Die Riesen fallen - Ingvar Ambjørnsen - E-Book
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Ingvar Ambjörnsen

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Beschreibung

Kein Fußbreit den Faschisten! – darüber sind sich Peter Pettersen und Prof Erlandsen einig. Doch längst nicht alle Bewohner Oslos denken wie die jungen Hobbydetektive, für einen politischen Stimmungswechsel würden so manche alles tun. Wie gut, dass sich Peter und der Prof diesem Rechtsdrang in den Weg stellen. »Vorsichtig!« Der Prof packte mich mit seiner gesunden Hand. »Ich glaub ja nicht, dass das so ohne weiteres knallt, aber sei trotzdem vorsichtig.« »Knallt?« Ich sah ihn verständnislos an. »Ja. Was du jetzt in Händen hältst, sind so etwa vier, fünf Kilo Sprengstoff.« »Sprengstoff?« Peter Pettersen und »der Prof« Erlandsen sind eigentlich zwei ganz normale Jungs, die zusammen zur Schule gehen und mit ihren Familien in Oslo leben. Eigentlich, denn der Prof ist – was sonst? – ein besonders helles Köpfchen, und in Peters Hippie-Familie ist »normal« ein dehnbarer Begriff: Peters Vater ist in gleichem Maße freischaffender wie erfolgloser Künstler, seine Mutter rennt bevorzugt in langen Herrenunterhosen durch die Gegend, und beide finden ihren Sohn – was sonst? – viel zu spießig. Als eines Morgens der Schulhof übersät ist mit Flugblättern der Neonazi-Organisation »Norwegische Riesen«, beschließen die beiden Freunde, gegen den sich ausbreitenden braunen Sumpf vorzugehen. Rassistische Graffiti innerhalb des Schulgebäudes liefern Peter und Prof erste Hinweise. Die Spur führt ausgerechnet zu dem Schlägertypen Filla, den sie zugegebenermaßen fürchten wie Fliegen die Klatsche. Filla aber ist nur die Vorhut der Bewegung. Und während die Polizei versucht, die Anschläge als Dummejungenstreiche herunterzuspielen, geraten Peter und der Prof auf ein politisches Minenfeld internationalen Ausmaßes … »Die Riesen fallen« ist der erste Band der Jugendkrimi-Reihe Peter und der Prof – ein echter Knaller! Aus dem Norwegischen übersetzt von Gabriele Haefs.

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Ingvar Ambjørnsen

Die Riesen fallen

Peter und der Prof

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs

Copyright © 1987, Ingvar Ambjørnsen

Übersetzt von Gabriele Haefs

Copyright der überarbeiteten eBook-Ausgabe © 2013 bei Hey Publishing GmbH, München

Die Norwegische Originalausgabe erschien 1987 unter dem Titel »Kjempene faller« im J.W. Cappelens Forlag, Oslo

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: Sarah Borchart, ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

Autorenfoto: © Christine Poppe

ISBN: 978-3-942822-62-6

Die Riesen fallen ist der erste Band der Jugendkrimi-Reihe Peter und der Prof. Eine Auflistung weiterer Titel finden Sie am Ende des Buches (bitte hier klicken).

Ingvar Ambjørnsen im Internet:

www.ingvar-ambjoernsen.de

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Kein Fußbreit den Faschisten! – darüber sind sich Peter Pettersen und Prof Erlandsen einig. Doch längst nicht alle Bewohner Oslos denken wie die jungen Hobbydetektive, für einen politischen Stimmungswechsel würden so manche alles tun. Wie gut, dass sich Peter und der Prof diesem Rechtsdrang in den Weg stellen.

»Vorsichtig!« Der Prof packte mich mit seiner gesunden Hand. »Ich glaub ja nicht, dass das so ohne weiteres knallt, aber sei trotzdem vorsichtig.«

»Knallt?« Ich sah ihn verständnislos an.

