Die Nebelkinder - Jörg Kastner - E-Book
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Jörg Kastner

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Beschreibung

Jörg Kastners großes Abenteuer um Liebe, Verrat, Geheimnisse und Mut: Der Findeljunge Albin wächst als Knecht in der Abtei am Mondsee auf, mehr oder minder von den Mönchen geduldet. Bis das Leben in der Gemeinschaft durch die Ermordung eines fränkischen Gesandten erschüttert wird. Die Geschehnisse überschlagen sich und schon bald findet sich Albin im Mittelpunkt der Ereignisse wieder: Auf der Jagd nach dem Mörder erkennt er, dass er vom alten Volk der Nebelkinder, der Elfen, abstammt. Albin taucht immer tiefer in die geheimnisvolle Welt der Nebelkinder ein und muss zahlreiche Gefahren bestehen – nur so kann er sein Volk vor dem Untergang retten.

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Jörg Kastner

Die Nebelkinder

Roman

Für meine ElternWilhelm und Josefa Kastnerin Dankbarkeit und Liebe

1

Die Nacht brachte Finsternis und mit ihr Nebel und mit ihm das Grauen über das Land am Mondsee. Zu Sankt Gereon im Jahre des Herrn 890 hatte die Sonne geschienen, aber sobald ihre Kraft nachließ, kündigte sich eine bitterkalte Nacht an. Rötlich glühend versank die Sonnenscheibe hinter den bewaldeten Höhenzügen im Westen, der graublauen Sichel des Sees entstiegen diesige Schwaden. Anfangs dünn, tastend und zitternd, dann aber rasch fester und stärker werdend, reckten sich die Nebelfinger in den blauschwarzen Dämmerhimmel. Als sie mit den dicht aufziehenden Wolken verschmolzen, wurde das Land am Fuß des mächtigen Schafbergs ganz von Dunkelheit und Nebel beherrscht.

Es war eine jener Nächte, in der die Nebelkinder aus den Erdspalten und Felsritzen stiegen, um die Höfe und Häuser der Menschen heimzusuchen. Die Wesen aus der Schattenwelt vergifteten die Brunnen, verdarben die Vorräte, schlachteten das Vieh und raubten die Neugeborenen. So raunte man es sich hinter vorgehaltener Hand zu. Die Menschen am Rande der Berge kannten diese Nächte und fürchteten sie wie das Jüngste Gericht. Bevor der letzte Sonnenstrahl erlosch, verrammelten sie Türen und Fenster, verriegelten die Ställe und deckten die Brunnen zu. Alle Eingänge wurden mit kreuzweise eingesteckten Eibenzweigen geschützt, was den Dämonen nach altem Glauben den Zutritt verwehrte. Beim flackernden Licht des offenen Herdfeuers saßen Männer, Frauen und Kinder beisammen und beteten zu Gott dem Allmächtigen um Schutz vor den Nebelkindern. In der Benediktinerabtei von Mondsee, deren feste Mauern und Türme am Nordufer des großen Gewässers emporragten, war alles anders. Licht und Gelächter drangen in die Nacht. Der Nebel, der wie ein riesiger Drache vor dem Kloster lauerte, hatte Mühe, mit seinem gierigen, feuchten Maul jeden Lichtschein und jede laute Stimme zu verschlucken.

Während der vergangenen Tage hatten die Feld- und Waldarbeiter auf den wenigen unbefestigten Wegen mehrere große Reisegruppen gesichtet, die hinter dem Hauptportal des Klosters verschwanden. Edle Herren auf prachtvollen Rossen oder in quietschenden, schaukelnden Wagen, begleitet von Bewaffneten, Dienern und Packeseln. Die Neugier erwachte bei Mann und Frau, doch vergeblich rätselte man über den ungewöhnlichen Zustrom an hochgestellten Fremden. Eisern beachteten die Mönche die neunte Stufe der Demut, die ihr Ordensstifter Benedikt von Nursia ihnen auferlegt hatte – das Schweigen. Nur so viel war gewiss: Der Mondsee war der Ort einer höchst bedeutsamen und ebenso geheimen Zusammenkunft. Die Dörfler und Bauern, die ängstlich in ihren verräucherten Stuben hockten, wussten nicht, dass heute mit Graf Chlodomer der letzte der wichtigen Gesandten eingetroffen war. Aus diesem Anlass fand im lang gestreckten Refektorium des Klosters ein großer Festschmaus statt. Mit lauter Musik, die nach allem anderen klang als nach dem feierlichen Choralgesang der Mönche. Mit so vielen Speisen, dass sich die Tischplatten bogen. Und mit den besten Weinen, die der Klosterkeller aufzubieten hatte: Rheinwein, gewürztem Burgunder, Aniswein, Apfelmost und reichlich süßem Met. Dazu gab es frisches Bier aus der klostereigenen Brauerei.

Zu den Aufträgern, die emsig zwischen Küche, Backstube, Brauerei, Weinkeller und Speisesaal hin und her liefen, gehörte ein schlanker Jüngling, der für seine fünfzehn Jahre recht klein geraten war. Er maß weniger als fünf Fuß und schien auch nicht mehr zu wachsen. »Albin der Kleine« wurde er deshalb von den anderen gehänselt. Auch »Albin der Zwerg«. Oder, wegen seiner etwas dunkleren Hautfarbe, »Albin der Finstere«, wenn sie ihn nicht gerade »Albin den Findling« nannten, was am häufigsten vorkam.

An diesem Abend aber blieb den Knechten und Mägden im Kloster nicht viel Zeit zum Spott. Zu groß war die Gästeschar, die sie bedienen mussten. Abt Manegold hatte sich strikt geweigert, Leute aus dem Dorf zur Verstärkung der Bediensteten in die Abtei zu holen. Das Geheimnis der Zusammenkunft sollte nicht nach draußen dringen. Allen Menschen im Kloster, ob Mönch oder Knecht, hatte Wenrich, der Vogt dieses Landstriches, strengstes Stillschweigen befohlen. Wer dagegen verstieß, machte sich des Hochverrats schuldig, und darauf stand der Tod.

Doch der Nebel schreckte weder vor Mauern noch vor Geheimnissen zurück. Längst hatte er seine milchigen Finger nach der Abtei ausgestreckt, und mit dem Nebel kam der Verrat.

Davon ahnte Albin der Findling nichts, als er mit einem fröhlichen Pfeifen eine große Holzplatte mit Zwiebelkuchen auf seine Schulter lud und mit der freien Hand die Tür der Backstube aufstieß, vor ihm Kaninchenpasteten und hinter ihm Forellen in Teig. Schnellen Schrittes strebte er dem Refektorium zu, wo die Gäste in ihren prächtigen Gewändern saßen, für ihn eine fremde, unbekannte, aufregende Welt. Und noch aufregender fand er das Mädchen, das Graf Guntram mitgebracht hatte. Gerswind hieß es und war wunderhübsch. In ihr Antlitz schauen zu können war für Albin Grund genug zur Fröhlichkeit.

Bis ihn eine kräftige Hand an der Schulter fasste, begleitet von einer kratzigen Stimme: »Wohin so eilig, junger Albin? Glaubst du, die hohen Herren verhungern ohne deinen Zwiebelkuchen? Weißt du nicht, was die Sarazenen sagen: Die Eile kommt vom Teufel.«

Bruder Graman stand im Durchgang zum Siechenhaus und sah Albin mit ernster Miene an, die Stirn noch krauser, das graue Gesicht noch faltiger als sonst. Kein Wunder, dachte Albin insgeheim, dass man den Infirmarius, dem die Sorge für die Kranken oblag, allgemein Bruder Griesgram nannte. Dass ausgerechnet der als wunderlich verschriene Graman den kleinen Albin vor vielen Jahren im Wald gefunden hatte, trug nicht dazu bei, den über Albin ausgegossenen Hohn und Spott zu verringern.

