Die Schauspielerin - Robert Heymann - E-Book

Die Schauspielerin E-Book

Robert Heymann

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Beschreibung

"Ist es Ihnen nicht schon geschehen, gnädiges Fräulein, daß kleine Vorkommnisse im Leben mit der Deutlichkeit eines festgehaltenen Bildes vor einem stehen, während scheinbar wichtige Ereignisse, Katastrophen, Konflikte und Dinge, die einem einst unersetzliche Herrlichkeiten oder lebenserschütternde Dramen dünkten, verblassten?" Ein solches "kleines Vorkommnis", die rätselhafte kurze Begegnung mit Jörg Jürgen am Genfer See, verändert das Leben der jungen Sibylle Löhner. Später begegnet sie ihm erneut im Haus ihrer Tante Olga. Sie gesteht ihm ihren heimlichen und heißen Wunsch: Schauspielerin zu werden. Und er verspricht, ihr zu helfen. Als Sibylle nun Friedrich Limprun kennenlernt, "Sohn und Erbe des Fabrikbesitzers im Erlengrund", dem Millionär, nimmt ihr Leben erneut eine entscheidende Wende. Doch Liebe, Kunst und Geld – kann diese Paarung denn gutgehen?-

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Robert Heymann

Die Schauspielerin

Roman

Saga

Die Schauspielerin

© 1917 Robert Heymann

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711503621

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Friedrich Limprunn war der letzte Käufer, der Gotthard Löhners Altertumsladen durchstöberte. Es war Abend. Die blinden Butzenscheiben an den kleinen Fenstern funkelten violett. Eine letzte Sonnensträhne senkte sich über den düsteren Raum im Erdgeschoss: über aufgestapelte Schränke und Kasten mit schwerem Schnitzwerk, Brokatstoffe und köstliche Tücher, indische Gewänder und Rokokodosen, englische Miniaturen, rauchdunkle Holländerbildnisse, verstaubtes Zinn und schmiegsame Zierdegen.

Er hatte seine Einkäufe beendet und verabschiedete sich mit einem scheuen Blick von Sibylle. Der Altertumshändler ging nach oben.

Sibylle blieb noch eine Weile allein zwischen den alten Sachen. Es dunkelte, und die düsteren alten Bilder begannen sich Geschichten zu erzählen, die nur Sibylle kannte. Sie stand endlich auf und ging hinaus, um die Läden zu schliessen. Vor den hochgiebeligen Häusern, die wie alte Prunkstücke aus einer versunkenen Zeit, ehrwürdig und steif, dastanden, brannten niedere Öllaternen. Diese verschwiegene Strasse trieb einen zärtlichen Luxus mit sich selber. Die Bürgersteige waren blitzblank, hinter sauberen Fenstern sah man helle und geblümte Gardinen, und die riesigen Messing- und Kupferringe an den schweren, eichenen Toren blinkten wie Gold. Sibylle schloss noch die Haustür, dann ging sie hinauf.

Die Mutter gab ihr einen Brief. „Von Tante Olga.“ Der Ton ihrer Stimme verriet einen Missklang in den verwandtschaftlichen Beziehungen.

Sibylle riss den mattblauen Umschlag auf. „Ich bin morgen zum Tee geladen,“ sagte sie freudig erregt.

Die Mutter warf einen fragenden Blick auf den Vater. Der steckte den Kopf in die Zeitung. Ein Wink, dass er keine Autoritätsstreitigkeiten wünschte. Sibylle war es zufrieden und lenkte die Aufmerksamkeit schnell auf einen anderen Gesprächsstoff. „Wer war der Herr, der heute bei uns Einkäufe gemacht hat?“

Löhner sah aus seiner Zeitung auf

„Friedrich Limprunn, Sohn und Erbe des Fabrikbesitzers im Erlengrund, Millionär. Ist vor kurzem erst aus Amerika zurückgekehrt, wo er die Maschinenindustrie studiert hat. Tüchtiger Junge, glaube ich.“

Sibylle dachte: Also der Sohn des Millionärs im Erlengrund. Ihre Gedanken wanderten zur Maschinenindustrie; sie machte sich eine dunkle Vorstellung von rauchenden Hochöfen, riesigen qualmenden Schlöten, einer schwarzen Arbeitermasse und luftwarmen Bureaus, in denen die Millionäre sassen und rechneten, immer nur rechneten. Ein sehr trauriges und lichtleeres Leben, dachte sie. Und der Erbe dieser zweifelhaften Herrlichkeiten tat ihr leid.