»Ja. Was du jetzt in Händen hältst, sind so etwa vier, fünf Kilo Sprengstoff.«

»Sprengstoff?«

Peter Pettersen und »der Prof« Erlandsen sind eigentlich zwei ganz normale Jungs, die zusammen zur Schule gehen und mit ihren Familien in Oslo leben. Eigentlich, denn der Prof ist – was sonst? – ein besonders helles Köpfchen, und in Peters Hippie-Familie ist »normal« ein dehnbarer Begriff: Peters Vater ist in gleichem Maße freischaffender wie erfolgloser Künstler, seine Mutter rennt bevorzugt in langen Herrenunterhosen durch die Gegend, und beide finden ihren Sohn – was sonst? – viel zu spießig.

Als eines Morgens der Schulhof übersät ist mit Flugblättern der Neonazi-Organisation »Norwegische Riesen«, beschließen die beiden Freunde, gegen den sich ausbreitenden braunen Sumpf vorzugehen. Rassistische Graffiti innerhalb des Schulgebäudes liefern Peter und Prof erste Hinweise. Die Spur führt ausgerechnet zu dem Schlägertypen Filla, den sie zugegebenermaßen fürchten wie Fliegen die Klatsche. Filla aber ist nur die Vorhut der Bewegung. Und während die Polizei versucht, die Anschläge als Dummejungenstreiche herunterzuspielen, geraten Peter und der Prof auf ein politisches Minenfeld internationalen Ausmaßes …

»Die Riesen fallen« ist der erste Band der Jugendkrimi-Reihe Peter und der Prof – ein echter Knaller!

Gefährliches Altpapier

Alles fing eigentlich damit an, dass unser Schulhof plötzlich zur Müllkippe geworden war. Als der Prof und ich an diesem Morgen durch das Schultor kamen, blieben wir wie vom Blitz getroffen stehen und haben sicher beide gleich doof ausgesehen. Jedenfalls sah ich, dass der Prof den Schnabel aufriss wie ein Amseljunges, das auf Würmer wartet.

Die klare Herbstsonne schien über Oslo und schickte ihre Strahlen wie Scheinwerferlicht auf den asphaltierten Platz vor uns. Und der sah einfach schlimm aus. Als sollte unser Schulhof bei einer riesigen Altpapieraktion den Sammelplatz vorstellen. Der Asphalt war fast völlig von Papierbogen bedeckt. Schwarze Schrift auf weißem Grund.

Der Prof bückte sich und fischte einen der Bogen vom Boden auf. »Hab ich's mir doch gedacht!«, sagte er. »Diesmal haben die aber gründliche Arbeit geleistet!«

»Du meinst doch nicht …« Ich war sicher noch immer nicht ganz wach.

»O doch!«, meinte der Prof. »Genau das meine ich. Lies doch selber!«

Natürlich! Es war dieses Nazivolk oder wie ich sie nun nennen soll, das wieder zugeschlagen hatte. Auf dem Flugblatt, das der Prof mir gegeben hatte, konnten alle, die das Alphabet gelernt hatten, lesen, dass Pakistaner drogensüchtige Mistkerle waren und dass Pakistanerinnen sich im selben Tempo wie die Ratten vermehrten. Es war derselbe Müll, den sie uns schon viele Male zugeschickt hatten. Aber diesmal hatten sie ihren Dreck auf dem Schulhof verstreut statt ihn an den Schülerrat zu schicken. Vielleicht hatten sie endlich etwas gelernt. Vielleicht hatten sie kapiert, dass so was in unserer Schule sofort in den Papierkorb flog.

Ein Jahr zuvor hatten sie mit Bomben und Granaten gedroht, falls die pakistanischen Schüler und Schülerinnen am 17. Mai beim Festzug zum Nationalfeiertag mitmachen dürften. In den Zeitungen war viel darüber geschrieben worden und in der Glotze waren sogar ein paar verpennte Politiker aufgetreten und hatten gesagt, diese Leute müssten mindestens eine Schraube locker haben.

Ich war mir da nicht so ganz sicher gewesen. Was mich erschreckte, war mein Verdacht, dass die wahrscheinlich völlig normal waren. Im letzten Jahr war nichts passiert. Sie hatten es bei den Drohungen belassen. Aber nun hatten sie also wieder zugeschlagen.

Am anderen Ende des Schulhofs hatten Ken, Anwar und ein paar andere angefangen Hausmeister Andersen beim Aufräumen zu helfen. Wir gingen zu ihnen hinüber und machten uns auch ans Papieraufsammeln.