»Wir haben wichtige Gäste, Nonus Graman. Der Abt hat befohlen, dass es ihnen an nichts mangelt. Sie sollen sich wohlfühlen in den Mauern von Mondsee.«

»Dominus Manegold und seine wichtigen Gäste täten besser daran, sich in ihren Zellen einzuschließen und für ihr Seelenheil zu beten als der Völlerei zu frönen – in einer Nacht wie dieser!«

Gramans Gesicht verfinsterte sich noch mehr und zu der Sorge in seinen Zügen trat Angst. Albin konnte sich das nicht erklären. So sehr er es sonst schätzte, sich mit Graman zu unterhalten, heute Abend hatte er etwas anderes im Kopf: die schöne Gerswind. Deshalb lag kein wirkliches Interesse in Albins Worten, als er fragte: »Was ist mit dieser Nacht, Nonus?«

»Es ist Nacht, genügt das nicht? Die Nacht ist die Vernichterin von Sonne, Licht und Leben. Sie gebiert die Träume und den Trug, den Schlaf und den Tod.«

»Aber du sprachst von dieser Nacht, Nonus Graman, als sei sie etwas Besonderes.«

Der alte Benediktiner nickte. »Das ist sie auch, Albin. Es ist eine Unruhnacht, eine Nebelnacht. Wer zu sorglos ist in dieser Nacht, läuft Gefahr, den Nebelkindern zu begegnen, vom Elbenstrahl getroffen zu werden. Zu lange lebe ich schon hier am Mondsee, um es nicht zu spüren.«

Graman war einer der ältesten Mönche in der Abtei, das stimmte. Aber der Rest seiner Rede blieb für Albin im Schatten eines düsteren Geheimnisses verborgen.

Ehe der Findling nachfragen konnte, lächelte der Mönch verkrampft und sagte: »Vielleicht bin ich einfach nur zu alt, dass die Nacht mich ängstigt. Mag sein, sie erinnert mich an die ewige Nacht, die mir bevorsteht. Einen jungen Burschen wie dich sollte ich damit nicht betrüben. Geh nur, Albin, bedien die hohen Herren und erfreu dich an der Schönheit der edlen Gerswind.«

»Woher weißt du …«

»Ich habe Augen im Kopf«, unterbrach Graman seinen Zögling. »Wäre ich jung wie du und hätte ich nicht die Gelübde abgelegt, würde ich auch an nichts anderes denken als an Graf Guntrams Tochter.«

Als Albin seinen Weg fortsetzte, hatte er Gramans düstere Worte schnell vergessen. Die Stimmung im Refektorium wurde immer ausgelassener und stand im krassen Gegensatz zu dem stillen Mahl an anderen Tagen. Dann saßen die Mönche, der Ordensregel folgend, schweigend an den Tischen und nur die Stimme des Vorlesers, der aus den Evangelien vortrug, unterbrach die Stille. Heute aber schickte ein Flötenspieler, der zur Gesandtschaft von Hochburgund gehörte, eine lustige, schnelle Melodie durch den Saal. Und anders als in den Gängen und Arbeitsräumen, die von harzig stinkenden Kienspänen erhellt wurden, brannten im Speisesaal teure Talg- und Wachskerzen sowie auf Hochglanz polierte Lampen, in denen das Öl der Waldfrüchte für Licht und einen angenehmen Duft sorgte. Fleisch, sonst nur für die Kranken erlaubt, wurde den Schmausenden in Hülle und Fülle vorgesetzt, auch denjenigen unter den Benediktinern, die mit ihrem Abt an dem Mahl teilnahmen.

Bruder Humbert, der Cellarius von Mondsee, führte die Aufsicht im Speisesaal. Nach einer tadelnden Bemerkung über Albins Verspätung befahl er, die Zwiebelkuchen auf die letzte Tafel zu stellen, weit weg von Graf Guntram und seiner schönen Tochter. Während Albin den Befehl ausführte, warf er Gerswind ein paar scheue Blicke über die Schulter zu. Der Saal war voll mit Edlen aus fast allen wichtigen Nachbarländern des Ostfränkischen Reiches: Westfranken, Hochburgund, Arelat und Italien. Albin fiel auf, dass der Mährenkönig Swatopluk, immerhin Taufpate von König Arnulfs Sohn Zwentibold, nicht mit einer Gesandtschaft vertreten war.

Im Licht der Kerzen und Lampen leuchteten kostbare Kleider, wie Albin sie niemals zuvor gesehen hatte: Samt und Seide, Gold- und Silberstickereien im Überfluss. Am stärksten aber strahlte für Albin das eher einfach gekleidete Mädchen mit den vollen Lippen, den hohen Wangenknochen, den haselnussbraunen Augen und den Locken gleicher Farbe, die das zarte Gesicht sanft umspielten. Gerswinds Schönheit benötigte keinen künstlichen Schmuck.

Täuschte er sich oder erwiderte sie seinen Blick? Aber wie konnte die Tochter eines Grafen jemanden wie ihn, einen Findling, überhaupt bemerken?

Um sich zu vergewissern, wollte Albin die Platte mit den Zwiebelkuchen absetzen. In diesem Augenblick schoss ein scharfer Schmerz durch seinen Kopf, wie ein Dolch, der durch den Nacken in seinen Schädel gerammt wurde. Blitze zuckten vor seinen Augen, ihm wurde schlecht, der ganze Saal schwankte und begann, sich zu drehen. In Wahrheit war es Albin, der den Halt verlor. Die Holzplatte krachte zu Boden und die Zwiebelkuchen purzelten wild durcheinander.

Der Schmerz verwandelte sich in Worte. Worte, die nicht an seine Ohren drangen. Es schien, als spreche sie ein Geist, der sich in Albins Kopf eingenistet hatte: Der Tod ist nah. Gleich wirst du sterben, Graf! Wird ein hübscher Tanz werden …

Die Worte wurden leiser, schwächer, verflüchtigten sich wie Nebelschwaden, die sich unter den Strahlen der Sonne auflösen. Albins Schwäche war vorbei, nicht aber seine Verwunderung. Bruder Humbert ließ ihm keine Zeit, über das seltsame Erlebnis nachzudenken.

Der Cellarius baute sich drohend vor Albin auf und donnerte: »Was ist in dich gefahren, du Tollpatsch? Es war ein Unglückstag, als Bruder Graman dich ins Kloster holte. Hast wohl nur Augen für die schöne Gerswind, was? Die wird sich gerade für einen armen Knirps erwärmen. Sieh zu, dass du die Schweinerei schnell wegräumst!«

Unter anderen Umständen wäre Albin vor Scham im Boden versunken. Er hatte den Cellarius und sich selbst lächerlich gemacht, vor allen Gästen – auch vor Gerswind. Aber das unheimliche Erlebnis, die Stimme in seinem Kopf, beschäftigte ihn, während er niederkniete, um die Zwiebelkuchen aufzusammeln.

Jetzt, edler Herr, spüre die Macht der Nebelkinder!

Da war die Stimme wieder, diesmal von einem bloß leichten Schmerz begleitet. Albin verhielt kurz in seiner Arbeit, um den lautlosen Worten zu lauschen. Er nahm nur ein seltsames Gefühl wahr, eine Mischung aus Befriedigung und Neugier. Aber es waren nicht seine Empfindungen.