Tante Olga wohnte in der neuen Königstrasse. Dort macht der Luxus sich in hohen Häusern mit schweren Fassaden und Stukkaturen breit. Laden reiht sich an Laden.

Beide Hände streckte ihr Tante Olga entgegen. Sibylle umarmte sie stürmisch. Frau v. Granichstetten drückte ihre Lippen auf den frischen Mund der Nichte.

„Nun komm schon herein, Kleine, und erzähle, wie es dir in der Schweizer Zwangserziehungsanstalt gegangen ist! Vor einer halben Stunde kommen keine Gäste, wir haben also reichlich Zeit zum Plaudern. Blass siehst du aus, Kindchen! Man merkt dir schon wieder den Aufenthalt in dem muffigen Laden Gotthards an. Will er denn noch immer nicht einsehen, dass du nicht ewig als Postamentfigur zwischen seinem alten Kram sitzen kannst?“

„Er ist der alte. Weisst du, was mein Wunsch wäre? Höre! Eines Tages gastierte eine Schauspielertruppe in der Nähe unserer Pension am Genfer See. Wir waren nachmittags nach Chillon gefahren. Ach, Tante! Grüne Matten, schwarzblaue Wälder, weisse Billen, träumende Dörfer mit prangenden Obstgärten — wer das in Worte fassen könnte! Und so blau der See, untiefenblau. Wie ein Ungeheuer aus der Vorzeit reckt sich ein massiver Felsen zur Oberfläche in den flimmernden Äther. Auf dem Rücken wächst Chillon empor mit seinen wirren Mauern, die dunkel und drohend sich an den trotzigen Turm herandrängen. Ich lehnte abseits an einem Stamm, als eine kleine Reisegesellschaft sich uns näherte. In Nachdenken und Schauen versunken, bemerkte ich nicht, dass ein Herr neben mir stand. Erst auf eine Bewegung hin wandte ich mich um. Wir sahen uns in die Augen. Er hatte ein schmales Gesicht mit feinen, nervösen Zügen. Wir sahen uns an und wussten, dass wir uns viel, unendlich viel zu sagen hatten. Ich fühlte, dass ich vor Verlegenheit erbleichte; wir blickten wieder auf den See hinaus. Weit in der Ferne schimmerten einige Villen elfenbeinhell herüber. Nun war das ganze Schloss in eine gelbe Ockerglut getaucht, graugrün plätscherte die Flut an die Treppen, und die Mauern standen violett im Seegrund. Als ich mich wieder umwandte, war der junge Herr an meiner Seite verschwunden. In der Ferne vernahm ich eine Frauenstimme. ‚Die Dame in der grünen Seidenrobe mit den Stickereien ist Fräulein Toto, die berühmte Schauspielerin. Wir werden heute abend ihre Vorstellung besuchen,‘ sagte Madame Lupe, unsere Führerin.“

Frau v. Granichstetten unterbrach die Nichte. „Was, Toto war am Genfer See? Hat dort gastiert?“

„Im Cyrano von Bergerac.“

„Und der junge Herr von Schloss Chillon?“

„Hiess Jörg Jürgen.“

Wenn ich das gewusst hätte, dachte Frau Olga, würde ich das Kind nicht heute geladen haben. Oder hätte wenigstens Jürgen abgeschrieben.

„Ja,“ entgegnete sie. „Jürgen kommt heute zu mir.“

Sibylle legte das Haupt in den Nacken und lächelte.