»Schweinerei!«, zischte Andersen durch sein zusammengepresstes Gebiss. »Und schaut her!« Er kratzte auf dem Asphalt herum. Ein Flugblatt klebte am Boden fest.

 »Und dort!« Er wies auf die Schulmauer. Der gelbe Verputz war dicht an dicht mit weißen Blättern bedeckt. »Spezialleim! Diese Schweine haben überall Spezialleim genommen!«

»Was denn für einen Spezialleim?«, fragte ich den Prof.

»Ganz normaler Leim mit zerstoßenem Glas. Dann wird der Leim zum reinen Beton!«

»Aber das ist noch nicht das Schlimmste!«, fuhr Andersen fort. »Der Flur im Erdgeschoss ist mit blauer Farbe vollgesprüht.«

»Vollgesprüht?«, fragte Ken, als hätte er dieses Wort noch nie gehört. »Und was haben sie geschrieben?«

Der alte Andersen richtete sich gerade auf und blickte Ken übellaunig an. »Wenn du dir das nicht denken kannst, dann solltest du wirklich die letzte Klasse noch mal wiederholen!«

Ken lief feuerrot an, aber niemand lachte.

Ich hatte Anwars dunkle Augen noch nie so dunkel gesehen.

Es wurde ein ziemlich seltsamer Schultag. In meiner ganzen Schulkarriere habe ich an einem Tag noch nie so wenig gelernt. Lehrer und Schüler waren genervt. Der Rektor lief wie eine Bombe herum, die jederzeit explodieren konnte.

Polizei kam. Und die Presse. Journalisten und ein Haufen Fotografen.

Wenn wir im Laufe dieser Stunden, die wir an unseren Tischen aushalten mussten, überhaupt etwas kapiert haben, dann höchstens, dass Rassisten und Neonazis ein Sauhaufen sind. Aber diese Lektion hatten wir eigentlich schon vor langer Zeit auswendig gelernt.

Im Laufe dieses Tages hatten sich die Sonnenstrahlen hinter allerlei Wolken verkrochen, es war grau und kühl geworden, als säße Gott selber hoch droben und ärgerte sich über das, was hier passiert war. Als es nach der letzten Stunde endlich schellte und wir uns auf den Heimweg machten, riss die Wolkendecke und wir befanden uns mitten in einem Feuerwerk aus Sonne und Herbstfarben. Ich habe den Herbst immer am liebsten gemocht. Die klare, kühle Luft und die starken Farben scheinen mir Tatkraft und Stärke zu vermitteln. Aber heute war ich trotzdem nicht in Form. Diese blöden Flugblätter machten mich einfach fertig … und jagten mir Angst ein. Das üble Gefühl, beobachtet zu werden, quälte mich. Dass irgendwer, den wir nicht kannten, über uns Bescheid wusste, über uns sprach und vielleicht plante uns eine Bombe oder sonst irgendeinen Mist zu verpassen, ohne dass wir uns wehren konnten … Im Grunde glaubte ich ja nicht, dass sie so weit gehen würden. Aber wie Mutter einmal gesagt hat: »Bei solchen Leuten weiß man nie!«

Was waren diese Rassisten wohl für Typen? Früher hatten sie ihre Pamphlete mit nationalistischem Kram unterschrieben, diesmal hatte »Norwegische Riesen« darunter gestanden. Eine neue Organisation, hatten die Lehrer gesagt. Aber dieselben Phrasen. Warum um alles in der Welt hatten sie etwas dagegen, dass Menschen mit anderer Hautfarbe, einem anderen Hintergrund als unserem nach Norwegen kamen? Saßen diese Rassisten wirklich hinter ihren blöden Kopierern und bildeten sich ein, Pakistaner, Türken und Marokkaner hätten sich gegen uns zusammengerottet, wollten die weißen Norweger vernichten? Soweit ich den Geschichtsunterricht bei Bang richtig kapiert hatte, hatte in neuerer Zeit nur eine einzige Rasse versucht eine andere auszurotten, und das war die arische - also meine eigene. Als die Nazis versuchten alle Juden auf der Welt zu vergasen und als es ihnen auch beinah gelungen wäre. Aber diese Leute, die mit Druckerschwärze und Papier, Spezialleim und Sprühfarbe um sich warfen, interessierten sich vielleicht gar nicht besonders für Geschichte?