Einer der hohen Gäste zog die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Graf Chlodomer, der westfränkische Gesandte, war abrupt von der Tafel aufgesprungen und begann einen wilden Tanz mit Bewegungen, die noch schneller waren als die Melodie des Flötenspielers. Der untersetzte Leib des Grafen zuckte in aberwitzigen Verrenkungen hin und her, zu denen seine in goldverzierten Schuhen steckenden Füße einen immer rascheren Takt stampften, als sei Chlodomer der Boden zu heiß. Die scharlachfarbene Hose und der blaue Rock des Grafen, beides mit breiten Goldborten versehen, verschwammen vor den Augen der verwirrten Menge zu bunten, glitzernden Flecken. Gerade hatten sich einige der Tafelnden entschlossen, Chlodomers Tanz mit anfeuernden Rufen zu unterstützen, da brach der Graf mit einer grotesken Drehung zusammen und fiel bäuchlings auf den Estrich. Ein krampfhaftes Zucken lief in mehreren Wellen durch seinen Leib, dann lag er vollkommen reglos da.

Empfiehl dich deinem Christengott, Graf Chlodomer! Einen guten Tänzer können die himmlischen Heerscharen bestimmt gebrauchen.

Es war ein höhnischer Gedanke, in dem tiefe Befriedigung mitschwang, Befriedigung über den Tod des Gesandten. Obschon Albin diese fremde Empfindung, wie die Gedanken und Gefühle zuvor, in seinem Kopf spürte, schien sie ihm aus einer bestimmten Richtung zu kommen: von links. Albins Kopf nickte herum und seine Augen hefteten sich auf die beiden stämmigen Säulen, die vor dem Durchlass zum Kreuzgang standen.

Eine kleine Gestalt löste sich aus dem Schatten der Säulen und huschte davon, in den finsteren Kreuzgang. Nur für wenige Augenblicke nahm Albin den Unbekannten wahr. Er schien nicht größer als der Findling zu sein und trug ein dunkles Gewand. Albin hatte ihn nur von hinten gesehen, doch das feuerrote Haar erkannte er deutlich.

»Graf Chlodomer atmet nicht mehr!« – »Er ist tot!« – »Der Herr im Himmel, unser allmächtiger Schöpfer, hat König Odos Gesandten zu sich genommen!«

Entsetzte Schreie hallten durchs Refektorium, während die Menschen von den Bänken aufsprangen und sich um den Zusammengebrochenen versammelten. Albin war von Chlodomers Tod nicht überrascht. Die seltsamen, lautlosen Worte in seinem Kopf hatten es ihm bereits gesagt. Und der es vorher gewusst hatte, musste der Mörder des Westfranken sein.

»Dorthin ist er geflohen!«, stieß Albin laut hervor und zeigte zu den Säulen. »Er ist hinaus in den Kreuzgang gelaufen!«

»Wer? Von wem sprichst du, Kerl?«, fragte ein sehniger Mann im violetten Samtrock. Es war Graf Guntram, der die geheime Versammlung in Mondsee auf König Arnulfs Geheiß einberufen hatte.

»Graf Chlodomers Mörder!«, stammelte Albin erregt. »Er hielt sich hinter den Säulen versteckt. Ich sah, wie er in den Kreuzgang lief.«

»Wer ist es?«

»Ich kenne ihn nicht. Ein sehr kleiner Mann mit rotem Haar.«

»Ihr habt es vernommen«, wandte sich Guntram an die umstehenden Edlen, Mönche und Knechte. Er zog ein prachtvolles Schwert aus der nicht minder wertvollen Scheide an seiner Seite; eine Waffe, die mehr für festliche Anlässe als zum Kämpfen geschmiedet war. »Schnappt euch Fackeln und dann hinaus! Ruft sämtliche Soldaten zu den Waffen! Sie sollen das Hauptportal und alle Nebentore gut bewachen.« Zu Albin rief er, bevor er in den Kreuzgang lief: »Komm mit, Bursche!«

Unter dem Dach des Kreuzgangs umfingen sie Dunkelheit und der Nebel, der vom Innenhof durch die bogenförmigen Öffnungen hereinquoll. Herbeistürzende Fackelträger sorgten für flackerndes Licht. Graf Guntram sandte den größten Teil hinaus in den Hof, der mit seinen Blumenbeeten und den säuberlich gestutzten Obstbäumen tagsüber die Augen der frommen Brüder erfreute. Jetzt aber wirkte er unheimlich. Die Fackelfeuer tanzten im Nebel wie ruhelose Seelen.

»Vielleicht versteckt sich der feige Kerl zwischen den Bäumen«, knurrte Guntram.

Albin stand vollkommen still und schloss die Augen. Gleichwohl suchte er nach dem Mörder – in seinem Kopf. Er hatte keine Zeit, sich über die geheimnisvolle Fähigkeit zu ängstigen, die er eben erst an sich entdeckt hatte. Er musste sie benutzen, um den Rothaarigen aufzuspüren. Er lauschte nach fremden Gedanken. Vergebens. Aber dann spürte er etwas, ein unbestimmtes Gefühl von Sorge und Angst. Es kam nicht aus dem Hof, sondern aus dem Küchentrakt.

»Zur Küche!«, rief Albin. »Dort hält er sich versteckt.«

Guntram war ein geistesgewandter Mann. Ein anderer hätte Albin ausgefragt, wie er darauf komme. Der Graf wusste, dass dafür immer noch Zeit war. Er rief den anderen einfach zu, ihm und Albin zu folgen.

»Nun, Bursche?«, fragte Guntram, als sie im Gang zwischen Küche und Backstube standen. »Wo versteckt sich der Meuchler?«

Albin verharrte bereits, um sich ganz auf seine rätselhafte neue Fähigkeit zu konzentrieren. Er nahm es jetzt deutlicher wahr: Angst und Verwirrung. Irgendwie passte es nicht zu den Gedanken und Gefühlen, die er im Refektorium gespürt hatte. Aber er kannte seine Fähigkeit, sein Gespür noch zu wenig, um das wirklich einschätzen zu können. Für jetzt musste genügen, dass er die Richtung wusste.

»Da unten!« Albin zeigte auf die Luke, die den Abstieg zum Weinkeller verschloss.

Bruder Humbert, der einen Schlüssel für die Luke besaß, wurde herbeigerufen. Während der Cellarius den Kellerzugang öffnete, kamen Albin Zweifel und er fragte: »Wenn der Zugang verschlossen ist, wie konnte der Mörder dann in den Keller fliehen?«

Guntram zuckte mit den Schultern. »Das wird er uns schon erzählen, wenn wir ihn erst haben. Hauptsache, wir kriegen ihn!«

Über eine breite Stiege ging es in das von den rußenden Fackeln nur mäßig erhellte Kellergewölbe. Hier türmten sich die Fässer, doch sonst lag der Keller verlassen – scheinbar.

Woher kommen die Großwüchsigen so schnell? Ich sollte besser verschwinden. Muss das Loch hinter den Apfelweinfässern erreichen, ehe sie hier alles mit ihren Fackeln ausleuchten!

Kaum hatte Albin die Stimme in seinem Kopf gehört, rief er: »Zu den Apfelweinfässern!« Und er zeigte zu den bauchigen Fässern am hinteren Ende des Gewölbes.

Sofort stürzte Graf Guntram mit seiner Schar – Männer mit Schwertern, Speeren und Fackeln – in die bezeichnete Richtung. Das Licht fiel auf eine kleine Gestalt, die zu den Fässern lief und sich zwischen ihnen hindurchzwängen wollte.

»Packt den Winzling!«, befahl Guntram. »Er darf nicht entwischen!«

Ein Mönch und ein Bewaffneter stürzten sich auf den zwergenhaften Mann im dunklen Rock, der schon halb zwischen den Fässern verschwunden war, und zerrten ihn wieder hervor. Trotz seiner geringen Körpergröße war der Kleinwüchsige sehr stark. Sein Gestrampel trat eins der Fässer los. Es krachte zu Boden und zersplitterte in tausend Teile. Goldgelber Apfelwein umspülte die Füße der Männer.