Der Diener trat zwischen die breite Flügeltür und meldete: „Exzellenz General v. Tannen.“

Sie sassen in dem kleinen blauen Salon. Die Aufmerksamkeit der jungen Herren gehörte fast ungeteilt dem Fräulein Sibylle. Doch eine geheime Unruhe hielt das junge Mädchen befangen. Sibylle sah immer wieder nach der hohen Tür, durch die der Diener lautlos einzutreten pflegte, wenn er einen neuen Gast anmeldete. Man nahm schon den Tee, und Sibylle dachte mit aufrichtigem Bedauern, Jörg Jürgen würde wohl in letzter Stunde abgehalten worden sein, als der Diener seinen Namen in den Salon rief. Einige Köpfe drehten sich dem jungen Schauspieler zu. Frau v. Granichstetten begrüsste ihn mit besonderer Herzlichkeit und stellte ihn einigen Herren vor, die ihn nicht persönlich kannten.

„Und hier sollen Sie auch gleich meine Nichte kennen lernen — Herr Jörg Jürgen — Fräulein Sibylle Löhner.“

Eine dunkle Welle färbte Sibylles Gesicht und tauchte ihre Augen in eine seltsam tiefe Glut. Jörg Jürgen war verblüfft. Frau Olga studierte sein Gesicht und zog wieder die Brauen hoch wie vorher, als der Bericht der Nichte sie beunruhigt hatte.

Weder Sibylle noch Jörg Jürgen berührten die Begegnung am Genfer See. Das fiel Frau Olga auf. Vielleicht erinnert er sich gar nicht mehr daran, dachte sie. Sie sah nach Sibylle, die sich mit einer anmutigen Bewegung eine eigensinnige Locke aus der Stirn strich. Schliesslich tat sie ihre Befürchtungen mit einem innerlichen Lächeln ab. Sibylle und Jörg Jürgen blieben sich selbst überlassen im blauen Salon. Dieses Zimmer war so hoch, dass man meinte, leichter Atem zu holen. Langsam ging Sibylle zu dem hohen Fenster, das bis zur Decke reichte. Jörg Jürgen folgte ihr.

Noch dachte er darüber nach, ob nicht eine Ähnlichkeit ihn täuschte. Als Sibylle aber vor dem hellen Vorhang stand, der die Überfülle des Lichtes dämpfte, fiel auf ihre Züge derselbe opalene Zauber wie an jenem Tage. Er begann ganz leise davon zu sprechen. Sibylle sah mit einem sehnsüchtigen Blick durch das Fenster. Es war, als berührten sie beide die Erinnerung an ein grosses Geschehnis, an etwas, das man fast nicht antasten sollte.

„Erinnern Sie sich denn noch an diesen Augenblick?“ fragte Sibylle und wandte ihm das Gesicht zu.

„Ich erinnere mich. Sie haben recht: es war nur ein Augenblick. Aber er bleibt mir unvergesslich. Ist es Ihnen nicht schon geschehen, gnädiges Fräulein, dass kleine Vorkommnisse im Leben mit der Deutlichkeit eines festgehaltenen Bildes vor einem stehen, während scheinbar wichtige Ereignisse, Katastrophen, Konflikte und Dinge, die einem einst unersetzliche Herrlichkeiten oder lebenserschütternde Dramen dünkten, verblassten?“ Sie nickte. „Das kommt daher, weil das Tiefste und Schönste sich uns eben nur in inneren Erlebnissen bietet. Wo die Handlung einsetzt, beginnt das Veränderliche, zu dem wir nie in einem höheren Verhältnis stehen. Gerade in meiner Kunst habe ich das beobachtet. Nichts bringt mir mehr Gewinn, als das Versenken in geheime Tiefen des Lebens, an denen die anderen gleichgültig oder scheu vorübergehen.“

„Solch eine Tiefe des Lebens bedeutet für Sie unser Zusammentreffen am Genfer See?“

„Ja. Sie haben gewiss im nächsten Augenblick schon nicht mehr daran gedacht, gnädiges Fräulein.“

Nein, darauf wollte Sibylle keine Antwort geben.