Ich fragte den Prof. »Haben die eigentlich bloß Stroh in der Birne, diese Nazis, oder was ist mit denen los?

Der Prof warf seine Mähne zurück und machte ein nachdenkliches Gesicht. Der Prof macht fast immer ein nachdenkliches Gesicht. Wenn er nicht völlig verblüfft ist. Wie an diesem Morgen. Er sagte: »Ein paar von denen sind bestimmt schon im dritten Schuljahr hängen geblieben. Aber nicht alle. Nicht die, die dahinter stecken.«

»Wieso dahinter? Meinst du, da ziehen welche an den Fäden, um das mal so zu sagen?«

»Ja, meine ich. Mein Bruder sagt, in Europa gäbe es große Geheimorganisationen von Nazis. Alte und neue.«

Sein Bruder arbeitet bei der Zeitung Dagbladet und irrt sich nie. An dem, was er sagt oder schreibt, zu zweifeln bedeutet, um Ärger mit dem Prof geradezu zu bitten. Jeden Tag liest der Prof das Dagbladet und sammelt alles, was sein Bruder schreibt. Manchmal hätte ich auch gern einen großen Bruder statt Klein My, die mir nur die ganze Zeit auf den Füßen herumsteht. Der Prof hat sogar zwei Brüder und bezeichnet sich selber als Nachkömmling. Das bedeutet einfach bloß, dass er uralte Eltern hat. Meine sind jung, aber leider völlig schwachsinnig.

Ich sagte: »Aber die schreiben doch totalen Blödsinn! Wenn die glauben, Pakistaner hätten weniger in der Birne als wir, dann haben sie sich jedenfalls Anwars Zeugnis nicht angeguckt.«

»Was die schreiben, richtet sich ja auch an die Dummen«, meinte der Prof. »Und davon gibt's wirklich mehr als genug.«

»Du meinst, solche wie Frau Sørensen?«

»Du sagst es.«

Frau Sørensen im Erdgeschoss war für uns zu einem Problem geworden. Sie hatte schon lange vor unserer Geburt im Haus gewohnt und war immer unheimlich nett zu uns gewesen. Immer Kuchen oder so auf Lager. Oder ein Fünfkronenstück. Deshalb kapierte ich auch nur Bahnhof, als Anwar mich besuchen kam und wir die Alte im Treppenhaus trafen. Ihr freundliches Gesicht löste sich sozusagen total auf und hinter ihren roten Apfelbäckchen kam ein Feuer speiender Drache hervor. »Kanake!«, fauchte sie. »In meinem Haus will ich keine Kanaken sehen!«

»Das ist ja gar nicht dein Haus!«, schrie ich als Antwort. »Mach dir doch nicht ins Hemd!«

Und da heulte sie los und mir ging auf, dass sie wieder nicht genug Kohle für die Miete hatte. Trotzdem war ich so wütend, dass ich mich später am Abend die Treppe runterschlich und in ihren Briefkastenschlitz pisste. Seitdem herrscht Krieg. Von der Seite gibt's nicht mal mehr 50 Øre.

»Was Leute wie Frau Sørensen wohl für ein Leben haben«, überlegte ich. »Total allein und so. Hat wohl keinen, mit dem sie reden könnte, und dann sitzt sie da und brütet über ihren blöden Gedanken.«

»Bestimmt.« Der Prof spuckte auf den Asphalt. »Aber das ist nicht Anwars Schuld, dass sie ihre Wände anglotzen muss.«