Erst die Spitze von Guntrams Schwert an der Kehle des Kleinen beendete dessen verzweifelte Ausbruchsversuche. Das Gesicht des Gefangenen war fast so faltig wie das von Bruder Graman. Der Mann war weiß Gott nicht mehr jung und doch nicht größer als ein Kind, kleiner noch als Albin. In dem Gürtel, der seine dunkle Kutte zusammenhielt, steckte ein leicht gekrümmter Dolch. Sonst schien er unbewaffnet.

Ungläubig starrte Albin den Unbekannten an. Über der krausen Stirn ringelte sich erdbraunes Haar in wirren Locken.

»Das ist er nicht!«, entfuhr es Albin. »Das ist nicht der, den ich im Refektorium gesehen habe. Der Meuchler hatte rotes Haar.«

»Nicht?«, fragte Guntram mit einem prüfenden Blick, der zwischen Albin und dem Gefangenen hin und her sprang. »Nun, wenn der da nicht Graf Chlodomers Mörder ist, dann ist er sein Spießgeselle. Warum sonst sollte er sich hier verstecken und vor uns zu fliehen versuchen?«

»Wir reden immer von Mord«, sagte Graf Arbo, der italienische Gesandte. »Vielleicht hat unser Herrgott Graf Chlodomer ohne fremdes Einwirken zu sich gerufen. Wer sagt, dass es Mord war?«

Guntram zeigte auf Albin. »Der Bursche hat es behauptet.«

»Und Albin hat recht damit«, sagte eine raue Stimme in Albins Rücken. Bruder Graman trat vor. »Ich konnte für Graf Chlodomer leider nichts mehr tun. Der Irrsinn, der ihn tanzen ließ, raubte ihm erst den Verstand und dann das Leben.«

»Irrsinn?«, wiederholte Arbo. »Ich habe noch nie gehört, dass es als Mord bezeichnet wird, wenn jemand am Veitstanz stirbt.«

»Nicht Gott verwirrte Graf Chlodomers Geist, sondern dies hier. Ich fand es in seinem Nacken.«

Graman hielt mit spitzen Fingern einen winzigen – nur knapp fingerlangen – Pfeil hoch, dessen Ende er mit einem Tuch umwickelt hatte, um es nicht mit der ungeschützten Haut zu berühren. Die Spitze schimmerte im Fackellicht blutig rot.

Überraschte Ausrufe wurden laut und Graf Guntram fragte, was das für ein Pfeil sei.

»Ein Giftpfeil, mit einem Blasrohr ausgesandt«, erklärte Graman. »Das Gift treibt dem Getroffenen erst den Verstand und dann das Leben aus.«

»Wer benutzt solch eine heimtückische Waffe?«

»Die von seinem Volk, Graf Guntram.« Graman deutete mit der Pfeilspitze auf den Gefangenen. »Die Nebelkinder. Dieser Pfeil mit dem uns unbekannten Gift ist eine ihrer fürchterlichen Waffen. Man nennt ihn auch den Elbenstrahl.«

»Also ist er doch der Mörder!«, stellte Guntram fest und bohrte seine Schwertspitze fester in die Kehle des Kleinen, bis ein Blutstropfen austrat.

»Er oder einer von seinem Volk.« Graman nickte und fuhr mit einem schweren Seufzer fort: »Ich habe geahnt, dass diese Nacht nichts Gutes bringt. Laut zu feiern, während der Nebel aus dem Mondsee steigt, heißt die Nebelkinder herauszufordern.«

»Dein Gerede von den Nebelkindern wirst du mir noch erklären, Mönch«, sagte Guntram. »Erst mal müssen wir dafür sorgen, dass uns der Meuchler nicht entwischt. Bindet den Zwerg und schließt ihn krumm. Lasst ihn keinen Augenblick unbewacht!«

Ein Trupp Bewaffneter nahm den Gefangenen in die Mitte und führte ihn ab. Er sagte nichts und wehrte sich nicht. Seine Augen waren auf Albin gerichtet, und im Kopf des Findlings nahmen stumme Worte Gestalt an: Hilf mir, Albin! Ich bin unschuldig und du weißt es. Du musst mir beistehen! Wir sind vom gleichen Blut, vom gleichen Volk. Wir sind die Kinder des Nebels!

2

Von Bewaffneten begleitet, mehr bewacht als beschützt, wurden Albin und sein Ziehvater zum Eingang des Refektoriums gebracht. Zwei Wachen aus Graf Guntrams Truppe standen mit aufgepflanzten Speeren vor der schweren Tür aus Eichenbohlen. Der rotgesichtige Anführer der Bewaffneten sagte Albin und Graman, sie sollten hier warten, da zurzeit der Gefangene verhört werde. Albin richtete seinen Blick auf die verschlossene Tür, und sein Geist schien das dicke Holz mühelos zu durchwandern …

Kein Flötenklang hallte mehr durch das Refektorium, kein Gelächter, kein ausgelassenes Geschwätz. Bis auf zwei Mönche, die hohen Gesandten, ein paar Bewaffnete und den Gefangenen war der Speisesaal leer. Auf den Tafeln standen noch überreichlich die Speisen und Getränke. Nur ein Tisch war hastig freigeräumt worden, um Platz zu schaffen für den toten Grafen Chlodomer.

»Nenn uns deinen Namen!«, herrschte Graf Guntram den Gefangenen zum wiederholten Mal an.

Doch der kleine Mann, mit festen Stricken gebunden, kauerte auf einer der hölzernen Bänke und starrte ins Leere, reglos wie eine Statue aus Stein. Nur sein Leib schien sich im Refektorium zu befinden, sein Geist dagegen schien weit entrückt zu sein.

»Der Zwerg ist so gesprächig wie ein Fisch«, sagte unwillig Graf Agilbert, der Gesandte König Rudolfs von Hochburgund.

Hauptmann Jodokus, der Anführer der westfränkischen Wachen, trat vor den Gefangenen und zog sein Schwert. »Der Fisch wird zappeln, wenn er am Haken hängt. Und wenn er um sein Leben fürchtet, wird er auch reden!«

Das Schwert schoss vor. Die Spitze bohrte sich in den Hals des kleinen Mannes. Blut trat aus und bildete ein kleines Rinnsal.

Graf Guntram riss den Waffenarm des Hauptmanns zurück. »Hör auf damit, Jodokus! Wenn du ihm den Hals durchschneidest, wird er gar nichts mehr sagen.«

»Das wäre nicht weniger als jetzt«, brummte Jodokus und richtete seinen finsteren Blick auf den Tisch mit dem Leichnam. »Vergiss nicht, dass dieser tote Leib dort mein Lehnsherr war, edler Guntram. Meinem Schwert obliegt die Rache!«

Guntram schüttelte den Kopf. »Hier herrscht mein König, Arnulf von Kärnten, nicht dein König Odo.«

In die hageren Züge des Hauptmanns trat ein verschlagener Ausdruck. »Wenn Odo hört, was hier vorgefallen ist, kann sich das schnell ändern. Graf Chlodomer war mit dem König blutsverwandt.«

Graf Guntram nickte kaum merklich. Er wusste das und die Tragweite war ihm klar. Dass ein Mann aus dem westfränkischen Königsgeschlecht hier, wo der ostfränkische König Arnulf allen Gesandten seinen Schutz versprochen hatte, einen gewaltsamen Tod gefunden hatte, konnte nur zu leicht zum Krieg zwischen den beiden mächtigen Frankenreichen führen. Die Grenzmarken würden brennen und dann ganze Landstriche von Franzien bis hin nach Sachsen. Und das alles wegen eines winzigen Pfeils!

