan, das Kraut und überhaupt. Noch während er sich ausstreckte, breitete er die Arme aus, in Erwartung, daß sie ihn schon verstand.