Was nun passierte, passierte in null Komma nichts. Nicht blitzschnell, aber jedenfalls mit 60 bis 70 Stundenkilometern. Bei 50 km Geschwindigkeitsbegrenzung. Wir waren gerade an der Kreuzung Marcus Thranes gate/Sandakerveien angekommen, als diese Mordskarre an uns vorbei über die Kreuzung fegte. Der Fahrer fuhr nicht bei Rot, aber ich hatte das Gefühl, er hätte es gemacht, wenn die Ampel nicht zufällig Grün gezeigt hätte. Mitten auf der Kreuzung befand sich ein leicht verwirrter Radfahrer, der sich nicht schnell genug hatte retten können. Einen Moment lang hielt ich den Atem an und stellte mir vor, wie der Radfahrer in hohem Bogen durch die Luft fliegen und wie eine Makrele in Tomatensoße liegen bleiben würde. Aber zum Glück konnte der Fahrer, der ein verdammt tüchtiger Fahrer sein musste, in letzter Sekunde noch ausweichen. Der Radfahrer flog zwar trotzdem voll auf den Bauch, aber daran muss der Schock schuld gewesen sein. Das Auto bog links ab und verschwand in Richtung Brücke. Erst jetzt sah ich, was für eine Automarke es war. Porsche. Funkelnagelneu. Grün-Metallic. So eine Karre, von der ich fantasierte, wenn ich nicht einschlafen konnte. »Hast du die Karre gesehen?«, fragte ich den Prof.

»Ja. Kostet sicher eine Million, glaub ich.« Er lachte. »Ist schon fast eine Ehre, von so was umgenietet zu werden.«

»Der Typ dahinten hätte die Ehre jedenfalls um ein Haar gehabt«, sagte ich und warf einen Blick auf den Mann, der jetzt zum Bürgersteig hinkte, sein Fahrrad unter den Arm geklemmt.

»Wenn du auch vergisst deine Birne mitzunehmen, wenn du dich aufs Fahrrad schwingst …«

Auf der Treppe trennte ich mich von dem Prof. Er wohnt im ersten Stock, ich im dritten. In der Bentsebrugata 12 in Torshov, Oslo 4. In einem roten Steinhaus an einer Straßenecke. Vor dem Haus stehen hohe Birken, die ich in den verschiedenen Jahreszeiten genau beobachte. Ist dir das je aufgefallen: Wenn du die Birkenblätter anstarrst, die im Wind rascheln, dann träumst du dich fast automatisch weit weg? Mir geht das übrigens auch so, wenn ich die Birken im Winter ansehe.

Mit meiner Familie muss ich dich auch ein bisschen nerven. Leider lässt sich das nicht umgehen. Himmel, sie könnte ja noch schlimmer sein, aber ganz normal ist sie jedenfalls nicht. Wenn Mutter und Vater wenigstens wie andere Leute aussehen könnten! Vater hat Haare bis zum Hintern und einen wüsten Rauschebart. Und das Schlimmste ist, wenn ich nach seinem Beruf gefragt werde. In meinem ganzen Leben hat er keinen einzigen Job länger als vier Monate behalten können. Wie seine meisten Kumpel gibt er sich als Künstler aus. Künstler! Im Wohnzimmer hängen zwei zwei Meter hohe Bilder von ein paar Frauenzimmern an der Wand. Und ich hab zwar nicht so viel Durchblick, aber ich hab jedenfalls noch keine Frau mit blauer und grüner Haut gesehen, mit Ausnahme von Klein My, als sie die Treppe runtergefallen war. Aber viereckig war sie nicht! Und letztes Jahr hat er im Keller einen Totempfahl zurechtgehauen. Scheußliche Masken und nackte Hintern. Als er fertig war, bat er einen Kumpel, der LKW-Fahrer ist, den Totempfahl zur Herbstausstellung zu bringen. Aber nichts da. Glatte Absage. Der arme Alte! Als ein Typ von der Jury anrief und sagte, er solle seinen Wäschepfahl wieder holen kommen, konnte ich richtig sehen, wie er älter wurde. Aber er gibt nicht auf. Niemals! Und das find ich trotz allem stark.

Wenn er sich nicht gerade mit seinen »Gemälden« beschäftigt, dann mauert er sich mit seinem Schnitzmesser im Keller ein oder sitzt im Schlafzimmer und schreibt seinen »großen Roman«. Wovon der handelt, weiß niemand außer Vater, der vielleicht einen blassen Schimmer hat. »Ich werde die literarische Schallmauer durchbrechen!«, verkündet er immer, wenn er freitags abends ein paar Glas Rotwein intus hat. Was immer das nun wieder heißen soll.