»Lasst uns nicht streiten, meine edlen Herren«, erhob Abt Manegold seine volltönende Stimme. »Dass Graf Chlodomer hinter den Mauern dieser Abtei gemeuchelt wurde, ist schon schlimm genug. Wenn wir uns überwerfen, ist das weder hilfreich noch findet es Wohlgefallen in den Augen des Herrn.«

Er blickte nach oben und schlug mit der rechten Hand vor seiner Brust das Kreuz. Alle anderen, auch die Soldaten, taten es ihm nach. Nur der Gefangene regte sich nicht. Die blutende Halswunde schien ihn nicht zu kümmern.

Ursinus, der bärtige Dekan und Stellvertreter Manegolds, sagte: »Wenn der Gefangene jetzt nicht spricht, sollten wir es später versuchen. Er ist uns sicher. Hören wir uns einstweilen an, was Bruder Graman und sein Schützling zu sagen haben.«

»Ein guter Vorschlag«, fand Graf Guntram und befahl, den Zwerg abzuführen.

*

Noch bevor die Tür geöffnet wurde, wusste Albin, dass man ihn und Graman gleich hineinrufen würde. So wie er wusste, dass der Gefangene stumm geblieben war, allen Drohungen zum Trotz. Albin kannte nicht die Worte, die im Refektorium gesprochen wurden. Und doch hatte er das Gefühl, den Verlauf des Verhörs miterlebt zu haben.

»Gefühl« war die richtige Bezeichnung. Er hatte Anspannung gespürt, dann Furcht und Schmerz, als der Hauptmann das Schwert in die Kehle des Gefangenen bohrte. Es waren die Empfindungen und Gedanken des Gefangenen, die Albin auf unheimliche Weise miterlebte. Und jetzt spürte er auch seine Erleichterung über das vorläufige Ende des Verhörs.

Die Tür schwang auf. Klirrende Kettenhemden und eiserne Speerspitzen begleiteten den Gefangenen.

Seine Fesseln waren so eng, dass sie seinen ohnehin kurzen Beinen nur winzige, trippelnde Schritte erlaubten.

Sein Blick traf Albin und der Findling erschauerte. Denn zugleich waren wieder die lautlosen Worte in seinem Kopf: Steh mir bei, Albin. Ich muss aus der Abtei fliehen, noch in dieser Nacht. Ich verlasse mich auf dich, Bruder!

Der Gefangene verschwand mit seinen Wächtern hinter einer Biegung. Was blieb, war ein leichtes Brennen in Albins Kopf und die tiefe Verwirrung über die seltsame Botschaft.

»Komm schon, Albin, der Abt und die Grafen wollen uns anhören. Träumst du?«

Graman schob seinen Schützling vor sich her ins Refektorium. Hinter ihnen fiel die Tür mit schwerem Krachen zu. Im Speisesaal roch es noch nach der ausgelassenen Feier, die mit Chlodomers Tod ein so jähes Ende gefunden hatte. Bratenduft kitzelte Albins Nase, gepaart mit einem säuerlichen Gemenge aus Wein und Schweiß. Sein Blick streifte die Grafen, die Soldaten, den Abt und den Dekan, um schließlich bei der Leiche zu verweilen. Der Tote sah aus, als schliefe er nur. Man hatte seine Augen geschlossen und die Hände auf der Brust zum letzten Gebet gefaltet. In ihnen steckte ein kleines, silbernes Kruzifix.

»Wie ist Graf Chlodomer gestorben?« Graf Guntram hatte die Frage gestellt. Seine Augen hingen, wie die aller anderen, auf Albin. Fragende, neugierige, brennende Augen.

Verwirrt antwortete Albin: »Aber das weißt du doch, edler Graf. Du warst dabei, als Graf Chlodomer starb. Und Nonus Graman hat dir den todbringenden Pfeil gezeigt.«

König Arnulfs Gesandter ging zu dem Leichnam und drehte den Kopf des Toten zur Seite. Albin konnte nun Chlodomers Nacken sehen und die Wunde, die der Elbenstrahl geschlagen hatte. Eine etwa daumengroße Schwellung, in der Mitte violett, an den Rändern blassblau. Wie die Schwäre einer unbekannten Art von Aussatz.

»Ein giftiger Pfeil hat Graf Chlodomer den Tod gebracht, das wissen wir.« Guntrams Zeigefinger stieß in einer plötzlichen Bewegung auf Albin. »Du warst auch dabei, Albin. Und du hast mehr gesehen als alle anderen. Wir wussten kaum, was geschehen war, da hast du schon von Mord gesprochen, junger Albin. Was hast du gesehen? Was weißt du?«

Albin fühlte sich unwohl, mehr wie ein Angeklagter als ein Zeuge. Heiße Wellen liefen über seinen Körper, und kalter Schweiß bedeckte seine Haut. »Ich habe eine kleine Gestalt gesehen, einen rothaarigen Mann, der aus dem Refektorium floh. Das ist alles.«

Albin brachte es nicht über sich, von den Stimmen in seinem Kopf zu erzählen. Klang es nicht unglaublich? Wie sollte er Graf Guntram, Abt Manegold und den anderen etwas erklären, das er selbst nicht verstand? Und wenn er es tat, zog er dann nicht den Gefangenen noch tiefer in die Sache hinein? Einen Unschuldigen!

Er fragte sich, weshalb er den Fremden für unschuldig hielt. Gewiss, der Zwerg aus dem Weinkeller war nicht der Rothaarige, den er hier im Refektorium gesehen hatte. Aber konnte Guntram nicht recht damit haben, den Gefangenen als Spießgesellen des Meuchlers zu bezeichnen?

Doch etwas tief in Albin, das er selbst nicht erklären konnte, sagte ihm, dass den Gefangenen keine Schuld an Chlodomers Tod traf. Er spürte eine Art Verwandtschaft mit dem Unbekannten, der ihn Bruder nannte.

Hauptmann Jodokus stieß ein krächzendes, falsches Lachen aus. »Du willst uns an der Nase rumführen, Knabe! Niemand außer dir hat den angeblichen Meuchler gesehen. Er ist nicht mehr als ein Hirngespinst, eine Lüge, die du dir ausgedacht hast, um den Gefangenen zu schützen!«

Graman trat vor Albin, als wolle er seinen Zögling mit ganzem Leib schützen. »Du beschuldigst Albin zu Unrecht, Soldat. Ich kenne ihn seit langen Jahren und weiß von seiner Aufrichtigkeit. Hat er euch nicht in den Weinkeller geführt? Warum hätte er das tun sollen, wenn er mit dem Gefangenen im Bunde steht?«

»Ein berechtigter Einwand«, sagte Graf Thibaut aus Arelat. »Aber woher wusste dieser Knecht, dass der geheimnisvolle Rothaarige der Meuchler ist?«

»Weil der Rotschopf nach Graf Chlodomers Zusammenbruch floh«, erklärte Albin. »Das schien mir Beweis genug.«

Graf Agilbert stützte das Kinn auf die geballte Faust und sah Albin durchdringend an. »Du hast gute Antworten bereit, Jüngling. Auch auf die Frage, weshalb du uns in den Weinkeller geführt hast? Wieso wusstest du, dass der Zwerg sich dort versteckt?«

»Ja!«, schrie Jodokus und legte die Rechte auf den Schwertknauf. »Wie konntest du das wissen, Knabe?«

Schwindel ergriff Albin. Der ganze Saal wollte sich um ihn drehen. Er ballte die Hände zu Fäusten und bohrte die Fingernägel in sein Fleisch. Der scharfe Schmerz überlagerte das Schwindelgefühl, drängte es zurück. Fieberhaft suchte er nach einer Antwort und sagte schließlich: »Im Hof des Kreuzgangs glaubte ich, den Meuchler in Richtung Küche fliehen zu sehen. Als wir dort ankamen, war er verschwunden. Aber ich hörte Geräusche, die aus dem Weinkeller kamen. Ein leises Poltern.«

Einige der Männer nickten und Guntram meinte: »Das klingt einleuchtend. Ich sehe keinen Grund, Albin als mitschuldig anzusehen. Hören wir uns nun Bruder Graman an. Du kanntest den Elbenstrahl, Mönch, und deine Worte über die Nebelkinder haben mich neugierig gemacht. Erkläre dich!«

Graman berichtete von den Wesen, die in nebligen Nächten wie dieser die Welt der Menschen heimsuchten, um sich an deren Besitz und zuweilen auch an deren Leibern und Kindern schadlos zu halten.