Sie gestand: ihr heimlicher und heisser Wunsch seit Jahr und Tag sei, Schauspielerin zu werden. Nicht aus Laune, nicht etwa irgendwelcher eingebildeter Vorzüge wegen, die der Stand mit sich brächte — Jörg Jürgen unterbrach sie hier und sagte: „Dieser Stand hat keine äusseren Vorzüge. Und wer ihm keine inneren abringen kann, der ist ein erbärmlicher Komödiant —“ worauf Sibylle fortfuhr, das wisse sie wohl; aber ein geheimnisvolles Drängen sei in in ihr, und so stark sei das Sehnen, dass sie heimlich schon zu studieren angefangen.

„Was denken Sie nun von mir?“ fragte sie ein wenig unsicher, rasche Antwort wünschend.

„Dass solche elementare Kunstbegier eine Stimme der Natur ist. Dass man Ihnen helfen muss.“

Tante Olga wurde eingeweiht. Zuerst zwar schien sie wenig mit Sibylles Plan zufrieden und machte allerhand Einwände. In Wahrheit glaubte sie das Kind noch nicht reif und erwachsen genug, um solch einen folgenschweren Entschluss allein verantworten zu können. Aber Sibylle belehrte sie eines Besseren. Da wandte sich Tante Olga an die Toto, und zwei Tage später lief eine Einladung ein.

Frohen Mutes liess sich Sibylle bei Fräulein Toto melden. Sie zeigte eines jener schmalgeschnittenen Gesichter, die hochmütig und kühl auf einem geradlinigen Halse sitzen. Die überroten Lippen waren nach oben geschwungen und liefen in kleine Schlangenlinien aus, die nie zur Ruhe kamen.

Sie reichte Sibylle die Hand. „Sie sind, wenn ich recht unrterrichtet bin, das junge Fräulein, das Schauspielerin werden möchte?“

„Ja, Sie hatten die Güte —“

„Wollen Sie hier bei mir vorsprechen oder ziehen Sie es vor, in der freien Natur, an irgendeinem schönen Platz, deren Sie hier gewiss manchen wissen, sich in die Stimmung zu versetzen, die Sie dazu brauchen?“

„Ich finde Ihren letzten Vorschlag sehr schön.“

„Dann wollen wir gehen.“

Die Schauspielerin trat in das nächste Zimmer. Sibylle sah durch die halboffene Tür Reisekoffer, Schachteln und grosse Hüte in malerischem Durcheinander. Sie hörte Fräulein Toto ihrer Zofe einen Befehl erteilen. Gleich darauf kam sie aus dem Nebenraum zurück. Sie gingen die Treppen hinab und ziemlich schnell über die belebten Plätze. Endlich hatten sie die Stadt hinter sich. Bis dahin war Fräulein Toto schweigsam gewesen. Nun begann sie zu plaudern, während Sibylle sie durch die schönsten Stellen des Waldes führte, der die alten Mauern, Reste aus der Schwedenzeit, wie eine grüne brandende Welle umgab.

„Schön ist es hier,“ sagte die Schauspielerin mit einfachem, freudigem Ausdruck. „Ruhig und still. Friede.“ Sie machte eine Pause, während ihr Blick an den Wipfeln der Bäume hing.

Fräulein Toto sah sich um. Weit hinten erspähte man im Nachmittagsnebel einen Teil der Fabrik. In der Nähe standen Gewächshäuser. Die Schlöte feierten zumeist schon; es war Samstag.

„Wird man uns hier nicht hören, Fräulein Sibylle?“

„Nein. Im Garten arbeitet um diese Zeit niemand mehr, und diese Wege werden wenig begangen.“

„Wollen wir nun beginnen?“

Sibylle begann, erst ein wenig schüchtern, dann sich selber, die Umgebung und Fräulein Toto veraessend, Verse zu sprechen.

Als sie schwieg, leuchteten die Augen der Toto. Sie stand auf und legte ihren Arm um des Mädchens jungen Leib.