Mutter ist ein bisschen normaler. Sie hat seit fast zehn Jahren denselben Job. Sie arbeitet in einem Theater unten in der Stadt. Nicht als Star, natürlich! Sitzt am Schalter, wie man sagt. Verkauft Eintrittskarten. Eigentlich leben wir von ihrem Gehalt, will mir scheinen. Während wir darauf warten, dass endlich irgendwer Vaters Supertalent entdeckt. Aber ganz normal ist sie auch nicht. Sie schmiert sich grünes Ekelzeug in die Haare, das »Henna« heißt, und wenn sie den Dreck auswäscht, sind ihre Haare davon rot geworden. Und dann wetzt sie in langen indischen Röcken herum, Saris, oder wie die nun heißen. Und im Winter zieht sie Männerunterhosen an, die sind gerade so lang, dass man sie unter dem Rock noch sehen kann. Du kannst dir sicher vorstellen, wie begeistert ich bin, wenn ich mit ihr einkaufen gehen muss! Die Weiber glotzen und die Typen wiehern.

»Alte Hippies«, sagen die Jungs in meiner Klasse über meine Eltern. Hab keinen Schimmer, was das heißen soll, aber es hat sicher irgendwas mit 1968 zu tun. Love & Peace & Co. 68 muss überhaupt ein ganz besonderes Jahr gewesen sein. Wenn die Alten von diesem Jahr loslabern, krieg ich irgendwie den Eindruck, dass sich 1968 der Globus plötzlich in eine andere Richtung gedreht hat. Komisch, dass Bang das im Geschichtsunterricht nie erwähnt hat, aber vielleicht kommt das erst später an die Reihe.

Klein My ist meine kleine Schwester. Sie ist ein anstrengender Sonnenstrahl.

Der Alte saß mit den Beinen auf dem Tisch im Wohnzimmer und las eine Anarcho-Zeitschrift.

»Hey«, sagte ich und warf meine Schultasche in die Ecke. »Was macht denn heute die Kunst?«

Er blickte mich sauer durch seine runden Brillengläser an.

»Du bist zu spießig, Peter. Viel zu spießig! Ich kann einfach nicht raffen, was ich falsch gemacht hab.« Er tauchte wieder in seinem zweifelhaften Käseblatt unter. »Ich wünschte jedenfalls, du würdest was anderes anziehen als diese idiotische Bonzenjacke, die deine Großmutter dir aufgeschwatzt hat.«

»Ich muss wohl die Kartoffeln aufsetzen«, sagte ich. »Du hast das ja ganz offensichtlich verschwitzt. Was hast du übrigens mit My angestellt? Hast du sie mal wieder bei der Tagesmutter vergessen?«

»Ach, verdammt …«

Beim Essen erzählte ich dann alles. Über die Flugblätter der Norwegischen Riesen und die Sprühfarbe und die Bullen und die Journalisten. Vater war darüber so wütend, dass Klein My einen Riesenschrecken bekam und mit dem Löffel in das Essen schlug, dass die Soße nur so spritzte. »Naxis!«, heulte sie und schaltete volles Rohr ihre Alarmsirenen ein.

Mutter warf Vater einen gereizten Blick zu, aber ich konnte sehen, dass das, was ich gerade erzählt hatte, sie am allermeisten reizte. »Wann werden die Bullen endlich etwas unternehmen?«, fragte sie, nahm Klein My auf den Schoß und wischte ihr Tränen und braune Soße ab.

»Die Bullen!«, meinte Vater höhnisch. »Die müssen doch gefährliche Verbrecher jagen, die im Supermarkt ein Bier geklaut haben!«

Mutter und ich grinsten uns an. Wir hatten nicht ganz vergessen, dass Vater und ein paar seiner künstlerischen Kumpels einmal auf frischer Tat ertappt worden waren.

Eine geheimnisvolle Begegnung

Nach dem Essen bat Mutter mich ihr einen ‘kleinen Gefallen’ zu tun. Immer wenn Mutter mich um ‘kleine Gefallen’ bittet, läuft es mir kalt über den Rücken. Nicht dass ich ihr nicht helfen will. Aber wenn sie diesen Ausdruck benutzt, ist der Gefallen nur selten wirklich ‘klein’.