Jodokus schlug mit der Faust auf einen Tisch, dass Becher und Pokale tanzten. »Das sind doch Ammenmärchen. Ich muss mich wundern, solch heidnisches Geschwätz ausgerechnet von einem Mönch, einem Bruder Christi, zu hören.«

»Niemand hält diese Erzählungen für heidnisches Geschwätz, nicht hier in Mondsee«, belehrte Ursinus den Hauptmann.

Graf Guntram blickte den Dekan überrascht an. »Wieso nicht?«

»Es heißt, ohne die Nebelkinder wäre die Abtei niemals gegründet worden.«

»Ich dachte, Herzog Odilo habe vor hundertvierzig Jahren das Kloster gegründet«, sagte Guntram.

»Vor hundertzweiundvierzig Jahren, um genau zu sein.« Ursinus strich bedächtig durch seinen kräftigen Bart, wie um sich zu sammeln. »Das ist, was in den Chroniken steht. Doch dahinter steckt die Geschichte von den Nebelkindern. Bruder Graman kennt sich damit am besten aus. Er sammelt nicht nur heilende Kräuter, sondern auch die Geschichten, die man sich über das Nebelvolk erzählt.«

»Dann soll Bruder Graman uns von dem Geheimnis um die Gründung der Abtei berichten!«, verlangte Guntram.

Graman blickte nachdenklich zu den geschlossenen Fensterläden, hinter denen die Nacht lauerte – und der Nebel. Auf seinem Gesicht spiegelten sich Unsicherheit und Furcht: Schließlich holte er tief Luft und begann: »Anno 747 weilte Herzog Odilo in diesem Landstrich, um seiner Jagdleidenschaft zu frönen. Seine Späher hatten einen prächtigen Rothirsch ausgemacht, einen Zwanzigender von außergewöhnlicher Größe. Odilo verfolgte ihn den ganzen Tag über ohne Rücksicht auf sein Pferd und auf seine Begleiter, die immer weiter zurückfielen. Es dämmerte bereits, und Nebel zog über dem Land auf. Aber der Hirsch war in der Nähe und ließ sein herausforderndes Röhren erschallen. Der Herzog folgte dem Geräusch, obwohl er kaum noch die Hand vor den Augen sehen konnte. Das Gelände wurde felsig, und Odilos Pferd verlor mehrmals fast den Halt. Da begriff der Herzog, dass er sich zu weit vorgewagt hatte. Er hatte die Orientierung verloren. Nicht der Jäger hatte das Wild in die Falle gelockt, sondern es war umgekehrt gewesen. Odilo sandte ein Gebet zum Allmächtigen und bat den Herrn im Himmel um seine Führung. Wolken und Nebel rissen plötzlich auf, und der Herzog sah dicht unter sich das Wasser des Sees glänzen. Ein falscher Schritt und er wäre in die Tiefe gestürzt.«

»Na und?«, fragte Guntram enttäuscht. »Die Geschichte ist mir bekannt. Aus Dankbarkeit stiftete Herzog Odilo am Ort seiner Errettung die Abtei, in der wir uns befinden. Weil das Mondlicht Odilo vor dem Sturz in die Tiefe bewahrte, gab er dem Gewässer und der Abtei den Namen Mondsee.«

»Ja«, bekräftigte Abt Manegold. »Aber das ist nicht die ganze Geschichte. Berichte weiter, Bruder Graman!«

»Herzog Odilo konnte den See zwar sehen, aber nicht den Weg zurück. Er hatte sich verirrt. Auf einmal scheute sein Pferd. Aus dem Nebel war ein seltsames Wesen getreten, mit dem Aussehen eines erwachsenen Mannes, aber nur so groß wie ein Knabe. Ein Kind des Nebels, ein Elb. Sein Volk siedelte damals rund um den See. Der Elb bot Odilo an, ihn zurück zum Jagdlager zu führen. Als Gegenleistung erbat der Zwerg, dass die Menschen den See so rasch wie möglich verlassen sollten, damit die Nebelkinder in Ruhe und Ungestörtheit leben konnten. Odilo willigte ein. Kurz vor dem Lager verschwand sein Führer so plötzlich im Nebel, wie er aufgetaucht war. Und später, als er am warmen Feuer saß, Braten aß und Wein trank, hielt der Herzog den Elb für einen Spuk, einen Mahr, gesandt von der finsteren Nacht und der Überanstrengung seiner Sinne. Er vergaß sein Versprechen, und seine ganze Dankbarkeit für die Errettung galt dem himmlischen Vater, zu dessen Ehren er die Abtei von Mondsee gründete.«

»Damit holte er noch mehr Menschen ins Land, die das Elbenvolk vertrieben«, fügte Ursinus hinzu. »Er hatte sein Versprechen doppelt gebrochen, aber der Fluch der Nebelkinder ereilte ihn bald. Er starb zu Beginn des folgenden Jahres, als er gerade die Urkunde zur Stiftung der Abtei unterzeichnet hatte.«

»Mir war nicht bekannt, dass Herzog Odilo an einem Fluch gestorben ist«, äußerte Graf Agilbert seinen Unglauben. »Ich dachte, sein Herz sei alt und schwach gewesen, zermürbt vom langen Kampf gegen die Franken. Deshalb habe es aufgehört zu schlagen.«

»So schreiben es die Chronisten«, bestätigte Graman.

»Doch im Volk erzählt man sich, ein Elbenstrahl habe Odilos Blut vergiftet.«

»Dummes Geschwätz!«, stieß Agilbert laut hervor.

Graman blickte den stämmigen Hochburgunder düster an. »Hier in Mondsee glaubt man an den Fluch der Nebelkinder. Noch heute liegt er auf dem Ort, auf dem ganzen Land. Deshalb ziehen sich die Menschen in nebligen Nächten in ihre Häuser zurück und flehen Gottvater um Schutz an.«

»Oder auch ihre alten heidnischen Götter«, sagte Manegold mit deutlichem Widerwillen.

»Aber das alles ist doch bloß eine Legende!«, bellte Jodokus.

»Und Graf Chlodomers Tod?«, fragte Graman mit einem Blick auf den Leichnam. »Vergiss nicht den Elbenstrahl, Hauptmann. Und der Gefangene, wirkt er auf dich wie ein Mensch?«

In den kleinen Augen des Hauptmanns blitzte es auf. »Wenn er ein Elb ist, ein Nebelkind, dann ist er auch schuldig am Tod des Grafen. Dann hat er den Elbenstrahl gesandt!«

Zustimmendes Gemurmel erhob sich.

»Er oder ein anderer Elb«, fiel Guntram in das Gerede ein. »Das rothaarige Wesen, das Albin erspäht hat.«

»Und wo ist dieser rothaarige Elb?«, fragte Jodokus.