„Kind, Sie sind nicht nur ein Talent. Sie sind, wenn mich nicht Gefühl und Erfahrung gemeinsam im Stiche lassen, eine Berufene!“

Hier stand eine, die den Erfolg an sich geheftet hatte, eine wirkliche, echte und grosse Künstlerin, die sagte ihr: Sie sind berufen — berufen! Das war alles, was Sibylle begriff. Bedurfte es mehr, um mit offenen Armen dem Leben entgegenzugehen?

„Es ist ja so schön, das Leben, so wunderschön,“ versicherte sie, als sie von Fräulein Toto am Waldrand Abschied nahm.

Hätte sie nur das Gesicht der Schauspielerin bei diesen Worten gesehen, dieses Gesicht, in das Kampf und Ringen, Wanken, Taumeln und Sichaufraffen, rastloses Streben und atemloses Siegen ihre unverwischbaren Zeichen schrieben!

Frau Olga versuchte nun Vater Löhner für die Idee zu gewinnen. Aber der lehnte ohne weiteres ab. Nie würde er die Erlaubnis geben, dass Sibylle Schauspielerin wurde.

Frau Olga zog Fräulein Toto ins Vertrauen. Die Schauspielerin zuckte die Achseln. Zunächst müsste Fräulein Sibylle wenigstens einmal Sprechunterricht nehmen. Das wäre das erste. Darüber würden ja Monate vergehen. Inzwischen könnte sich die Lage zu ihren Gunsten ändern.

„Aber wer käme für solche Stunden hier in Betracht?“

Fräulein Toto sann nach. „Es ist ein alter Schauspieler unter den Mitgliedern des Stadttheaters: Garrick.“

„Ach, Garrick,“ sagte Frau Olga. „Ein Talent —“

„Ein Genie, das den Anschluss verpasst hat. Ich glaube, er wäre imstande, Fräulein Löhner die Stunden zu erteilen.“

„Von denen die Eltern nichts zu wissen brauchen,“ ergänzte Frau Olga rasch.

Die Vorbereitungen waren schnell getroffen; Garrick fand sich bereit, den Unterricht zu übernehmen. Die Stunden zahlte Sibylle von ihrem Taschengeld. So meinte sie. Was fehlte, deckte Frau v. Granichstetten.

Man musste über den Erlengrund und noch eine Viertelstunde über Wiesen und Felder zu Garrick gehen, der weit draussen wohnte.

Er war ein hoher Fünfziger, ernst und still, ein Mensch, der nur mit halber Seele in der Welt der Wirklichkeit lebte und ein beschauliches Dasein an der Seite seiner anspruchslosen, verblühten Frau führte, die sich längst von der Bühne zurückgezogen hatte.

Als Sibylle bei Garrick eben Sprechübungen machte, klopfte es: Jörg Jürgen trat im Reisemantel ein. Er wartete gar nicht erst, bis der ältere Kollege sich die Form seines Widerspruchs gegen die Störung des Unterrichts zurechtgelegt hatte, sondern ging gleich auf sein Ziel los. „Ich konnte nicht reisen, ohne Ihnen noch ein Lebewohl gesagt zu haben,“ begann er und reichte Sibylle die Hand.

Sie bot ihm die ihre. „Sie reisen, Herr Jürgen?“

„Mit dem Abendzug. Ich trete übermorgen mein neues Engagement in München an.“

„In München?“

„Am Residenztheater als Liebhaber. Es ist ja allerdings nicht ganz nach meinen Wünschen gegangen; ich wäre glücklicher, wenn es mir vergönnt wäre, an eine Berliner Bühne zu kommen. Vorläufig muss ich wohl mit dem zufrieden sein, was ich haben kann.“

Sibylle dachte: „Wie stolz und siegesbewusst er spricht! Was gäbe ich darum, wenn ich an ein solches Theater berufen würde!“ Garrick lächelte leise; er war auch einmal an einer Hofbühne gewesen. Auch ihm waren Lorbeerkränze zugeflogen und die Zeitungen hatten geschrieben: „Er tritt in Sonnenthals Fusstapfen.“ Und nun war er doch in der Provinz und spielte still und ohne sonderliche Anerkennung Heldenväter.

Jürgen sah Sibylle in die Augen. „Wir werden uns wohl so bald nicht wiedersehen?“