»Ich hab schrecklich viel auf«, sagte ich, obwohl ich wusste, dass ich verloren hatte.

»Ach, bitte, Peter!« Sie sah mich mit diesem Blick an, dem ich einfach nicht widerstehen kann. (Ich hab mit Vater über diesen Blick gesprochen und er begreift genau, was ich meine.) »Ich hab Monas Nähmaschine geliehen und sie muss sie heute einfach zurückbekommen! Und du weißt doch, wie mein Rücken …«

Doch, ich weiß, wie ihr Rücken … Manchmal liegt sie einfach auf dem Fußboden und ist völlig unzurechnungsfähig.

»Alles klar«, sagte ich. »Überspring ich heute eben Mathe. In dem Fach steh ich sowieso schlecht, was soll's also. An Vater kann ich ja sehen, dass Noten nicht so wichtig sind. Ich kann ja einfach eine Eintrittskartenverkäuferin heiraten und Künstler werden.«

»Jetzt reicht's!«, sagte Mutter warnend. »Reiß bloß nicht so weit die Klappe auf!«

»Her mit dem Traktor!«, sagte ich.

Mona wohnt unten in der Thorvald Meyers gate. Genau gegenüber von »Mein Café«.

Mutter und sie kennen sich schon, seit sie beide klein waren und in Tøyen aufwuchsen. Im Grunde sind sie Busenfreundinnen, aber es kommt auch vor, dass sie sich streiten und die Fetzen nur so fliegen. Ganz schlimm war es, als Vater und Mona einen kleinen Ausflug nach Kopenhagen machten, aber das ist schon lange her. Mutter hat Mona viel früher als Vater verziehen, obwohl der angekrochen kam und über einen Monat auf dem Sofa im Wohnzimmer geschlafen hat.

Nähmaschinen sind schwer. Ich schleppte dieses Biest von einer Maschine die Straße entlang und war reichlich genervt. Dieser Tag hatte ganz übel angefangen und war genauso weitergegangen. Wenn ich meine Matheaufgaben nicht schaffte, wenn ich nach Hause kam, würde ich sofort mit Tim und Struppi ins Bett gehen und alles Unangenehme auf morgen verschieben.

Als ich bei Lauritsens Würstchenbude vorbeikam, musste ich eine Verschnaufpause einlegen. Meine Arme ausruhen. Von der ganzen Schlepperei war meine Zunge wie ausgedörrt, deswegen spendierte ich mir eine Cola. Dann studierte ich die Titelseiten der Illustrierten. Alles voller Popstars. Erst als ich die leere Flasche abgegeben hatte und mich umdrehte, um weiterzugehen, erblickte ich zum zweiten Mal ein gewisses Auto. Der grüne Porsche stand mit laufendem Motor in der Schleppegrellsgate. Eine graue Auspuffwolke wälzte sich in den Nachmittagshimmel. Aber nicht das versetzte mich in unbeschreibliches Erstaunen. Neben dem Wagen, halb ins Fenster gebückt, stand Filla. Filla! Ich dachte, ich spinne.

Filla ist einer von den Typen, die es nicht leicht auf der Welt haben, wie die Erwachsenen sagen. Und damit haben sie sicher Recht. Er geht in die achte Klasse, aber nur haarscharf. Ab und zu wirft er mal einen Blick in die Schule und dann setzt er zur Feier des Tages immer ein ironisches Lächeln auf. Filla ist alles wurscht. Seinen Spitznamen (Filla heißt deutsch Lappen) hat er verpasst bekommen, weil er früher ziemlich viel gesnifft hat, aber dann hat er doch mit diesem Unfug aufgehört. Dennoch gab es mit Filla immer irgendwelchen Ärger. Manchmal haute er dir einfach so eine rein, nur zum Spaß. Sein Vater war schon ins Alkoholikerheim gezogen, als Filla noch ein Klumpen im Bauch seiner Mutter war - gut möglich, dass er deshalb seinen seltsamen Sinn für Humor hatte.