»Leider entkommen«, antwortete Guntram leise. »Meine Soldaten haben das Kloster und das Dorf durchsucht, ohne Erfolg.«

Jodokus reckte angriffslustig sein stoppeliges Kinn vor. »Dann sollten wir uns an den Gefangenen halten. Ob er der Meuchler ist oder nicht, er hat sich in die Abtei geschlichen. Den Grund dafür muss er uns verraten, und wenn nicht freiwillig, dann eben unter der Folter.«

Wieder erntete Jodokus die Zustimmung der Gesandten. Nur Guntram schwieg.

Nach einer Weile des Nachdenkens sagte der Graf: »So sei es. Sobald die Sonne Nacht und Nebel vertrieben hat, wird der Gefangene erneut befragt. Redet er nicht freiwillig, werden wir seine Zunge mit Gewalt lösen!«

*

Albin verließ das Refektorium zusammen mit seinem Ziehvater. Schweigsam durchwanderten sie die halbdunklen Gänge der Abtei. Albins Gedanken waren bei dem Gefangenen. Der Findling malte sich aus, wie es dem Fremden unter der Folter ergehen würde. Die Bilder, die vor Albins innerem Auge abrollten, waren alles andere als schön. Er war froh, als Gramans Worte ihn aus den düsteren Gedanken rissen. Sie standen an der Abzweigung, wo der eine Gang den Infirmarius zum Dormitorium der Mönche und der andere Albin zum Schlafsaal der Bediensteten führte.

»Versuche für den Rest der Nacht Schlaf zu finden, Albin.«

»Wirst du schlafen, Nonus?«

Graman lächelte matt. »Wohl kaum, du hast recht. An diesem Abend geschah zu vieles, das meine Gedanken beschäftigt.«

»Meine auch. Eine Menge Fragen schwirren in meinem Kopf herum. Vielleicht kannst du mir einige davon beantworten, Nonus.«

Der alte Mönch legte den Kopf schief und sah seinen Schützling abwartend an.

»Ich bin dabei, vom Knaben zum Mann zu reifen«, sagte Albin. »Aber mein Körper will der eines Kindes bleiben.«

»Das stimmt nicht, du bist sehr kräftig für dein Alter.«

»Aber auch recht klein.«

Als Albin dies sagte, bemerkte er ein leichtes Zittern auf Gramans Zügen. Der Mönch bekam sich schnell wieder in die Gewalt und erwiderte: »Du kannst noch wachsen, Albin.«

»Vielleicht. Aber ich bin schon lange nicht mehr gewachsen. Warum nicht?«

Graman bemühte sich um Gelassenheit, aber es gelang ihm nicht ganz. »Woher soll ich das wissen?«, entgegnete er und seine unruhigen Finger gruben sich in die Falten seiner Kutte.

»Ich kenne meine Eltern nicht. Du hast mich gefunden, als ich noch sehr klein war, Nonus.«

»Und?«, fragte Graman, der unter Albins prüfendem Blick zusehends unruhiger wurde.

»Weißt du mehr als ich über meine Abstammung? Hängt sie zusammen mit … den Nebelkindern?«

Graman wollte etwas erwidern, presste dann aber seine Lippen fest aufeinander, als wolle er sich selbst zum Schweigen zwingen. Er schwankte leicht, wie ein junger Baum im Wind. Die Lippen bebten, suchten nach passenden Werten. Seine Finger kratzten noch immer an der groben Wolle des Mönchsgewands.

»Weit fortgeschritten ist die Nacht, in wenigen Stunden läutet die Glocke zur Mette«, sagte er endlich und es klang zögerlich. »Unsere Gedanken sind aufgewühlt, unsere Geister ermüdet. Es ist nicht die Zeit, um über wichtige Dinge zu sprechen.«

»Wann ist die Zeit?«, fragte Albin drängend.

»Wenn wir ausgeruht sind. Morgen vielleicht. Und jetzt schlafe gut, mein Sohn. Der Herr sei mit dir.«

Albin nickte nur. Enttäuscht, von Graman nichts erfahren zu haben, blickte er ihm nach, als der Mönch zum Dormitorium ging. Den Oberkörper weit nach vorn gebeugt und mit schlurfenden Schritten wirkte Graman wie ein Greis, der die Last des hohen Alters auf den Schultern trug. Oder die des Wissens, das er vor Albin verbarg?

Albin ging in die andere Richtung, zum Schlafsaal der Bediensteten. Schon nach wenigen Schritten blieb er stehen. Er wusste, dass er viel zu aufgewühlt zum Schlafen war. Er würde sich nur unruhig auf seinem Lager hin und her wälzen. Aber noch etwas anderes ließ ihn umkehren: die Stimme in seinem Kopf. Der Hilferuf des Gefangenen.

Ja, komm zu mir, Albin. Rette mich, mein Bruder!

Albin erschrak. Der Gefangene konnte ihm nicht nur lautlose Botschaften zusenden, er las offenbar auch die Gedanken des Findlings.

Nicht immer, aber zurzeit ist es hilfreich. Auch du wirst dich an die Gabe gewöhnen. Und nun beeil dich, bitte!

Die Stimme leitete ihn durch die düsteren Gänge. Zögernd ging Albin zum Küchentrakt, erfüllt von Furcht und Zweifeln. Wenn er dem Gefangenen half, war das nicht ein Verrat an den Mönchen, die ihn aufgenommen hatten? Ein Verrat an Graman. Und, vielleicht noch schlimmer, ein Verstoß gegen Graf Guntrams Befehle und damit Hochverrat. Doch Albins Mitleid und sein Schuldgefühl überwogen. Er konnte es nicht ertragen, den Gefangenen unter der Folter zu wissen. Schon deshalb nicht, weil er selbst den Unbekannten in diese schreckliche Lage gebracht hatte. Und dann war da noch seine brennende Neugier, mehr zu erfahren über den seltsamen Zwerg, über die Nebelkinder – über sich selbst.

Das wirst du, Albin, du wirst die Wahrheit erfahren!, versprach das Flüstern in seinem Kopf. Aber nur, wenn du mir beistehst!

Der Küchentrakt lag verlassen vor Albin. Die rege Geschäftigkeit, die hier vor wenigen Stunden geherrscht hatte, war nur noch Erinnerung, hatte sich aufgelöst in den mitternächtlichen Schatten und im Nebel, der diesige Schwaden durch die Ritzen von Türen und Fensterläden sandte.

Du bist gleich da, Albin. Ich bin auf dem Hof im Holzverschlag. Aber–sei vorsichtig, eine Wache steht vor der Tür. Du musst sie ausschalten, ohne dass sie dich erkennt.

Leise trat Albin an die Tür, die zum Küchenhof führte, zog sie einen winzigen Spalt auf und spähte hindurch. Er sah den Hühner- und den Kaninchenstall und dann auch den Brennholzverschlag, vor dem müde ein Soldat im Kettenhemd lehnte. Der Helm saß schief auf dem wuchtigen Schädel und der Speer schien dem Mann mehr als Stütze denn als Waffe zu dienen. Ein herzhaftes Gähnen unterstrich seine Müdigkeit. Gleichwohl war er ein robuster Kerl, ein erfahrener Soldat. Wie sollte Albin ihn überwinden?

Lass dir etwas einfallen, Bruder: Du bist schlau und stark, nutze deine Gaben und sieh zu, dass du den müden Krieger unschädlich machst!

Albins Augen hatten sich schnell an die neblige Nacht gewöhnt; schon immer hatte er auch bei schlechtem Licht gut sehen können. Vor dem Verschlag waren armdicke Feuerholzscheite aufgestapelt, die man nach draußen geschafft hatte, um Platz für den Gefangenen zu bekommen. Ein schmaler Weg führte zum Schweinekoben hinter dem Verschlag.

Der Findling bückte sich und steckte eine Hand durch den Türspalt, bis er einen Stein ertastete. Es war nur ein kleiner Kiesel, aber ausreichend für seine Zwecke. Albin erhob sich und wartete, bis der Wächter in die andere Richtung sah. Schnell stieß er die Tür ein wenig weiter auf, schleuderte den Kieselstein im hohen Bogen und zog die Tür sofort wieder zu. Der Kiesel flog, wie geplant, über den Holzverschlag und fiel mit einem hellen Klackern gegen den Schweinekoben.

Das Geräusch schreckte den Wachtposten auf. Er sah sich suchend um, nahm den Speer stoßbereit in beide Hände und verschwand im Eingang zum Koben.

Augenblicklich lief Albin nach draußen und nahm einen der schweren Holzscheite vom Stapel. Als der Wächter aus dem Koben zurückkam, traf ihn das Holz im Nacken. Der Mann taumelte und sackte mit einer Drehung um sich selbst zu Boden. Der Helm rutschte von seinem Kopf und der Speer aus seinen Händen.

Albin beugte sich über ihn und stellte erleichtert fest, dass der Mann nur bewusstlos war; er würde mit einer dicken Beule und starken Kopfschmerzen erwachen. Hatte er Albin erkannt? Wohl kaum. Der Findling hatte sehr schnell gehandelt, geschützt durch Nacht und Nebel.

Er zog den Dolch des Soldaten aus der Lederscheide und entriegelte den Eingang zum Holzverschlag. Der zusammengeschnürte Zwerg kauerte zwischen den Holzstapeln und blickte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

»Komm schon, mein Junge, trödle nicht rum!«, stieß der Gefangene im Flüsterton hervor. »Je eher ich hier raus bin, desto besser.«

Es war das erste Mal, dass Albin seine richtige Stimme hörte. Sie hatte einen knarrenden, rostigen Klang, als sei sie das Sprechen nicht gewöhnt.

»Du könntest ruhig ein wenig freundlicher sein«, erwiderte Albin verärgert. »Schließlich bin ich gerade dabei, dir das Leben zu retten!«

»Zu gütig.« Der Zwerg setzte eine säuerliche Miene auf. »Besonders wenn man bedenkt, dass ich mich ohne dich gar nicht in dieser misslichen Lage befinden würde. Also mach und schneide mich endlich los!«

Die Dolchklinge schwebte schon über den Stricken, da hielt Albin inne. Tat er wirklich das Richtige?

»Aber natürlich«, antwortete der Gefangene auf seinen Gedanken. »Ich bin unschuldig, das weißt du!«

»Was hattest du im Weinkeller zu suchen?«

»Wein, was sonst. Man kann von euren Mönchen halten, was man will, aber sie haben den besten Weinkeller weit und breit. Deshalb habe ich einen Tunnel dorthin gegraben. Wo ich herkomme, ist guter Wein eine Seltenheit.«

»Und woher kommst du?«

»Aus den Bergen.« Der Zwerg sah in die Nacht hinaus. »Aus dem unwirtlichen Land, in das die Menschen unser Volk vertrieben haben, Albin.«

»Unser Volk?«, wiederholte der Findling.

»Du ahnst doch längst, dass du einer von uns bist. Ein Kind des Nebels, ein Elb!«

Albin stand starr und sah den Fremden an. Natürlich hatte Albin es geahnt, aber eine bloße Ahnung zu hegen und etwas in deutlichen Worten zu hören waren zwei verschiedene Dinge. Albins Gedanken überschlugen sich. Würde er jetzt endlich Auskunft über seine Abstammung erhalten?

»Ich bin ein Elb, kein Prophet«, murrte der Gefangene. »Wir haben nicht viel Zeit zum Reden. Und wenn du mich nicht endlich von den Fesseln befreist, die mir das Blut abschnüren, bin ich bald nur noch ein Haufen totes Fleisch!«

Albin schnitt die Fesseln durch und fragte: »Wie heißt du?«

»Man nennt mich Findig, und ich finde es nicht unpassend.«

»Erzähl mir mehr über dich und über … unser Volk!« Findig rieb seine befreiten Glieder. »Ich würde ja gern bei einem guten Becher Apfelwein mit dir plaudern, Bruder, aber ich sollte besser verschwunden sein, wenn der Wachtposten wieder zu sich kommt.«

Albin nickte und seufzte: »Du hast recht. Reden können wir später, wenn wir in Sicherheit sind.«

»Du irrst dich, ich geh allein. Du musst hier bleiben für den Fall, dass der Rotelb wieder in der Abtei auftaucht.«

»Wer?«

»Der Meuchler, den du gesehen hast. Es kann nur ein Rotelb gewesen sein. Einer von denen, die ihr eigenes Volk verraten und sich an die Menschen als Mörder verdingt haben.«

»Du meinst, er ist für den Mord angeheuert worden?«

»Aber natürlich«, sagte Findig verächtlich. »Ein Rotelb wird immer von anderen für seine Schandtaten bezahlt.«

»Seine Arbeit ist getan. Wieso sollte er ins Kloster zurückkommen?«

»Ich weiß es nicht. Tut er es nicht, kann deine Anwesenheit hier gleichwohl hilfreich sein. Vielleicht kannst du herausfinden, wer mit dem Rotelb im Bunde steht. Es muss etwas mit der Zusammenkunft der Grafen zu tun haben.«

»Warum ist das so wichtig?«

»Ein Elb hat einen hochstehenden Adligen ermordet, einen Verwandten des Westfrankenkönigs. Diese Tat fällt auf unser ganzes Volk zurück. Die Menschen machen keinen Unterschied zwischen Braun- und Schwarz-, Licht- und Rotelben. Für sie sind wir alle Nebelkinder, unheimlich und bedrohlich. Deshalb hassen und verfolgen sie uns. Der Mord an Graf Chlodomer könnte unser ganzes Volk in Gefahr bringen, Albin. In unseren Händen liegt es, die Gefahr abzuwenden. Deshalb musst du in Mondsee bleiben und Augen und Ohren offen halten.«

»Und du?«

»Ich werde in die Berge zurückkehren und versuchen, etwas über die Umtriebe dieses Rotelben in Erfahrung zu bringen. Wir werden uns wiedersehen, vielleicht schon bald.«

Findig lief mit Albin zurück in den Küchentrakt, kniete sich vor die Luke zum Weinkeller und bat Albin um den Dolch.

»Willst du durch den Tunnel fliehen, den du gegraben hast?«, fragte Albin.

»Was sonst? Zum Weintrinken fehlt mir leider die Zeit. An den Toren und auf den Dächern stehen Graf Guntrams Wächter. Schätze, der Graf wird auch den Tunnel bald verschütten lassen. Schade auch.«

»Wie konntest du allein einen so langen Tunnel graben, Findig?«

»Er ist nicht lang, nur ein kurzes Verbindungsstück zu den alten Römergängen unter dem Kloster. Weißt du nicht, dass die Abtei auf den Überresten alter Gebäude aus der Römerzeit steht?«

Mit geschickten Bewegungen sprengte Findig das Schloss auf. Er steckte den Dolch in seinen Gürtel und sah tief in Albins Augen. »Willst du mir helfen, Bruder, und damit deinem ganzen Volk?«

Albin zögerte, noch war Zeit zur Umkehr. Aber Graman verschwieg ihm etwas und Findig hatte ihm Aufklärung versprochen. Außerdem traute er Findig eher als allen Soldaten in der Abtei zu, Graf Chlodomers Mörder zu ergreifen. Albin verstand längst nicht alle Zusammenhänge, aber er spürte, dass die Aufklärung des Mordes wichtig war. Und deshalb sagte er schließlich: »Ja, ich stehe dir bei, Findig.«

»Gut. Hebe die Luke für mich an, und wenn ich unten bin, geh schlafen. Du musst von meiner Flucht ebenso überrascht erscheinen wie alle anderen.«